Der Glasgarten von Gadreel_Coco ================================================================================ Kapitel 22: ‚Uhrwerk Orange’ ---------------------------- ~ ‚Uhrwerk Orange’ ~ Für Wimpernschläge schloss Schuldig die Augen, konzentrierte sich erneut und ihm war es... ja....als stünde er vor einer großen Mauer, meterdicke Steine zu einer Festung erbaut, um ihn herum tobte der Sturm, nur unwirtliches Land, verdörrte Bäume, schwarzer Grund, der Himmel verborgen von dunklen Wolken, die schnell dahin zogen und immerwährend zu sein schienen. Von irgendwoher kam ein Flüstern, von jenseits der Mauer ein Wispern, so undeutlich, als wäre es eine fremde Sprache, die er nicht verstünde. Und schon entfernte er sich wieder von der Mauer und öffnete die Augen, blickte das Violett an, welches durchaus eine Sprache verwendete, die er verstand. Schmerz und Trauer. Er kannte diesen Blick, wie oft hatten Menschen ihn damit angesehen, wie oft hatte er darüber gelacht? Wie oft hätte er am Liebsten geweint und hatte es vorgezogen, sich durch ein Lachen zu schützen? Vor dem, was in ihm war, zu schützen. Er war bereit zu lernen, diese Sprache zu lernen. Er war bereit Aya mit seinen übrigen Sinnen kennen zulernen, nicht nur mit der Telepathie, die ihm bei diesem Menschen verwehrt blieb. Nicht nur in die Gedanken einzudringen und alles zu erfahren, gefragt oder ungefragt; er war bereit zu sehen, zu fühlen, zu lernen, wie er ohne diese Fähigkeiten Ran kennen lernen konnte. Eine Reise ins Ungewisse. Denn er musste im Gegenzug vieles von sich preisgeben, was er eifersüchtig hütete. Wenn er in den Gedanken der anderen stöberte, hatte er dies nicht zu befürchten, musste er nichts offenbaren. Konnte nehmen ohne zu geben. Doch hier war es anders. Alles war anders. Dieser Mann war anders. Wieder setzten sich die Finger in Bewegung und ein warmes Lächeln erschien auf seinen Lippen während er die Augen schloss. "Wir leben für uns selbst", sagte Schuldig, die Worte rau und nicht voll ausformuliert, da seine Stimme vom Schlaf noch belegt war. Er wusste nicht warum er das sagte, aber es schien ihm passend. Er hatte das Gefühl, dass Ran es jetzt hören sollte. Sanft erhaschte er die Hand und verschlang seine Finger mit denen von Ran. Der für ein paar sanfte, stumme Momente einfach nur auf das Gefühl lauschte, das ihm durch den direkten Hautkontakt zuteil wurde. Wärme, ein Puls, von dem er nicht wusste, ob es seiner oder der des Telepathen war. Er fühlte die Sanftheit der Finger, jedoch auch ihre Härte, mit der sie gewohnt waren, Waffen zu führen und zu töten. Ayas Blick glitt hoch. Er lauschte den Worten des rothaarigen Mannes. Hatte Schuldig seine Gedanken gelesen? Hatte er es in seinen Augen gesehen, was in ihm vorging? Das war doch…unmöglich…oder war es der Hautkontakt, die Nähe, welche das ermöglichte? „Nein…wir sind alleine. Jeder für sich ist alleine auf dieser Welt. Und zu diesem Zweck schaffen wir Menschen uns Bindungen…um nicht alleine zu sein. Rein egoistisches Denken“, senkten sich Worte auf sie, die leiser und überzeugter nicht hätten sein können. Schuldig ruckelte sich leicht zu Recht, seufzte sanft und fasste Rans Hand etwas höher, sodass er sie fast an seiner Wange spüren konnte. "Dann bist du kein Egoist. Du schaffst dir keine Bindungen", sagte er ohne diese Behauptung zu begründen. "Aber wenn der Mensch ein Egoist ist ...heißt das dann, dass du kein Mensch bist?" Er verschwieg, was er damit meinte. Hatte sich Ran nicht einsam gefühlt trotz der Verbindung zu seiner Schwester? Hatte er sich so sehr von diesem Gefühl des Egoismus entfernt, sich außer seiner schwesterlichen Bindung niemanden gegönnt, dass er sein menschliches Ich in sich verbarg? War Ran im Prinzip wie er selbst? Auch zweigeteilt? Nur nicht so extrem abgegrenzt wie bei ihm, sichtbar? „Schaffe ich mir keine Bindungen...?“, fragte Aya nach und ließ seinen Blick auf den ineinander gewundenen Händen ruhen. Was war mit seinem Team? Hatte er nicht zu jedem von ihnen nach einiger Zeit automatisch Bande geknüpft, die sie aneinander hielten? Sandte nicht jeder von ihnen unbewusst kleine, dünne Fäden aus, mit denen er das Gegenüber für sich umspann und es an sich band? An sich zog um nicht einsam zu sein? „Vielleicht sind wir zu menschlich…in unseren Bemühungen, uns nicht zu nahe zu kommen und Abstand zu halten, weil wir ja sterben können. Jeder von uns, zu jeder Zeit. Und haben deswegen unsere Menschlichkeit verloren. Den Sinn für das Leben… sind eins in der Ignoranz.“ "Dann ist es nicht doch besser ...an erster Stelle für sich selbst zu leben?", fragte Schuldig mit einem warmen Lächeln. Und dann erst für die anderen? Oder doch eher mit den anderen? Ich kenne weder das eine noch das andere. Ich lebe für niemanden außer für mich und ich lebe mit niemandem außer mit mir... dachte er und spürte leisen Schmerz in sich. Denn er sehnte sich nach einer dieser Bindungen und gleichzeitig fürchtete er sich vor ihnen. "Erst Kraft für sich selbst... dann Kraft für die anderen, so heißt es doch immer oder?" „Wenn denn Kraft da ist…vielleicht. Wenn man niemanden mehr hat, dann kann man diese Kraft für sich verwenden.“ Und er hatte niemanden mehr. Aya war tot, das war ihm heute wieder vor Augen geführt worden. Er hatte sie noch einmal sehen wollen. So, wie sie dort lag, aufgebahrt, kalt, schrecklich alleine. Doch derjenige, der wirklich alleine war, war er. Nicht sie. Sie verweilte, wo auch immer sie hingekommen war. Sein Verstand wollte ihm die Antwort darauf nicht geben. Glaubte er an Gott? Er wusste es nicht. Wenn, dann wäre es vielleicht eine Erleichterung zu wissen, dass sie bei ihren Eltern war. Bei seiner Familie. Und der Einzige, der noch fehlte, war er. War es Schicksal, an das er nicht glaubte? Hatte er noch etwas zu erledigen, das ihn hier hielt? Oder war es einfach, weil die Zellansammlung, die sich Körper nannte, noch nicht so schwach wurde, dass sie aufgab und ihm den Frieden schenkte? Aya schloss die Augen, fühlte den warmen Atem des anderen Mannes auf seiner Haut. Er streifte die Zellen, die sich so störrisch weigerten zu sterben. War das gut so? Wollte er das Leben wirklich missen? Der Odem, gleich dem Hauch es Lebens, strich über eben diese Haut, erinnerte sie an Wärme, an Nähe, an Geborgenheit. Schuldig hatte sich diesem Gefühl nur zu gern ergeben, wollte es mit Ran teilen und ließ ihn nicht los, auch als er in einen ruhigen Schlaf glitt. o~ Stumm ruhte Ayas Blick auf den Dutzenden von Produkten, die sich ihm hier feilboten. Er hatte nicht mitgehen, hatte sich verkriechen wollen in dem von der Welt abgeschlossenen, stillen Zimmer. In das Gedankenzimmer, wie Aya den schalldichten Raum insgeheim nannte. Dort wäre er alleine gewesen, alleine mit seinen Gedanken und Erinnerungen an seine Schwester. Alleine mit seiner Trauer. Er hätte weinen dürfen, wenn ihm danach gewesen wäre, doch nun musste er sich zusammenreißen. Musste stark sein für die Außenwelt, wie er es immer gewesen war. Wie leid er es momentan doch war. Aya sah sich suchend um, fand Schuldig aber nicht, der anscheinend schon wieder in einem der anderen Gänge verschwunden war. Er hatte ihn hier gelassen, damit er etwas besorgte. Was war es gleich noch Mal gewesen? Aya wusste es nicht, er konnte sich nicht mehr an Schuldigs Worte erinnern. Da versank er doch viel lieber in der bunten Kitschwelt der Produkte. Wie schrecklich…wie überaus schrecklich farbenfroh das alles doch war. Wie überaus passend er sich mit dem orangefarbigen Pullover doch in dieses Bild fügte. Schuldig füllte derweil seinen Bar- und Süßigkeitenschrank wieder auf, sah sich jedoch schon seit einigen Minuten vermehrt nach Ran um. Hatte er ihn nicht in dieser Reihe hier zurückgelassen um sich Badeartikel zu besorgen? Alles nötige, was er so brauchte und noch nicht mit eingepackt hatte in der aufgelösten Stimmung in der er gewesen war... ‚Hmm, aber hier war er nicht’, brummte er in Gedanken. Er ging die Reihen ab und wurde schon langsam nervös, als er eine Frau ansprach. Er hätte durchaus die Information aus ihrem Kopf holen können, aber in letzter Zeit...seit Ran in seiner Nähe war, nutzte er seine Telepathie weniger um an Informationen von anderen Menschen zu kommen. Er wusste jetzt nicht, ob das für ihn sinnvoll war oder nicht… es würde sich noch heraus stellen… "... Ah...Sie meinen diesen jungen Herren, dessen Pullover eine ähnliche Farbe wie ihre Haare hat?