Der Glasgarten von Gadreel_Coco ================================================================================ Kapitel 151: Point of no return I --------------------------------- Point of no return Einige Tage zuvor... Tokyo Neuer Campus der Universität Tokyo Der prüfende, weil abschließende Blick in den Spiegel war mitnichten übertriebene Eitelkeit sondern der Akkuratesse geschuldet mit der er sich stets kleidete. Sein hellbraunes, welliges Haar war mit einem Band sorgfältig im Nacken zusammengebunden. Der uniformierte Anzug war mit einem Stehkragen versehen und war von tiefroter Farbe, sodass er fast schwarz wirkte. Am Revers waren zwei kleine goldene Kreuz-Applikationen eingestickt. Er hatte sich diese Auszeichnung hart verdient. Einem Impuls nachgebend strich er über den goldenen Zwirn und lächelte als er sich in die hellgrauen Augen sah. Er konnte und durfte sich erlauben stolz auf das Erreichte sein. Zufrieden mit dem Ergebnis nahm er sich das oberste Datenpad vom Stapel seines Schreibtisches und verließ die ihm zugewiesenen Räumlichkeiten im neunten Obergeschoss. Während er in Richtung der Aufzüge eilte kamen ihm Ordensmitglieder von Rosenkreuz entgegen. Sie grüßten höflich und er erwiderte diesen Gruß mit einem knappen Nicken. Es war keine Freundlichkeit die darin begründet lag, sondern die zwei eingestickten Kreuze an seinem Revers nötigten sie diese offizielle Förmlichkeit einzuhalten. Mistral warf einen Blick auf das Pad und auf die geschätzte Ankunftszeit seines Herrn. Trotz der guten Vorbereitung wurde er langsam nervös, denn es waren immer die kleinen Dinge, die einen noch so guten Plan zum Scheitern bringen konnten. Er musste noch das Appartement einer Endkontrolle unterziehen und sich dann im Fuhrpark zur Begrüßung einfinden. Noch während er im Aufzug nach oben in die zehnte Etage fuhr spürte er ein telepathisches Anklopfen gleichzeitig meldete sich sein Pad mit einer Anfrage. Die Signatur gehörte zu Judge Stream, er erkannte sie an der Übertragungsgeschwindigkeit und dem völligen Ignorieren seiner Schilde. Er hatte schon in der Vergangenheit Kontakt mit diesem Judge und daher wusste er wie sinnlos der Versuch einer Abschottung war. Mistral blieb vor den Aufzügen stehen und musste die Daten zunächst sortieren, denn es fühlte sich merkwürdig an, als wären sie schon immer in seiner Erinnerung gewesen und gerade im Moment abrufbar und für ihn begreifbar gemacht worden. Eine eher sanfte Methode um viele Informationen kompakt und schonend für den Empfänger zu übertragen. Mistral lächelte und sah auf sein Pad während er auf den Aufzug wartete. Stream hatte ihm die Daten auch auf sein Pad geschickt, er erwartete wohl einen gewissen Schwund an Informationen und schätzte sein Erinnerungsvermögen als nicht gerade verlässlich ein, so wie es schien. Die genaue, weil korrigierte Ankunftszeit, Terminierungen für den morgigen Tag, spezielle Wünsche der Judges über Nahrungsgewohnheiten, Regenerationszyklen und Besonderheiten im Umgang mit ihnen waren genauestens festgehalten. Er mochte diese Übersichtlichkeit und lief so weniger Gefahr einen Fehler zu begehen. Danach wähnte sich Mistral wieder allein in seinen Gedanken. Es war ein Rausch an Daten verabreicht worden einer Injektion gleich, ohne Begrüßung oder Abschied. Zugegebenermaßen schätzte er diese Art der Kommunikation wenn ihn nicht stets ein Gefühl der Machtlosigkeit überkommen würde, was Stream abmilderte indem er die telepathische Übertragung möglichst kurz hielt. Er hatte ihn noch nie gesehen, denn Stream überwachte in den Staaten das Treiben der PSI innerhalb der dort ansässigen Ordensmitglieder. Er selbst hatte in Europa speziell in Frankreich zu tun und war dort für den Orden des Schwarzen Kreuzes tätig. Im Besonderen für die Familie De la Croix. Ihm war bewusst, dass seine Anwesenheit nicht unbedingt von allen Familienmitgliedern geschätzt wurde, da er auf Anweisung des Oberhauptes dieses Ordens hier involviert worden war. Alexandré De la Croix, Erstgeborener