Walking on thorns von black_rain ================================================================================ Kapitel 1: - Schwarze Augen - ----------------------------- Kommentar: Ist mein erstes RPG überhaupt, aber mit Scipio macht es unheimlichen Spaß. Dafür möchte ich ihr danken - und auch dass sie immer so eine unheimliche Geduld mit mir hat. Und natürlich geht ein Dank an Netti für das Beta *knuddel* So^^ ich will auch nochmal was dazu sagen ^_^ und zwar: obwohl ich für die Geschichte zuerst einen anderen Verlauf geplant hatte, find ich es inzwischen gut, dass ich irgendwann nicht weiterkam und mir eine Partnerin gesucht hab ^.^ So bleibt sie wenigstens nicht unvollendet... außerdem hätte ich niemanden, mit dem man sich so herrlich darüber streiten kann, ob Alain nun sterben soll oder nicht (große Meinungsumfrage auf meiner HP ^.~ http://www.semmel-sieben.de/judith/Startseite.htm *werbung mach*) und cih sollte weniger Kitschfilme gucken, bevor ich kommentare schreib ^^ *Black Rain und Netti mal knuddel* (>>>Scipio) NAME: unbekannt; nennt sich selbst Alain, sagt aber jedem, der ihn nach seinem Namen fragt etwas anderes ALTER: er weiß nicht, wann er Geburtstag hat, und hat es daher nie für nötig befunden zu zählen (evt. 16 o. 17) GRÖSSE: 1,81 m HAARE: Schwarz, recht lang AUGEN: Ebenfalls schwarz GESICHT: recht schmal, da er selten genug zu essen bekommt, fein geschnitten, ausgeprägte Wangenknochen KÖRPER: mager, durchtrainiert; schmale 3,5 cm lange Narbe über dem Herzen; schmale Hände mit langen Fingern KLEIDUNG: meist verschlissene Hosen und Hemden aus Sperrmüllsäcken oder Mülltonnen CHARAKTER: sehr still, zurückhaltend, manchmal fast leer. Versteckt Gedanken und Gefühle hinter einer Fassade (oder Drogen) weiß manchmal aber auch nicht, wann sein Misstrauen unangebracht ist. Hat daher auch keine Freunde. GESCHICHTE: Vor einigen Jahren (etwa 10) wachte er in einem Krankenhaus auf und konnte sich an nichts mehr erinnern. Er blieb nur noch wenige Tage ehe er von dort weglief und sich in NY zu einer Bettler und Diebestruppe gesellte. Einer der Männer behauptete sein Vater zu sein und erzählte ihm von seiner Mutter - einer Hure - und verlangte monatliche Geldabgaben. Alain war zu jung, um sich gegen ihn zu wehren und als er älter und stärker wurde hatte sein Vater eine Gruppe skrupelloser Männer als seine "Freunde" um ihn gescharrt. Mit (vermutlich) 12 fing er an das Geld, von dem sein Vater immer mehr verlangte, auf dem Strich zu verdienen. (anfangs noch passiv, klar!) Seit dem lebt er in einer Bauruine in den Slums. Wenn er allein ist bringt er sich mit gestohlenen Groschenromanen selbst das Lesen bei. (>>>Absolutely Black Rain) NAME: Caspar Francis Blackwell( alles englisch ausgesprochen) GEBURTSTAG: 03.09. ALTER: 21 BERUF: Medizinstudent Aussehen: HAARE: strohblond, bis über die Schulterblätter, meist im Nacken zusammengebunden AUGEN: warmes braun GRÖSSE: 1.93m GESICHT: recht ovales Gesicht, hier und da ein bisschen kantig; schöne männliche Gesichtszüge KÖRPER: schlank und durch das Kampfsporttraining äußerst durchtrainiert; große Hände mit langen, feingliedrigen Fingern, hat eine dünne Narbe am Bauch von einer Blinddarmoperation KLEIDUNG: trägt eigentlich nur schwarz... manchmal ein bisschen gothiclike, aber eigentlich mag er einfach nur die Farbe schwarz. Um seinen Hals hängt immer ein Kreuz aus schwarzem Obsidian mit silbernen, rankenartigen Einlegearbeiten. BESONDERES: hat einen schwarzen Panther zwischen den Schulterblättern Sonstiges: SPORT: Jiu Jiutsu CHARAKTER: sehr höflich, kann aber auch ziemlich temperamentvoll werden; fühlt sich manchmal ein wenig verloren, wie auf der Suche nach etwas in einem Labyrinth ohne Ausgang, hat aber Probleme damit, sich jemandem anzuvertrauen; deswegen glauben eigentlich alle von ihm, dass er sehr stark vielleicht auch mal ein wenig kühl ist; handelt viel nach Gefühl, sehr instinktiv und nicht selten ohne vorher richtig darüber nachzudenken; die Menschen, die ihm wichtig sind, will er glücklich machen; er ist sehr hilfsbereit VERGANGENHEIT: Caspar hatte eigentlich eine glückliche Kindheit, bis sein Vater - Manager eines großen internationalen Unternehmens - anfing wegen zuviel Stress, Schlaflosigkeit, etc. Drogen zu nehmen und schließlich an einer Überdosis starb. Seitdem hasst er Drogen. Er fühlte sich so hilflos, weil er gar nichts tun konnte, sodass er sich geschworen hat, Arzt zu werden, damit er nie wieder nur hilflos zusehen muss, wie ein geliebter Mensch stirbt. - 1: Schwarze Augen - Nebel lag über den dämmrigen Straßen und verschluckte die Geräusche. Wie von weiter Ferne drang der gedämpfte Schrei eines Kindes an sein Ohr. Ein Motor heulte ganz in der Nähe auf. Eine schwarze Katze rannte fauchend zwischen seinen Beinen hindurch. Ihr Schwanz streifte sein Knie. Fröstelnd zog er sein viel zu dünnes Hemd enger um die Brust. Er hastete in den belebteren Teil der Stadt. In seiner Nähe fiel ein Mülleimerdeckel scheppernd auf das lange nicht ausgebesserte Kopfsteinpflaster und verjagte einen räudigen Hund. Ein Obdachloser hatte zu viel getrunken und versuchte ihn in eine Schlägerei zu verwickeln. Der Nebel lichtete sich etwas, als er eine der Hauptstraßen erreichte. Trotz des eisigen Windes zupfte er sein Hemd wieder leicht auseinander, so dass man seine nackte Brust sehen konnte. Auch sein Gang änderte sich leicht, seine Haltung wirkte nun auffordernder und aufreizender. Er betrat das dunkle Gebäude durch den Hintereingang. Von Zigaretten- und Kohlefeuerrauch geschwärzter Putz bröckelte ab, als er die quietschende Tür hinter sich zu schlug. Ein von einer gelben Glühbirne schwach beleuchteter Gang führte ihn zu einer weißen Tür, die erst kürzlich frisch gestrichen worden war. Mit ihm wartete eine Frau in viel zu knappen Mini und eingelaufenem, pinken T-Shirt. Ihre Pumps wurden von Sicherheitsnadeln zusammen gehalten und reichten fast bis an den Saum des orangefarbenen Mini. Auch sie hatte bessere Zeiten gesehen, musterte ihn nun abschätzend. Unsicher sah Alain an sich herab. Seine verwaschene und viel zu kleine Jeans bestand aus mehr Löchern und dünnen Stellen als festem Stoff, und sein Sommerhemd trug er offensichtlich seit einigen Jahren. Es war aus dünnem Baumwollstoff mit blauem Streifenmuster und zeigte mehr von seiner muskulösen Brust, als es verdeckte. Seine Hände waren um eine alte Umhängetasche geklammert, die auch aussah wie aus einer Mülltonne gefischt. Er konnte es kaum glauben, dass er sich nun seit drei Jahren sein Geld verdiente, indem er seinen Körper verkaufte, meist an die Sorte von Kunden, die in keinen Nachtclub gelassen wurden, weil sie entweder zu arm oder zu betrunken waren. Seine Gedanken wurden von dem Quietschen der weißen Tür unterbrochen. Caspar Francis Blackwell aß, ganz der brave Sohnemann, das Essen, das seine Mutter gekocht hatte. Er konnte zwar selbst ganz gut kochen, aber zu Hause bei Mama schmeckte es eben doch am Besten. Wie immer, wenn er seine Mutter besuchte, fragte sie ihn über die Universität und die Mitbewohner seiner WG aus, fragte ihn, ob er auch zurecht komme, ob er etwas brauche. Die übliche Prozedur mit den üblichen Fragen, die er nun schon zwei Jahre kannte und jedes Mal mit einem beruhigenden Lächeln auf den Lippen beantwortete. Und natürlich durfte auch die Frage nach einer Freundin nicht fehlen. "Nein, Mom, ich habe noch keine neue Freundin. Und nein, Mom, auch keinen neuen Freund", antwortete er, die Augen verdrehend. "Du wirst dich damit abfinden müssen, dass ich nicht jeden Tag nach der Uni durch die ganze Stadt renne und fremde Leute anspreche, nur damit ich dir bei meinem nächsten Besuch einen neuen Lebensabschnittspartner vorweisen kann." "Sag nicht immer dieses schreckliche Wort!", wies seine Mutter ihn streng zurecht. Sie war hoffnungslos romantisch und duldete es nicht, wenn man so leichtfertig über Liebe und Beziehungen sprach. Sie glaubte noch an die große Liebe und auch an den Satz "Wo die Liebe hinfällt", weswegen sie es auch widerspruchslos akzeptierte, dass er bisexuell war. Es machte ihr nichts aus, wenn er auch mal einen Mann zum Essen mitbrachte und wenn er diesen vor ihren Augen küsste, konnte ihr das nur ein wissendes Lächeln entlocken. Er war wirklich froh, dass seine Mutter das alles ohne jeglichen Widerwillen und mit Verständnis akzeptierte, aber dass sie sich so stark für sein Liebesleben interessieren musste war damit noch lange nicht gerechtfertigt! "Ja, Mom", seufzte er. Nein, was Liebe anging verstand sie wirklich keinen Spaß. "Aber ich habe im Moment mit der Uni wirklich genug zu tun und keine Zeit für eine Beziehung. Ich würde sie oder ihn doch nur vernachlässigen und das willst du doch nicht, oder?" "Diese Professoren sollte man verklagen! Man sollte doch meinen, dass ein Studium genug Zeit für eine ordentliche Beziehung lassen sollte!", schimpfte seine Mutter nicht ganz ernst gemeint. Völlig ernst war es ihr jedoch, als sie hinzufügte: "Und für einen Friseurbesuch auch!" Caspar stöhnte laut auf. "Mom! Könnten wir das _bitte_ lassen? Ich werde mir NICHT die Haare abschneiden, egal wie lange du mir damit in den Ohren liegst! Außerdem _gehe_ ich zum Friseur und _der_ sagt mir jedes Mal mein Haar sei wundervoll. Ich wasche und pflege mein Haar ausreichend und solange ich nicht aussehe wie ein Penner, könntest du deine Kommentare freundlicherweise für dich behalten! Ich kann nichts dafür, wenn du meinst, dass Männer ihre Haare kurz tragen sollten", erwiderte er leicht gereizt. Was seine Haare anging, die im Moment ordentlich im Nacken zusammengebunden waren, war er "ein wenig" empfindlich. Irgendwie war er heute auch nicht so recht bei der Sache. Es war Freitagabend und eigentlich sollte er jetzt von der Uni abspannen, aber noch immer schwirrten ihm Fetzen von den heutigen Vorträgen und Bilder von palavernden Professoren durch den Kopf. Freitags war leider Gottes sein langer Tag, noch dazu hatte er in der Nacht schlecht geschlafen, und trotzdem... Außerdem hatte er so ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, von dem er nicht wusste, was es bedeuten könnte, das aber noch lange nicht vorzuhaben schien, ihn in Ruhe zu lassen... Er trat in ein, im Vergleich zum Haus, recht luxuriös eingerichtetes Zimmer. Ein schwarzes Ledersofa war mit künstlichen Leopardenfellen ausgelegt und der gläserne Couchtisch davor wurde von einem bronzenen, nackten Jüngling getragen, der fast lebensgroß auf dem Boden kauerte. Alain legte den Zettel, den er von seinem "Herrn" bekommen hatte auf den Mahagonischreibtisch, und wartete, bis der fette, kahlköpfige Mann im beigen Anzug gelangweilt mit einer wurstfingrigen, beringten Hand den Zeitpunkt seines Eintreffens und seine Unterschrift auf den zerknitterten Zettel schrieb. Dann ging Alain zur Tür. Als er sie öffnete und hindurchtrat, stieß er mit Sheila zusammen, die ihn wütend anfauchte. Er kämpfte sich durch die nach Hause eilenden Menschenmassen zu seinem Arbeitsplatz, einem kurzen Stück Bürgersteig. Überall lagen alte Colabüchsen, "Times" und festgetretene Kaugummis auf dem schmutzigen Asphalt. Der Abend war noch jung, und die meisten saßen gerade zu Hause bei einem guten Abendessen. Eine Frau hastete mit wehenden, blondierten Haaren vorüber. Alain musste grinsen, als er den Kaugummi und die Hundekotspuren an der Sohle ihrer Lackschuhe bemerkte. Er schloss daraus, dass sie noch nicht lange in dieser Stadt war. Sie drehte sich nicht um, als er ihr hinterher pfiff, sondern beschleunigte ihren Schritt noch weiter. Mit einem Lächeln beugte sich Caspar zu seiner Mutter herunter, die ihm bei seinen ein Meter dreiundneunzig nicht einmal bis zu den Schultern reichte, umarmte sie herzlich und küsste sie auf beide Wangen. "Grüß deine Freunde von mir und ruf mal wieder an", wies seine Mutter ihn lächelnd an und zupfte ein wenig an seinem leichten schwarzen Ledermantel (eine Lieblingsklamotte von ihm, passend zu der schwarzen Lederhose, die er heute trug) und rückte das Kreuz aus schwarzem Obsidian mit eingelegtem Silber zurecht, welches an einem ebenfalls schwarzen Lederband hing, das dreimal eng um seinen Hals geschlungen war. Das Kreuz war ein Glücksbringer, den er eigentlich nie abnahm. Nicht einmal beim Kampfsporttraining. Er verabschiedete sich und trat noch immer lächelnd auf die im Halbdunkel liegende Straße. Der Sommer war längst vorbei und es wurde früh dunkel. Die Luft schlug ihm schwer und feucht entgegen, versuchte Caspar seines Atems zu berauben. Im Nebel, der vom Fluss herüberkommen musste, konnte er lediglich drei der weit auseinanderliegenden Straßenlaternen ausmachen und auch die nur als schemenhafte Leuchtkugeln. Seine Sicht beschränkte sich auf weniger als fünfzig Meter und alles was näher war, zugleich aber weiter als maximal zwei Meter, konnte er nur verschwommen erkennen. Obwohl die Straße, in die er nach wenigen Schritten einbog, eine Hauptstraße war, lag sie fast verlassen da, was sie nicht gerade verlockender machte. Von dem eisigen Wind und dem obligatorischen Müll ganz zu schweigen. Wozu hatte man auch schließlich den Mülleimer erfunden? Immerhin war die Sicht besser, sodass sich Caspar nicht mehr ganz so große Sorgen über den Heimweg machen musste, aber er war sich nicht sicher darüber, ob er _diese_ Hauptstraße wirklich so genau erkennen wollte... Schon erstrahlten die ersten Leuchttafeln von Nachtclubs in hässlichen rot-pinken Neonfarben und beleuchteten eine zitternde, für die Jahreszeit viel zu leicht bekleidete Gestalt, die ihn ansah. Caspar musste nicht raten, warum sie sich bei diesem Wetter und um diese Zeit die Beine in den Bauch stand. Neben ihm klapperte plötzlich ein Fensterladen und eine weitere Neonröhre in Form eines Mädchens wollte ihn in einen rot ausgeleuchteten Raum locken. Casper kannte den Club - er hatte noch vor einem halben Jahr dort ausgeholfen, bevor er etwas besseres gefunden hatte. Wohl gefühlt hatte er sich dort nämlich nie. Eine klamme Kälte lies Alain kurz erschaudern. Es hatte leicht zu nieseln begonnen und der Nebel hatte ihn nun völlig durchweicht. Auch sah es aus, als ob die Temperaturen noch weiter sinken würden und es bald beginnen würde zu schneien. Er wünschte sich zitternd in eines der weichen, warmen Federbetten, die es in den Nachtclubzimmern gab. Doch er brauchte das Geld. Seufzend wollte er sich gerade umdrehen und sich in einen Pub setzen, bis sich wieder Menschen auf die Straße wagten, als ein junger Mann mit blonden Haaren und einem schwarzen Mantel auf ihn zu kam. Alain lächelte ihm zu, obwohl er Angst davor hatte, dass der Mann sein stummes Angebot annehmen könnte. Er gab sich alle Mühe, sein Zittern zu unterdrücken. Der Mann erwiderte sein Lächeln, ging jedoch an ihm vorbei. Der Junge drehte sich erleichtert in die Richtung, aus der der Fremde gekommen war. Er zuckte erschrocken zusammen, als ein angenehmer, weicher Tenor an seinem Ohr sprach: "Wie viel?" Alain wirbelte herum. Der Mann war zurück gekommen und stand nun dicht vor ihm. Ihre Gesichter berührten sich fast, und Alain spürte den heißen Atem des Anderen über sein kaltes Gesicht streichen. Als er weiter herankam und die zähneklappernde Gestalt näher betrachtete, bemerkte er, dass er sich zumindest im Geschlecht getäuscht hatte: Es war ein Junge, der jedoch ohne Zweifel demselben "Beruf" nachging. Caspar konnte sehen, wie er sich straffte und versuchte ihn anzulächeln. Er wusste, dass es anziehend hatte wirken sollen, doch in ihm regte sich nur reines Mitleid. Er schenkte dem Jungen ein aufmunterndes Lächeln und ging vorbei, und der Junge drehte sich in die Richtung, aus der er gekommen war. Einen Moment lang ging er unschlüssig weiter, dann gab er sich einen Ruck und ging innerlich noch immer zögernd zurück. Er gab sich einen weiteren Ruck und beugte sich zu dem Ohr des Kleineren hinab, sprach die zitternde Gestalt an. "Wie viel?", fragte Caspar freundlich und leise, wollte ihn nicht verschrecken. Der Junge sah nicht so aus, als würde ihm sein Gewerbe sonderlich viel Freude machen. Er wusste nicht weshalb, doch er hatte das Bedürfnis, dem Kleinen etwas Gutes zu tun und ihn wenigstens für eine Weile ins Warme zu bringen. Dank seines Autos, seinem Motorrad - ein kleiner Traum von ihm - und dem Studium lag das Geld zwar nicht so locker bei ihm, dass