“ Sie blickte ihn beflissen und aufmerksam an. "Eine interessante Kombination! Ist Ihnen schon aufgefallen, dass Sie ein rotes Hemd anhaben? Ganz gegensätzlich", nickte sie lächelnd. "Ähm...ja...können Sie mir denn sagen, wohin er gegangen ist?" "Ja, dort hinten in der Reihe ist er verschwunden." Schuldig nickte und sputete sich ihrer Beschreibung zu folgen. Und da stand Ran tatsächlich und stierte uninteressiert auf die Produktpalette. "Ran?" Schuldig verzog die Lippen und lächelte schräg. "Man, ich sag dir, wir fallen auf wie bunte Hunde. Ist dir eigentlich aufgefallen, dass dein schreiend orangefarbiger Pulli...genauso laut brüllt wie meine Haare?" Aya schreckte von seiner gedankenlosen Betrachtung der Lebensmittel auf zu besagtem Mann, der, den Einkaufswagen neben sich, tatsächlich das widerspiegelte, was er hatte verlauten lassen. Bunt brüllend in seiner gewagten Kombination. Aya sah schweigend an sich selbst herunter und strich langsam über die Struktur seines eigenen, nicht gerade farblosen Kleidungsstückes. Von dort aus glitt sein Blick auf die Haare des Deutschen, die der Farbe des Pullovers so frappant ähnelten. Er zog die Augenbrauen hoch und lächelte minimal. „Ich hatte mich schon gefragt, was das penetrante Geräusch im Hintergrund war“, erwiderte er im leicht kritischen, jedoch überraschten Ton und näherte sich dem Mann, der ihn vom Bett aus beinahe in den japanischen Mittelstandwagen gezogen hatte. Noch bevor Aya sich hatte davon schleichen können, wohlgemerkt. Er hatte sich gerade, frisch angezogen und geduscht auf den Weg ins Gedankenzimmer machen wollen, als ihn diese merkwürdige, im wahrsten Sinne des Wortes treibende Kraft aus der Wohnung gezogen hatte. Sein Blick fiel auf den Einkaufswagen, sah darin die beachtlichen Mengen an flüssigem Rauschmittel und nervenberuhigenden Schokoladendrogen. War das alles, was Schuldig in den nächsten Tagen zu sich zu nehmen gedachte? Ein zufriedenes Glitzern tauchte in dem grün schimmernden Blau von Schuldigs Augen auf, als er diese schlagfertige Antwort hörte. Er mochte den trockenen Humor, den ein angedeutetes Lächeln begleitete. "Brauchen wir noch etwas?", blickte er sich um. „Nahrung?“, fragte Aya in eben dieser gemochten Tonlage und inspizierte mit mehr Interesse und Wachheit als zuvor den Inhalt des Wagens. Und Toilettenartikel…wie er heute Morgen festgestellt hatte. Er brauchte noch so einiges, das er sich von Schuldig nicht ausleihen würde. Nahrung, grinste Schuldig heimlich in sich hinein. Also war der Rotschopf doch nicht so dem Kulinarischen abgeneigt, wie zunächst von ihm angenommen. Schuldig hatte schon die Befürchtung gehabt, dass Ran sich so in seiner Trauer verlieren würde, dass er Mühe haben würde, ihm die Notwendigkeit des Essens näher bringen zu müssen. "Willst du etwas kochen?", fragte er neugierig und lenkte dabei den Wagen in die entsprechende Richtung. „Nein, aber du doch sicherlich, oder?“, lautete die so leicht dahin gesagt Antwort des Rotfuchses, der im Vorbeigehen nach einigen Utensilien langte, die er noch für seine Körperpflege brauchte. Sie achtlos in den Wagen warf. Es war die Wahrheit. Ihm stand der Sinn nicht nach kochen, doch sein Magen meldete sich nach dem diskreten Hungermarathon der letzten Tage eindeutig protestierend zu Wort. Außerdem….brauchte er für morgen Kraft. Aya schob all die Gedanken, die ihn mit einem Male zu bestürmen drohten, verzweifelt beiseite. In die hinterletzte Ecke seines Denkens, eine Fähigkeit, die er sich mit der Zeit antrainiert hatte, mit jedem Auftrag, den sie erledigt hatten. Er würde sich erst dann Gedanken machen, wenn es Zeit war. Wenn er wirklich…dort stand. Schuldig warf einen flüchtigen Seitenblick zu seinem Begleiter und zog zweifelnd die Brauen in Richtung des leuchtend orangefarbigen Haarschopfes. "Wenn du’s isst", murmelte er wenig zuversichtlich. Zu gut hatte er noch diese Diskussion im Kopf wegen der Suppe. Er hatte keine Lust auf endlose Verhandlungen mit Ran, ob er nun essen oder nicht essen würde, was er gekocht hatte, nur weil dies oder jenes nicht so gemacht wurde wie dieser es wollte. ‚Ich will ja nicht Koch des Jahres werden...’, grummelte er innerlich trotzig während er Lebensmittel in den Wagen legte. Innerlich wärmte ein nicht zu kleines, hämisches Lächeln Ayas dunkle Gedankengänge. Natürlich hatte ihm Crawfords Essen nicht geschmeckt und natürlich hatte er deswegen einen Aufstand gemacht. Dennoch hieß das noch lange nichts. Er hatte schon Schlimmeres hinuntergewürgt ohne sich auch nur mit einem Ton zu beschweren. Doch das musste Schuldig nicht wissen, wollte es vermutlich auch gar nicht, hatte dieser schließlich vermutlich immer noch das Bild des verwöhnten Gourmets im Kopf. „Wir werden sehen“, entgegnete er schließlich wenig aufschlussreich, vielleicht sogar provozierend. Als wolle er den anderen Mann beinahe herausfordern. Das klang ja unheilschwanger. Schuldig hatte ja so überhaupt keinen Bock darauf, hier vor Ran auf dem Prüfstand zu stehen. So etwas vertrug er überhaupt nicht! Er ließ die Schultern etwas sinken Doch genauso schnell wie die kleine Flaute in seiner Laune gekommen war, verließ sie ihn auch schon wieder, als er die Gedanken eines Mädchens las, in Schuluniform gekleidet und Ran anhimmelnd. Er fing wieder an, seine Gedanken von einem Kopf zum anderen springen zu lassen, reagierte sich kurzzeitig damit ab. So hatte er bald alles zusammen, was er gedachte zum Kochen zu brauchen, und was noch fehlte in seinem...nun Zwei-Mann Haushalt. Ein jungenhaftes Grinsen hatte sich auf seine Züge geschlichen. Eben dieses Grinsen sorgte aber in Aya für noch größeres Unbehagen. Es schien, als suchte ein Teil in ihm wirklich Streit mit dem Telepathen. Als wünschte sich dieser Teil, dass Schuldig ihm Paroli gab, nur damit er seine Sorgen und seine Ängste mit Wut überdecken konnte. Mit anderen Problemen. Genau das stand im beißenden Gegensatz zu seiner sonstigen Taktik, alles einfach zu verdrängen, was ihm gefährlich werden konnte. Natürlich war es ein Auswuchs davon, doch Aya vermisste seine Ruhe, die er verinnerlicht hatte und die ihm jetzt fehlte. Und noch nie war er so bemüht, Schuldig nichts davon zu zeigen. Er presste seine Lippen aufeinander und wandte sich den Einkäufen zu. Das sah schon mal nicht schlecht aus….was auch immer daraus werden sollte. Es dauerte nicht mehr lange und sie verstauten die Einkäufe in seinem Zweitwagen, ein unauffälliges Fabrikat, welches in der Masse unterging. Das Wetter hatte sich verschlechtert und Schuldig schlug den Kofferraum zu, als er noch die letzte Tüte