des Hauses De la Croix, Triasmitglied und Herr über die Judges war über seine Anwesenheit wenig begeistert als er es erfahren hatte. Das hatte er ihm unmissverständlich mitgeteilt. Dennoch hätte es den Sprössling einer der einflussreichsten Familien auf diesem Planeten härter treffen können. Er hätte sich mit Priest herumschlagen können, seinem persönlichen Wächter, den hatte sein Vater jedoch mit einem ganz eigenen Auftrag betraut. Was das gewesen war darüber war Mistral nicht informiert worden. Er sollte nur Priest sonstige Aufgaben, die er erfüllte übernehmen. Eine Schutzfunktion schloss sich bei diesem Aufkommen von Judges aus, was Mistral nur gelegen kam, er war weit weniger gut darin PSI mit Waffengewalt zu verteidigen als ihnen anderweitig Unterstützung zukommen zu lassen. Priest dagegen war ein hinterlistiger, mysteriöser Butler – wenn man so wollte – der nicht davor zurückschreckte seinen Schützling mit allen ihm bekannten Mitteln zu verteidigen. Er konnte jedoch auch sehr charmant sein – man durfte ihm bei der Ausübung seiner Pflicht nur nicht im Weg stehen. Mistral dagegen war ein Agent, der für die Familie weltliche Dinge regelte und wenn es nur die Abholung der Kleidung aus der Reinigung war. Er war der persönliche Assistent von Alexandrés kleinem Bruder Laurent, der zurzeit noch in den Staaten weilte um sein Studium abzuschließen. Mistral hatte dort wenig zu tun und so war ihm mitgeteilt worden, dass er sich hier einzufinden hatte. Mitten im Krisengebiet so war ihm bewusst geworden als er hier angekommen war. Er hatte wenig Einblicke in die Geschehnisse der letzten Zeit erhalten, dennoch war ihm klar geworden, dass Jean Michel De la Croix ihn hier her beordert hatte um seinen Sohn zu unterstützen, wie auch immer dies auszusehen hatte. Er öffnete das Apartment im zehnten Stock und kontrollierte dessen Zustand, überprüfte die korrekte Ausführung der Funktionen der technischen Möglichkeiten, die das Zimmer ihrem Bewohner offerieren sollte und wagte einen Blick durch die Fensterfront nach draußen. Die Stadt lag in einiger Entfernung zu seinen Füßen und erstreckte sich über den gesamten Sichtbereich. Eine schöne Aussicht und dem Herrn der Judge würdig. Er ordnete die Datenpads auf dem ausladenden Schreibtisch nach ihrer Dringlichkeit an bevor er das Apartment wieder verließ. Dann ging er zu den Aufzügen und musst nur kurz warten. Die laufenden Gespräche der Ordensmitglieder verstummten als er den Aufzug betrat. Ein Umstand, den er bereits gewohnt war seit er hier vor einigen Tagen eingetroffen war. Aufgrund seiner Uniform wurde er von allen als Mitglied des goldenen Kreuzes erkannt und es gab im Allgemeinen zwei Reaktionen darauf. Respekt und Angst. Beide möglichen Reaktionen geschahen aus Misstrauen seinem Amt und seiner Zugehörigkeit gegenüber. Da der Orden des goldenen Kreuzes dem Rat nahe stand und die persönliche Garde des Rates verkörperte wurden dessen Mitglieder stets zwar mit Hochachtung aber auch mit Skepsis beäugt. Sie unterstanden keiner höheren Institution als dem Rat und rangierten in der Rangfolge somit weit über den anderen Orden, wie den Rosenkreuzern. Diese stellten zwar eine Triasspitze unterstanden aber wie alle anderen Orden ihren jeweiligen Gebietsleitern. Ein außerordentliches Mandat wie dieses hier einte jedoch alle Mitglieder des Ordens und unterstellte sie direkt der Triasspitze. Viel Macht in einer Hand. Was die Judges auf den Plan gerufen hatte um hier für einen geordneten und ihren Gesetzen entsprechenden Ablauf zu sorgen. Direkt vom Rat abkommandiert hatte dieser Umstand am wenigsten Somi gefallen. Er hatte ein Veto eingelegt, war aber damit gescheitert. Der Aufzug leerte sich im Erdgeschoss und wartete auf eine neue Eingabe. Er wiederholte erneut das gewünschte Stockwerk und gab seine Kennung in das Tableau ein. Im fünften Untergeschoss stieg er aus. Dort überprüfte er alle Zugangsberechtigungen für die Judges am Terminal wies ihnen eine neue Kennung zu und ging den Korridor entlang. Hier