er es zum Fenster rausschmeißen konnte, aber der Anblick des Jungen war wirklich mehr als mitleiderregend. Als sich der Junge umdrehte und sie sich Auge in Auge gegenüberstanden war er zugegebenermaßen erstaunt. Er blickte direkt in zwei _wirklich_ schwarze Augen (Kontaktlinsen, wie er vermutete), die mit seinem nachtschwarzen Haar harmonisierten und so kein bisschen unheimlich wirkten. Die schmale Nase des Jungen bog sich neckisch ein wenig nach oben und wären da nicht der harte Zug um seinen Mund und die hervorstehenden Wangenknochen gewesen, er hätte ihn als nicht nur hübsch, sondern wirklich _schön_ bezeichnet. Aber wie seine Mutter immer sagte: "Wahre Schönheit kommt von innen" - und die Straße musste auf Dauer jegliche innere Schönheit gnadenlos abtöten. Wäre dieser fast verbitterte Zug nicht gewesen, Caspar hätte ihn auf ungefähr Fünfzehn geschätzt, so jedoch war er sich dessen nicht mehr so sicher. Trotz allem war er viel zu jung für Caspar, vielleicht hatte er sogar gerade einen "Mitarbeiter" des städtischen Babystrichs vor sich. Und dieses... _Kind_ nannte Caspar eine geradezu lächerlich geringe Summe. Als Caspar ihn jedoch nur ungläubig anstarrte und zweifelnd diese - so weit er wusste, denn persönliche Erfahrungen hatte er bis jetzt noch nicht gemacht - viel zu niedrige Zahl wiederholte, ging der Junge sogar noch weiter herunter. Der Kleine musste es wirklich nötig haben... Caspar zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen, bedeutete dem Jungen nur mit einer knappen Kopfbewegung ihm zu folgen. Währenddessen waren die ersten "Kolleginnen" des Jungen auf die Straße getreten und sofort ging eine von ihnen auf Caspar zu, hielt ihm ihr, von einem schwarzen BH nur sehr unvollständig bedecktes, Dekolleté unter die Nase. Caspar drehte sich abgestoßen von ihrem unangenehm penetranten Geruch und der alles andere als anziehenden Aufmachung zu dem Jungen herum und fragte ihn demonstrativ: "Hast du etwas dagegen, wenn wir zu mir gehen?" Die Pinkhaarige, deren Name einfach nur "Klischee" lauten _konnte_, zog sich mit einer sicherlich tausendmal geübten Bewegung wieder ihren billigen Kunstfellmantel über, zischte etwas wenig damenhaftes und rauschte, auf ihren hohen Absätzen wie ein Storch im Salat staksend, davon, wobei ihr rundes Hinterteil in so gefährlichen Kurven hin und her schwankte, dass er sich fragte, wie so etwas für den Bürgersteigsverkehr zugelassen werden konnte. Kopfschüttelnd fasste er den Jungen bei seinem Oberarm, verblüfft, dass sein Daumen die Fingerkuppen seines Mittelfingers berührte. Sie kamen an einer nun rasch ansteigenden Anzahl Prostituierter und erleuchteten Werbeschildern vorbei und Caspar war froh, als sie nur zwei Gassen weiter die Garage seiner Schwester erreichten, in der er sein Auto abgestellt hatte, da ihr Mann noch unterwegs war. Sein schwarzer BMW sprang auf Anhieb an und der Kleine lehnte sich in dem gemütlichen Beifahrersitz zurück, schloss die Augen. Alain musterte seinen Kunden von der Seite, als dieser ihn, sich offensichtlich in dieser Straße unwohl fühlend, mit sich zog. Seine offenen, schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht, doch er machte sich nicht die Mühe sie hinter zu streichen. Es war ihm sogar lieber, wenn der Andere ihn nicht so direkt anstarren konnte. Bisher sah der Blonde nicht unbedingt wie einer von den widerlichen Typen aus, die ihn so oft mitnahmen; mal auf Motorrädern, mal in alten, rostigen Autos, ihn manchmal aber auch einfach in einer Seitengasse benutzten und dann dort liegen ließen. Aber er wusste, dass er sich auch sehr täuschen konnte. Erst vor einer Woche... er lehnte sich im Beifahrersitz zurück, schloss die Augen und versuchte nicht mehr an den "Besuch" seines "Vaters" letzte Woche zu denken. Caspars Hand verharrte schwebend in der Luft und er nahm sich die Zeit um den Jungen auf dem Beifahrersitz noch etwas näher betrachten zu können. Noch immer waren die Wangen von der Kälte und dem draußen herrschenden schneidenden Wind gerötet. Es war immerhin mitten im November und Caspar musste sich eingestehen, dass _er_ bei dieser Bekleidung schon längst erfroren in irgendeiner Seitengasse gelegen hätte. Entsprechend straff spannte sich die Haut des Jungen über dessen Knochen, wurde zusätzlich noch von einer Gänsehaut überzogen, die Caspar dazu veranlasste die Heizung aufzudrehen. Der Kleine wurde sich gewahr, dass er angestarrt wurde und öffnete die Augen, sah ihn direkt und unverblümt an. Hastig wandte sich Caspar ab, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der _leicht_ chaotischen Garage, wobei er beinahe einen mit Schrauben und anderem Kleinkram gefüllten Blumenkasten überfahren hätte. "Wie heißt du?", fragte Caspar schließlich um die unangenehme Stille zu brechen, die sich über den Innenraum seines Autos gelegt hatte. Sein Gegenüber dachte für Caspars Geschmack ein wenig zu lange über seine Antwort nach, bevor er diese laut aussprach und er musste den Kleinen nicht ansehen, um zu merken, dass er belogen wurde, wollte aber auch nicht noch einmal nachfragen. Es hätte ja ohnehin nichts gebracht. Der Kleine, der sich als Rocco vorgestellt hatte, verschlief die halbstündige Fahrt und schreckte erst wieder hoch, als Caspar den Motor abstellte und die Fahrertür öffnete. Rocco blinzelte unter Caspars fragendem Blick nur leicht verstört zurück und stieg dann rasch aus. Alain stieg aus dem Wagen und sah sich um. Sie waren in einem Wohngebiet von sauber aufgereihten Einfamilienhäusern in einem der wohlhabenderen Vororte der Stadt. Der Nebel bedeckte hier nur den Boden bis auf Kniehöhe, aber dafür war es viel kälter. Er sah zum Himmel. Sie mussten nach Osten gefahren sein. Plötzlich stutzte er und sah zum Haus zurück. "Sie sind verheiratet?", fragte er und zog eine Augenbraue hoch. Sein Kunde schüttelte lachend den Kopf. "Nein! Aber man kann doch auch als WG in einem solchen Haus leben." Alain wurde nervös. WG... Der blonde Mann ging zum Kofferraum und nahm einen Stoffrucksack heraus, den er sich über den Rücken warf, ehe er durch den Vorstadtgarten auf die Tür zuging. Dahinter brannte Licht, das den braunen Rasen und einen Apfelbaum beschien, an dem noch ein paar schrumpelige Äpfel hingen. Die Beete waren alle von erfrorenen Pflanzen bedeckt, die noch zurückgeschnitten werden mussten. Verdorrte Rosen hingen vor dem Glasfenster der Eingangstür herab, durch die das Licht fiel, nur von einem dünnen Vorhang gedämpft. Der Kunde suchte noch seinen Schlüssel, als die Tür von innen geöffnet wurde. Ein rothaariger Mann in Skihose und schwarz-gelber Jack Wolfskin-Jacke trat heraus. Er umarmte den Blonden kurz zum Abschied, warf seine Reisetasche in den Kofferraum eines gelben Mini Cooper und startete den Motor. Sie traten in das Haus, als der Wagen aus der Auffahrt rollte. Neben der Garderobe in der Eingangshalle, an der zwei Jacken hingen stand eine niedrige Garderobe mit einem hohen Spiegel. Um diesen hingen Kinder-, Jugend- und Fetenfotos neben Postkarten und Zeichnungen. Ein blauer Läufer barg einen unordentlichen Haufen Schuhe. "Darf ich mal Ihr Bad benutzen?" Der junge Mann führte ihn in ein weiß gekacheltes Bad mit bodenlangem Spiegel. Auf dem Waschbeckenrand lag eine große Ansammlung von Zahnbürsten, Aftershaves und verschiedene Eau des Toilettes. Alain schloss die Tür und setzte sich auf den zugeklappten Klodeckel, den Kopf in die Hände gestützt. Entschlossen richtete er sich auf, straffte sich und trat vor den Spiegel. Aus seiner Umhängetasche, an die er sich die ganze Zeit geklammert hatte, kramte er ein Päckchen Kondome und sein Fixbesteck hervor. Er fluchte kaum hörbar, als ihm auffiel, dass er viel zu wenig Heroin bei sich hatte. Er brauchte dringend Geld für neues! Den kümmerlichen Rest füllte er in seine Spritze und schlug sie sich wuchtig in den Arm. Mit 10 hatte er seinen ersten Joint geraucht, mit 12 war er auf den Strich gegangen und hatte zu fixen begonnen. Es war ein Teufelskreis: Er nahm Heroin um sich für seine Arbeit abzutäuben. Alain stöhnte leise auf, als er durch den Nebel aus Schmerz hindurch spürte, wie sich die Droge in sein Blut mischte. Sein Blick trübte sich für einen Moment; für einen kurzen Augenblick erfüllte ihn eine tiefe Ruhe, die seinen Atem zügelte und regelmäßig werden ließ. Doch sein Geist war noch nicht befriedigt. Es war zu wenig! Sein Körper schrie nach mehr. Aus Hunger wurde Gier, unzähmbar und wild. Sein Körper zitterte und er spürte einen stechenden Schmerz, als sich die Spritze in seinem Arm bewegte. Er zog sie heraus und kämpfte die Gier nieder. Währenddessen betrat Caspar sein Zimmer, ließ die Tür für seinen "Gast" offen. Eilig schnappte er sich ein paar herumliegende Sachen und stopfte sie in einen Schrank, aus dem er gleich noch ein paar Teelichter und ein Feuerzeug herausholte. Er liebte Kerzen und nicht nur wegen seines Stövchen (er war Teeliebhaber) und seiner Duftlampe hatte er immer welche da. Er mochte das sanfte Licht der Kerzen oder auch seines elektrischen Deckenfluters einfach lieber, als das eher kalte Licht von Glühlampen und Neonröhren. Schnell verteilte er die Teelichter im ganzen Zimmer und suchte ein Musikalbum aus dem CD-Ständer heraus, von dem er hoffte, dass es dem Jungen gefallen würde, auch wenn es keine Metalband oder so war. Zu Metal ließ es sich - seiner Meinung nach - nun mal einfach schlecht... nun ja, was auch immer sie tun würden... Tatsächlich war sich Caspar nämlich nicht ganz sicher darüber. Der Junge war zwar zweifelsohne sehr attraktiv, andererseits regte sich noch immer das Mitleid in ihm, für den Kleinen, der nicht so viel Glück wie Caspar gehabt hatte und Mitleid war nicht gerade eine der Emotionen, die ihn sonderlich auf _mehr_ heiß machte... Abgesehen davon hatte er sich noch nie zuvor eine Nacht gekauft und so war er entsprechend unsicher, wie er mit dem Jungen umgehen sollte. Als er aufhörte zu zittern und sein Gesicht wieder etwas Farbe bekam, wusch er sich Gesicht und Oberkörper, band seine Haare zurück und trat aus dem Bad. Er straffte sich, stieg die Treppe hinauf, die, mit einem schwarzen Läufer gepolstert, in das obere Stockwerk führte und sah sich um. Sein Kunde hatte die Tür zu seinem Zimmer offen gelassen. Der junge Mann kniete auf zwei nebeneinander gelegten Matratzen und zündete, den Rücken zur Tür gewandt, eine Unzahl an Kerzen an. Alain trat lautlos hinter ihn und legte ihm die Hände auf die Schultern. "Wie heißt du?" Wie von selbst war seine Stimme auf ein dunkles Flüstern gesunken. Erschrocken drehte der Blonde den Kopf: "Caspar", antwortete er schlicht und zündete die letzten Teelichter an. Währenddessen sah sich Alain in dem Raum um. Ein mit einem Tuch verhängter Schrank stand in einer Ecke. Die ganze Wand war mit Kunstdrucken von Leonardo da Vinci´s Menschenstudien beklebt. Die leise Musik, die den Raum erfüllte, kam von der Stereoanlage in der Ecke, deren Lautsprecher überall verteilt waren. Caspar schaltete das Licht aus und Alain wurde nun völlig zum charmanten Liebhaber. Langsam ging er auf Caspar zu und öffnete dabei die obersten Knöpfe seines Hemdes. Er bewegte sich leicht im Takt der Musik. Alles verschwamm vor seinem Blick, doch er versuchte sich nichts anmerken zu lassen und lächelte. Sein Herz schien ein paar Schläge auszusetzen und dann in einer Geschwindigkeit weiter zu rasen, als wollte es seine Brust sprengen, als Caspar seine nackte Haut berührte. Nach seiner letzten gescheiterten Beziehung - mit einem Mann - hatte Caspar eigentlich angenommen, nicht so bald wieder Lust auf sein eigenes Geschlecht zu bekommen und er fragte sich nun doch schon eine geraume Weile, warum zum Teufel er... "Rocco" dann eigentlich mitgenommen hatte (und seit wann sein Liebesleben eine so fatale Wendung genommen hatte, dass er sich nun schon beim örtlichen Strich bedienen musste?!), aber als der Junge nun nur von dem warmen Kerzenlicht beschienen vor ihm stand und ihn mit seinem geübt aufreizenden Blick ansah, vergaß er schlagartig alle weiblichen Erdenbewohner, die über den blauen Planeten wandelten. Als "Rocco" dann noch die obersten Knöpfe seines Hemdes öffnete, erübrigte sich auch die Frage danach, was sie in der nächsten Zeit tun könnten - tun _würden_... Vorsichtig hob er die Hand, streichelte behutsam über Roccos Wange und den zarten Hals hinab, fuhr bis zu den übrigen, noch verschlossenen Knöpfen des blau gestreiften Sommerhemds. Kurz verharrten seine Finger dort, bevor er zögernd auch diese öffnete, zärtlich die so freigelegte weiche Haut mit seinen Fingerspitzen liebkoste. /Eines muss man ihm lassen. Er fühlt sich wundervoll an.../, dachte er ein wenig atemlos. Alain trat näher an ihn heran und küsste ihn in die Halsbeuge. Dann fuhr seine Zunge weiter abwärts, bis an den Ausschnitt des hautengen schwarzen T-Shirts. Sein Mittelfinger strich Caspars Wirbelsäule entlang, als er es hochschob und ihm auszog. Das T-Shirt einfach achtlos zu Boden fallen lassend drängte sich Alain an ihn, wobei seine Hände sanft die leicht angespannten Schultern des Anderen massierten. Er spürte sofort, dass Caspar es nicht gewohnt war, sich einfach in die Arme eines völlig fremden Menschen fallen zu lassen. Leise Worte in sein Ohr flüsternd strichen Alains Hände immer wieder sanft über Caspars Brust, spürend, wie sich die harten Muskeln entspannten. Doch als er nun versuchte dem Älteren noch näher zu kommen hielt dieser ihn auf. Der Junge wollte seine unglaublich warme Haut noch enger an Caspar schmiegen, doch jener brachte ein wenig Abstand zwischen sie beide, indem er seine Hände zwischen seine und Roccos Brust legte, und sah ihm dann etwas angespannt in die Augen. Er wurde dieses bohrende Gefühl, dass er etwas tat, das einfach nicht _richtig_ war, einfach nicht los. Also sah er forschend in Roccos Augen und fragte ihn leise: "Wie alt bist du eigentlich?" Die raue, heiße Zunge des Jungen wanderte spielerisch leicht bis zu seinem Bauchnabel hinab, bevor er endlich "Zwanzig" antwortete. Auf diese Lüge hin versuchte Caspar einen Moment ernsthaft, sich gegen die Berührungen des Jüngeren - _viel_ Jüngeren - zu wehren, gab dies aber schnell wieder auf, da er seiner Libido nicht viel entgegenzusetzen hatte. "Du lügst", hielt er Rocco also nur vor. Er wusste nicht einmal, weshalb. Rocco würde bald wieder aus dem Haus und damit auch aus seinem Leben verschwunden sein. Was also ging es ihn an, wenn Rocco seinen minderjährigen, dafür umso anziehenderen Körper unter dem Deckmantel der Volljährigkeit an ihn verkaufen wollte? Der Angesprochene öffnete die Knöpfe der schwarzen Lederhose, die Caspar trug, und antwortete: "Es interessiert dich doch gar nicht!" Caspar wand sich leicht unter Roccos geschickten Fingern und unter einem Anflug von Schuldgefühlen wurde ihm klar, dass Rocco spätestens jetzt ziemlich richtig mit seiner Behauptung lag. Langsam wurde er von dem Jungen mit sanfter Gewalt auf die Matratzen hinuntergedrückt und ehe er sich versehen hatte, zog ihm Rocco auch schon die im Schritt mittlerweile ziemlich eng gewordene Hose aus. Von der Stelle, an der Caspar ihn berührt hatte schien eine Woge aus Schmerz durch seinen Körper zu wallen. Nach außen hin ließ er sich nichts anmerken, doch innerlich schrie er vor Angst. Er hatte das noch nie ohne Betäubung tun müssen. Ein Krampf nach dem anderen erschütterte ihn. Aus einem Reflex heraus machte er weiter, vollführte routinierte Bewegungen, befolgte die Regeln des Verführens, ohne zu merken was er tat. Er sprach, lachte, neckte. Doch sein Geist war weit weg. Er hatte schon immer Berührungsangst gehabt, und jetzt, da er bewusst in den Armen eines Mannes lag, überkam ihn Panik. Erst als sie auf dem improvisierten Bett lagen schaffte er es, seine Umgebung wieder bewusst wahr zu nehmen. Er wollte es nicht tun, aber er brauchte das Geld; daran erinnerte ihn die Gier nach weiteren Drogen ständig. Er musste sich zusammenreißen. Er konzentrierte sich auf den nagenden Hunger, den er nie richtig los wurde, auf jede Faser seines Körpers und spürte alle Muskeln und Sehnen, genoss das Gefühl, wie sie sich anspannten, wenn er die Zehen oder den Daumen bewegte. Nach ein paar Augenblicken fand er einen gleichmäßigen Atemrhythmus und ließ sein Herz ruhiger schlagen. Diese absolute Körperkontrolle hatte er sich schon früh