verstaut hatte. Durch seine Jeans drang die Kälte und schnell setzte er sich in den Wagen. Auch Aya war nicht gerade warm, als er die Heizung in dem ungewöhnlich unkomfortablen Wagen anschmiss und sie auf volle Kraft stellte. Unter Trance starrte er auf die an ihnen vorbei ziehenden Anzeichen von westlichem Weihnachten. Nikolaus, Tannenbäume, Weihnachtslieder…all das kannte er noch von früher. Er vergrub seine Hände tiefer in den Pullover, roch unwillkürlich an dem großen Rollkragen, der seinen Hals stützte. Es war ihm, als könnte er ihn immer noch riechen, den Geruch von damals. Besonders jetzt…besonders am 26. Dezember. Schuldig täuschte Langeweile vor, als sie durch die Straßen zuckelten, die zum größten Teil um diese Uhrzeit vollgestopft waren. Doch wenn er die kitschigen bunten Weihnachtsdekorationen sah, hätte er sich am Liebsten schnellstens verkrochen. "Ich will nur noch heim", stöhnte er genervt. "Ich kann mit dem Zeug nichts anfangen", murmelte er und starrte den Wagen vor ihnen in Grund und Boden, als würde er davon verschwinden und sie nicht mehr an der roten Ampel stehen. „Mit welchem Zeug?“, fragte Aya aus seiner Starre gerissen und blinzelte, bevor ihm bewusst wurde, worauf Schuldig anspielte. Weihnachten. Natürlich… „Eigentlich ist es ein schönes Fest…ein paar ruhige Tage im Kreise derer…“ Aya verstummte abrupt. Nein, dieses Weihnachten verbrachte er nicht im Kreise seiner Liebsten. Die Stunden, die er in den letzten Jahren an Ayas Bett gewacht hatte, waren ihm dieses Jahr nicht zuteil geworden…dieses Jahr nicht. Zynisch lächelnd wandte Schuldig den Blick zu Ran und dann wieder zurück zur Straße. "Genau", sagte er nur. ...derer die man liebt... hätte Ran wohl jetzt angefügt. Doch weder er noch Schuldig besaßen solch einen Kreis. "Es ist eine Farce, sonst nichts", beschloss er. "Warum geht denn das nicht weiter", fuhr er knurrend auf. Schuldigs Lächeln schmerzte Aya. Ebenso wie die allzu kalten Worte des anderen Mannes. „Es ist keine Farce“, erwiderte Aya, spürte den Stich Zorn in sich aufwallen, der schon seit Wochen…Monaten in ihm brodelte. Unterdrückte Wut auf alles, was schief lief…auf sein Leben. „Für mich war es das nie…“…weil ich eine Familie hatte, ergänzte er in Gedanken und sah sich plötzlich dem Bild eines kleinen, einsamen Jungen mit einem Teddybär gegenüber. Der scheinbar im Waisenhaus aufgewachsen war. Sicher war für Schuldig Weihnachten nicht so gewichtig wie für ihn. Aber hieß das, dass auch er nun nicht mehr in der Lage war, diese Tage zu schätzen zu wissen? "Kann ich mir denken, dass es für dich so war", sagte Schuldig zynisch. Er bemerkte die unterdrückte Wut, die neben ihm in Ran gärte und schwankte noch zwischen aufstacheln und beruhigen hin und her. Sie hatten nicht mehr weit, als der Verkehr wieder floss und er tatsächlich schneller fahren konnte. "Es täuscht familiären Zusammenhalt und ...Liebe vor, wo nichts anderes ist als verlorene Träume, harte Realität und der Druck an Weihnachten, all das hinter sich zu lassen und heile Welt zu spielen. Eine Farce. Weihnachten ist etwas für Menschen, die in der heilen Welt bereits leben, nicht die, die sie sich wünschen." Bitterkeit hatte sich in ihm ausgebreitet, als er sein Gesicht für einen Blick zu Ran lenkte. Ran hatte diese heile Welt komplett verloren, aber er hatte sie zuvor besessen. Wie groß mochte dieser Schmerz sein? Zu groß, als das es Schuldig in diesem Moment bewusst sein konnte. Doch eben dieser Schmerz wurde von Ayas Unterbewusstsein mit überschwemmender Wut übertüncht. Konnte er damit doch viel besser leben als mit der Trauer, die dessen Worte ihn ihm hervor rief. „Du hast doch keine Ahnung“, zürnte er bitter. „Es täuscht gar nichts vor…nicht bei denen, die sich bewusst sind, was für eine Bedeutung es hat. Verlorene Träume…“ Er verstummte, schwieg. Verlorene Träume…war es das, dem er über die letzten drei Jahre hinterher gejagt war? Schuldig lenkte den Wagen in der Tiefgarage auf seinen Platz und stieg aus, öffnete den Kofferraum. "Oh sicher! Sicher habe ICH keine Ahnung. Wie Recht zu doch hast." Nein, er hatte nicht oft als Kind die Gedanken der Erwachsenen gelesen, hatte nicht begonnen, sie als verlogen zu sehen, seine Träume von einer Familie, die ihn aufnehmen und vor allem akzeptieren würde waren nicht verblasst. Er nahm eine Tüte und gab sie Ran in die Arme, er nahm die andere und dann ging er voran. Dieses Thema machte ihn wütend, warum wusste er nicht, vielleicht lag es daran, dass seine Einstellung bei Ran kein Verständnis fand. "Sicher habe ich keine Ahnung davon, was andere Menschen in ihren Köpfen haben, während ihr Kind die Geschenke auspackt. Während die Familie einläuft, wie ihre Gesichter lächeln und ihre Gedanken töten könnten." Er drückte auf den Knopf zum Aufzug. „Du suchst dir doch nur die schlechten Beispiele heraus, damit dir dein eigenes Elend umso bewusster wird“, hallte Ayas Stimme seltsam leer durch die Tiefgarage. Ebenso leer wie seine Schritte, die ihn zu dem anderen Mann trugen mit der Einkaufstüte auf dem Arm. „Du erzählst etwas von dem kleinen Kind…von den Gedanken seiner Eltern…der Liebe. DAS ist Weihnachten, nicht der Hass, den die Verwandten bekommen. Aber du siehst nur das Eine…wofür? Dass du nicht alleine bist mit deiner einsamen Kindheit? Brauchst du die Versicherung, dass auch andere leiden?“ Kälte kroch in Schuldig und legte eine Schicht um ihn, die selbst über seinen Augen lag. "Darauf stürzt du dich jetzt?" Eine einfache Frage, die müde klang und doch voller Vorwurf war. Du hast dich ihm ausgeliefert...und nun...sieh was er daraus macht. Er quält dich damit, sagte ihm etwas und seine Hand legte sich fester um die Tüte in seinem Arm. "Du hast keine Ahnung von einer einsamen Kindheit", schloss er und verließ den Aufzug, suchte sich den Schlüssel heraus. War er es, der dieses Thema begonnen hatte? Es brauchte nur diese wenigen Worte, um Aya wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen. Um ihm zu zeigen, dass er bereitwillig das getan hatte, was er Schuldig vorwarf. Er saugte das Leid der Anderen in sich auf um zu spotten, um zu verletzen. Doch das durfte nicht sein…nicht so. Ihm war schlecht…schlecht vor sich selbst. Das war nicht er… Wenige Schritte trennten Aya von Schuldig, doch auch diese Distanz überwand er nun und legte die Hand auf den beladenen Arm seines Gegenübers. „Nein…das habe ich nicht. Ich weiß nicht, wie es ist, alleine aufzuwachsen…ich möchte dich auch nicht damit verletzen. Ich wollte nur…meiner Wut ein Ventil geben, nichts weiter. Ich habe das noch nicht einmal ernst gemeint…“, gab er schließlich zu und warf einen ruhigen Blick in das abgewandte Gesicht. Doch so schnell wie Ran sich besinnen konnte...so schnell wollte Schuldig seinen Schutz aus Kälte nicht aufgeben. Er blickte kurz auf die Hand, die sich auf seinen Arm gelegt hatte und sperrte ungeachtet davon die Tür auf, um die Wohnung zu betreten. "Du hast es ernst gemeint. Wenn du nicht wütend gewesen wärst, hättest du es nicht ausgesprochen, aber du hast es so gemeint. Und du hast sicherlich Recht. Wer will mit dieser Kindheit schon allein sein?" Innerlich war er aufgewühlt und er vermied den Blick in die Augen des anderen, ja gar auf die Person. Stattdessen brachte er die Einkäufe gleich in die Küche, begann sie auszuräumen, noch ohne sich die Jacke ausgezogen zu haben. Aya indes brauchte einen Moment um in die Wohnung treten zu können. Nein…er hatte es nicht ernst gemeint, das wusste er im Nachhinein doch. Ein