unten war der Fels kaum bearbeitet worden. Er kam an einem Schott an, das er unter Zuhilfenahme seiner Kennung an einem Terminal öffnete. Er überließ einem Scanner ihn zu überprüfen und nach wenigen Augenblicken öffnete sich das Schott mit einem Ruck. Licht sprang dahinter an und Mistral betrat die Räumlichkeiten der Judges. Es gab einen freundlich eingerichteten Empfangsraum, den er zügig durchschritt. Danach teilte sich das Areal in verschiedene Richtungen auf. Links ging es zu den persönlichen Räumen, rechts zu eher funktionell ausgestatteten Räumlichkeiten. Er bog zunächst nach links ab, kontrollierte Raum für Raum dessen Ausstattung und Zustand. Er hatte eine Liste von Stream erhalten, die die individuellen Bedürfnisse der Judges beinhaltete und kontrollierte sie entsprechend. Alles war zu seiner Zufriedenheit und er ging in den Kommunikationsraum. Als er den Raum betrat fiel ihm eine Liegeeinheit inmitten des Raumes auf, sie forderte seine Aufmerksamkeit. Mehrere Monitore hingen an der Decke in Bereitschaft, allerdings waren sie noch nicht eingeschaltet. Er ging sein Protokoll durch, hier stand nichts davon die Anlage einzuschalten. Mistral stand unschlüssig da und sah sich um. Es würde Stunden dauern das System hochzufahren und die nötigen Änderungen anzupassen. Vielleicht sollte er eine Anfrage an Stream schicken... Und weshalb hatten die Techniker hier nichts eingeschaltet? Hatten sie hier unten keine Zugangsberechtigung mehr? Er verließ den Raum, arbeitete das Protokoll weiter ab und gelangte schließlich in den Fuhrpark, der zugleich einen separaten Ein- und Ausgang für die Judges darstellte. Ein vier Kilometer langer Tunnel führte nach draußen. Er hakte auf seinem Display zehn Kraftfahrräder, zwei mobile Einsatzwagen, und vier Kraftfahrzeuge ab. Danach war seine Arbeit getan und er machte sich daran das temporäre Domizil der Judges wieder zu verlassen. Am Ausgang angekommen blieb er stehen. Unerledigte Aufgaben bereiteten ihm Bauchschmerzen. Er machte kehrt und ging zurück in den Raum mit der Liegeeinheit. Im Technikraum angekommen tippte er eine kurze Nachricht an Stream. Das gefiel ihm nicht besonders, denn er hatte noch nie Kontakt von sich aus zu dem Judge aufgenommen. Wenn er es nicht besser wüsste hätte er schwören können, dass dieser Judge nicht als Lebewesen existierte, sondern dass dies hier lediglich ein Programm war, dass ihm Nachrichten schrieb. Es ging dem anderen nur um einen Informationsweitergabe, nichts Persönliches konnte man dem Datenfluss entnehmen. Trotzdem war es Mistral stets merkwürdig erschienen, wenn Stream in seine Gedanken drang. Es war rücksichtsvoll wie er es tat und zeugte von empathischem Verständnis. Er zögerte die Nachricht abzuschicken. Es war nicht dass was oder wie Stream die Daten entsandte. Es war seine eigene Reaktion darauf, die ihm Kopfzerbrechen bereitete. Er hatte mittlerweile ein Faible für diesen Judge entwickelt. Obwohl der Kontakt stets nur wenige Augenblicke in Anspruch nahm war es als konnte er eine fühlende, denkende Wesenheit darin ausmachen. Eine ausgesprochen freundliche Wesenheit. So freundlich gesonnen, dass Mistral bisweilen davon mehr als nur angezogen wurde. Es gab keine Aufzeichnungen über die Judges, keine Bilder, keine Daten, lediglich Gerüchte. Mistral hätte niemals jemandem anvertraut, dass er sich für einen Judge im Besonderen interessierte. Vor allem wenn man wusste, dass sie mysteriös, unheimlich, mächtig und brutal waren. Kompromisslos war auch eine gängige Umschreibung für sie. Keine Gefühle, keine überflüssigen Geplänkel, nur ihre Aufgabe standen im Fokus ihres Denkens. Düstere Gestalten, schwer zu durchschauen und noch schwerer zu händeln. Natürlich standen sie im Zentrum von Geschichten die mitunter wenig Wahrheitsgehalt besaßen und meist ihre Absonderlichkeiten oder ihre Grausamkeit in den Mittelpunkt stellten. Er selbst hegte keinen Kontakt außerhalb des Ordens mit Menschen und innerhalb des Ordens herrschte eine strikte Hierarchie, die