antrainiert. Er nutzte sie aber nur, wenn er musste, nie wenn er allein war. Alain strich mit seiner, nun ruhigen, Hand über Caspars Haar. Der junge Mann begann ihm das Hemd auszuziehen, doch Alain verhinderte dies, indem er sich unter Caspar aufrichtete bis seine nackte Brust an der Caspars lag und ihn wild küsste. Seine Arme schlangen sich um dessen Nacken und spielten mit seinem blonden Haar. Mit seinen Füßen streifte er Caspar geschickt die Shorts von der Hüfte. Er verkrampfte sich kurz, als Caspars Hand über seinen Schritt streifte und ihm seine Hose auszog. Alain saß nun in Shorts und offenem Sommerhemd auf dem Schoß des nackten, viel größeren Caspar und spürte wie dessen Erektion gegen seinen Oberschenkel drückte. Erneut bekam er Angst und schluckte hart, als er die aufsteigenden Tränen zu verdrängen versuchte. Doch Caspar, der Alains Brustwarzen küsste bis diese hart wurden, merkte nichts davon. Alain warf den Kopf in den Nacken und biss sich in Agonie die Lippen auf, als die Hände ihm näher kamen. Caspar wurde fast wahnsinnig unter den feingliedrigen, langen Fingern, diesem ihn wie magisch anziehenden Geruch. "Rocco" mochte gut ein halbes Jahrzehnt jünger sein als er selbst, aber eines stand fest: Er verstand sich hervorragend auf sein Gewerbe. Caspar erschauerte, als er die schmalen Finger in seinem empfindlichen Nacken und mit seinen Haaren spielend spürte und im nächsten Moment vollends nackt auf dem Jungen lag. Falls er es je vorgehabt hatte, so konnte er sich nun nicht mehr zurückhalten und zog Rocco mit einer Hand die enge, verwaschene Jeans von den Schenkeln, dann ganz von seinen Beinen, wobei er es sich nicht verkneifen konnte, über dessen Schritt zu fahren, mit der anderen streichelte er über die schmale aber muskulöse Brust, wollte soviel nackte Haut unter seinen Fingerkuppen spüren, wie er nur bekommen konnte. Ungeduldig ließ er sich zurücksinken und zog den Kleinen auf seinen Schoß, konnte einen Moment nur atemlos die in der Lust fast elfenhaft erscheinende Gestalt anstarren, die auf seinen Oberschenkeln saß, wie ein Traum. Ein sehr erregender Traum - Caspar konnte die Haut einer weichwarmen Schenkelinnenseite an seiner Erektion fühlen und stöhnte leise in den Brustkorb seines Traums hinein, spürte in sich selbst aufgelöst das leichte Beben, das durch den schlanken Körper des anderen ging als er über Roccos Brustwarzen leckte und mit seinen Lippen umschmeichelte bis sie sich ihm in neckischer Erregung entgegenstreckten. Seine rastlosen Finger fuhren über die schönen Bauchmuskeln, schoben das störende Hemd endlich von dem leibhaftigen Engel, der da auf seinem Schoß saß, und fuhr die glatten Seiten mit spielerisch kitzelnden Bewegungen hinunter. Er intensivierte den Kontakt seiner Hände mit der glatten Haut und schob sie dann aufreizend unter die Shorts des Jungen, umfasste die beiden süßen, lockenden Hügel und drückte den schmalen Körper noch enger an sich, während er sich beinahe zärtlich in das Rund seiner Halsbeuge verbiss, mit der Nasenspitze an die Halsschlagader stupste und Rocco seiner Shorts entledigte. Mit sanfter Gewalt drückte er den nun nackten Jungen auf die Matratze und zeichnete mit seiner rauheißen Zunge die Konturen des elfenhaft filigranen Körpers unter sich nach. Er spürte, wie sich die Erregung in seinem Unterleib fest zusammenballte und von dort aus in schauerartigen Wellen seinen ganzen Körper durchflutete, als er das Gefühl, den Jungen zu spüren, angespannte Muskeln unter straffer Haut zu fühlen, genoss. Als wäre der Nebel aus der Stadt in das Zimmer gekrochen und hielte ihn umschlungen, bemerkte er nur wie aus weiter Ferne, dass Rocco zumindest versuchte, ihn etwas zurückzuhalten. Caspar aber stöhnte auf, schüttelte nur leicht verärgert den Kopf und zog ihn besitzergreifend an sich um ihn wild zu küssen, die süße, warme Höhle hinter den rosenen, schon leicht geschwollenen Lippen ausgiebig zu plündern, bevor er mit seinen Lippen hemmungslos dieses unbekannte Land erkundete. Alain versuchte sich zu wehren doch Caspar war viel stärker. Die Nähe des, sonst sogar sehr attraktiven Mannes, ekelte ihn an. Caspar küsste ihn in die Halsbeuge und ließ seine Zunge wieder an Alains Körper herabwandern. Er ließ sie kleine Kreise an der Innenseite seiner Oberschenkel ziehen. Alain erschauderte, als er ein verräterisches Ziehen und Kribbeln im Unterleib bemerkte. Da die Wildkatze unter ihm nicht gewillt zu sein schien, einfach so aufzugeben, legte Caspar ihr kurzerhand ein Halsband an: Er ergriff Rocco bei den zierlichen Handgelenken und drückte sie mit einer Hand über das Antlitz dieses Lustengels in die Matratze, dann setzte er sich leicht auf Roccos flachen Bauch, drückte die Knie fest aber nicht schmerzhaft in dessen Seiten, rieb sich fordernd an der weichen Haut von Roccos Unterbauch. Mit dem Zeigefinger der freien Hand fuhr er hauchzart Roccos Handgelenk, dann die Pulsader nach. Er war gerade im Ellbogen angelangt als er plötzlich stutzte. Rocco, der zu merken schien, dass etwas nicht stimmte, wollte ihm seinen Arm entziehen, doch Caspar war ihm körperlich weit überlegen und hielt ihn, die Gegenwehr einfach ignorierend, mühelos fest, zog den linken Arm des Jungen näher zu sich. Unvermittelt sah er auf und das Feuer in seinen Augen war zu blauen Flammen gefroren. "Du bist drogensüchtig...", warf er Rocco eiskalt vor. "Wann hast du es dir gefixt? Im Bad? In _meinem_ Bad?" Dieser versuchte ruhig zu bleiben, vollführte eine komplizierte Verrenkung und küsste Caspar knapp unterhalb des Bauchnabels. Diesmal ließ Caspar sich jedoch nicht davon beeindrucken. "RAUS!" brüllte er wutentbrannt. "RAUS, DU... Wie war noch gleich dein Name?" Alains Gedanken rasten. Was hatte er ihm gesagt? Irgend etwas mit R... "Ramon?" versuchte er auf gut Glück. Falls das möglich war, wurde Caspar noch wütender "Ramon? Oder Rocco? Oder vielleicht auch RASPUTIN? GEH!!!" Die letzten Worte hatte er wieder geschrieen, war aufgesprungen und zeigte auf die Tür. Er zitterte am ganzen Körper vor kalter, nur mühsam unterdrückter Wut. Dieser miese kleine Fixer konnte von Glück reden, dass er Gewalt im Allgemeinen zutiefst verabscheute, es für unter seine Würde befand, seine Kampfkünste an jemand anderem als seinen Trainingspartnern auszuprobieren. Alain rappelte sich hoch, zog sich Shorts, Hemd und Hose wieder an und nahm seine Tasche. Er drängte sich schweigend an Caspar vorbei und hastete durch den Flur zur Haustür. Der Nebel hatte sich verzogen und die Luft war eisig geworden. Caspar schlug hinter ihm die Tür zu und Alain starrte zum Himmel. Dichte, schwere Wolken verdeckten nun Mond und Sterne. Alain spürte, wie ihm heiße Tränen in die Augen stiegen, doch er kämpfte sie zurück. Caspar sank wütend und erschöpft gegen die geräuschvoll geschlossene Tür mit dem kunstvollen, gläsernen Sichtfenster. Die Lust war mit einem Mal völlig verflogen, von ihm abgefallen wie ein aufgebrochenes Kokon. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten und schlug, um der geklumpten Wut in seinem Bauch Luft zu machen, gegen die Flurwand. Ein scharfer Schmerz zog sich unvermittelt durch und über seine Knöchel, da er unversehens den Spiegel in ein silbernes und vor allen Dingen scharf schneidendes Puzzle verwandelt hatte. Er fluchte. Nein, natürlich reichte es nicht, dass er beinahe mit einem minderjährigen, fixenden Strichjungen geschlafen hätte, wo er Drogen doch zutiefst verabscheute, sie regelrecht ekelerregend fand - nein, natürlich musste er sich auch noch die dünne Haut, die sich über seine weißen Knöchel spannte, zerschneiden und die Hand prellen. In letalem, göttlichen Zorn aufschreiend stellte er wütend die ihn auf einmal anwidernde Musik aus und stellte sich dann sofort unter die Dusche, um sich angeekelt rein zu waschen. Er machte sich nicht einmal die Mühe, das Fenster zu schließen, um den pfeifenden eisigkalten Wind auszusperren, den er in der unter dem heißen Wasser dampfenden Duschkabine ohnehin nicht zu spüren bekam. Stattdessen schrubbte er sich frustriert jede einzelne Berührung dieser kleinen fixenden Ratte mit dem Engelsgesicht vom Körper - er hatte das Gefühl als wäre er in kochenden, übelriechenden Teer getaucht worden, der sich nun weigerte von seiner Haut zu weichen. Alain rannte, von Tränen blind durch die leeren Vorortsstraßen. Das Wetter war umgeschlagen, während er in Caspars Haus gewesen war, und nun bedeckten stetig fallende Schneeflocken die vereisten Straßen. Als er einen der kleinen Hügel das dritte Mal nicht hoch kam, da seine Schuhe, dünne, löchrige Turnschuhe, von denen sich schon die Sohlen ablösten, kaum Profil mehr hatten, ständig zurück schlitterten, zog er die Schuhe einfach aus und balancierte über die vielen verschiedenen Gartenzäune weiter. Je länger er lief, desto wütender wurde er auf sich selbst. Durch den Schnee und die dichten Wolken konnte er keine Sterne sehen, und den Weg hatte er sich auf der Hinfahrt auch nicht eingeprägt. Er lief fast zwei Stunden über die unterschiedlichsten Zäune und lies sich von zwei vorüberfahrenden Autos mitnehmen, ehe er den Stadtrand erreichte. Dabei vergaß er Caspar fast völlig. Mit schmerzenden Füßen sprang er zurück auf die Straße und betrat eine Tankstelle, hinter deren Tresen eine mollige, schlafende Frau fortgeschrittenen Alters saß. Sie schlief auch, dröhnend schnarchend, weiter, als Alain die Tür öffnete und eine altmodische Glocke bimmelte. Erschrocken sah er nach oben und fing die Tür auf, ehe sie mit einem weiteren Bimmeln zufallen konnte. Er stellte einen Feuerlöscher als Türstopper auf und schlich fast lautlos, die Schuhe noch immer in der Hand über den kalten, grauen Linoleumboden bis zu dem Regal mit den Zigaretten. Vorsichtig steckte er sich einige Stangen ein und wollte gerade wieder gehen, als sein Blick auf einen Stapel Kofferradios in der "Preiswert" -Ecke fiel. Voll bepackt wollte er schließlich den Laden verlassen, als die Frau mit einem lauten Schnarcher aufwachte. Sofort ließ sich Alain hinter einer Palette Waschbenzin auf den Boden fallen und beobachtete, wie die Füße der Frau - mehr sah er von ihr nicht, sich böse schimpfend auf die offene Tür zu bewegten. Sie stellte den Feuerlöscher wieder an seinen Platz und machte einen Kontrollrundgang. Alain robbte auf dem Bauch bis hinter die nächste Palette (Werkzeugkasten) und wartete bis die Kassiererin sich wieder auf einem ächzenden Bürostuhl fallen ließ. "Morgen ist eh Inventur" sagte sie leise zu sich selbst. Eine Ewigkeit, wie es ihm vorkam, lag er auf dem kalten Boden, in der Zugluft der nicht richtig geschlossenen Tür und lauschte den Atemzügen der Frau, bis sie wieder anfing zu schnarchen. Mit weichen Knien stand er langsam auf und schlich sich aus dem Laden, beim leisen Läuten der Türglocke zusammenzuckend. ~.~ Simon wartete bereits am U-Bahnhof und fauchte Alain wütend an, als der viel zu spät zu der Telefonzelle gerannt kam, an der sie sich verabredet hatten. Sein Gesicht rötete sich vor Zorn, als der Junge auch noch anstatt des versprochenen Geldes einige Stangen Zigaretten und zwei Kofferradios vor ihm auspackte. Alains Hände zitterten immer mehr, der Entzug brachte ihn an den Rand des Wahnsinns. Der Dealer spannte ihn noch eine Weile auf die Folter, als er ihn wütend zum sicherlich 10. Mal erklärte, dass Alain nicht sein einziger Kunde sei und er bald die geschäftliche Verbindung lösen würde. Endlich wurde Alains Geduld belohnt und Simon reichte ihm eine Walmart-Tüte voll leerer Bierdosen. "In der zerkratzten Budweiser Dose! Lass dich nicht damit sehen... Außer vielleicht bei meinen anderen Kunden", endlich lächelte er, wenn auch sehr gezwungen. Alain nickte ihm zu, schnappte sich die Tüte und rannte ein Stück hinter einem gerade ausfahrenden Zug her ehe er auf ihn aufsprang und sich festhielt. Einige Stationen, in östliche Richtung weiter, ließ er sich zwischen die Gleise fallen und wartete, bis der Zug wieder abgefahren war und die wenigen Menschen den Bahnhof verlassen hatten. Dann schwang er sich hoch auf den Bahnsteig und hockte sich in eine Ecke, den Gestank von Urin und kaltem Rauch einfach ignorierend. Einen Moment saß er einfach nur da, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen und dachte an den Abend zurück. Vor allem sein Kunde... Caspar. /Vergiss ihn!/, befahl er sich selbst. Doch es war schwer. Immer wieder wanderten seine Gedanken zu dem Anblick seiner muskulösen Brust. Caspars Armen... Fahrig und entschlossen wühlte er in der Tüte bis er die richtige Dose gefunden hatte. Alain holte nun zum zweiten Mal an diesem Abend sein Fixbesteck hervor, füllte die Spritze und setzte sich zitternd einen Schuss. Wärme breitete sich von der Stelle aus, in der die Nadel steckte. Sein Atem wurde ruhig und eine Woge des Glücks, ein Gefühl, das in seinem Leben selten vorkam, durchflutete seine Gedanken. Sofort merkte er, dass er zu viel genommen hatte. Langsam stand er auf und trat aus dem U-Bahnhof auf eine menschenleere, ihm unbekannte Vorortsstraße. Mit geschlossenen Augen setzte er einen Fuß vor den anderen. Froh, an nichts mehr denken zu müssen, war es ihm plötzlich egal, wohin er ging, was mit ihm passierte. Er hörte das heranrasende Auto zwar, doch es schien ihm weit weg zu sein. Er hörte die dröhnend laute Musik, verdrängte sie aber sofort wieder in sein Unterbewusstsein. Langsam drehte er sich um und öffnete die Augen, dem heranrasenden Auto einfach entgegensehend. Im selben Augenblick wurde ihm klar, dass er so im Dunkel stand, dass der Fahrer ihn gar nicht sehen konnte. Aber vielleicht wollte er das gar nicht? Eine weitere Glückswelle durchflutete ihn, als er den Kopf in den Nacken legte und auf den Aufprall wartete. Kapitel 2: Brich mir die Flügel, dann brech ich dir deine --------------------------------------------------------- Als er die Dusche nach mindestens einer Stunde wieder verließ, schlug ihm sofort ein eisigkalter Wind entgegen. Caspar erschauerte, flüchtete sich mit einem Handtuch schnell in sein warmes Zimmer und, als er sich abgetrocknet hatte, unter die Bettdecke. Die Augen fest zusammenpressend zog er sich die Decke über den Kopf. Doch sofort erschien das Bild eines jungen Engels vor seinem geistigem Auge. Wie vom Blitz getroffen öffnete er die Augen wieder. Warum? Womit hatte er das verdient? Reichte es denn nicht, dass die Drogen ihn seines Vaters beraubt hatten, als er gerade mal elf gewesen war? War es nicht genug, dass sie den Sohn eines gutverdienenden, allerdings auch immer sehr gestressten Managers zur Halbwaise gemacht hatten? Mit Tränen in den Augen starrte er auf das alte Familienfoto auf seinem Schreibtisch. Nie hatte er es vollständig begreifen können. Noch heute ertappte er sich bei dem Gedanken, seinen Vater zeitungslesend im Sessel zu erwarten, wenn er seine Mutter besuchte. Fröstelnd hörte er, wie der Wind aus dem Bad unter seiner Zimmertür hindurchpfiff. Und wieder stieg die Sorge in ihm auf. Er dachte an die Jeans mit den vielen Löchern und dünnen Stellen und das Sommerhemd. Verwirrt kämpfte er sich unter der Decke hervor und zog sich unwillkürlich an, suchte dabei einen warmen schwarzen Pullover und eine ebenso schwarze Jeans heraus. Dann trat er mit vor Sorge gerunzelter Stirn ans Fenster und blickte hinaus in das kalte Dunkelgrau, welches sich über die Welt gelegt hatte. Caspar biss sich auf die Lippen. Hatte er überreagiert? Was konnte er schließlich von dem Jungen erwarten? Hätte Caspar seinen Körper verkaufen müssen, hätte er sicherlich auch nach etwas gesucht, um seine Empfindungen abzutöten oder wenigstens zu ändern. "Scheiße!", schrie Caspar verzweifelt auf. Dann schnappte er sich Schlüssel und Mantel und war kaum eine dreiviertel Minute später schon dabei, den Motor zu starten. ~.