großer Teil in ihm bedauerte die so unachtsam ausgesprochenen Worte. Leise betrat er die Wohnung und ließ die Tür hinter sich zufallen. Ging zu Schuldig und stellte die andere Tasche dort ab, überlegte einen Moment unschlüssig, was er tun sollte. Der ganzen Gestik des anderen Mannes nach wollte dieser seine Gesellschaft nicht. Natürlich nicht nach seinen Worten…das war nur zu gut nachvollziehbar. Die Arme unnütz an seinen Seiten zog sich Aya mit einem letzten, schweigenden Blick zurück. Er fühlte bereits, wie sich die Wut in den eigentlichen Grund umwandelte. In Trauer. Schuldig hatte gesagt, dass er nicht nachvollziehen konnte, wie es war, alleine aufzuwachsen. Das stimmte. Aber machte es das alleine Weiterleben nicht umso schmerzhafter? Er zog sich zurück…wieder in den schalldichten Raum ohne Licht, ohne Geräusche. Wie eine Schutzhöhle kam es ihm vor. Wie eine Flucht vor der Konfrontation. Nein, es WAR eine Flucht. Eine Flucht in sich selbst, hinein in eine der Ecken des Raumes, hinein in sein Bewusstsein. Die Beine angezogen, sich selbst verkrochen in seiner jämmerlichen Seele. Er bettete seine Stirn auf die Knie und ergab sich dem, was unweigerlich auf die Trauer folgte. Sich wiederholt wunderte, warum sie noch flossen. Schuldig hatte bemerkt wie Ran ihn angesehen hatte, hatte die Trauer förmlich hinter sich gespürt. Die Stille, die so schwer zwischen ihnen wog, die sich entfernenden Schritte wie ein stummes Schuldgeständnis wirkten, einen Rückzug vor seiner Verletztheit. Seufzend blickte Schuldig Ran nach, wie er die Tür hinter sich zuzog, sich in die abgeschiedene Dunkelheit zurückzog. "Das ist keine Lösung, Kleiner", sagte er mit einem traurigen Lächeln. "Ich weiß das...nur zu gut", fügte er sich abwendend hinzu und werkelte weiter. Für Aya war es eine Lösung…die beste, die sich ihm im Moment anbot. Seine Hände verkrampften sich in seinen Haaren, als er sich, völlig in Tränen aufgelöst hin und her wiegte, als sich Schluchzer an der Grenze dieses Raumes brachen. Es war nicht nur die Erinnerung an Schuldigs Schmerz, die sich losbrach. Es war die Erwartung des morgigen Tages, die Beerdigung seiner Schwester, die ihn in die Tiefen der Verzweiflung hinab zog. Er konnte das alles nicht durchstehen…er hatte keine Kraft mehr. Es ging nicht mehr… Der Wunsch, sich einzugraben und nie wieder aufzutauchen, wurde in den folgenden Momenten immens, ließ ihn die Nägel in seine Kopfhaut krallen. Schuldig stand auf der Terrasse, inhalierte den Rauch seiner Zigarette und verzog den Mund missmutig. Warum hatte er Rans Entschuldigung zurückgewiesen? ‚Das war bescheuert und völlig egoistisch.’ Aber es war für diesen Moment die einzige Lösung, die für ihn akzeptabel gewesen war. "Mist." Er drückte den Stummel aus und schnippte ihn davon. Danach ging er in die Wohnung zurück. Ran war seit einer halben Stunde in dem Raum und Schuldig wollte ihn nur ungern dort lassen. Vorsichtig öffnete er die Tür und heisere Schluchzer drangen ihm entgegen. Kurz hielt er betroffen inne. ‚Du verschlimmerst alles nur ständig mit deinem Trotz und deiner Unfähigkeit mit ihm umzugehen.’ Er ging näher zu Ran, kniete sich vor ihn und hüllte den Mann in eine Umarmung. "Ran...bitte komm hier raus...der Raum...er ist nicht gut für dich." Er strich über den verkrampften Rücken, massierte sanft den Nacken unter dem schweren Haar. "Er wurde nicht zum Trauern geschaffen, er ist nicht dazu fähig deine Trauer aufzunehmen...er wirft sie zu dir zurück. Bitte, komm raus hier." Sanfte Worte, den Mann in einer Umarmung haltend. Er würde ihn hier hinaus bringen. Für lange, traurige Momente blieb es jedoch nur bei Schuldigs Vorschlag. Aya wehrte sich zwar nicht gegen die Umarmung, aber er machte auch keine Anstalten, Selbstinitiative zu zeigen. Es schien bedeutungslos, dass Schuldig diese niederschmetternden Tränen miterlebte. Es war bedeutungslos, wie sehr der andere Mann ihn davon zu überzeugen suchte, dass er nicht hier blieb…sich nicht seinen Gedanken aussetzte. Dennoch…machte er es vielleicht unbewusst falsch? War seine Variante der Trauerbewältigung vielleicht falsch und wirklich nur dazu gedacht, all das Elend wieder auf ihn zurückzuwerfen? Seine Gedanken, die im Kreise liefen, seinen Körper nicht verließen. War es wirklich besser, sie zu äußern? Über sie zu sprechen? Mit Schuldig? Den er…nur er verletzt hatte? Der schon wieder einen Schritt auf ihn zugetan hatte. Aya verstummte mit der Zeit, versuchte, sich auf das Körperliche zu konzentrieren. Er lauschte auf die Hände, die ihn besänftigten, die Worte…alleine die Worte… Nach und nach lösten sich seine Nägel von seiner Kopfhaut, ließen ein schmerzhaftes Pochen zurück. Nach und nach gewann er an Ruhe um schließlich seinen Kopf zu heben und Schuldig in die Augen sehen zu können. Er versuchte, etwas zu sagen, scheiterte aber schon wie zuvor an dem Kloß in seinem Hals. So mussten seine Augen das übernehmen, was seine Stimme sonst tat. "Komm raus hier", sagte Schuldig sanft, der Einsamkeit und dem Schmerz in dem schimmernden Violett standhaltend. Er hielt Ran noch in der Umarmung und stemmte sich mit ihm in die Höhe um dem Anderen zu zeigen, dass es ihm durchaus ernst mit seinen Worten war. So lehnten sie an der weichen Wand. „Ja…“ Ein Ja zu Schuldigs Vorschlag, ein Ja zum Mut, aus dieser Flucht herauszutreten, ein Ja zum Versuch, anders zu trauern, als Aya es jetzt tat. Er blinzelte nun schon entschlossener als vorher die Tränen weg, die alleine schon unzählig seine Wangen entstellten. Doch trotz aller guten Vorsätze war es nicht er, der sich von der Wand löste. Sich lösen konnte…schwer lehnte er an dem unter Umständen angenehmen Stoff und sah durch das spärliche Licht, das hineinfiel, in die Augen des Mannes, die ihm die Stärke gaben, die ihm momentan fehlte. Ja, er war schwach gewesen. Gerade noch, nicht einmal ein paar Minuten entfernt und dennoch gab ihm die Anwesenheit des Telepathen Kraft….Versicherung, dass es auch anders sein konnte. Dass er anders war. Er hatte in den letzten drei Jahren von heute auf morgen soviel über sich und andere gelernt…gelernt zu leben, dass er nicht verzweifeln konnte. Nicht, wenn er sein ganzes Bestreben im Kampf zunichte machen wollte. Aya erstaunten und verwirrten diese Stimmungsschwankungen. Als er noch das Ziel vor Augen hatte, seine Schwester zu retten, war er nach dem Tode ihrer Eltern nicht mehr zusammengebrochen, doch nun…schien manchmal einfach kein Halten mehr. Unmännlich, schrie der Krieger in ihm ob der Tränen, die er vergoss. Notwendig, die Seite, die lange nicht getrauert hatte…die nie zu trauern gewagt hatte. Doch was sagte er selbst? Aya sagte, dass er leben wollte. Zwar nur für sich, nicht für Schuldig, doch er wollte leben. Ohne diese Einbrüche. Entschlossenheit durchfloss seine traurigen Züge. Doch dies tat der Trauer an sich keinen Abbruch, auch wenn Aya begriff, dass er damit leben musste. Nein…sie selbst leben musste. Sich tief in den Abgrund zu stürzen um gestärkt emporzusteigen. Ran schien mit sich selbst zu ringen, ließ sich aber nicht aufgebend in seine Arme fallen, sondern blieb aufrecht stehen. Schuldig gab ihm die Zeit die er brauchte um sich wieder zu fassen. Für den Telepathen war es zwar kein neues Bild mehr, welches sich ihm geboten hatte, als er den in Tränen aufgelösten Mann gesehen hatte, doch irgendetwas in ihm fühlte sich davon betroffen. Es tat ihm leid...ja...das tat es. Ein merkwürdiges Gefühl und er mochte es nicht. Es schnürte ihm die Luft ab und ließ ihn