wenig Spielraum für soziale Kontakte zuließ. Jemand anderen – egal wen – in seinen Kopf, in seine Gedanken zu lassen bildete eine Gefahr, derer er sich ungern aussetzte. Er war Empath, wenn auch kein sehr begabter, dennoch hatte ihn die Familie De la Croix – im Speziellen Alexandre aufgenommen. Sie hatten ihm Obdach, Nahrung eine Aufgabe und Schutz gewährt. Dinge, die er davor nicht als sein Eigen gekannt hatte. Seither war er unangreifbar für Willkür und Boshaftigkeit stärkerer PSI geworden. Als er noch jünger gewesen war wurden ihm viele Gerüchte über den Erstgeborenen des Hauses De la Croix zugetragen. Vorsichtig gesagt für dessen Vorliebe für jüngere Männer. Mistral war jung gewesen als die Familie ihn aufgenommen hatte, aber hatte dieses Gerücht nicht bestätigen können. Das lag vielleicht auch daran, dass er nicht dem Typ jung und zierlich entsprochen hatte. Er selbst war groß und konnte behaupten gut trainiert zu sein, auch wenn er eher schüchtern und zurückhaltend im Umgang mit anderen war so wurde er stets anders eingeschätzt. Noch dazu in der Uniform des schwarzen Kreuzes machte er wohl eine ganz gute Figur. Dennoch fühlte er sich so einsam, dass er sich in einen Judge verliebte dessen einziger Kontakt die Datenübertragung in seine Gedanken war. Das war krank und er war sich dieses Umstandes genauso bewusst wie der Tatsache, dass er hier möglichst wenig Kontakt zu den Judges haben durfte. Er musste ihnen aus dem Weg gehen, vor allem Stream. Es war gefährlich sich ihnen auf sozialer Ebene zu nähern. Sie wurden als gescheiterte Experimente der vergangenen Trias angesehen. Biomechanisch, biogenetische Mutationen, zu höchsten Leistungen getriebene Individuen, die dadurch ihre Menschlichkeit eingebüßt hatten. Alexandré hatte sie gegen den Willen seines Vaters in den Orden aufgenommen. Gerüchten zufolge wirkten sie zivilisiert, waren aber Argumenten nur wenig oder gar nicht zugänglich wenn sie zur Strafverfolgung auf einen Abtrünnigen oder Gesetzesbrecher innerhalb ihrer Gesellschaft angesetzt wurden. Mistrals graue Augen blickten erneut aufs Display und er schickte die Nachricht ab. Er hatte kaum den Kopf erhoben um auf eine Antwort zu warten als er schon den leichten Druck im Kopf verspürte. Er wappnete sich gegen eine Datenflut, doch es kam zunächst nichts. Er fühlte sich als würde er auf einen blinkenden Cursor starren und wurde unruhig. In ihm wuchs der Gedanke, dass es ein Fehler gewesen war so direkt Kontakt aufzunehmen. ‚Judge Stream?’ ‚Ja.’ Mistral wartete erneut geduldig. Tatsächlich war er nervös. Es dauerte noch ein paar Minuten, die er auf sein Pad starrte, da er dachte eine Nachricht dort lesen zu können ob er die Rechner einschalten sollte. ‚Bist du dafür verantwortlich?’, kam dann die Frage und Mistral fühlte sich dazu veranlasst sich zu verteidigen. ‚Ja, ich bin verantwortlich. Deshalb frage ich nach ob ich die Rechner einschalten soll. Es dauert sicher die Systeme hochzufahren. Es stand nicht auf den Anweisungen, die ich erhalten habe.’ ‚Bist du der Verantwortliche?’ Erneut diese Frage und Mistral seufzte. Wenn er bejahte war er dann einer möglichen Bestrafung ausgesetzt? Hätte er gleich nachdem er die Anweisungen erhalten hatte nachfragen sollen? ‚Ja das bin ich.’ ‚Dein Name? Deine Kennung?’ Mistrals Augen weiteten sich, er ließ das Pad sinken. Das fragte ein Judge meist vor einer offiziellen Befragung. ‚Es tut mir Leid. Ich... ich...’, seine Gedanken begannen sich zu überschlagen. Sie würden bald hier sein und er war den Anforderungen nicht gerecht worden. Warum hatte Jean Michel nicht Priest geschickt? Er hätte sicher besser gewusst was er tun musste. ‚..iel Traffic’, abgehackte Worte trafen auf seine besorgten Gedanken. Er setzte sich bedrückt. Dann dauerte es einige Momente. ‚Dein Name? Deine Kennung?’ wurde es wieder klarer. Er gab sie in das Pad ein und schickte die Nachricht ab. Alexandré würde sicher enttäuscht von ihm sein. Dann wurde es wieder still. Einige Augenblicke später... ‚Du sitzt in der Einheit.’ Mistral sprang augenblicklich auf. Offenbar war Stream so weit in seine Gedanken gedrungen, dass er seine Wahrnehmung mitverfolgen konnte. ‚Setz dich in die Einheit.’ Klang das amüsiert? Oder empfand nur er selbst es so? Mistral legte das Pad auf eine Ablage in der Einheit und setzte sich dann auf den Sessel. Seine Beine mussten in die Einheit, doch war er zu groß dafür und er fühlte sich eingequetscht. Sie musste für Stream gefertigt sein, der kleiner als er selbst zu sein schien. Kontaktfelder an den Armlehnen bemerkte er erst als er seine Hände darauf ablegen wollte. ‚Du hast keine relevanten Aufgaben mehr zu tätigen.’ Er sah wie sein Pad die einzelnen Punkte von selbst löschte. Das war wohl so etwas wie ein Befehl. ‚Ich habe Weisung von der Familie De la Croix das Protokoll...’, fing er an. ‚Alex ist bei mir. Du bekommst ab jetzt Weisung von mir. Er überlässt dich mir.’ Das hieß, dass er aus dem Verantwortungsbereich von Alexandre in den eines Judges gefallen war? Eines Menschen dessen moralische Vorstellungen vielleicht etwas von der Ethik ihrer Gesellschaft abwichen? Weshalb fühlte er sich nur mehr wie ein lebloses Ding, das man zum Gebrauch weiterreichen konnte? Es erinnerte ihn an die Zeit vor seiner Aufnahme in die Familie. ‚Gib mir Zugangsberechtigung.’ Was hieß das? Wollte der Telepath in seine Gedanken dringen und seine Handlungen übernehmen? ‚Nein’, keuchte Mistral verunsichert. ‚Du weigerst dich?’ ‚Ja.’ ‚Warum?’ ‚Weil ich Angst habe.’ ‚Wovor?’ Mistral setzte alles daran seine Schilde wieder hochzubringen, was schwierig war. Schließlich gab er es auf und blieb resigniert sitzen. ‚Vor mir’, wurde die Frage beantwortet und Mistral erwiderte nichts darauf. Er hatte Angst. Irgendetwas piepte in seine düsteren Gedanken hinein und er streckte seine Hand nach dem Pad aus. Er nahm das Gespräch umgehend an, denn es war Alexandre De la Croix. „Gib ihm deine verdammte Zugangsberechtigung für das System. Du hast alle Berechtigungen neu vergeben. Laut Protokoll solltest du das bereits erledigt haben“, sagte sein Herr mit dieser für ihn so typischen Gelassenheit. „Ja, Sir.“ „Wo ist dann das Problem?“ „Ich...“ „Das ist keine Bitte.“ Die Stimme war nicht bedrohlich, sie wirkte ruhig und frei von Arglist, aber Mistral wusste um die Gefährlichkeit hinter dieser Ruhe. Alexandre wurde nie wirklich wütend, zumindest war er nicht jähzornig, sondern vielmehr wohlüberlegt in seinen Handlungen. Das glatte Gegenteil von Somi, dessen Ausbrüche legendär und bisweilen tödlich endeten. Wenn Alexandré De la Croix die Nacht war, dann war Thomas Straud der Tag. Den Vergleich hatte einst Alexandrés Vater Jean Michel angeführt und er hätte nicht zutreffender sein können. Er hatte den Zusammenhang nicht ganz verstanden, da er nicht das ganze Gespräch mitbekommen hatte, aber die anderen Gäste im Raum hatten dem zugestimmt. Was auch immer das bedeuten sollte, eines stand fest, diese beiden Männer hätten nicht unterschiedlicher sein können. Alexandrés Hautkolorit war das von dunkler Schokolade, afroamerikanischen Einflüssen gemischt mit sicherlich auch asiatischen Zügen im Genpool seiner Ahnen geschuldet, sein Gesicht scharf geschnitten mit hohen Wangenknochen, einer geraden Nase und einschüchternden Augen, die sich in einem hellen Blau und einem hellen Grün zeigten. Das aristokratische geradlinige Gesamtbild wurde durch einen Wust an dünnen Dreadlocks konterkariert und war stets ein Dorn im Auge seines Vaters. Mit seinem für viele im Orden provozierendem Aussehen, seiner exotischen Schönheit und einiger extravaganter Freizeitbeschäftigungen war er oft das Gesprächsthema unter den Ordensmitgliedern. Sein Faible für Gift- und Würgeschlagen allerdings schätzte Mistral ganz und gar nicht und er hatte jetzt schon Angst falls Alexandré sich in den Kopf gesetzt hatte ein oder zwei seiner Giftschlangen mitzubringen. Das letzte Mal als er dieses Bedürfnis verspürt hatte war um seinen Hals eine hellgrüne, schwarz gebänderte Baumschlange