~ Er war den gleichen Weg zurückgefahren, den sie gekommen waren, aber der Junge konnte überall sein - er hatte ja auf dem Hinweg geschlafen und solange er sich nicht in der Gegend auskannte - was Caspar wirklich stark bezweifelte - konnte er wirklich jeden Weg genommen haben. Und wer sagte ihm, dass "Rocco" wieder dorthin zurück wollte, wo Caspar ihn gefunden hatte? Jedenfalls war er nicht dort und keiner von Caspars Kollegen konnte ihm sagen wo der Kleine sich befand - nicht einmal für eine hübsche Summe Geld... Irgendein zwielichtiger Drogendealer hatte ihm dann schließlich doch im Tausch gegen einen 50-Dollar-Schein erklären können, wo er ihn vermutlich finden würde und nun war er ganz in der Nähe des U-Bahnhofs, den ihm der Typ genannt hatte, doch von Rocco war noch immer nichts zu sehen. Plötzlich machte der Wagen vor ihm eine Vollbremsung und Caspar konnte sich gerade noch so retten, in dem er schnell auf die andere Fahrbahn schwenkte und dann ebenfalls scharf bremste. Er konnte von Glück reden, dass er keinen Gegenverkehr hatte... Einen Moment konnte er nur erschrocken auf sein Lenkrad blicken, dann hörte er, wie heftig an sein Beifahrerfenster geklopft wurde. Er blickte langsam auf und sah das vor Angst verzerrte Gesicht der Frau, die so eben diese grandiose Vollbremsung hingelegt hatte. Hastig ließ Caspar das Fenster herunter und sofort wurde er panisch angeschrieen: "Verdammt, fahren Sie zur Seite, ich komme nicht aus dem Auto!!!" Tatsächlich waren ihre beiden Autotüren zwischen Caspars BMW und einem Halteverbotsschild eingeklemmt, aber Caspar war sich nicht ganz klar, warum die Frau überhaupt aus ihrem Auto wollte. "Hören Sie nicht? Mein Gott, der Junge! Er ist plötzlich aufgetaucht. Ich konnte nicht mehr schnell genug bremsen. Nun machen Sie schon", rief sie völlig durcheinander. Caspars Kopf ruckte auf die Straße. Im Halbdunkel zwischen zwei Laternen konnte er eine reglose Gestalt ausmachen. Erschrocken setzte er zurück und sprang dann selbst aus dem Auto. Die Frau kniete bereits panisch vor dem Jungen, den Caspar im nebligen Dunkel nur schemenhaft erkennen konnte, und machte im Moment so ziemlich alles falsch, was man bei einem Unfallopfer falsch machen konnte. "Lassen Sie mich mal - ich bin Medizinstudent", sagte Caspar tief durchatmend und schob die Frau mit sanfter Gewalt zur Seite. "Ich... ich...", machte die Frau aufgelöst. "Sie können nichts dafür", bestätigte Caspar und sah ihr fest in die Augen. "Es ist viel zu dunkel, Sie konnten ihn unmöglich sehen - machen Sie sich keine Sorgen... Und nun lassen Sie mich bitte..." Die Frau gab es auf, sich an ihn zu klammern und machte ihm nun tatsächlich Platz, sodass sich der Medizinstudent endlich dem Jungen widmen konnte. Erstarrt blickte Caspar auf das Gesicht des leblos daliegenden Körpers, alles in ihm schien mit einem Mal zu gefrieren. Er spürte nichts. Es war, als würde er von weitem zusehen, wie er überfahren wurde, und doch brannte sich jedes einzelne Bild in sein Gedächtnis ein; das Gesicht der Frau, panisch verzerrt, wie sie verkrampft versuchte noch rechtzeitig abzubremsen; die blockierenden Reifen die, vom Schwung der Fahrt nach vorne gerissen über das Eis auf ihn zuschlingerten; der kurze und doch zugleich endlos scheinende Moment, als er durch die Luft geschleudert wurde und dann... nichts mehr. "Rocco...", hauchte er betäubt und sank auf die Knie. "Sie... Sie kennen ihn?" "Rocco... Mein Gott, ja ich kenne ihn..." Sein Hals war wie zugeschnürt und die Angst, schon wieder jemanden zu verlieren, den er mochte, stieg in ihm auf, während er automatisch versuchte, festzustellen, wie viel der Kleine abgekriegt hatte. "Ich... wollte es doch nicht, bitte, Sie müssen mir glauben, ich..." "JA, VERDAMMT! DAS SAGTE ICH DOCH BEREITS!", schrie Caspar wutentbrannt und stieß die aufgelöste Frau von sich. Die Frau verstummte und hockte sich stumm weinend auf die andere Seite, hatte Roccos zierliche Hand ergriffen, als wolle sie ihn trösten, brauchte im Moment vermutlich aber eher selbst Trost. Zehn Minuten später sank Caspar erleichtert aufseufzend zurück. Einen Moment konnte er nicht anders als die Augen schließen und Roccos Schutzengelarmee danken. "Er hat eine Platzwunde am Hinterkopf und vermutlich eine gehörige Gehirnerschütterung. Innere Verletzung hat er, soweit ich das sagen kann, nicht. Jedoch eine gebrochene Rippe, aber ansonsten ist es wohl noch mal gut gegangen. Sie sind ja wegen des Eises Gott sei dank nicht allzu schnell gefahren...", erklärte er leise und schob Rocco mit feuchten Augen eine der langen schwarzen Strähnen aus dem bleichen Gesicht. Ja, er hatte eindeutig die Angst, jemanden zu verlieren, den er MOCHTE, gespürt... Etwas war an diesem Jungen, etwas verband sie beide und das Gefühl wurde nur stärker, je weniger er es sich erklären konnte... "Sollten wir nicht einen Krankenwagen rufen?", fragte die Frau schüchtern und reichte ihm ein Taschentuch von der Packung, von der auch sie schon Gebrauch gemacht hatte. Er nahm es dankbar an, wischte sich verstohlen einige Tränen aus den Augenwinkeln, bevor er sich schnäuzte. "Nein, das ist in Ordnung. Ich werde ihn mitnehmen", sagte er leise und schob vorsichtig seine Unterarme unter den schmalen Körper, hob "Rocco" dann behutsam hoch und trug ihn zu seinem Auto. Hilflos hielt ihm die Frau die Tür auf, sodass Caspar ihn umständlich auf die Rückbank betten konnte. "Machen Sie sich keine Sorgen", sagte er noch einmal. Sie nickte verstört. Dann zog Caspar die Autotür zu und fuhr schnurstracks zurück nach Hause. Alain erwachte und starrte entsetzt auf den Autositz und den Hinterkopf, dessen Umrisse er im ersten Licht des Tages ausmachen konnte. Schmerzen, die von keiner bestimmen Wunde ausgehen zu schienen, durchzogen seinen ganzen Körper, nahmen ihm den Atem. Er mochte Schmerzen. Sie vertrieben die Leere in ihm, - doch nun zeigten sie ihm nur gnadenlos, dass er noch immer am Leben war. Er schloss verzweifelt die Augen und spürte, wie wieder Tränen seine eingefallenen Wangen hinab in seinen kalten Nacken hinab liefen und seine Haut kitzelten. Erst einzeln, doch dann in unaufhaltsamen Sturzbächen rannen sie lautlos weiter, als er die Stimme des Mannes erkannte, der leise fluchend das Auto fuhr. Erst nach einigen Minuten fiel er in die gnädige Schwärze zurück, aus der er nie mehr zurückzukommen hoffte. Müde betrachtete er die leicht zitternde, gerade eben medizinisch versorgte Gestalt, die in den geliehenen Shorts und einem für "Rocco" viel zu großen schwarzen Hemd auf dem "Bett" lag und deckte sie dabei sorgfältig zu. Ein letztes Mal wischte er dem Jungen kalten Schweiß von der Stirn, dann brachte er den Verbandskasten und alle anderen Utensilien, die er benutzt hatte, zurück. So unglaublich es auch schien, aber entweder studierte er den völlig falschen Beruf oder seine "Diagnose" stimmte tatsächlich... Er hatte sich gesagt, dass bis morgen schon nichts passieren würde und dann konnte er weitersehen. Für einen Moment hockte er sich einfach nur völlig fertig auf einen Küchenstuhl, legte das Gesicht in seine Hände. Dann stand er vor Müdigkeit leicht wankend auf und schloss die Haustür ab. Er erwartete für heute keinen seiner Mitbewohner mehr zurück und falls sich doch einer von ihnen nach Hause verirren sollte hatten sie ja selbst Schlüssel. Es war völlig lächerlich, da der Junge, wenn er aufwachte, kaum die Kraft haben würde, seine Augen zu öffnen, und doch befürchtete er, "Rocco" könne versuchen, sich davonzustehlen, während Caspar schlief. Und dieser Gedanke machte Caspar nicht nur wegen den Verletzungen und der sehr wahrscheinlichen Gehirnerschütterung des Jungen Angst... Er starrte in den mit Sprüngen durchzogenen Spiegel im Flur. /Bin das wirklich ich?/, dachte er betäubt. Er wusste es nicht zu sagen... Auf den niedrigen japanischen Tisch neben seinem Bett legte er einen kleinen Zettel("Weck mich, wenn du wach bist! Caspar") für den Fall, dass Rocco aufwachte, lesen konnte und auch genug Kraft hatte, um sich den Zettel anzusehen. Darauf stellte er noch ein Glas Wasser. Bestimmt würde er, wenn nicht Hunger so doch zumindest großen Durst haben. Er war sehr müde, doch er wusste, er war noch immer viel zu aufgeregt, zu mitgenommen von dem Anblick der leblosen, schmalen Gestalt auf dem feuchtkalten Asphalt und so suchte er sein Notizbuch und einen Bleistift, begann fast völlig unbewusst den Jüngeren zu zeichnen und während er über diesen nachdachte formten sich nach und nach Gedanken in seinem Kopf, die ihren Weg schließlich auch auf das Papier fanden. Dann zog sich Caspar erschöpft bis auf seine Unterhosen aus und legte sich zu der schmalen Gestalt. Sanft zog er den von Schüttelfrost geplagten Jungen in seine Arme, um ihn so ein wenig zu wärmen, strich vorsichtig über die trockenen Lippen, die heißen Wangen, die geschlossenen, leicht flatternden Lider. "Schlaf gut", hauchte Caspar und war einen Moment später selbst eingeschlafen. Als Alain das nächste mal erwachte spürte er sofort, dass er nicht mehr fuhr oder im Wagen lag. Vorsichtig öffnete er die Augen. Sein Blick fiel auf einige, erloschene Kerzen und schlagartig wurde ihm klar, wo er sich befand. Mit einem Satz sprang er aus dem Liegen auf die Füße, bereute dies aber sofort wieder als sich alles wild um ihn drehte und Übelkeit in ihm aufstieg. Seine Beine gaben nach und er fiel auf die Knie. Fast eine Minute lag er auf den Knien, bis der Schwindelanfall abflaute. Langsam, diesmal vorsichtiger, richtete er sich wieder auf, sich diesmal am Couchtisch abstützend. Sein getrübter Blick fiel dabei auf ein Glas Wasser und einen Zettel. Das Wasser ignorierte er, obwohl ihm die Kehle brannte und griff nach dem Papier, sich auf den Tisch setzend. Langsam und unsicher buchstabierend entzifferte er die Worte, bis sein Kopf zu zerspringen drohte: "Weck mich, wenn du wach bist! Caspar" Das Lesen hatte er sich selber beigebracht, indem er die Leute auf der Straße gefragt hatte, was auf Werbeschildern stand. Eine Weile starrte er nur unschlüssig auf die schlafende Gestalt auf dem Bett, stand dann jedoch schwankend und viel vorsichtiger als zuvor auf und stolperte, sich an der Wand abstützend auf die Tür zu. Jeder Schritt bereitete ihm Mühe, sein Herz raste und er keuchte schon, kaum dass er die Tür erreicht hatte, als währe er meilenweit gerannt. Jede einzelne der Treppenstufen verursachte einen stechenden Schmerz in seiner Brust und er atmete erleichtert auf, als er endlich vor der Haustür stand. Zu früh, wie er enttäuscht feststellen musste: sie war verschlossen. Wütend lies er sich auf den Boden sinken und lehnte sich erschöpft gegen die Tür. Er spürte einen eisigen Luftzug und schloss daraus, dass irgendwo ein Fenster offen stehen musste, doch er hatte nicht die Kraft der Kälte zu folgen und so rollte er sich, dort wo er gesessen hatte einfach zusammen und schlief fast sofort wieder ein. Eine Stimme drang in sein Bewusstsein. "Caspar?" Eine Hand berührte seine Schulter und drehte ihn auf den Rücken. Widerwillig schlug er die Augen wieder auf. Über ihm stand ein dunkelhaariger Mann mit besorgtem Blick. Alain murmelte nur leise "Geh weg!" und wollte sich wieder zusammenrollen doch der Mann hielt seine Schulter eisern fest. Ein stechender Schmerz fuhr, von seiner Brust ausgehend durch seinen ganzen Körper, als er alle Muskeln anspannte, bereit sich zu verteidigen wenn er es musste. Ein leises Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Der andere sprach mit ihm, doch er konnte den Sinn der Worte nicht begreifen. Bis auf die Hand, die sich durch die Falten des viel zu großen, schwarzen Hemdes in sein Fleisch krallte nahm er nichts mehr von seiner Umgebung war. Lange, sehnige Finger griffen nun auch in sein Haar und zwangen ihn, den Fremden anzusehen. Der Fremde zog ihn auf die Füße und fing ihn auf, als er sofort zurückfiel. Übelkeit stieg in ihm auf und er übergab sich, würgte bittere Galle hervor, während die Arme des Anderen, wie in einer Umarmung von hinten um ihn geschlungen ihn am Fallen hinderten. Er lies sich widerstandslos von ihm hochheben und nach oben tragen. Der Mann sprach weiter zu ihm, doch er begriff die Bedeutung der Worte nicht. Das nächste, das er wieder bewusst wahrnahm war, wie er in das Bett zurückgelegt wurde, aus dem er geflohen war und sich der Fremde über Caspar beugte und ihn wild schüttelte. Caspar schreckte auf und sah blinzelnd in das Gesicht einer seiner Mitbewohner: Jake. "Was...?", machte er verschlafen. "Würdest du mir freundlicherweise verraten, wer das ist, Caspar? Da er dein Hemd trägt, nehme ich doch mal an du kennst ihn... Was ist mit dem Kleinen? Sieht ja aus wie von nem Zug überfahren... Und was zum Teufel macht er hier??", rief Jake aufgebracht. Er war wohl wirklich sehr besorgt. Müde sah er zur Seite und erkannte Alain, der ein wenig Mühe zu haben schien, ihn zu fokussieren. Allerdings lag er nicht mehr dort, wo er ihn hingelegt hatte und der Zettel, den er geschrieben hatte, auf dem Boden. "Schrei nicht so rum, Jake! Das ist... "Rocco". Er hatte heute einen Unfall - nichts schlimmes, aber auch nicht ohne weiteres wegzustecken. Und da hab ich ihn eben mit zu mir genommen. Er wird nichts anstellen, keine Sorge. Ich pass schon auf ihn auf... So wie er jetzt ist kommt er ohnehin keinen Meter weit...", erwiderte Caspar gähnend und richtete sich auf. Besorgt musterte er Rocco. Wach war er schon einmal - gut. Aber sein Blick verriet auch, dass er große Schmerzen haben musste. "Wieso habe ich ihn dann vor der Haustür wiedergefunden? Mein Gott, du bist Medizinstudent, okay, du wirst es wohl wissen, aber er ist ja nicht mal ansprechbar und versucht nur mit einem Hemd und Shorts bekleidet abzuhauen?!" Caspar seufzte. "Nun beruhige dich doch erst mal, Jake..." /Er hat versucht abzuhauen?/, dachte er jedoch - sehr beunruhigt. Doch Jake hatte nicht vor, sich zu beruhigen. "Du kannst doch nicht einfach wildfremde Leute herschleppen! Außerdem gehört der Kleine ins Krankenhaus! Gerade als Medizinstudent müsstest du das doch wissen!" Caspar sah aus den Augenwinkeln wie Rocco zusammenzuckte als Jake das Krankenhaus ansprach. "Er ist nicht wildfremd. Ich kenne ihn. Noch nicht lange, aber gut genug, damit ich mir Sorgen um ihn mache, okay? Wenn du was nützliches tun willst, dann hör auf so rumzubrüllen! Das einzige was du damit bewirkst ist uns allen hier Kopfschmerzen zu machen!" Verdattert starrte Jake ihn an. Dann fasste er sich langsam wieder. "Sorry, Caspar... Ich bin wohl einfach ausgetickt als ich den Kleinen so gesehen habe... Und es ist wirklich nichts schlimmes? Und du kennst ihn?" Beruhigend nickte Caspar und klopfte Jake auf die Schulter. "Schon okay. Rocco wird schon wieder. Wie wär's wenn du schon mal Brötchen für's Frühstück holen gehst, hm?" Jake sah ihn ein wenig ratlos an, nickte dann aber langsam. Jedoch, bevor er ging, beugte sich Jake zu seinem Ohr hinunter und flüsterte leise: "Ich hoffe du weißt, was du da tust... Er ist noch ziemlich jung, oder..." "Was?", machte Caspar verblüfft, doch Jake lächelte nur und ging mit einem betont fröhlichen "Ich geh dann mal die Brötchen holen..." Stirnrunzelnd blickte Caspar ihm nach, wurde nicht schlau aus der Sache und zuckte deswegen nur mit den Achseln. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit Rocco zu. "Hey... Wie geht es dir? Soweit alles in Ordnung? Du bist angefahren worden - erinnerst du dich? Glücklicherweise war ich zufällig gerade da... Da es nichts Lebensgefährliches ist, habe ich dich erst einmal wieder mit zu mir genommen... Wie... wie fühlst du dich?" Und während er auf eine Antwort wartete, fragte er sich selbst: /Wieso fällt es mir so schwer, zuzugeben, dass ich ihn gesucht habe?