sich hilflos fühlen. Seine Hand hob sich und er wischte die Tränenspuren mit dem Daumen der Linken von Ayas Wange. Eine Geste der Versöhnung oder der Anteilnahme... Er wusste nicht was ihn dazu veranlasst hatte. Aber der Kontakt mit der heißen Haut, der salzigen Flüssigkeit fühlte sich für ihn als etwas Besonderes an. Diese ganze Geste hatte für ihn etwas Merkwürdiges...hatte er sie doch noch nie gebraucht. "Sollen wir?" fragte Schuldig, die Entscheidung Ran überlassend. Es schien jedoch, als würde Aya einen Moment lang über die Berührung des anderen Mannes sinnieren. Ebenso wie dieser über die Bedeutung nachdenken. Über die Bedeutung, die eben diese auch für ihn haben mochte. Noch vor drei Wochen hätte er sie nicht toleriert. Vor drei Wochen war es ihm so wichtig Abstand zu halten und seine Schicht aus Indifferenz vor sich her zu tragen, um eben die mit allen Kräften zu retten, der sein ganzer Kampf galt. Doch dieser Engel war nun dorthin zurückgekehrt, wo sie herkam und hatte ihm den Grund des Schutzes genommen. Nicht ganz...vielleicht nur einen kleinen Teil. Doch dieser Teil reichte anscheinend, um so etwas wie gerade möglich zu machen. Wie oft hatte der Telepath ihn in den letzten, verzweifelten Tagen umarmt, angefasst und berührt? Und wie oft hatte er nichts dagegen getan? Letzten Endes waren es unwichtige Fragen, deren Beantwortung nichts Neues bringen würde, geschweige denn ihm weiter zu helfen. Aya wusste, dass es anders werden würde, wenn er wieder er selbst war. Dass er dann auf Distanz gehen konnte. Doch bis dahin... ...nickte er dem Telepathen auf dessen Vorschlag hin stumm zu und löste sich von der Wand, von dem Raum, unisono damit auch von seinem kurzweiligen Zusammenbruch. Es war ein Versuch, nach vorne zu schauen, zu sehen, dass es auch anderes gab außer Verkriechen und Trauer. Dass er auch noch Stärke besaß. Eigene Stärke, die er sich die Jahre über hinweg aufgebaut hatte. Ihm war schlecht beim Gedanken an die morgige Beerdigung, das stimmte. Doch das hieß nicht, dass er sie nicht überstehen konnte. Ganz im Gegenteil. Vielleicht war genau das der Zeitpunkt, um sich einen kleinen Schubs nach vorne zu geben. Oder geben zu lassen, je nachdem. Von seinem Team, das sich sorgte. Von Schuldig, der sich...augenscheinlich auch sorgte. Aya streifte lautlos über den Boden des weitläufigen Lofts und ließ sich schließlich auf das weiche Sofa gleiten. Eines von den Zweien. Doch er zog weder die Beine zu sich, noch weinte er. Was auch das völlig Falsche gewesen wäre. Auch wenn Schuldig die Nähe schon vermisste als Ran sich von ihm löste, so positiv fand er, dass sich dieser nicht hängen ließ sondern aufstand, selbst aus dem Raum ging. Schuldig fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, rieb sich die Augen und wischte sich die Haare hinter die Ohren. Was für eine Aufregung. Zögernd ging er aus dem Raum, fand Ran auf der Couch vor, der Fernseher dudelte immer noch sein Programm herunter. Es war früher Nachmittag und draußen war es ihm als wären die Wolken nur hin und wieder von schwachen Sonnenstrahlen durchbrochen. Seltsames Wetter. Sein Blick wandte sich wieder Ran zu und er stand unschlüssig da. "Willst du eine Decke, Ran?" Er fühlte sich schon wieder so hilflos, sobald er nicht mehr in der körperlichen Nähe des anderen war. Aufseufzend setzte er sich in eben diese Nähe, Ran zugewandt ein Bein unterschlagen und nestelte am fremden Pulloversaum herum, sein Blick darauf fixiert und vor sich hinbrütend. Ayas Blick senkte sich automatisch auf die unsteten Finger, die minimalen Zug ausübten. Schon wieder herrschte eine Verbindung zwischen ihnen, gerade so, als könnte Schuldig nicht ohne Kontakt auskommen. Doch war es nicht genau so? Schon bei ihrer unseligen Begegnung im Keller hatte Schuldig ihn berühren müssen. Auf mehrfache Art und Weise. Wie ein Zwang hatte sich das die letzten Wochen fortgesetzt. Und er selbst hatte es wieder und wieder toleriert. Mal mehr, mal weniger freiwillig, das gestand er sich ein. Ob Schuldig wohl wusste, um was es sich hierbei für einen Pullover handelte? Vermutlich nicht. Sein Blick huschte über die ihm verdeckten Augen des Telepathen. Es war schwer, hinter dieser ruhe-, ja beinahe schon hilflosen Gestalt den Mann zu identifizieren, der auch anders sein konnte und dessen böses Wesen ihm schon mit mancher Menschen Blut den Weg gepflastert hatte. Doch davon konnte auch Aya selbst sich nicht freisprechen. Niemand von ihnen konnte das. Er seufzte leise und beugte sich langsam zu Schuldig herüber, griff sacht zu der hinter seinem Gegenüber liegenden Decke und entfaltete sie. Er wollte keine Decke, doch in diesem Moment hatte er das Gefühl, den Telepathen darin einwickeln zu müssen, so wie er es mit Aya früher getan hatte, wenn sie so dermaßen…schutzbedürftig ausgesehen hatte. Er legte sie Schuldig über die zusammengefallenen Schultern. Aya fühlte tief in sich instinktiv, dass er sich in diesem Moment keinen Trost zukommen lassen konnte, nicht, wenn er wieder stark werden wollte. Sein Körper war dem des anderen Mannes so nah, dass er die Wärme fühlen konnte, die von diesem ausging. Den Atem des Feuerschopfes, der über seinen Hals strich. „Der Pullover…ist das Weihnachtsgeschenk meiner Mutter, bevor sie verstorben ist“, erklärte er schließlich und lehnte sich wieder zurück in seine Ausgangsposition. Zupfte dann doch noch einmal die Decke um die Schultern des Deutschen zu Recht. Er hatte sich nicht gerührt als Ran näher gekommen war, bewusst sich in seine Nähe begeben hatte, doch seine Hände hätten ihn am Liebsten gefühlt, ihn an sich gezogen. Nichts dergleichen geschah, denn er verbat es sich, genoss jedoch die Fürsorge, mit der er zugedeckt wurde, obwohl ihm nicht kalt war. Er beließ die Decke, zog sie fester um sich, als wäre sie eine Trophäe aus einem Kampf, den er gewonnen hatte, diese Geste ein Gegenstand, der ihm zusätzlich Wärme in den Körper trieb ...und die kam nicht von der wollenen Umhüllung ... Als er die Worte vernahm wanderte sein Blick über den auffälligen Pullover. "Er trägt sich sicher anders...", verzog er den Mund zu einem traurigen Lächeln." Er ist sicher wärmer als alle anderen Pullover, die es gibt, nicht?" Er meinte es ernst und fühlte sich so ruhig und ausgeglichen wie lange nicht mehr. Aber er redete Unsinn, wie ihm auffiel. Doch genauso schnell wie dieser scheinbar rationale Einwand kam, wischte er ihn weg. Es war gleich. Sollte Ran ihn auslachen. Er verhielt sich nicht so wie er es von ihm gewohnt war. Du bist zu weich, tadelte ihn etwas im Innern. Aber es ist gut wenn du sanfter zu ihm bist...so wird er dir ganz gehören, bald, sehr bald... Schuldig schluckte diese Gedanken hinunter, schloss für Sekunden die Augen. ’Konnte Ran diese Stimme nicht verschwinden lassen? Schieb nicht alles irgendwelchen Stimmen zu! Das bist du selbst! Deine Gier nach ihm, dein Verlangen kollidiert mit deiner Beherrschung, deiner Ratio, die noch übrig ist in deinem verkorksten Gehirn. Und diese Ratio hast du nicht dir selbst zu verdanken, bedenke das! Die wenigen Leute, von denen du gelernt hast ...nicht zuletzt...ja...nicht zuletzt auch Brad, halten diese Ratio aufrecht. Vergiss das nie.’ Ein zynisches Lächeln erlaubte er sich noch, bevor er es von seinem Gesicht wischte und zu Ran aufsah, die Augen klar, die Haare locker zusammengefasst, das Antlitz offen und frei. Aya lachte Schuldig nicht aus, auch wenn er nun lächelte und damit Schuldigs Worte bestätigte. „Das ist er. Viel wärmer als alle anderen.