gelegen. Auf Nachfrage eines Freundes der Familie hin begründete Alexandré seine Entscheidung damit, dass die Färbung gut zu seinem linken Auge passen würde. Außerdem wäre es der Wunsch der Schlange gewesen ihn zu begleiten um ein oder zwei Augen auf ihn haben zu können. Mistral war an diesem Abend beim Empfang zugegen gewesen und hatte wie hypnotisiert die Schlange angestarrt. Aus Furcht vor dem Tier und ihrem Besitzer hatte er einen großen Bogen um Alexandré gemacht – wie die meisten Gäste. Ihm die Hand zu reichen barg meist ein großes Risiko sich dem Anblick eines farbigen Schlangenkopfs am Handrücken auszusetzen. Er hatte es zwar noch nie gesehen doch es kursierten Geschichten, dass sich einmal eine Begebenheit zugetragen hatte in der Alexandré unter diesen Umständen einen Mann getötet haben sollte. Die Schlange sei unter seiner Kleidung am Unterarm verborgen gewesen und hätte sich in diesem Augenblick auf sein Gegenüber gestürzt. Mistral konnte dies kaum bestätigen, aber hielt es für möglich. Er hatte keine Anweisung für ein Terrarium oder sonstige baulichen Veränderungen von Stream erhalten und hoffte, dass Alexandré keines seiner geliebten „Haustiere“ mitgebracht hatte. Er wäre dann nämlich derjenige, der sich darum kümmern müsste. Und ihn ließ der bloße Gedanke daran schaudern. Das war einzig und allein die Aufgabe von Priest. Er wüsste wirklich nicht was er tun sollte wenn dies von ihm verlangt werden sollte. Thomas Straud im Gegenzug erlaubte sich keine extravaganten Absonderlichkeiten. Der groß gewachsene Mann war stets akkurat - vom Scheitel bis zur Sohle. Sein charmantes Lächeln zeugte stets von Aufmerksamkeit seinem Gesprächspartner gegenüber. Er war höflich, hielt sich an die Etikette ihrer Gesellschaft an zeremonielle Protokolle und Normen. Er unterhielt viele Projekte zur Minderung der Armut, eine eigene Stiftung und engagierte sich sehr für die Umwelt. Auf sein Erscheinungsbild hätte das Prädikat makellos am Treffendsten gepasst. Dennoch hatte Mistral Angst vor diesen blauen Augen, die mehr Kälte offenbarten als sein herzliches Lächeln je kaschieren konnte. Während Thomas Straud, den Ruf eines Gutmenschen innehielt so war Alexandre De la Croix der verwöhnte aristokratische Exot dessen launische Ideen und Spleens wenig linientreu und mehr aufrührerisch wirkten. Eines einte sie jedoch dieser Tage: die Jagd auf abtrünnige Mitglieder deren Flucht bereits zu lange dauerte als dass der Rat sie noch tolerieren konnte. Die Gefahr einer Denunzierung und einer Entdeckung ihrer Gesellschaft durch die Allgemeinheit war in den vergangenen drei Jahren eine ständige Bedrohung gewesen. Er gab in sein Pad seine Berechtigung ein. Auf dem Bildschirm erschien eine Mitteilung darüber, dass er den Datenträger in eine Steckverbindung einfügen sollte, was mitunter besser zu bewerkstelligen war wenn er in der Einheit saß musste er zugeben. Er verband sie mit der Einheit. ‚Setz den Visus auf.’ Stream war also noch da und das beruhigte Mistral. Er hatte das ganze Gespräch falsch verstanden, aus Ängsten heraus die wohl andere geschürt hatten. Mistral atmete tief ein und dann wesentlich ruhiger wieder aus und tat dann was von ihm verlangt wurde. Das Display wurde zunächst dunkel, doch kurz darauf sprang es an und ihm wurden weitere Anweisungen darauf erteilt. Wenig geschickt stellte er sich in seinen Augen an wie er zugeben musste und es war ihm peinlich vor Stream so unfähig zu erscheinen. Alles in allem jedoch konnten sie das System zusammen starten. Stream war dabei konzentriert und vor allem geduldig. Da Mistral nun wusste, dass Streams Anweisungen dem Zweck dienten das System zu starten und nicht ihm persönlich zu schaden oder ihn zu kränken war er wesentlich entspannter und eilfertiger dabei. ‚Entferne den Visus.’ Mistral nahm ihn ab und steckte ihn in die dafür vorgesehene Halterung. ‚Die Protokolle laufen.’ Was sollte Mistral darauf antworten? ‚Ja das tun sie.’ ‚Das ist gut.’ Mistral erhob sich aus der Einheit und wollte nach seinem Pad greifen, zögerte jedoch. Stellte dies den Versuch einer Konversation dar? ‚Ich brauche das Pad’, sagte er behutsam, da er nicht einschätzen konnte welche Reaktion er erhalten würde. Sofort sprang der Bildschirm um und öffnete seinen Planer. Bis auf das Pad zeigten alle anderen Bildschirme im Raum das gleiche und sogar die Tableaus an den Eingängen und Ausgängen spulten ihre Testprotokolle ab. Auf seinem Pad prangten die von ihm zuletzt aufgerufenen Programme. ‚Kann ich es nehmen?’ ‚Ja.’ ‚Darf ich gehen?’ ‚Nein.’ Oh. Mistrals Unsicherheit kehrte wieder zurück. ‚Ich brauche dich.’ ‚Wofür?’, fragte er prompt und schalt sich sogleich für seine freche Frage. Es ging ihn nichts an wofür. ‚Geh in den Serverraum.’ Mistral wechselte vom Planer auf die Grundrisse des Komplexes und rief seinen genauen Standort auf. Auf die Schnelle fand er den Serverraum in den Plänen nicht, als sein Pad sich wieder selbstständig machte und einen anderen Grundriss aufrief. ‚Ich leite dich.’ Mistral warf noch einen Blick auf die Bildschirme bevor er den Raum verließ und schließlich wieder im Eingangsbereich eintraf. Er verließ die Räumlichkeiten schloss das Schott und begab sich hinauf ins Erdgeschoss. Von dort aus brauchte er über zehn Minuten um zur Ostseite des Gebäudes zu gelangen und mit dem Aufzug nach unten zu fahren. Er stieg aus und traf nach einigen Metern, die er um eine Biegung schritt auf zwei Wachen. Sie standen vor einer schweren Stahltür. „Dies hier ist ein gesicherter Bereich“, sagte einer der Männer und sah ihn forschend in die Augen. „Mistral. Zugangsberechtigung Alpha sieben. Agent des goldenen Kreuzes.“ „Bitte“, wies die Wache an und zeigte auf das Tableau an der Wand. Ein Abtaster fuhr mittels eines sichtbaren Lichtstreifens über seine Gestalt. „Sind sie schon da?“, fragte die andere Wache neugierig in Plauderstimmung. Mistral stellte sich vor die Linse und gab seine Zugangsberechtigung auf der Eingabekonsole ein. Er sah in die Linse während er seine Hände auf die Konsole legte. Ein kurzer Stich erfolgte in seinem Handgelenk und er schloss für einen Bruchteil von Sekunden die Augen. Es schmerzte egal wie oft er das schon gemacht hatte. „Nein“, sagte Mistral. „Sie sind noch unterwegs. Es herrscht wegen der Unwetterwarnung viel Verkehr.“ „Vier Punkte Verifizierung. Überprüfe Zugangsdaten. Willkommen Mistral. Mein Name ist Miriam. Bitte beachte, dass du einen sensiblen Bereich betrittst. Die Sicherheitsvorkehrungen werden für deinen Besuch abgeschaltet. Ist das in deinem Sinn?“, fragte die weibliche Stimme. „Ja, bitte abschalten.“ „Sehr gerne.“ Die Tür öffnete sich mit einem Klicken und fuhr in die Wand. Er betrat den Raum und die spärliche Beleuchtung sprang an Leisten an den hohen Wänden an. „Genügt dir das Licht, Mistral?“, fragte die Stimme. ‚Stream?’, fragte er bei dem Judge nach, denn er hatte keine Ahnung was er hier tun musste. ‚Ja’ ‚Wie viel Licht brauche ich?’ ‚Deinem letzten Besuch beim Augenarzt nach zu urteilen reicht es dir aus.’ ‚Das war nicht das was ich wissen wollte.’ Mistral seufzte. „Das Licht reicht aus“, sagte er zur KI. „Mistral, ich möchte dich darauf hinweisen dich an die Regeln zu halten, dieser Raum unterliegt einem sensiblen Klima. Gestalte deinen Aufenthalt so kurz es dir möglich ist.“ „Ich verstehe, Miriam.“ Die KI des Systems wünschte ihm einen schönen Aufenthalt. Mistral musste darüber schmunzeln. Der Raum war groß und er konnte die Servereinheiten erkennen, riesige Türme, die vom Boden bis zur Decke reichten. Eine bläuliche Flüssigkeit schlängelte sich in flexiblen Röhren innerhalb der Türme bis zur Decke empor und verschwand in ihr. Eine fast schon sakrale Stimmung herrschte hier. ‚Finde diesen Abschnitt. Geh zum hinteren Teil des Clusters.’ Auf seinem Pad erschien eine Reihe von Zahlen und Buchstaben. Es dauerte eine Weile bis er das System der Anordnung verstanden hatte. Als er den gesuchten Abschnitt gefunden hatte meldete sich Stream erneut bei ihm. ‚Nimm die Abdeckung ab.’ ‚Wie?’ Mistral sah nichts was darauf hindeutete, dass es eine Möglichkeit zur Öffnung gab. ‚Taste über die Naht zwischen den einzelnen Platten, dort solltest du eine Bruchkante spüren.’ Tatsächlich spürte er eine kleine Unebenheit. ‚Drück darauf.’ Er tat es und die Abdeckung sprang ihm mit einem verhaltenen Klicken auf einer Seite entgegen, er öffnete sie ganz und matt glimmende Lichter mit gläsernen Steckplatten offenbarten sich ihm. ‚Warum sind sie aus Glas?’ Es sah zumindest hübsch aus. ‚Das ist kein Glas.’ ‚Kristall?’ ‚Ja einige bestehen aus Nanokristallen und andere aus Kristallkernen.’ ‚Was soll ich jetzt tun?’ ‚Berühre eines der Nanoblades’ ‚Wie sehen diese aus?’ ‚Zweite Reihe von oben. Das zweite Blade.’ Mistral berührte es und es fuhr ihm einige Zentimeter entgegen. ‚Nimm es vorsichtig heraus.’ Er kam sich vor als würde er eine Bombe entschärfen, seine Finger fühlten sich feucht an. ‚Nächstes Mal zieh Handschuhe an.’ ‚Ich wusste nicht...’ ‚Nimm dein Pad zunächst in die Hand.’ Er nahm sein Pad wieder auf. ‚An der Seite findest du eine kleine Klappe. Drück darauf und zieh das Kabel heraus. Steck es in den Port des Blades.’ Mistral runzelte die Stirn. ‚Tue ich hier etwas Verbotenes?’, fragte er unsicher. ‚Nein, nur etwas Unübliches.’ ‚Aha’, damit konnte er nicht wirklich etwas anfangen. Er fragte sich was das hier für eine Maßnahme war, denn sicherlich konnte Stream problemlos in diesen Raum gelangen ohne dass ihm jemand neugierige Fragen stellte oder seine Anwesenheit in ein falsches Licht rückte. Wer würde schon einen Judge hinterfragen?’ Er verband das Kabel mit der kristallinen Platte und wartete erneut. Auf dem Bildschirm des Pads wechselten sich in schneller Abfolge Daten ab und es dauerte einige Minuten bis sich Stream wieder meldete. ‚Entferne das Kabel. Der Rückzugmechanismus zieht es selbstständig wieder ein, halt es fest bis du es sorgsam aus dem Blade entfernt hast. Dann füge das Blade wieder auf seinem Platz ein.’ ‚Und meine Fingerabdrücke?’ Es wurde kurz still. ‚Was soll mit ihnen sein?’ ‚Kann man nicht zurückverfolgen was ich getan habe?’ ‚Natürlich kann man das. Du bist der Einzige der heute in diesen Raum gegangen ist. Es sollte nicht schwer sein zur Strafverfolgung die Protokolle auszulesen.’ Mistral setzte die Abdeckung wieder ein und schloss sie mit einem sanften Klick wieder. ‚Du bist sehr geschickt in der Umsetzung meiner Anweisungen.’ In Anbetracht der Worte zuvor fiel ihm keine passende Replik ein. ‚Weiß Alexandrè was ich hier getan habe?’ ‚Ja. Er hat es mir aufgetragen.’ Das erleichterte Mistral ungemein. Er war zwar neugierig was genau er hier getan hatte aber er hütete sich das zu denken oder zu äußern. ‚Ich behalte mir vor dich in Zukunft noch häufiger für derlei zu verwenden.’ Mistral erhob dich um sich dem Ausgang zuzuwenden. Ihre hierarchisch unterschiedlichen Positionen ließen nicht zu, dass er sich verweigerte. Er konnte Beschwerde einlegen, aber was hätte dies zum Zweck? Dass sie ihn zurückschickten und er zugeben musste für den Außendienst nicht geeignet zu sein? Dabei war es das was er wollte. Er musste sich eben mit den Besonderheiten im Umgang mit den Judges anfreunden und das ob er wollte oder nicht. Es war eben ein rauer Verein und er ein vielleicht zu zartes Pflänzchen. Zügig schritt er zur Tür und sie öffnete sich automatisch. Er nickte einem der Wache zu und verließ den Korridor wieder. ‚Geh in den Fuhrpark, wir sind gleich da.’ ‚So schnell?’ ‚Ich veranschlagte eine Stunde und fünfundzwanzig Minuten. Bis du dort bist werden neun Minuten vergangen sein.’ War schon über eine Stunde vergangen? Er sah auf seine Uhr auf dem Pad und tatsächlich. Er begann seine Schritte zu beschleunigen und wartete auf den Aufzug. Dieses Mal war er allein und er war erleichtert keinem Ordensmitglied von Rosenkreuz zu begegnen. Er war nervös und konnte das immer schlechter kaschieren. Alexandre war mit Sicherheit nicht guter Stimmung und er hatte dazu beigetragen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)