/ Alain wollte Jake bitten ihn nicht mit Caspar allein zu lassen, doch schon seine Umgebung nicht doppelt und verschwommen wahrzunehmen überstieg im Augenblick seine Kräfte. Wie aus weiter ferne drangen die Fragen des Anderen an sein Ohr, doch wie schon bei Jake begriff er den Sinn der Worte nicht. Nach einigen Minuten verließ Caspar den Raum und Alain rappelte sich mühsam hoch und trat, schwankend wie ein Betrunkener an das Fenster. Schon es zu öffnen war unendlich schwer. Er sah hinaus und nach unten. Selbst wenn er es schaffen sollte, auf den Fenstersims zu klettern, was er sich im Moment jedoch nicht zutraute, den Sturz hätte er in seinem derzeitigen Zustand nicht abfangen können. Leise seufzend lies er sich neben dem Schreibtisch auf den Boden sinken und zog die Knie an die Brust. Er bereute dies sofort wieder und atmete scharf durch die schmale Lücke zwischen den Vorderzähnen ein, als ein scharfer Schmerz seine Brust durchzuckte. Als sich der Nebel vor seinen Augen lichtete zog er die oberste Schublade des Schreibtisches heraus und wühlte gedankenverloren darin herum. Er fand ein Notizheft, alle Seiten mit Caspars eng-verschlungener Handschrift vollgequetscht. Einen Moment versuchte er darin zu lesen, gab es aber gleich wieder auf und steckte es einfach hinten in den Saum der Shorts. Der Rest des Inhalts sah so aus, als hätte Caspar einfach die Schublade geöffnet und alles von seinem Tisch aus dort hinein geschoben: Jede menge Kleinkram wie Radiergummis, Kulis, Merkzettel häuften sich mit halb heruntergebrannten Kerzen und Büchern unordentlich in dem Fach das einzig Interessante was er noch fand war Caspars Spardose. Alain brauchte keine zwei Sekunden um das Vorhängeschloss zu öffnen. In einer der anderen Schubladen, allesamt voller unordentlichem Kleinkram, fand er ein Jagdmesser, das er ebenfalls an sich nahm, zusammen mit einigen anderen kleinen Dingen wie Ringen oder ähnlichem. Er betete, niemand möge ihn sehen, als er auf Händen und Knien zu der Stelle kroch, wo Caspar seine Sachen abgelegt hatte. Die Tatsache, dass die Sachen zerfetzt und dreckig waren störte ihn nicht weiter. Er schlüpfte in die Hose, Caspars Hemd behielt er an, steckte das Notizheft, Geld und seine andere Beute in die Taschen und legte sich auf den Boden, wo er sofort wieder einschlief und Caspars Rückkehr nicht bemerkte. Als Alain ihm nicht antwortete, ihn nicht einmal zu verstehen schien, verließ er das Zimmer, um Tee zu kochen und dem Jungen ein wenig Zeit mit sich allein zu geben, damit er sich über seine Situation klar werden konnte. Nach einiger Zeit kam Caspar mit zwei Tassen voll dampfendem grünen Tee wieder. Lächelnd bemerkte er, dass Rocco schon wieder schlief. Dass sich der Kleine jedoch angezogen hatte, war ihm weniger recht. Im Moment war zuviel Bewegung pures Gift für ihn! Leise stellte er die Tassen auf dem Tisch ab, schloss das Fenster wieder und hob Rocco dann so vorsichtig es ging zurück auf die Matratzen, deckte ihn gut zu, setzte sich dann neben ihn. Schweigend betrachtete Caspar den blassen Jungen auf seinem Bett, dachte an die Einstiche in Roccos Arm. Das Gesicht des Strichjungen war nun völlig entspannt, bis auf die Nase, die leicht kraus war, weil eine lange Haarsträhne ihn kitzelte. Behutsam strich er die Strähne aus Roccos Gesicht, streichelte über die weiche Wange. Ja, im Schlaf war er wie ein Engel... doch wenn er wachte... Nein, er konnte nicht mehr wütend auf Rocco sein, weil er die Drogen genommen und ihm sein wahres Alter sowie seinen wahren Namen verschwiegen hatte. Viel eher verspürte Caspar tiefes, aufrichtig empfundenes Mitleid für ihn und... Verbundenheit. Noch immer konnte er sich dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit nicht erklären, doch es war da und es ließ ihn nicht los. Versuchte er instinktiv diese verirrte Seele, die ihm doch so sympathisch war, aus dem Drogensumpf zu ziehen, vor dem er seinen Vater nicht hatte retten können? War es das? Dieses absurde Gefühl von Schuld, die wiedergutgemacht werden musste? Oder war es doch etwas ganz anderes... etwas wie... All die widersprüchlichen Gefühle in ihm ließen seinen Geist taumeln und er verspürte den Drang, Ordnung in dieses Gefühlschaos zu bringen, indem er das alles niederschrieb, wie er es so oft tat. Leise stand er auf und ging zu seinem Schreibtisch, nahm einen Stift und suchte dann nach seinem Notizbuch. Doch er fand es nicht. Dabei war es immer an demselben Platz! Ein Verdacht stieg in ihm auf und ließ ihn sein Sparschwein hervorholen. Das Schloss war geknackt, das Geld nicht mehr da. Caspar wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Schließlich tat er nichts dergleichen, seufzte nur leise. Das Notizbuch war ihm wichtig. Es war eine Art Tagebuch indem er seine Gedanken festhielt. Das Geld wiederum war ein kleiner Notnagel, wenn er mal keine Zeit für die Bank hatte - nicht viel, da er das Meiste angelegt hatte, aber... Überrascht stellte Caspar fest, dass es ihm nicht gleichgültig war, ihn jedoch auch nicht aufregte. Wenn Rocco das Notizbuch lesen würde, so würde er teilhaben an Caspars Gedanken, seinen Meinungen und Ansichten, und auf ihre eigene, nicht greifbare Weise gefiel Caspar diese Vorstellung. Und das Geld... nun, solange es Rocco helfen und er es nicht für Drogen ausgeben würde... /Seit wann lautet dein Nachname Samariter?/, fragte ein spöttische Stimme in seinem Kopf. Caspar blinzelte. Nun gut, er war ein allgemein sehr hilfsbereiter Mensch, aber das war selbst für ihn doch sehr extrem... "Was ist es, was dich von den anderen Menschen unterscheidet? Welche sind deine Stärken und Schwächen, die nur du hast und kein anderer? Was macht dich so besonders? ...für mich?", fragte Caspar selbstvergessen flüsternd. Beim nächsten Erwachen spürte er, dass der Morgen schon lange vorüber war. Leise fluchend stemmte er sich hoch. Ihm fiel ein, dass er nicht von selber aufgewacht war und sah sich um. Jemand hatte an die Tür geklopft und trat nun ein. Alains Magen meldete sich laut knurrend, als er das Tablett mit geschmierten Brötchen in der Hand des Mannes sah. Der Fremde lächelte ihm kurz zu und sah dann stirnrunzelnd an ihm vorbei. Alain folgte seinem Blick und hätte fast gegrinst. Caspar würde fürchterliche Rückenschmerzen haben, wenn er erwachte. Er war im Schneidersitz hockend eingeschlafen und nach vorne gesunken. Versunken in diesen Anblick beobachtete er wie Caspar sich im Traum bewegte bis die Stimme des Dritten ihn aufschreckte: "Hast du Hunger? Wie geht's dir?" Alain zuckte die Schultern ohne damit auf eine bestimmte Frage zu antworten. Er starb vor Hunger doch er hätte sich eher die Zunge abgebissen als das zuzugeben. "Ich heiße Jake, und du?" sagte Jake, drückte ihm zwei Nutellabrötchen in die Hand und stellte eine Tasse Kaffee neben ihn auf den Boden, ehe er sich neben ihm auf die Matratze setzte. Eine Weile schaffte er es, seine Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, doch schon nach dem ersten Biss erwachte seine Gier und er schlug die Zähne in das Brötchen um ein riesiges Stück herauszureißen. Sein Mund war zwar so voll, dass er ihn nicht länger als zwei Sekunden Geschlossen halten konnte, doch er schaffte es trotzdem um das Brötchen herum zu nuscheln: "Nathanael!" Jake zog die Augenbrauen hoch. "Caspar hat behauptet du würdest Rocco heißen." Alain schluckte den ganzen Batzen auf einmal herunter und sah den Mann einige endlose Sekunden schweigend an. "Dann hab ich wohl gelogen." Mit einem Schluck trank er den Kaffee aus und hätte ihn fast wieder ausgespuckt, als ihm die heiße Flüssigkeit den Mund verbrühte. Er lies bewusst offen welcher Name nun stimmte. Jake versuchte weiterhin ihn in ein Gespräch verwickeln doch Alain zog sich in sich zurück um über seine derzeitige Situation nachzudenken. Wenn er überhaupt auf Fragen antwortete, dann meist unzusammenhängend oder so komplizierte Erklärungen, dass er selber nicht in der Lage war dem Gespräch zu folgen. Nach einer Weile verließ Jake den Raum und überließ den abwesend vor sich hin stierenden Alain sich selbst. Er merkte fast nicht, wie der Mann aufstand und das Zimmer verließ und schreckte erst aus seinen Gedanken, als dieser die Tür mit dem Fuß wohl etwas wuchtiger schloss als geplant, da er das Tablett mit der leeren Kaffeekanne und Caspars Brötchen in den Händen hielt. Er lies sich zurück auf die Matte sinken und schloss die Augen. Sonnenlicht flimmerte durch die Lider. Das einzig wahrzunehmende Geräusch waren die langsamen, gleichmäßigen Atemzüge des jungen Mannes neben ihm. Sein rastloses Wesen erlaubte es ihm jedoch weder einzuschlafen noch tatenlos herumzuliegen, und so zog er, mit einem Anflug von schlechtem Gewissen Caspars Notizheft aus der Tasche und blätterte darin. Eine anatomisch korrekte Zeichnung von einem jungen Mann erweckte seine Aufmerksamkeit. "Samuel" stand in Caspars geschwungenen Handschrift daneben. Der Mann war nackt, hatte den Kopf zurückgeworfen und lachte. Alain hob den Kopf und sah zu Caspar, der noch immer in derselben Haltung saß, wie er eingeschlafen war. Seufzend richtete Alain sich auf, beugte sich zu ihm und legte beide Arme von hinten um Caspars Brust. So vorsichtig wie möglich zog er ihn mit sich, die stechenden Schmerzen in seiner Brust ignorierend, bis er in gesünderer Haltung als zuvor neben ihm lag. Mit einem Finger strich er sanft über sein Gesicht. Dann, in einem plötzlichen Gedankenumschwung wieder von dem Mann angeekelt der seinen Körper hatte kaufen wollen stand er auf und trat langsam ans Fenster. Er weigerte sich, sich selbst einzugestehen, dass er nicht genug Kraft hatte, um auch nur wenige Schritte zu gehen. Zu seiner eigenen Überraschung schaffte er es sogar, das Fenster zu erreichen, doch dort angekommen knickten ihm die Beine weg. Sein Kopf schlug gegen das Fenster als er zusammensackte. Als er das nächste Mal die Augen aufschlug war das erste das er sah Caspars Augen. Als Caspar die Augen öffnete fand er sich zu seiner Verwirrung nicht nur auf seinem "Bett" wieder, sondern auch _allein_ auf seinem Bett. Unsicher blinzelnd fuhr er sich durch die Haare, die in sein Gesicht gerutscht waren. Anscheinend hatte der Gummi während des Schlafens seinen Geist aufgegeben... Noch ziemlich durcheinander tastete er nach seinem Haargummi und wollte sich dabei aufrichten. Leise stöhnend verzog er das Gesicht. Sein Nacken und Rücken waren völlig verspannt. Er musste wohl im Sitzen eingenickt sein... Ob "Rocco" ihn wohl aufs Bett gelegt hatte? Mit einem Blick auf das Tablett, dass dann wohl doch eher Jake hereingebracht hatte überlegte er kurz, entschied dann aber, dass Jake eindeutig zu sehr der Schadenfreude frönte, als dass er Caspar ins Bett gelegt hätte... Was wiederum nur bedeuten konnte, das Rocco der "Schuldige" war, was Caspar gar nicht gefallen mochte. Leise fluchend stand er auf. Rocco konnte als Straßenkind noch so viel gewöhnt und sicherlich nicht soo "verweichlicht" sein, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er deshalb die Narrenfreiheit hatte, zu tun und zu lassen was er wollte - jedenfalls _N.I.C.H.T._ in diesem Zustand! Caspar hatte zwar noch nicht seine Scheine, aber selbst ein Baby wusste doch, dass man beim Onkel Doktor lieb und artig zu sein hatte! Grummelnd streckte er den protestierend knackenden Rücken durch, drehte sich suchend um und fing zielsicher Roccos Anblick mit den Augen ein. Diese himmelwärts drehend und etwas saftiges fluchend, das nicht einmal er selbst verstand, überbrückte er die wenigen Meter zu dem ziemlich verdreht liegenden Jungen und beugte sich nun doch besorgt über ihn. Auf der schönen glatten Stirn des Kleineren prangte ein hübsches Hörnchen... /Passt zu ihm/, dachte Caspar innerlich doch irgendwie amüsiert und strich sanft darüber. Sofort blickten ihn nachtschwarze Augen an. "Du gibst wohl nie auf, deinen Willen durchzusetzen, oder?", fragte Caspar leise seufzend, erwartete aber auch gar keine Antwort. Diverse Proteste und einen deftigen Boxhieb in seine Magengegend nicht beachtend trug er Rocco zurück zum Bett. "Hey!", machte Caspar dabei. "Sei doch froh, wenn du jemanden hast, der dich auf Händen trägt!" Bei dem darauffolgenden, verdutzten Gesicht lachend bettete er Rocco wieder auf die Matratzen und warf ihm einen strengen Blick zu. "Liegen bleiben, Soldat Rocco!", befahl er streng, dann suchte er aus den (chaotischen) Untiefen seines Zimmers sein Stövchen und ein neues Teelicht hervor, brachte den kalten Kaffee wieder zum Erwärmen, während er sich eines der übrig gebliebenen, dick mit (wie könnte es bei Jake auch anders sein) Nutella bestrichenen Brötchen schnappte und ein wenig daran rumknabberte, während er Rocco beobachtete. "Gegessen hast du schon, nehme ich an...", stellte er fest und zuckte nur mit den Achseln, als Rocco nicht antwortete. Schließlich seufzte er ergeben, legte das Brötchen unschlüssig von der einen Hand in die andere und sah dann ernst zu Rocco. "Hör mal... Auch wenn es dir vielleicht nicht gefällt, du darfst dich in nächster Zeit _nicht_ anstrengen und auch _keine_ "anstrengenden Bewegungen" machen, wenn du weißt was ich meine... Es tut mir wirklich Leid für dich, wenn du mich nicht leiden kannst, aber ich bin Medizinstudent und weiß wovon ich rede! Und mit einer Gehirnerschütterung und gebrochenen Knochen ist nun mal nicht zu spaßen, in Ordnung?" Er setzte sich vorsichtig neben Rocco, immer darauf bedacht, genug Abstand zwischen ihnen zu lassen, um nicht in Roccos Intimsphäre zu dringen. "Ich weiß nicht, wo du normalerweise schläfst, aber vielleicht wäre es das beste, wenn du die nächsten Tage hier bleibst. Ich nehme ja nicht an, dass du ein Krankenhaus bevorzugen würdest... Wie dem auch sei... Wenn es dir lieber ist, kannst du auch das Gästezimmer haben. Oder du kriegst mein Zimmer und ich campiere derweil dort - ist mir egal.", er lachte leise. "Aber meine Mom würde einen Anfall kriegen, wenn ich dich - noch dazu als Medizinstudent - so auf die Straße lassen würde. Und eigentlich hatte ich vor noch ein bisschen das Leben zu genießen..." Einige Zeit starrte er den munter drauf los plappernden Caspar einfach nur an. Dann nahm er ihm blitzschnell das Brötchen aus der Hand, biss hinein und legte es dann wieder auf den Teller. "Das war meins!" sagte er trotzig. Caspar grinste kurz, wurde aber sofort wieder ernst. Die Stille zwischen ihnen schien Alain immer vertrauter zu werden. "Meine Eltern werden sich schon Sorgen machen. Als ich das letzte Mal einfach so über Nacht weg war, haben sie alle meine Brüder losgeschickt um mich zu suchen. Und meine Großmutter hat sogar die Polizei angerufen!" Ein Teil von ihm hoffte, dass Caspar das glaubte, doch eine hartnäckige Stimme in seinem Hinterkopf wollte, dass dieser die lahme Lüge durchschaute und nach der Wahrheit fragte. Es entstand ein langes, unangenehmes Schweigen. Alain beobachtete wie sich das Gesicht des vor sich hin starrenden Studenten fast unmerklich bewegte, wie einer seiner Gedanken ihn leicht die Stirn runzeln ließ, seine Zunge über die trockenen Lippen fuhr. "Wer ist Samuel?" fragte Alain in fast beiläufigem Ton und freute sich, als Caspar erschrocken zusammenzuckte. Der Blick der braunen Augen bohrte sich in seinen, als suche er nach etwas. Alain sah schnell weg und wandte sich ab. Er hatte nicht mit einer Antwort gerechnet, doch er bekam sie: "Samuel war mein Freund. Aber wir trennten uns im Streit und er zog in eine andere Stadt.", erklärte Caspar leise. "Seitdem hab ich ihn nicht mehr gesehen. Nein... nie wieder", wiederholte er versonnen "Doch ich hab ihn nie vergessen, wie du ja gesehen hast!" "Dann hol dir den zurück und lass mich gehen!" "Nein, mit Samuel ist es aus und vorbei und das habe ich akzeptiert. Aber was dich anbetrifft... Es steht dir frei zu gehen. Ich werde dich ganz sicher nicht zwingen, hier zu bleiben. Um Menschen, die ich mag, mache ich mir Sorgen, und auch wenn du es mir kaum glauben magst - ich _mag_ dich und alles was ich möchte, ist, dir zu helfen... Aber wenn du diese Hilfe nicht willst... Dann geh", sagte er und wurde immer leiser während er sprach, konnte dabei aber nicht ganz den verletzten Ton in seiner Stimme verbergen. Dann ging er ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer und versuchte sein Herz und seine Lungen dazu zu bewegen, ihre Tätigkeit wieder aufzunehmen und zu schmerzen aufzuhören. Seit einer Stunde saß er nun in Caspars Zimmer auf dem Fenstersims und lies den kalten Winterwind durch seine verfilzten Haare streichen. Das letzte Mal waren sie gekämmt worden als er von einem Friseur gekauft worden war, der sich als erstes hingesetzt und mit Engelsgeduld die einzelnen Strähnen entwirrt, die Spitzen abgeschnitten und seine Haare fünf mal gewaschen hatte, ehe er sich das nahm, wofür er bezahlt hatte. Alain dachte nicht gerne an ihn. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ein Mann, der sich mit solcher Liebe seinem Handwerk widmete, in der Liebe selbst so brutal sein konnte. Seine Gedanken wanderten zurück zu Caspar. Er war aufgestanden, hatte das Zimmer verlassen; wohl um dem verstörten Alain Zeit zu geben, über seine Worte nachzudenken. Nach einer Weile öffnete sich die Tür wieder, die Caspar sorgsam abgeschlossen hatte, doch es war Jake, der Alain mit aufmunterndem Lächeln eine Tasse heißen Tee brachte. Als Jake, nach einem weiteren erfolglosen Versuch ein Gespräch zu entwickeln, ging, setzte sich Alain wieder auf seine Fensterbank und holte wieder das Notizheft hervor. Besonders ein Gedicht erregte seine Aufmerksamkeit. Er las es zweimal bis er sicher war alle Wörter richtig entziffert zu haben. Es handelte von Liebe und Schmerz. Daneben war wieder eine Zeichnung von Samuel. Diesmal einfach sein Gesicht im Profil. Caspar war ein sehr guter Zeichner. Ein eisiger Luftzug streifte seine Wange und lies die feuchte Spur von Alains Tränen kalt werden. Er hatte nicht gemerkt, dass er geweint hatte. Rasch blätterte er weiter... und erstarrte. Auf der letzten Seite fand er ein weiteres Gedicht und eine Zeichnung von sich wie er zusammengerollt schlief. Als hätte Caspar sein Entsetzen gespürt, betrat er genau in diesem Augenblick das Zimmer, in der Hand einige zusammengerollte Verbände, Pflaster und Schere. Sprachlos starrte Alain ihn an. "Es handelt vom Tod", sagte der Blonde ruhig, nahm ihm das Heft aus der Hand, legte es neben ihn auf die Fensterbank und zog ihm das Hemd aus. Das Schweigen wurde unangenehm, während er, Alains stumme Proteste ignorierend, die durchgeschwitzten Druckverbände wechselte. Alain biss sich auf die Zunge um nicht zu schreien, als Caspar die Platzwunde mit Alkohol desinfizierte. Die Binde, die Caspar um seinen Kopf geschlungen hatte, nahm er sofort wieder ab und hockte sich, beide Beine aus dem Fenster baumeln lassend mit dem Rücken zu dem Studenten. Wieder langes Schweigen. Dann brach Alain die ihm unerträglich gewordene Stille: "Lies es mir vor!" "Hörst du dann auf, mich anzulügen und dich ständig in Gefahr zu bringen... _Rocco_?", fragte er traurig, erwartete aber nicht wirklich eine Antwort. Stattdessen schlang er seine Arme von hinten um Roccos Oberkörper und zog ihn vorsichtig wieder ins Zimmer, ließ ihn jedoch, sobald er wieder auf festen Füßen stand, gleich wieder los, um dem Jüngeren nicht etwa zu nahe zu kommen. Und während er sein Notizbuch nahm und sich damit auf seinen Bürostuhl setzte, sagte er leise und den Kleineren ernst dabei anblickend: "Wenn ich ehrlich bin, nehme ich dir das mit deiner Familie nämlich nicht ab. Oder nennt man bei euch die "Arbeitskollegen" Brüder? Hättest du tatsächlich eine Familie, die sich so sehr um dich sorgt, dass sie die Polizei ruft, wenn du auch nur eine Nacht wegbleibst, würden deine Eltern sicherlich nicht zulassen, dass du auf den Strich gehst. Besonders nicht in deinem Alter... Viel eher glaube ich, dass du einsam bist... sehr einsam...", sagte er leise und begann dann sein Gedicht vorzulesen als wäre nichts geschehen, weil er plötzlich Angst hatte, dem Jüngeren nun endgültig zu nahe getreten zu sein. . . . Beweis für das Leben Ich zünde eine weitre Kerze für mich an Und tauche meinen Finger in das Feuer Es bleibt stumm, das brennend' Ungeheuer Leckt nur die Luft zum Brennen an. Sie ignoriert mich ganz und gar Als wäre ich in Wirklichkeit nicht da Ich ignoriere die Schmerzen - All die brennenden Kerzen. Schon bald wirft meine Haut die ersten Blasen Bis die Finger so rabenschwarz wie Kohle sind War es einst nur Schmerz, was sie in meinen Augen lasen So ist's nun mein einziger Beweis, dass ich noch bin. . . . Als er geendet hatte, sah er zugegebenermaßen doch sehr auf die Reaktion des Jüngeren gespannt zu jenem hinunter. Während er aus seinem Notizbuch vorgelesen hatte, hatte sein Herz ruhig und gleichmäßig das Blut durch seine Adern gepumpt - jetzt jedoch, schlug es so aufgeregt als wolle es aus seiner Brust springen und er sah den Jüngeren unsicher an. "Na ja... ist nichts besonderes", rechtfertigte Caspar sich schon einmal im Voraus. "Bin halt kein Dichter oder so... normalerweise schreib ich sie ja sowieso nur für mich und nicht, damit sie jemand liest..." Verlegen räusperte er sich, schloss das Notizbuch wieder und warf es dem Schwarzhaarigen zu, um mit leerem Blick aber sehr aufmerksamen Ohren auf eine Erwiderung zu lauschen und unsicher die Hände in seinem Schoß zu winden. Panik schnürte Alains Kehle zu, als die Arme Caspars sich um seine bloße Brust legten und er den muskulösen Körper hinter sich spüren konnte. Er war froh, dass Caspar dies zu akzeptieren schien, und ihn sofort wieder losließ. Unsicher sah er in die braunen Augen des Mannes, als dieser zu ihm sprach. Seine Gefühle versteckte er gut hinter seiner Maske, doch er konnte nicht verhindern, dass ein leichter Schauder, wie wenn kalte Finger seinen Rücken entlang strichen, ihn erfasste, als Caspar von seiner Einsamkeit sprach. Er selber versuchte nie darüber nachzudenken, wie das Leben mit anderen Menschen, einer Familie oder wenigstens Freunden, sein könnte, und er hatte auch nicht geglaubt, dass er sich je danach sehnen würde. Doch diesen Mann, der für ihn eigentlich ein Fremder war, darüber sprechen zu hören, schmerzte ihn. Nur um dessen Blicken auszuweichen drehte er sich um, setzte sich neben das Bett vor die Wand und hörte zu, den Blick nun wieder wie gebannt an das Gesicht des Blonden geheftet, als dieser das Gedicht leise vorlas. Der unsichere Blick des Mannes überraschte ihn, wie auch das ihm zugeworfene Heft. Dessen letzte Worte ließen Alains verräterischen Mund die Worte formen: ´Heißt, "Normalerweise", dass du wolltest, dass ich es lese?´ Alles in ihm drängte darauf, diese Worte hinaus zu schreien, doch er konnte sich im letzten Moment beherrschen und ließ sie, wie so vieles, unausgesprochen. "So siehst du mich?" fragte er stattdessen leise. Mit der Hand wollte er sich durch die Haare fahren, doch an einer besonders verfilzten Stelle blieben seine Finger stecken und er gab es auf. "Ich kann mich einfach nicht entschließen sie abzuschneiden" sagte er aufgesetzt fröhlich, doch an Caspars Blick erkannte er sofort, dass ihn dieser unbekümmerte Tonfall ebenso wenig überzeugte wie Alain selbst. "Vielleicht hast du recht mit deinem Gedicht", sagte er, nachdem er begriffen hatte, dass Caspar nichts erwidern würde, "Vielleicht fehlt mir wirklich einfach nur der Mut, alles zu beenden. Ich traue mich nicht ohne die Mittel, die du so hasst, zu leben, oder ohne sie meinem Leben ein Ende zu setzen, obwohl ich weiß, dass ich nicht das Recht habe zu existieren." Er griff in seine Tasche, zog die Geldscheine, die er aus Caspars Sparbüchse genommen hatte hervor und ging damit auf Caspar, der an seinem Schreibtisch lehnte, zu. Zwei Schritte vor ihm blieb er stehen und warf das Geld auf den Tisch "Ich habe einen Vater, der liebevoll für mich sorgt!" Seine Stimme zitterte leicht. Er legte den Kopf schief als würde er auf etwas lauschen, oder in sich hinein, schüttelte dann den Kopf und zuckte die Achseln. Sein Blick war auf den Boden geheftet, als er erneut leise zu sprechen ansetzte: "Du hast gesagt, ich darf gehen?!" Er drehte sich um und ging, unendlich erschöpft von seinen Worten, langsam und unschlüssig zur Tür. Als er sie fast erreicht hatte blieb er noch einmal stehen und sagte leise, schon fast flüsternd: "Du hast Recht! Ich werde nicht aufhören dich anzulügen." "So siehst du mich?", hörte er den Schwarzhaarigen fragen und kehrte den Blick wieder nach außen, während Rocco sich durch sein Haar fuhr - oder es zumindest wollte -, seine Finger sich jedoch schnell in den langen Strähnen verfingen. Am liebsten hätte er sich hingesetzt, die Haare entwirrt und wenigstens einmal gekämmt, da allzu groß angesetzte Waschaktionen im Moment wohl doch eher nichts für den Jüngeren waren, und er schüttelte beinahe entsetzt den Kopf, als der Schwarzäugige mit wenig überzeugender Fröhlichkeit das Wort "abschneiden" in den Mund nahm, wo er doch so wunderschönes, langes Haar hatte. Caspar wollte etwas sagen, doch der Kleine kam ihm zuvor und er ließ ihn reden, war froh über jedes Wort, das Rocco freiwillig von sich gab... - bis jener anfing von Selbstmord zu reden... Beunruhigt stand er auf, wollte auf Rocco zugehen, besorgt etwas erwidern, doch der Jüngere kam von selbst auf ihn zu und... gab Caspar das Geld zurück, dass sich eigentlich in seiner Sparbüchse hätte befinden sollen... Überrascht und alarmiert zugleich wollte er die Hand nach dem Kleineren ausstrecken, erstarrte zugleich in der Bewegung als er ungläubig hörte wie Rocco ihn ein weiteres Mal anlog und dieses Mal so gründlich aber auch offensichtlich, dass es ihm schlichtweg die Sprache verschlug. "Du hast gesagt, ich darf gehen?!" Erschrocken hörte er die leisen, sonderbar erschöpft klingenden Worte aus dem Mund des Jüngeren, folgte dem anderen, wenn auch mit Verspätung und durch den Schock jeglicher Schnelligkeit beraubt. /Das kann er nicht Ernst meinen!! Er... er _kann_ doch jetzt nicht einfach gehen!?/, dachte er hysterisch. "Du hast Recht!", sprach der schwarzäugige Junge leise weiter. "Ich werde nicht aufhören dich anzulügen." Und plötzlich wurde ihm klar, dass, wenn er nichts tat, dies vielleicht die letzten Worte waren, die er je von Rocco vernehmen würde. Angst befiel ihn, eine irrationale Angst, die er nicht einmal auf den vielleicht in wenigen Sekunden kommenden Verlust zurückführen konnte, die viel umfassender, grundlegender... überwältigender war, als alles was er je gespürt hatte. Der Bann brach und mit einer Schnelligkeit, die er sich selbst nicht zugetraut hätte, griff er nach dem zierlichen Handgelenk, sodass der Jüngere durch den plötzlich Ruck zurückstolperte und mit schützend vorgestreckter Hand gegen Caspars Brust prallte. Doch der Blonde nahm den dumpfen Schmerz nicht einmal wirklich wahr, spürte nur noch blanke Panik durch seine Adern rasen und seinen Herzschlag bis an die Spitze treiben. "Warte... ich... bitte ich... ich weiß, ich habe gesagt, du... darfst gehen aber... ich...", stammelte er verzweifelt, schloss seinen Griff unwillkürlich noch etwas fester um das schmale Handgelenk und suchte angsterfüllt nach den richtigen Worten, die Rocco bei ihm bleiben lassen würden. "Ich... _es tut mir Leid_. Ich hätte dich gestern nicht so anbrüllen dürfen... es ist einfach...", er holte tief Luft, sah fest und ängstlich zugleich in die schwarzen Augen, als er stockend weitersprach: "Ich habe meinen Vater durch Drogen verloren... und ich... möchte so etwas... einfach nicht wieder erleben... verstehst du? Es tut mir Leid... ich... ich... habe nicht nachgedacht, wie schwer es für dich sein muss... jede Nacht mit einem anderen Mann zu... und fast hätte ich dich genauso benutzt wie all deine anderen Kunden, dabei... ist es nicht das, was ich will... bitte, das musst du mir glauben... ich... ich... es ist mir egal, ob du mich anlügst - ich mag dich trotzdem und ich will nicht... ich werde dich nicht noch einmal anfassen, wenn es das ist, was du befürchtest, ich... möchte dich nur... ein wenig näher kennen lernen, weil... ich dich mag und... ich will nicht, dass du gehst..." Mit einem schmerzlichen Gesichtsausdruck senkte er den Kopf, konnte nicht länger in die scheinbar bodenlos schwarzen Tiefen blicken, wartete schmerzhaft hart schluckend und panisch-betäubt darauf, dass Rocco einfach ging, ihn hier völlig hilflos stehen ließ und für immer aus seinem Leben verschwand... Wie versteinert hörte Alain die Worte des anderen an. "Ich mag dich trotzdem." Immer wieder hallten die Worte durch seinen Kopf, doch nichts reagierte _in_ ihm darauf. "Nein, ich will das nicht!", flüsterte er kraftlos. "Das mit deinem Vater tut mir leid; aber ich werde nicht warten, bis _mich_ die Mittel so weit gebracht haben!" Caspars entsetzter Blick sagte ihm, dass er wohl die falschen Worte gewählt haben musste, doch eigentlich spielte das keine Rolle. "Es ist auch nicht so schwer, jede Nacht mit einem anderen Freier aufs Zimmer zu gehen, wie du glaubst!", log er "Ich hab mir diesen Beruf selbst ausgesucht und finde es OK!" Trotz der Worte, die vor allem ihn selbst überzeugen sollten, schnürte ihm etwas die Kehle zu, als er sich Caspar näherte, der sein Handgelenk noch immer so krampfhaft umklammerte, dass es weh tat. "Ich denke es wäre das beste, wenn du es jetzt tust, mich dafür bezahlst und dann gehen lässt!" Immer leiser werdend hatte er sich mit seiner freien Hand das Hemd von den Schultern gezogen, befreite nun seine andere Hand und lies dann das Kleidungsstück zu Boden fallen, während er seine Lippen auf die Caspars drückte. Noch ehe dieser reagieren konnte, hatte Alain ihm das T-Shirt ausgezogen und ihn mit sich auf dessen Nachtlager sinken lassen. Seine Gedanken kreisten jedoch nicht um den Mann, sondern um die Frage, was nach dem Tod kommen würde. Er lies sich nach außen hin nichts anmerken und spielte den perfekten Liebhaber. Sein Blick ruhte lange auf den feinen, fast unsichtbaren Narben an seinen Unterarmen. Sein Fleisch heilte sehr gut, doch diesmal würde er sich keinen Fehler erlauben. Als es vorbei war, raffte Alain seine Sachen auf, zog sich hastig wieder an, ergriff das Geld und verschwand schweigend aus dem Zimmer. Er rannte fast die Treppe herunter und stockte erst, als er an der offen stehenden Küchentür vorbeikam. Rasch schlüpfte er hinein, zog aus dem Messerblock eine der scharfen Stahlklingen, wobei er mit Daumen und Zeigefinger das metallische Geräusch dämpfte und verließ, leer und ausgebrannt das Haus, ehe ihn Caspar oder der überrascht aus dem Wohnzimmer kommende Jake aufhalten konnte. Zu sagen, Caspar wäre schockiert, wäre mehr als nur untertrieben gewesen. Er wusste nichts mehr zu sagen, ließ gefangen in der Betäubung seines Schocks alles mit sich geschehen, registrierte nicht einmal wirklich, dass er nun doch mit dem Schwarzhaarigen schlief und das dieser durchaus Talent in sein Berufsleben mitgebracht hatte. Nur ein einziger Gedanke hallte in seinem Kopf wider und zog ihn in eine endlose Spirale der Verzweiflung hinab: /Das meint er nicht Ernst.../ Betäubt und willenlos beobachtete er, wie Alain sich - wortwörtlich - nach getaner Arbeit hastig wieder anzog bis sich der Ton seiner zugeworfenen Zimmertür durch seinen Gehörgang fraß und durch seinen ganzen Körper schallte wie ein markerschütternder Gong, der das Ende der Welt einleitete. Caspar merkte weder, dass er eine Gänsehaut bekam, weil ihm auf einmal sehr, sehr kalt war, noch spürte er die heißen Tränen die plötzlich und unaufhörlich über seine Wangen rannen - das einzige, was er sah, waren zwei tiefschwarze Augen, die ihm immer näher kamen, bis sie ihn ganz verschlangen und sich eisige Dunkelheit über sein Bewusstsein legte. Kapitel 3: - Versagt?! - ------------------------ Alain rannte durch die Straßen, in denen sich die Menschen drängten um noch die letzten Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Beinahe hätte er eine Frau umgerannt, die versuchte gleichzeitig ihre drei kleinen Kinder zu beruhigen, die rumquengelten und schrien, und das zugefrorene Autoschloss zu öffnen, ohne ihre Einkaufstüten und den Braten fallen zu lassen. Alains Hand war schon halb in ihrer Tasche verschwunden, als er sah, dass die Frau den Tränen nahe war. Er überlegte es sich anders und lief, nicht mehr ganz so schnell wie zuvor, weiter. So unauffällig wie möglich betrat er das Kaufhaus, bemüht seine Klamotten unter einem langen, mottenzerfressenen Schal zu verbergen. Da dieser ihm, selbst viermal um den Hals gewickelt noch bis weit über die Knie reichte, war das nicht so schwer. Trotzdem traf ihn der ein oder andere misstrauische Blick von gestressten Müttern, abfällige Blicke von den Männern und er zog die Aufmerksamkeit vieler vorfreudig aufgeregter Kinder auf sich, die zum Teil kichernd auf ihn zeigten, aber einige warfen ihm auch mitleidige Blicke zu. Mit gesenktem Blick eilte auf die überfüllte Kaufhalle zu. Im Vorübergehen warf er noch einen Blick in eines der Weihnachtlich geschmückten Schaufenster und betrachtete sein Spiegelbild. Er erschrak, als er sah wie furchtbar er aussah. Seit seinem "Date" mit dem Friseur hatte er sich nicht mehr gekämmt, sich aber auch keine Filzlocken machen lassen, wie er irgendwann in Erwägung gezogen hatte, nachdem ihm einer seiner Freier wegen seiner ungepflegten Mähne die Bezahlung verweigert hatte. Seine Sachen hatte er nicht mehr gewechselt, seit er bei Caspar gewesen war, und sein Gesicht... Er wandte rasch den Blick ab. Seine eingefallenen Wangen sahen, wegen seiner ungesunden Blässe, noch viel schlimmer aus, als es eigentlich war; die Augen stachen pechschwarz aus dem feinen Gesicht hervor. Ohne diverse hässliche Prellungen, und mit 40 Pfund mehr auf den Rippen hätte er richtig hübsch sein können, das wusste er. Langsam drehte er seine linke Hand so, dass er die Pulsader und eine weitere dünne, fast unsichtbare Narbe sah. Vorsichtig, fast liebevoll strich er mit einem Finger darüber und führte diesen dann an die aufgerissenen und verschorften Lippen, in der Hoffnung das Kupfer seines Blutes schmecken zu können. Tränen rannen über seine Wangen, brannten in den Aufschürfungen, als er an die Nacht im November zurück dachte. >>>Ich trete aus dem Haus und renne einfach los, als wäre die ganze Hölle hinter mir her. Teils hoffe, teils fürchte ich, Caspar könnte mir folgen. Der Mann hatte mich nur geschockt angesehen, als ich sein Zimmer verließ. Ich weiß nicht, wie lange ich renne, bis ich irgendwo schluchzend wie ein kleines Mädchen zusammenbreche und mich immer und immer wieder übergebe. Mühsam schleppe ich mich weiter, bis ich einige Seitenstraßen weiter ein Abriss-Haus finde. Noch immer weinend und von krampfhaften Schluchzern geschüttelt lasse ich mich an der kalten Wand der "Eingangshalle" herabsinken und greife nach dem Messer, dass ich Caspar gestohlen habe und ziehe es mir, ohne darüber nachzudenken was ich tue oder zu zögern über das Handgelenk. Heißes Blut rinnt über meine Hände, Schmerz explodiert in meinem Arm und durchdringt meinen Körper. In einer Mischung aus Agonie und perfektem Glück schreie ich, bis meine Stimme bricht und ich das Bewusstsein verliere.