“ Seine Augen erwiderten den Blick des Deutschen ohne Mühe, auch wenn in Aya kurzzeitig die Frage aufflackerte, was wohl gewesen wäre, hätte er den Pullover an jenem unseligen Tag getragen, der ihn sein Oberteil gekostet hatte. Was wäre gewesen, hätten Schwarz anstelle von einem erinnerungslosen Stück eben dieses Geschenk zerstört? Er wusste es nicht und es machte ihn zu unruhig, als dass er weiter darüber nachdenken wollte. „Aber das Gleiche lässt sich über deinen Bären sagen. Viel wertvoller als alle anderen Bären auf der Welt.“ Aya nickte leicht, strich beinahe zärtlich über den Ärmel seines Pullovers. "Es ist nur ein Bär." Schuldigs sparsame Antwort sagte weniger aus als sein Gesichtsausdruck, der etwas verdrießlich war, die Lippen ansatzweise mit einem trotzigen Zug versehen. "Er spielt keine Rolle mehr." Er wollte nicht über dieses alte Ding reden, weil das zuviel Erinnerungen in ihm wachrief, die ihn schmerzten, die er jetzt nicht haben wollte, weil sie zuviel offenbarten. "Hat deine Mutter ihn selbst gemacht?", lenkte er das Thema von sich auf den Pullover fort. „Ja…sie hat ihn selbst gestrickt. Sich drei Monate vorher für drei Stunden abends zurückgezogen und ihn fertig gestrickt.“ Ayas Lächeln wurde für einen Moment bitter. „Ich habe ihn gehasst…seiner Farbe wegen. Ebenso sehr wie du deinen Teddy hassen musst, wenn du ihn schon so ‚verletzt’ hast. Doch als sie dann gestorben ist…und mit ihr alles, was wir hatten, konnte und wollte ich ihn nicht mehr hassen. Ich glaube deswegen auch nicht, dass es nur ein Bär ist. Du hast ihn nicht umsonst ‚aufgeschlitzt’.“ Sein Blick fiel auf die schmale Verschorfung an Schuldigs Schläfe…sah sie im Hellen doch noch schrecklicher aus, als in der mondbeschienenen Dunkelheit. Hmm, das Thema gefiel ihm nicht sonderlich und er wand sich etwas, setzte sich mit seiner Decke bequemer. "Er tut so als wäre er mein Gewissen, dabei kapiert er gar nichts", brummte er nun wirklich schmollend. "Er hat mich genervt, wie er da rumlag und mich unschuldig angeglotzt hat." Er lächelte schräg und seine Augen funkelten frech. Der Druck in seinem Brustkorb löste sich langsam und er fühlte, dass er darüber reden konnte, hatte Ran doch schon soviel von sich gezeigt. Sein Blick fiel wieder auf den Pullover. "Seltsam, sie muss einen schrägen Sinn für Farbkombinationen gehabt haben." Dass er diese Kombination auch manchmal trug, eben weil ihm die rote Farbe gefiel, ließ er außen vor. Aya legte seinen Kopf leicht schief, um Schuldig in Augenschein zu nehmen. „Sie meinte, dass es ideal zu meinen Haaren passen würde. Und war nachher auch völlig begeistert anhand der ‚harmonischen’ Kombination. Auch wenn Vater ihr…anderes gesagt hat. Und Aya auch.“ Für einen Moment ebbten Ayas Worte zu einem verhaltenen Schweigen ab, bevor er sich wieder fing. Er nahm Schuldig noch genauer in Augenschein. „Crawford hat zu mir gesagt, dass dein Gewissen tot ist…dass es nicht mehr existiert. Aber wie kommt es, dass es verarztet und bandagiert auf dem Bett liegt und sich seines Lebens erfreut?“ Schuldig blickte so schnell auf, dass er meinte, dass sein Genick dabei laut geknackt hatte und es weithin in dem Raum zu hören war. Doch es war nichts, er starrte nur Ran an und sein Mund fühlte sich mit einem Mal trocken an. Er wollte nicht, dass diese wissenden Augen ihn auseinander nahmen. Enge legte sich wieder um ihn. ‚Sag etwas, irgendetwas. Er wird dann schon aufhören mit fragen.’ "Du...du hast ihn festgehalten, als es dir nicht gut ging und...und jetzt wo du wieder hier warst, konnte ich ihn nicht so liegenlassen, ich wollte ihn dir nicht so geben mit dem heraushängenden Innenleben, das hätte nicht schön ausgesehen." Sein Gesicht war bleich und er sah Ran mit der Tendenz zur Flucht an. Als würde das heißen: Sag jetzt nichts Schlimmes zu mir. Es schien, als hätte Aya die stumme, verzweifelte Botschaft des Telepathen gehört. Als könnte er wie ein Weiser in dem Buch Schuldig lesen, das so offen und angespannt vor ihm lag, dessen Seiten nervös flatterten und vor dem kleinsten Windstoß die Flucht ergreifen wollten. Violette Augen verloren an unwillkürlicher Schärfe, als sich Aya seines inquisitorischen Blickes gewahr wurde. Sie wurden milde, so wie sie es bei Omi immer taten, wenn er dem Jungen Unterstützung zusichern wollte. „Wir wissen beide, dass das nicht der einzige Grund ist“, lächelte er schließlich Zuversicht bekräftigend und erhob sich langsam. „Kaffee? Tee? Ich wollte welchen kochen.“ "Ja?" kam die Antwort von Schuldig etwas zögerlich und verhuscht. War es so? Was sollte es da noch geben? Auf der Couch sitzen bleibend hatte Schuldig Ran nun den Rücken zugedreht, als er "Kaffee" antwortete, sich darüber bewusst werdend, dass Ran ihn etwas gefragt hatte. Er war in gewisser Weise erleichtert, dass Ran sich kurz aus seiner unmittelbaren Umgebung verzogen hatte, so hatte er für kurze Momente Zeit Luft zu holen, sich ein unverfängliches, unkompliziertes Thema auszusuchen. Er hatte nämlich keine Lust über sich zu sprechen. Aber würde Ran so schnell locker lassen? Ohne sich der wirklichen Gründe für die Versorgung des Bären bewusst zu entsinnen, blieb er sitzen und umkreiste dieses Thema wie ein Geier. Aya wusste um den Zustand, in dem Schuldig sich befand. Leider nur allzu gut, hatte er doch mehrmals sehen können, wohin diese Disbalance führte. Ihn führte. Nichts war schlimmer als ein in die Enge getriebener Telepath. Da setzte Aya lieber Kaffee auf, schüttete nachdenklich Löffel um Löffel um Löffel um…Löffel in den Filter. Achtete nicht wirklich auf die Menge, als er ausreichend Wasser mit hinzu gab und die verzweifelt aufspuckende Maschine anwarf. Sich in Gedanken versunken Tee aufsetzte. Ich habe dir etwas voraus, Crawford, merkst du das, lächelte er innerlich. DU magst der Ansicht sein, dass es den Schuldig auf dem Bild nicht mehr gibt, doch ich weiß es besser. Auch wenn ich nur der Feind bin. Auch wenn ich nur durch Zufall darüber gestolpert bin. Aber das spricht nur für dein armseliges Feingefühl. Für deine Unfähigkeit, ein Team alleine mit Mitgefühl und Sorge zusammen zu halten. Ein verächtliches Schnauben folgte. Einen Blick auf das zugedeckte Bild werfend, drehte er es auf den eigentlichen Rücken und ließ seine Augen über die junge Gestalt gleiten. Hatte dieser Junge damals schon gewusst, dass er ein Killer werden würde? Dass er Menschen wie die, die um ihn herumstanden, töten würde? Sicherlich nicht…wie keiner von ihnen. Er lauschte dem finalen Kampf des Kaffees mit der Maschine und nahm sich dann eine Tasse, schüttete die todschwarze Substanz hinein. Die wirklich SCHWARZ war. Da fiel kein Lichtschimmer mehr durch. Aya runzelte die Stirn. Sah Youjis Kaffee auch immer so aus? Er zuckte mit den Schultern, nahm sich seinen Tee und kehrte zu Schuldig zurück. Setzte sich wieder neben dem Deutschen auf die Couch, schwieg jedoch. Der Telepath sollte ein Thema beginnen, das IHM genehm war. Schuldig hob die Hand als er Ran neben sich spürte um die Tasse in Empfang zu nehmen. Ein Blick hinein und ihm war klar was er hier vor sich hatte: Ein Attentat auf ihn. Probehalber nahm er einen Schluck und schluckte mühsam den zu starken Kaffee hinunter, dabei den Mund leicht verziehend und die Stirn in Falten legend. "Ich hab ein schwaches Herz", sagte er stocktrocken und machte große, bemitleidenswerte Augen, die Mundwinkel stark nach unten hängend, doch ein sanftes Glitzern in den ausdrucksstarken Augen. Aya runzelte nicht wirklich verständig seine Stirn, zog dann jedoch nach einem zweiten Blick die Kaffeetasse zu sich. Natürlich…zuviel Bohne. Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen, als sich ein schmalgliedriger Zeigefinger auf eben diese todesgefährliche, giftige Substanz richtete. „Ist er zu stark…“, der Finger schnellte vor, platzierte sich ein wenig entfernt von der Wunde auf das Herz des Deutschen. „…bist du zu schwach.“ Sein Blick glitt hoch in die allzu armen, grünen Augen. „Aber dem kann durchaus Abhilfe geschaffen werden. Es wäre gar schrecklich, wenn dich ein solches Schicksal ereilen würde…tut es heißes Wasser? Oder soll ich dir noch einen neuen aufsetzen?“ Schuldig verzog das Gesicht zu einer Grimasse. "Ja, ich hab nur ein Hauch von Herz", griente er mit einem frechen Lächeln und wackelte mit den Augenbrauen. "Ich glaube ich mach mir lieber nen Tee, der sieht lecker aus, ist das deiner?" „Nimm dir“, entgegnete Aya und reichte Schuldig den herzschonenden Tee, erhob sich ein weiteres Mal. „Ich mach mir einen neuen.“ Sprach’s und nahm die teuflische Tasse Tod mit sich in die Küche. Schüttete sie den Abfluss hinab. Dass er gut kochen konnte, hieß noch lange nicht, dass Getränke mit inbegriffen waren. Besonders Kaffee nicht. Das war Youjis Aufgabe und wehe, jemand anderes hatte sich an die Kaffeemaschine gewagt. Er wartete, bis das übrig gebliebene Wasser ein zweites Mal kochte und kehrte dann zurück zu dem hauchherzigen Menschen, ließ sich ein zweites und letztes Mal neben Schuldig nieder. „Erzähl mir etwas von deiner Kindheit“, forderte er schließlich ruhig und stellte seinen Tee auf den Couchtisch. Auf seiner Lippe herumkauend blickte Schuldig nachdenklich und auch etwas Zeit schindend in seinen Tee, den Ran ihm gegeben hatte... eigentlich Rans Tee. "Da gibt es nichts Besonderes zu erzählen. Nichts Weltbewegendes, Spektakuläres. Es lohnt sich kaum, darüber was zu sagen" Er dachte einige Momente darüber nach. "Mir fällt zumindest nichts ein was interessant wäre." „Ich möchte auch nichts Spektakuläres hören. Erzähle mir irgendetwas“, hakte Aya schier unerbittlich nach. Auf eine völlig sanfte und ruhige Art und Weise…dennoch ließ er sich nicht abschütteln. Zumindest nicht so. Nicht, wenn er sich wirklich für etwas interessierte. Aya nahm einen Schluck aus seiner Tasse und ließ seinen Blick über Schuldig schweifen. Schon wieder. Angestrengt und in Gedanken vertieft lag die Stirn in Falten, während der Blick unsicher zu Ran huschte. Niemand wollte bisher so etwas von ihm wissen. Und wie er aus der Stimme und auch an den Augen sehen konnte, würde Ran nicht so schnell lockerlassen. "Ich kam erst mit vier ins Heim, glaub ich...meine Mutter musste in die Psychiatrie, mein Vater war schon lange in Betrachtung der Würmer unter der Erde vertieft...glaub ich." Er erzählte das so nüchtern wie ihm möglich war, als gehöre ihm diese Vergangenheit nicht, war nicht seine, sondern eine Geschichte die sich einmal zugetragen hatte...aber eine traurige... "Sie ...also meine Mom...sie hat in der Psychiatrie Selbstmord begangen und naja da stand ich dann alleine da." Es war das Wetter, wie es Aya hier zugetragen wurde. Zumindest konnte es das sein, wenn es nach Schuldigs Stimmlange ging. Doch es war kaum so harmlos wie das Wetter, was er hier erfuhr. Er mochte sich nicht ausmalen, was das der kleinen Kinderseele angetan hatte. Aya fühlte mehr als dass er es wirklich wusste, dass er dem anderen Mann nicht mit offenem Mitleid begegnen sollte…nicht, wenn dieser versuchte, auf einer sachlichen Ebene zu bleiben. Wenn sachlich überhaupt möglich war. „Und was ist dann passiert?“, fragte er ruhig, lehnte sich zurück, den Oberkörper Schuldig zugewandt. Jetzt hatte der Rothaarige wohl Blut geleckt, so wie er sich ihm aufmerksam zudrehte und ihn in Augenschein nahm, stellte Schuldig fest und seufze unhörbar. "Ich kam in ein katholisches Waisenhaus. Es war nicht schlecht da. Die Leute waren nett und ich hatte was zu essen, es war ein geregelter Tagesablauf und ich hatte ein paar Freunde. Meine Mom... es war etwas schwierig mit ihr, ich weiß nur, dass ich oft allein zu hause war und Nachbarn auf mich aufgepasst haben. Ansonsten habe ich keine Erinnerung mehr daran. Im Heim haben sie mir das erzählt und das meine Mom in der Psychiatrie ist. Damals wusste ich nicht, was das war ...lange Zeit wusste ich es nicht. Ich wusste nur, dass dort meine Mutter gestorben ist. Ich will nicht in einer Psychiatrie sterben." „Weiß Crawford das? Oder hat er dich absichtlich dort eingeliefert?“, fragte Aya mit einem bitteren Unterton, konnte nicht wirklich glauben, dass dieser unselige Aufenthalt erholsam für den Telepathen gewesen war. Nicht, wie sie ihn dort unter Drogen gesetzt und bei Bewusstsein gefesselt auf diesem Bett gefunden hatte. Hilflos in dieser klaustrophobisch anmutenden Atmosphäre. Wenn er daran dachte, dass sie die Situation beinahe noch verschlimmert hätten…tat es ihm leid. Wirklich leid. Das hatte er niemals gewollt. "Crawford?" Er lächelte fast unsichtbar, blickte dabei nach draußen. "Nein, er wusste das nicht. Aber ich habe mich auch nicht gewehrt, es war eher ein kleines Spiel zwischen uns...mit vielleicht therapeutischem Hintergrund. Wir hatten in letzter Zeit viel zu tun und ich drehte immer öfter ab. Das Sanatorium wäre mit Sicherheit nicht so schlecht gewesen. Ich wäre gezwungen gewesen nichts zu tun, mich von meinen alltäglichen Gedanken auszuklinken, schon allein um die Ärzte zu narren...das hätte mir Spaß gemacht." Er lachte freudlos auf. "Er weiß viel von mir... aber das wollte ich ihm nicht erzählen, er mag es nicht, wenn ich Schwäche zeige, es macht ihn wütend." Schuldig runzelte die Stirn und nahm dann einen Schluck seines Getränks. Aya spiegelte die Bewegung des Telepathen. Und da war schon wieder etwas, das er Crawford voraus hatte…schon wieder ein Stück mehr bitteres Wissen, das sich in den unsortierten Strudel einfügte und mit den anderen Fragmenten um die Wette tanzte. „Warum macht ihn das wütend? Weil er innerlich selbst schwach ist? Weil er darin nur einen Spiegel seiner selbst sieht?“, mutmaßte Aya und wünschte sich nur zu gerne, dass er Recht hatte. Dass der Amerikaner in all seiner Selbstherrlichkeit ein schwaches, hilfloses Männlein war, dessen Menschlichkeit ebenso schmerzend war wie die jedes anderen Menschen auch. Aya sinnierte für einen Moment über das Gesagte nach. Mehr als Crawford interessierten ihn jedoch andere Dinge. Ruhig versuchte er an das anzuknüpfen, was er gerade erfahren hatte. „Dieses…Waisenhaus. War es das auf dem Bild?“ Schuldig versteifte sich für einen Moment. Er wollte nicht, ...konnte es nicht zulassen, dass jemand Crawford beleidigte. "Nein. Er ist nicht schwach. Er ist manchmal sogar für mich mit stark, wenn ich anfange abzudrehen. Deshalb mag er es nicht, er will dass ich selber stark bin um das zu unterbinden. Er hat mich sonst immer an der Backe kleben." Schuldig lachte leise. "Das Bild...ja das ist das Waisenhaus. Ich war ziemlich lange dort, bin auch von dort in die Schule gegangen." Aya glaubte Schuldig die Sache mit Crawford nicht. Auch wenn es ihm durchaus logisch schien…im Nachhinein. Daher der Besuch des Amerikaners nach der Mission. Deswegen war es Crawford gewesen, der ihm Wasser und Tee eingeflößt hatte…von dieser ekelhaften Suppe ganz zu schweigen. Weil Schuldig nicht stark genug dazu gewesen war. Vielleicht sorgte sich Crawford ja doch um sein Team. Vielleicht. Der rothaarige Mann nahm nachdenklich einen Schluck aus seiner Teetasse und beschloss, dieses leidige Thema vorerst abzuhaken. Vielleicht musste er sich ja gar nicht damit herumschlagen….wer wusste das schon. Was er wusste, war, dass er höchst neugierig war. Vermutlich zu neugierig, als dass es ihm irgendwie gut tun würde. „Konntest du auch damals schon die Gedanken der Anderen lesen?“, fragte er, als würde es sich um nichts Wichtiges handeln. Das Wetter. Kein Mitleid. Einfach nur das Wetter. Wie gut, dass dem aber nicht so war. "Ja, konnte ich", sagte Schuldig schlicht. "Ich dachte früher oft, dass ich verrückt wie Mom werde. Dass sie deshalb gestorben ist. Dann dachte ich eine Zeit lang, so ab zwölf, dass sie deshalb verrückt geworden ist, weil ich besessen war, dass ich von Stimmen besessen war, vom Teufel und sie deshalb in die Klapse kam und sich schließlich umgebracht hat, weil sie mich bekommen hatte und ich so missraten war. Es hat noch eine Zeit lang gedauert, bis ich das als metaphysischen Vorgang abhaken konnte." Schuldig zuckte mit den Schultern. So sehr Ayas Inneres sich auch vor Schmerz über diesen Verlust zusammenzog…wie groß das Mitleid auch war, das er für den anderen Mann empfand, so wenig zeigte er es nach außen. Horror wucherte in ihm angesichts dieser Vergangenheit…konnte er sich doch genau die Qualen einer armen Kinderseele vorstellen, die sich für Jahre dafür verantwortlich machte, dass der Mensch sich umgebracht hatte, der womöglich die einzige Bezugsperson war. Und da hatte er gedacht, dass nur er litt? „Was ist danach geschehen? Nach dem Waisenhaus?“ "Nichts Schönes." Schuldig hatte seinen Blick gehoben und sah Ran unvermittelt an. Unsicherheit und viele Fragen standen in seinen Augen, sein Gesicht reglos. "Ich bin getürmt, nach Frankreich wollte ich und schlussendlich haben mich SZ aufgelesen, noch bevor ich mein Ziel erreicht hatte. Da war ich vierzehn, so um den Dreh glaub ich." Wollte er das alles erzählen? Immer wenn er kurz davor war einen Rückzieher zu machen, wagte er sich weiter vor, doch lange würde es wohl nicht mehr gehen spürte er, denn er zog sich mehr und mehr in sich selbst zurück. „Nach Frankreich….was wolltest du da?“, hakte Aya nach und erwiderte den allzu offenen Blick des Deutschen ebenso ohne Scheu. Gewährte diesem einen kurzen Fensterblick in seine eigene Gefühlswelt. Auch wenn Schuldig das Eintreten verwehrt blieb…vermutlich immer bleiben würde. Aya wusste nicht, woher sie kamen, doch er hatte nicht vor, diese wirksamen Schilde aufzugeben, die ihm wieder und wieder ein Gefühl der Sicherheit vermittelten. „ß…sie sind die, gegen die wir in der Kathedrale gekämpft haben…sie sind alles andere als harmlos, oder?“ "Einfach weg, glaub ich. Und die Kids ...von denen ich der Jüngste war, die wollten da hin und ich dachte wohl einfach, dort würde mich keiner finden. Der Älteste von ihnen war achtzehn und lebte schon seit Jahren auf der Straße. Ich war so was wie Frischfleisch, könnte man sagen. Sie nahmen mich trotzdem mit. Er hat wohl geahnt, dass ich mich nicht abhängen lassen würde. Damals konnte ich nicht vollständig die Gedanken abschotten, sie waren immer da als Hintergrundgeräusch und wurden schlimmer. Deshalb bin ich auch abgehauen. Ich dachte ich könnte auch vor ihnen davonlaufen. Hab mich wohl geirrt." „Was ist dann passiert? Als ß dich gefunden hat?“, fragte Aya, ging in seinen Gedanken systematisch Punkt für Punkt ab. Er musste nicht mehr darauf achten, dass er zuviel über den Mann wusste, der im Kampf sein Feind war. Kritiker konnten ihn nicht mehr erpressen. Er kämpfte nicht mehr für sie. Er konnte fragen, was er wollte…konnte die Antworten abspeichern, ohne dass er Angst haben musste, dass sie ihm zum Verhängnis wurden. Niemals mehr… Schuldig nahm den letzten Schluck aus seiner Tasse und befreite sich umständlich aus seiner Decke. "Willst du noch einen?" fragte er statt die Frage, die ihm gestellt worden war, zu beantworten. Er brauchte einen Moment für sich und hatte die Küche als Fluchtmöglichkeit ins Auge gefasst. „Nein, ich habe noch“, erwiderte Aya und entließ den Deutschen somit aus seiner Fragerei, hatte er doch genau gesehen, wie eilig es Schuldig hatte, von ihm wegzukommen. Als wäre er eine Gefahr…etwas Bedrohliches oder Beängstigendes… Er ließ Schuldig davonkommen, ohne es zu kommentieren. Auch wenn es ihn schon interessiert hätte. Der Flüchtling ließ sich Zeit mit seinem Tee und als er wieder zurückkam, wählte er einen neuen Sitzplatz - das Fensterbrett, nachdem er Ran ein entschuldigendes Lächeln entgegen gebracht hatte. Hier fühlte er sich wohler, hier war der Blick auf die Weite besser. Langsam kehrte sich auch der Tag zur Neige, obwohl es erst Nachmittag war. Aya nahm das Lächeln mit einem Nicken entgegen. Doch den Rückzug ließ er nicht gelten…zumindest nicht jetzt. Schuldig hatte seine Schonzeit ausgekostet und würde nun wieder involviert werden… Langsam stand Aya auf und schlenderte zu einem der großen Panoramafenster. Er hievte sich ebenso auf den Sims und lehnte sich an der gegenüberliegenden Wand an. „Du sprichst nicht gerne über deine Vergangenheit“, stellte er als Aussage in den Raum, nicht als Frage. „Nur mit mir nicht oder allgemein?“ "So kann man das nicht sagen...es ist nur ...neu ...für mich darüber zu sprechen." Er spielte mit seinen zusammengebundenen Haaren, den Ellbogen auf das Knie abgestützt. Das Bein auf den breiten Sims gestellt. "Es ist im Prinzip nichts Interessantes, wie ich schon sagte nichts Spektakuläres, was meine von dir wohl so gesehene ...irre Psyche erklärt." Er schwieg, umschloss mit der linken Hand fest seine Tasse. "Ich ...was könnte ich dir groß erzählen, was nicht wieder Hass hervorruft?" „Hass? Habe ich dich gehasst, als du mir die wahren Gründe für deine zweitägige…Abstinenz erklärt hast?“, gab Aya mit offenem Blick in die Augen des Telepathen zurück. Ja, kurz hatte er es getan. Kurz…doch nach und nach hatte es sich verlaufen, hatte der Hass in ihm Akzeptanz Platz gemacht. „Wie kommst du darauf, dass alles, was ich empfinden kann, Hass ist?“ Konfrontationskurs mit Schuldig. Leichte Provokation. „Nichts, was du erzählst, ist uninteressant oder ruft Hass hervor, noch maße ich mir ein Urteil über deine Psyche an. Und wenn, dann nur, weil ich genauso verrückt bin.“ "Ich weiß nicht, was du denkst, Ran“, sagte er und lehnte den Kopf an die Fensterscheibe, kühlte die hitzigen Gedanken dahinter etwas. "Es ist schwer für mich zu glauben, da wäre etwas anderes außer Hass, obwohl ich es mir wohl wünsche." Er redete schnell weiter, bevor Ran noch etwas dazu sagte, was er nicht hören wollte... "Ich dachte, dass du zu mir gekommen bist, damit ich dich töte, dass du deshalb bei mir bist." „Youji hat dir das eingeredet. Ich weiß nicht, warum ich zu dir gekommen bin, ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, wie ich überhaupt nach hierhin gekommen bin. Was ich weiß, ist, dass es nicht aus dem Grund geschehen ist, dass du mich töten solltest. Vielleicht…für wenige Momente mochte es eine Lösung gewesen sein, doch langfristig nicht. Sicherlich nicht.“ Aya verstummte, ließ seinen Blick ebenso über die Stadt schweifen. Über die Schneeflocken, die wieder begannen zu fallen. „Wenn ich dich hassen würde, würdest du es sehen. Auch ohne meine Gedanken zu lesen.“ Er besah sich die nur noch durch rote Striche erkennbaren Narben des Exzesses am Spiegel. Ja…das würde Schuldig sehen. Vielen Dank fürs Lesen! Fortsetzung folgt… Coco&Gadreel Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)