<<< Ohne sein Zutun hatten ihn seine Schritte durch den Supermarkt getragen bis zu dem Regal mit den Spirituosen. Mit geübtem Handgriff nahm er eine Flasche Stroh-80 und verbarg sie unauffällig unter seinem Schal ehe er sich in eine vollere Abteilung zurückzog. Während er, zwischen riesigen Stapeln mit Plastespielzeug hockend, den Hochprozentigen in eine leere Wasserflasche füllte, die er aus einer schäbigen, geklauten Sport-Umhängetasche hervorzauberte (seine eigene hatte er bei seinem Unfall im November verloren), schweiften seine Gedanken wieder ab. >>>Am nächsten Morgen erwache ich. Am nächsten Morgen? Nach meinem Zeitgefühl muss ich lange weit weg gewesen sein. Weg... dann fällt mir langsam wieder das Messer ein, das Bild des ersten fallenden Tropfens brennt sich in mein Gedächtnis. Wie betäubt starre ich auf meinen Unterarm. Eine dicke Schicht getrockneten Blutes verbirgt die Wunde vor meinem Blick, doch ein wild pochender Schmerz überzeugt mich davon, dass Gott mich hasst. Aber ich habe auch nicht den Mut, den Schorf abzukratzen. Auch andere Schmerzen erinnern mich daran, dass mein Körper noch andere Bedürfnisse hat. Ich komme kaum auf die Füße; mein ganzer Körper scheint nur noch aus Schmerz zu bestehen. Und doch mache ich einen Schritt nach dem anderen, bis ich eine U-Bahnstation erreiche. Nach fast zwei Stunden erreiche ich eine Station, an der ich sicher weiß, dass ich umsteigen Muss. Es ist heller Tag und die Pendler, die auf dem Weg zur Arbeit sind, starren mich entsetzt an, ehe sie sich umdrehen und so tun, als hätten sie mich nicht gesehen.<<< Unauffällig und gekonnt brachte er seine Beute an der Kassiererin vorbei, die ihn anstarrte, die Hand über dem Alarm-Knopf, bereit, die Polizei zu rufen, um diese suspekte Gestalt festnehmen zu lassen, sollte der Diebstahlschutz aufheulen, doch nichts passierte, als Alain sich zwischen den anstehenden und zum Teil, der fröhlichen Zeit unangemessen, böse fluchenden, Menschen hindurchschlängelte und wieder in die Freiheit der Einkaufspassage flüchtete. Müde kämpfte er sich aus dem Vorlesesaal heraus. Für heute hatte er Schluss und dafür war er auch sehr dankbar. Die letzten zwei Vorlesungen lang hatte er wirklich überhaupt nichts mehr mitgekriegt - was allerdings auch nicht viel zu bedeuten hatte, seit jenem einen Tag im November, der sein Leben so gründlich durcheinander gebracht hatte... Pausenlos musste er an die schwarzhaarige, schlanke Gestalt denken, die wie ein Schatten immer wieder durch seine Gedanken und Träume huschte und ihn nie wieder verlassen zu wollen schien. Selbst seine Mutter machte sich langsam Sorgen um ihn, ganz zu schweigen von Jake, der zwar verstand, dass Caspar, unter all den Erinnerungen langsam wahnsinnig werdend, das Haus ihrer WG nicht mehr hatte ertragen können und deshalb ausgezogen war, jedoch nicht, dass sich Caspar noch immer zurückzog und einfach nicht mehr auf den Pfad der Besserung zurückfinden wollte. Aber was sollte er denn tun? Glaubte sein Kumpel etwa, er ließe sich freiwillig jede Nacht von Alpträumen, abwechselnd mit seinem Vater und Alain in der Hauptrolle, heimsuchen? Er wusste selbst nicht zu sagen, was es war, das ihn nicht mehr losließ, was ihn immer wieder - selbst am helllichten Tag - einen schwarzäugigen Junge mit aufgeschlitzten Pulsadern auf dem Boden liegen sehen ließ. Am liebsten hätte er sich sein Gehirn rausgerissen, aber alles was er tat, war nur, immer öfter zum Kampfsporttraining zu gehen, um sich so sehr auszupowern bis er am Ende zu erschöpft war um noch zu träumen - obwohl er wusste, dass es vergebens war. Mit gesenktem Kopf, um seinen stumpfen Blick und die tiefen Augenringe zu verbergen, trat er ins Freie, sog die kalte Dezemberluft erst tief in sich auf, als er in einer abgeschiedenen Ecke des Campus stand, in der er nicht beobachtet werden konnte, ohne selbst unbeobachtet zu bleiben. "Guten Tag?", fragte plötzlich eine weibliche Stimme, die ihm sonderbar bekannt vorkam und ihn erschöpft aufsehen ließ. Er blinzelte ungläubig. "_Sie_?" Die Frau, die seinerzeit Rocco angefahren hatte, nickte verlegen und versuchte sich noch etwas mehr hinter einer schäbigen, abgewetzten Tasche zu verstecken, die ganz und gar nicht zu ihrem fast _zu_ gepflegten Äußeren passen wollte. Erschrocken riss er die Augen auf. "Woher haben Sie die?" "Sie lag ein paar Meter weiter auf der Straße... Ich hoffe, es geht dem Jungen wieder gut?", lächelte sie schüchtern. Er nickte schwach. Was hätte er auch sagen sollen? Dass er es nicht wusste und das Schlimmste befürchtete, aber das Beste hoffte?? "Ich dachte mir, Sie könnten sie ihm geben", sagte die kleine, zierliche Brünette und gab ihm die Tasche, die er ganz automatisch annahm. "Natürlich", log er. "Vielen Dank." "Aber nicht doch", lächelte sie schon etwas mutiger und irgendwie weckte dieser erwartungsvolle Blick in ihm die Befürchtung, dass sie jetzt erwartete, mit ihm in Kontakt zu bleiben... Andererseits war er gerade wirklich erschöpft, konnte einen Kaffee gut gebrauchen und wer wusste schon, ob sie ihn nicht vielleicht von einem durchdringend schwarzen Augenpaar ablenken konnte, das Tag und Nacht durch seine Gehirnwindungen geisterte? Nett schien sie ja zu sein, wenn auch ganz und gar nicht sein Typ... "Darf ich Sie vielleicht auf einen Kaffee einladen?", fragte er also, innerlich achselzuckend. Ein Versuch konnte ja nicht schaden... "Gern", strahlte sie. "Wie wäre es mit dem Houghtaling Mousse Cafe in der Broome Street, was meinen Sie?" Er zuckte mit den Schultern und stieß sich von der Wand ab, um ihr zu folgen. "Ist in Ordnung." Während sie in die lange Einkaufsstraße einbogen, ließ er sich von dem recht einseitigen Gespräch berieseln, doch die Frau schien es gar nicht zu stören, dass er nur etwas sagte, wenn er musste, und auch dann nur sehr knapp antwortete. Dafür schien seine Rechnung tatsächlich aufzugehen, denn das langsam penetrant werdende Gerede zerstreute ihn tatsächlich, wenn auch nicht auf die angenehmste Art und Weise, wenn man bedachte, wie schamlos die junge Frau das Gedränge in der Straße ausnutzte, um sich an Caspars durchtrainierten Körper zu schmiegen als würde er sie beschützen. Zumindest, bis er Rocco plötzlich keine fünf Meter weiter in der Menschenmenge auftauchen und wieder verschwinden sah, während jener ihn gar nicht bemerkt zu haben schien. Erschrocken fuhr er auf, blickte sich hektisch um, doch er fand die - vermisste(?) Gestalt nicht wieder und sank wieder in sich zusammen, während er die Frau mit einer durchscheinenden Lüge abspeiste, die sie achselzuckend zur Kenntnis nahm und dann weiterredete wie zuvor. Als sie schließlich im Café saßen, bestellte er sich zuerst das stärkste koffeinhaltige Getränk, dass er auf der Karte finden konnte und betete zu Gott, dass es ihm helfen würde sich nicht ständig einzubilden den Kleinen zu sehen. Für einen kurzen Augenblick hatte Alain das Gefühl, angestarrt zu werden. Suchend sah er sich um, ohne jemanden zu sehen, der ihm auch nur mehr als einen ebenso mitleidigen oder herablassenden wie kurzen Blick zuwarf. Wütende Flüche wurden hinter ihm laut als er, rückwärts gehend, einem weihnachtlich gestimmten Mann auf die Füße trat und ihn anrempelte. Dieser hob sofort die Hand und verpasste dem streunenden Jungen eine saftige Backpfeife, dass dieser glaubte Glocken klingen zu hören. Doch dieser Schlag riss ihn auch wieder in die Wirklichkeit zurück und fröstelnd eilte er weiter, um noch rechtzeitig auf Arbeit zu erscheinen. Er wusste, dass sein "Herr" ihn wieder anschreien würde, wenn er sah, in welchem Zustand sich der Junge befand, doch mit den paar Scheinen, die er im Monat von ihm bekam, gewährte ihm dieser nur einen festen Schlafplatz in einer Bauruine; und es reichte weder für neue Anziehsachen, noch für genug zu essen, geschweige denn für das Geld, dass sein Vater von ihm forderte. Mit gesenktem Kopf eilte er durch die Menge, bis er aus den Augenwinkeln heraus etwas sah, und erstarrte. War das nicht Caspar, der dort Arm in Arm mit der jungen Frau durch die Nebenstraße ging? Und die Frau trug seine Tasche über der Schulter. Und wie als hätte sein Körper nur darauf gewartet, dass er sich wieder daran erinnerte, begannen seine Hände zu zittern. Obwohl er wusste, dass es nicht gegen die Entzugserscheinungen helfen würde, zog er seine "Wasser"-Flasche aus der Sporttasche und nahm vorsichtig einen Schluck und ging, mit brennender Kehle in die Gasse, in der er Caspar und seine Freundin schon längst wieder aus den Augen verloren hatte. Eigentlich trank er das Zeug nie pur, sondern streckte es meist mit der billigen Apfelschorle von Walmarkt , doch jetzt nahm er noch einen weiteren großen Schluck und spürte gleich, wie ihm warm wurde. Fast wäre er an dem Café vorbei gelaufen, in dem die Beiden saßen. Ihm blieb fast das Herz stehen, als Caspar unter dem Tisch, so dass seine Freundin es nicht sehen konnte, die Tasche öffnete und ein paar der Tütchen mit eindeutigem, weißen Inhalt hervorzog. Auch seine Spritze nahm er raus und schloss seine Faust so fest darum, dass seine Knöchel weiß wurden. Alain nahm noch einen dritten Schluck und betrat das Café. Caspars Pupillen weiteten sich, als er Alain auftauchen sah. Sein Gesicht verlor alle Farbe. In dem Moment bereute Alain seine Unbedachtheit auch schon wieder. Er fühlte sich so dreckig und wollte nicht, dass ihn Caspar an diesem Tiefpunkt sah. Unbewusst hatte er versucht sich etwas von dem Dreck einer Großstadt von der Wange zu wischen. Als es ihm auffiel nahm er die Hand sofort runter und strich, um seine, nicht nur von der eisigen Kälte, zitternden Finger abzulenken geistesabwesend über die frische, schmale Narbe an seinem Handgelenk. "Gib mir meine Tasche!" Er spürte selber, dass seine Stimme ihm nicht mehr gehorchte. Mehr zu sagen traute er sich nicht, da er fürchtete, Caspar könnte aus seinem heiseren Krächzen mehr herauslesen, als nur die Tatsache, dass er eine furchtbare Lungenentzündung hatte. Die Frau unterbrach den Augenblick des unbehaglichen Schweigens, indem sie sich fröhlich-beschwingt aus ihrem Sessel erhob, ihre Cappuccino-Tasse auf den runden Marmortisch stellte und Alain einfach umarmte: "Hallo! Erinnerst du dich noch an mich? Ich bin ja sooo froh, dich mal wieder zu sehen!" Ihr Redeschwall verunsicherte ihn. "Entschuldigen Sie! Ich glaube nicht, dass wir uns schon mal begeg..." mitten im Satz brach er ab, als ein Bild in seinem Kopf auftauchte: das Gesicht der Frau, panisch verzerrt, wie sie verkrampft versuchte noch rechtzeitig abzubremsen; die blockierenden Reifen die, vom Schwung der Fahrt nach vorne gerissen, über das Eis auf ihn zuschlingerten; Die Fremde sah ihn besorgt an: "Geht´s dir nicht gut? Du bist so blass." Alain schüttelte den Kopf. "Nein. Alles OK!", log er und versuchte sie beim Sprechen nicht direkt anzusprechen, damit sie seine Alkoholfahne nicht roch. Sein Blick richtete sich wieder auf Caspar, der ihn mit einer Mischung aus Erleichterung und Entsetzen an. Er streckte die Hand nach der Tasche aus, die noch immer auf Caspars Schoß lag, als sich von hinten ein Arm um seine Schultern legte, wie zufällig so, dass er ihn sofort würgen konnte, sollte Alain auf die Idee kommen, sich gegen ihn zu wehren. Er wurde, mit einer Geste an den starken Körper hinter sich gedrückt, die für Außenstehende freundschaftlich scheinen mochte, und Alain senkte den Kopf, damit Caspar nicht die nackte Angst in seinen Augen sehen konnte. "Guten Abend, Vater!" sagte er mit erstickter Stimme. Er drückte ein Messer in Alains Kreuz und raunte ihm, Caspar zulächelnd, eine Warnung zu. Laut sagte er: "Komm mit ...", er stockte und schien schnell zu überlegen "Komm mit, Felicien. Meine Freunde warten schon auf uns." Alain konnte nicht verhindern, dass seine Hände und Knie begannen zu zittern. Hilfesuchend warf er Caspar einen Blick zu, ehe er den drohenden Druck des Messers in seinem Rücken spürte. Während die junge Frau, die sich unter dem Namen Vivien vorgestellt hatte, munter Selbstgespräche führte, glitt Caspar mit seiner Hand unauffällig in Roccos Tasche und tastete vorsichtig darin herum, bis er fand, was er gesucht hatte. Also hatte er damals Recht gehabt... Er brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, was in den kleinen Plastiktütchen war, die er in diesem Moment in der Hand barg, ebenso wenig wie er eine Erklärung dafür brauchte, wozu Alain eine Spritze mit sich herumtrug... Seine Hände begannen unkontrolliert zu zittern und er stopfte das Zeug eilig wieder zurück und stellte die Tasse in seiner Rechten hastig wieder auf den Tisch, bevor "Vivien" etwas bemerken konnte. Und in diesem Moment sah er ihn und dieses Mal hatte er nicht die leisesten Zweifel, dass diese _Erscheinung_ Realität war. Aber so mitgenommen und krank wie der Kleine aussah wäre er am liebsten auf der Stelle auf die Knie gefallen um sämtliche höheren Mächte dieser Welt anzuflehen, dass es nur eine weitere Halluzination sei. Und obwohl er im Moment weißer als die Wand hinter sich sein musste, war er doch so unendlich froh, dass ihn diese rabenschwarzen Augen noch immer so durchdringend und stolz ansahen und nicht mitsamt ihres Besitzers gebrochen in irgendeiner schmutzigen Gasse lagen, in die sich noch nicht einmal der wildeste Hund verirrte. Rocco rieb sich über die schmutzige Wange, zog seine Finger jedoch hastig zurück als er sah, dass Caspar ihn bemerkt hatte, und strich über sein Handgelenk. Erschrocken hielt Caspar die Luft an, als er die frische Narbe einer Wunde entdeckt hatte, die sich sehr tief in die schneeweiße Haut gegraben haben musste. /Nein... das kann nicht.../ Der Schwarzhaarige unterbrach ihn in seinen Gedankengängen und forderte mit rauer Stimme seine Tasche zurück. Sofort bemerkte Caspar das unterschwellige Rasseln in der heißeren Stimme, die er als weichfließend und einschmeichelnd in Erinnerung behalten hatte. Dieser Junge war ernsthaft erkältet und würde bald mit einer ausgewachsenen Bronchitis zu kämpfen haben, wenn er nicht behandelt wurde und ins Warme kam - doch der Medizinstudent bezweifelte, dass sein "Vater" ihm irgendwelche Medikamente von der Apotheke besorgen würde! Der Blonde starrte den schwarzhaarigen Geist vor sich einfach nur erleichtert und erschrocken zugleich an, war nicht fähig auch nur ein Wort zu sagen. Und dieses eine Mal war er doch froh, dass "Vivien" da war, die unbekümmert das Eis brach und Alain ungezwungen umarmte. Aber etwas stimmte nicht. Er wusste, Rocco war alles andere als gesund, aber das war es nicht... viel eher, wie sich Rocco verhielt... Schon als sie sich das erste Mal begegnet waren, hatte er zeitweise das Gefühl gehabt, dass jener seine wahren Gefühle verbarg und eine starke Unsicherheit zu überspielen versuchte. Doch was konnte ihn an Caspar schon verunsichern? Er war doch ohnehin nur einer von vielen Kunden, wenn vielleicht auch der einzige, der je mehr oder weniger unfreiwillig mit ihm geschlafen hatte... Der Schwarzäugige streckte die Hand nach ihm - falsch, nach der Tasche! - aus, doch plötzlich erstarrte er, als sich ein kräftiger Arm um den Jungen schloss. Es sollte wohl eine freundlich wirkende Geste sein und Vivien schien das auch zu schlucken, doch Caspar war lange genug Kampfsportler um zu sehen, wie sich Rocco krampfartig verspannte. Vor Angst. Dann hörte er wie durch dichten Nebel das Wort "Vater" dringen, wurde sich eines an ihn adressierten, einfach nur _falschen_ Lächelns bewusst und plötzlich wurde ihm entsetzlich übel... Er erstarrte selbst, wusste nicht was zu tun war, doch als Rocco ihn zum ersten Mal, wenn auch nicht mit Worten, um Beistand bat, tauchte wie aus dem Nichts eine körperlose Hand auf und legte einen Schalter in Caspar um. "Aber, aber... haben Sie etwa vergessen, dass Felicien diese Nacht bei mir verbringen sollte? Wir hatten es bereits vor einem Monat ausgemacht, erinnerst du dich... _Felice_? Er hatte sich so sehr gefreut, sie wollen ihren _Sohn_ doch nicht enttäuschen?" Er ließ sich nicht von Vivien ablenken, der es reichlich spanisch vorkommen musste, Rocco plötzlich mit Felicien betitelt zu hören, und er versuchte einen berechnenden Blick aufzulegen, tat alles was ihm im Moment einfiel um wie ein gutzahlender "Kunde" auszusehen und gleichzeitig bei den anderen Gästen des Cafés nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Denn selbst ein Blinder hätte bemerkt, dass hier etwas nicht stimmte... "Es tut mir leid!", sagte Anthony mit einer kalten, schneidenden Stimme die man, obwohl er sehr leise gesprochen hatte, bis in den letzten Winkel des Cafés hören konnte. "Mein Sohn wird heute Abend nicht bei Ihnen bleiben können, damit sie ihre perversen Träume für ein paar lausige Scheine zur Wahrheit werden lassen!" Fast alle Gesichter waren ihm zugewandt, und einen winzigen Moment spielte Alain mit dem Gedanken, jetzt um Hilfe zu schreien, doch dann sah er ein, dass ihm keiner helfen würde. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als die Spitze des Messers durch seinen Pullover drang und seine Haut ritzte. Er zwang sich, ruhig zu atmen und hob den Blick erst wieder, als er sich sicher war, dass seine Maske perfekt saß, und die Angst nicht darunter hervorschimmern konnte. Er warf Caspar einen kalten Blick zu und trat dann, gefolgt von Anthony, aus dem Café zurück in die kalte Winterluft. Kaum waren sie draußen, zerrte er Alain mit sich, bis sie in eine der dunkleren Gassen kamen, in die sich keiner nach Einbruch der Dunkelheit allein oder auch nur mit zwei oder drei Freunden hinein traute. Dort stieß er ihn brutal gegen die bröckelnde Fassade, dass Alain ein paar Putzstückchen in den Nacken rieselten. Das Gesicht seines Vaters kam ihm so nahe, dass er den Atem des Mannes feucht und warm über seine geschlossenen Augen streifen spürte. Die Hand, die sich in seine Schulter gekrallt hatte, löste sich. Alain wagte es nicht, die Augen zu öffnen. Er zuckte zusammen, als sein Vater mit ihm sprach, und war unfähig, auch nur einen Funken des Trotzes und Widerstandes aufzubringen, der ihn sonst vor jedem geschützt hatte. "Du weißt, was passiert, wenn du auf dumme Gedanken kommst!?" Die Worte trafen ihn mit einem Schwall üblen Mundgeruches. Den Würgreiz unterdrückend nickte er nur, versuchte den Kopf ein wenig zur Seite zu drehen, aber sofort krallte Anthony seine in schwarzen Lederhandschuhen steckenden Finger in die weichen Stellen schräg hinter seinen Ohren und zwang Alain, ihn beinahe erwürgend, die Augen zu öffnen und ihn anzusehen. Fast eine Minute standen die Beiden da und starrten einander an, bis Anthony ihn plötzlich losließ und ihm mit einer befehlenden Geste zu verstehen gab, dass er ihm folgen sollte. Wie betäubt stapfte er hinter seinem Vater her, durch den, hier in der Gasse fast 30 cm hoch liegenden, Schnee. Er wusste, was passieren würde. Es war ein altes Spiel. Und trotzdem... /Warum kann ich mich nicht daran gewöhnen und mich damit abfinden?/ Emotionslos starrte er auf das Garagentor, dass Anthony öffnete. Wie immer standen sie alle in einer Reihe hinten an der Wand. Cameron, Morris, Freddy, Henry, Jim, Lennard, Noah-Leander, Fitch René und Sydney. Sie ähnelten sich in gewisser Weise alle: Alle waren sie groß, breitschultrig, gefährlich, intelligent und, was wahrscheinlich am schlimmsten an ihnen war, sie waren seinem Vater treu ergeben. Fitch trat sofort breit grinsend auf Alain zu. Dieser rührte sich nicht; ließ den Mann, bewegungslos, gewähren, als er sanft über seinen Nacken strich. "Zieh dich aus!", befahl Anthony kalt. Alain wusste, was von ihm erwartet wurde, und doch regte sich nun endlich der vermisste Trotz in ihm. Ohne auch nur eine einzige, unnötige Bewegung zu machen, ließ er seinen Pullover einfach zu Boden fallen. Als Anthony dann einen halben Schritt zurück trat und ausholte, um ihn zu schlagen, sprang Alain vor und stürzte sich auf seinen Vater. Anthony hob zu Abwehr die Hand vors Gesicht, in der er noch immer das Messer hielt. Alain spürte die Klinge über seine Rippen schrammen, gefolgt von einem Schwall heißen Blutes, ehe ihn zwei paar Hände packten, zurück zerrten und zu Boden drückten. Ein anderer setzte sich auf seine ohnehin schmerzende Brust und schlug auf ihn ein. /Bitte, Vater, gib ihnen den Befehl, mich zu töten!/ dachte er, doch Anthony dachte gar nicht daran. "Los, Freunde, nehmt ihn euch!" Er spürte noch, wie er auf den Bauch gedreht wurde und ihm irgendjemand die Hose vom Leib riss. Hände, die gierig über seinen nackten Körper fuhren; einer drängte seine Beine auseinander; ein anderer zwang ihn, den Mund zu öffnen. Dann fiel er endlich hinab in die gnädige Schwärze der Bewußtlosigkeit. "Das... Was zum Teufel bildet sich dieser Arsch eigentlich ein?? Als ob der sich je um das Wohl seines _Sohns_ gekümmert hätte!!", rief er aufgebracht, konnte sich trotz Viviens gutgemeinter Versuche nicht wieder beruhigen. "Gehen wir", sagte er dennoch in diesem Moment mit vor letalem Zorn zusammengebissenen Zähnen, sodass seine Kiefer hörbar knirschten. Plötzlich ekelten ihn all diese Menschen an, die ihn nur tatenlos begafften, obwohl mehr als nur offensichtlich war, dass Roccos sogenannter "Vater" - schon bei dem Gedanken daran schnaubte er wütend - dem Kleinen weniger als "nichts Gutes" tun würde... Mit wutverdunkelten Augen klatschte er das Geld für ihre Getränke auf den Tisch und stapfte dann erbittert aus dem Café, dass passenderweise den Namen "Zum Feigen Spießer" oder etwas dergleichen hätte tragen müssen. Doch sobald ihm die Kälte und auch einige kleine Schneeflocken entgegenschlugen, wich plötzlich alle Wut von ihm, verkehrte sich in eine alles umfassende Kraftlosigkeit. Wo sollte er den Schwarzhaarigen jetzt bitte suchen? Einmal ganz davon abgesehen, dass er sich darüber bewusst war, dass er allein gar nichts ausrichten konnte und Vivien ihm ja nun wohl auch keine große Hilfe in einer Schlägerei sein würde. Vermutlich würde er im Moment dadurch sogar Roccos Leben gefährden, denn er glaubte nicht, dass sein _Vater_ ihn umbringen würde - schließlich war er ja eine Einnahmequelle und mit hilflos geballten Fäusten wurde Caspar bewusst, dass der nicht allzu große, aber sichtbar bis auf den letzten Muskel durchtrainierte dunkelblonde Mann mit den berechnend- eiskalten grauen Augen und einigen Narben vermutlich noch ganz andere Dinge als Geld von dem Jüngeren verlangte. Er spürte eine kleine, leichte Frauenhand, die sich zaghaft auf seinen linken Unterarm legte, als er sich die Lippe blutig biss, nur um jetzt nicht vor Wut und Verzweiflung zu heulen, brauchte einen Moment bis er irritiert Viviens Gesicht eingeordnet hatte. Der Blonde hatte angenommen, dass sie sich wie alle anderen nun von ihm abwandte, doch sie schob ihn nur schweigend etwas von dem Café fort, bis er von sich aus weiterging und instinktiv den Weg zu seiner Wohnung nahm, dabei ohne es zu merken in gedankenleeres Brüten versank, ohne Vivien noch weiter wahrzunehmen, die ihm nur stumm folgte. Erst als er aufgeschlossen hatte und sie hinter ihm eintrat bemerkte er sie wieder, zuckte dann aber nur die Achseln und ließ sie herein. Sollte sie doch machen was sie wollte. Wenn sie sich unbedingt von ihm anschweigen lassen wollte - bitte sehr! Denn feststand, dass er jetzt nicht reden wollte, mit _niemandem_ - nicht einmal seiner Mutter oder Jake! - außer... Rocco. Doch sie sagte auch nichts, verschwand ohne ein Wort in der Küche, während Caspar sich auf seine Couch schmiss, und machte starken schwarzen Kaffee für sie beide. Nach knapp zehn Minuten kam sie wieder herein, stellte die Tassen ab und tippte ihn vorsichtig an, bevor sie immer noch stillschweigend ihren Kaffee trank. "Danke", sagte Caspar nun endlich leise und erntete sogar ein leichtes Lächeln von der jungen Frau neben ihn, was ihn jetzt doch wirklich sehr erstaunte. Okay, er hatte ja gemerkt, dass Vivien ein Auge auf ihn geworfen zu haben schien, aber trotzdem... Dann, nach einer geraumen Weile, wagte sie schließlich zu fragen: "Möchtest du darüber reden, Caspar? Du wirst es vielleicht kaum glauben, aber ich kann auch sehr gut zuhören..." Und plötzlich war Caspar alles egal und ohne darüber nachzudenken begann er der Blauäugigen alles zu erzählen, begann bei dem schicksalsschweren Freitagabend im November und endete erst nach etwa einer Stunde bei dem gerade erst Geschehenen. "Jetzt verstehe ich...", sprach die zierliche Frau, die tatsächlich die ganze Zeit aufmerksam lauschend geschwiegen hatte, leise, schüttelte dann seufzend den Kopf. "Aber wenn du mich fragst, Caspar, dann hast du dich in den Kleinen verliebt..." Der Blonde starrte sie geschockt an, schüttelte vehement den Kopf, rief gleichzeitig aufgebracht ohne sagen zu können, weshalb: "Niemals! Er ist viel zu jung für mich! Ein paar Jahre mehr und ich könnte sein Vater sein! Und überhaupt: Woher willst du das wissen?" Vivien lachte leise und hielt ihn mit einer beruhigenden Geste zurück als er sofort wieder aufbrausen wollte, da er sich doch leicht verarscht vorkam, als er ihr Lachen hörte. "So etwas nennt man weibliche Intuition - und glaub mir, bis auf das Wort selbst, ist das keine bloße Erfindung, die gibt es sogar wirklich! Ist evolutionsbedingt..." /Frauen sind unheimlich.../, dachte er unbehaglich und blieb ihr eine Antwort schuldig, da er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte. Vielleicht, weil er spürte, dass ihre Worte doch nicht gänzlich falsch sein konnten. Vivien indessen schien auch gar keine Erwiderung zu erwarten, seufzte nur leise auf, bevor sie leicht gequält lachte: "Das ist doch mal wieder typisch. Die guten Typen sind alle tot, stockschwul und/oder wenigstens im Geiste schon fest vergeben..." "Ach komm, du bist doch ne super Frau, dir steigen die Kerle doch bestimmt reihenweise nach. Aber wenn du auf der Suche bist... wenn ich es mir recht überlege wärest du genau der Typ meines Kumpels Jake und ich denke er könnte sich auch für dich interessieren", entgegnete Caspar und meinte das durchaus ernst. Nie hätte er gedacht, dass sich die zierliche Frau doch noch als so sympathisch herausstellen würde. Aber wie hieß es so schön: ‚In der Not zeigen sich die wahren Freunde.' Seine neue Freundin indes lachte über seinen Vorschlag, wie sie überhaupt ziemlich viel zu lachen schien: "Und ich dachte immer, wir Frauen wären die schlimmeren Kuppler... Aber wenn du mir versprichst, dass dein Jake sich _wirklich_ für mich interessieren könnte und nicht in Wahrheit auch bloß ein verkappter Schwuler ist, der nur zu seiner Geburt von seinen konservativen Eltern Hetero getauft wurde, könnte ich mir das ganze noch einmal überlegen..." Er lächelte leicht und nickte, dann breitete sich wieder Stille über ihnen aus, da er nichts mehr zu sagen wusste. "Und... was willst du jetzt tun... wegen Rocco?", fragte Vivien schließlich vorsichtig, sah ihn aber umso ernster an. Caspar jedoch konnte nur hilflos mit den Schultern zucken. "Ich weiß es nicht...", gestand er verzweifelt. Als er erwachte spürte er, noch ehe er die Augen öffnete, dass er wieder allein sein musste. Außerdem war ihm kalt. Er stemmte sich auf Arme und Knie hoch und betrachtete eine Weile einfach nur, gebannt von den Farben, die rote Eispfütze in dem frischen, und noch immer vom Himmel schwebendem, weißen Schnee. Dann sah er nachdenklich an sich herab. /Der Schnitt wird nicht von selbst zuheilen./, dachte er. Er fand nach einigem Suchen ein mottenzerfressenes Bettlaken, das er mit einer scharfen Glasscherbe zerschnitt und sich unbeholfen um die Brust wickelte. Dann stand er schwerfällig auf , suchte seine, zum Glück unbeschädigten, Sachen zusammen und zog sich an. Er spürte gar nichts, außer der Kälte, doch auch die wurde immer erträglicher, obwohl seine blaugefrorenen Finger in seinem Verstand etwas aufschreien ließen und ihm sagten, dass er sich ein warmes Kino suchen sollte, in dem er die Nacht verbringen konnte. Er schüttelte den Kopf und stapfte, etwas unsicher und trotzdem hoch aufgerichtet, zu seinem Arbeitsplatz. Der Abend war ruhig. Eine Frau, Mitte dreißig, sprach ihn an, kaum dass er sich seinen Platz zwischen den anderen Nutten gesucht hatte. Unter Stottern und häufigem Erröten brachte sie schließlich hervor, dass sie ihrem Mann zu Weihnachten gerne eine Freude machen wollte, und ihm, wie sie nach drei Anläufen beschämt flüsterte, gerne einmal oral befriedigen wollte, sie dass aber noch nie gemacht habe. Sie bezahlte Alain für eine Stunde und folgte ihm in eine düstere Seitengasse. Zielsicher schlängelte der Junge sich zwischen Mülleimern und Pappkartons hindurch, vorbei an anderen Huren, die ihm, nebenbei laut und gekünstelt stöhnend, schräge Blicke zuwarfen. Jede wusste, dass der Junge sich für das für eine ganze Nacht verkaufte, was sie pro Stunde verlangten. Sie verachteten ihn und zeigten das auch deutlich. Die junge Frau drängte sich eng an Alains kühle Haut und fragte ihn leise, um die anderen Pärchen, die sie erschrocken und ängstlich beobachtete, nicht zu stören, über Namen, Herkunft und Familie aus. Alain war nicht bei der Sache und hatte schon nach wenigen Augenblicken die Lügen wieder vergessen, die er ihr erzählt hatte. Nur an den Namen erinnerte er sich noch: Karun. Er hatte ein erstaunlich gutes Namensgedächtnis und begann sich langsam zu fragen, wie ihm dieser Ausrutscher vor etwas über einem Monat passieren konnte. Ganz am Ende der Gasse, wo das Licht der Laternen nicht mehr hinfiel, sagte er seiner Kundin, sie solle einen Moment warten, und zog sich dann kurz hinter einen Pappkarton zurück und holte seine kleine, verbeulte Blechdose hervor. Wahllos nahm er drei der Tabletten heraus und schluckte sie hastig, ehe er zu ihr zurück kam. Es war unheimlich, wie ausgestorben diese am Tage überfüllte Stadt in der Nacht war. Er hatte noch zwei weitere Freier "versorgt", und es ging auf Morgen zu, als er sich, am Ende seiner Kraft, auf den Weg nach Hause machte. Außer ihm hastete noch eine weitere Gestalt auf der anderen Straßenseite in die entgegengesetzte Richtung durch den zertrampelten und braunen Schnee, der sich langsam wieder unter einer Decke neu fallenden zu verbergen begann. Als der Mann fast vorbei war, erkannte Alain ihn. "Jake", rief er. "Warte!" tatsächlich drehte sich der Student um, und sah dem Jungen ungläubig entgegen, der auf ihn zustolperte. "Nathanael?", fragte er. "Mein Gott, Junge! Du wirst erfrieren." Alain hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen als ihm ein heiseres "Ich brauche Hilfe." herausrutschte. Jake starrte entsetzt auf sein dünnes Hemd, dass von dem durch den provisorischen Verband gesickerten Blut ebenfalls rot und nass im Licht einer Straßenlaterne schimmerte, und nickte langsam. "Caspars Mutter wohnt hier gleich um die Ecke", bemerkte er trocken. Alain senkte den Blick. "Ich brauche nur eine Nadel und etwas Garn." nuschelte er, doch Jake zog ihn schon mit sich, bis sie vor der Tür der alten Dame standen. "Aber sie wird doch noch schlafen!" protestierte der Junge, als Jake zweimal kurz hintereinander die Klingel drückte, doch er irrte sich. Fast sofort erschien das Gesicht, dass dem Caspars so sehr ähnelte in einem der Fenster, und nachdem sie Jake erkannt und ihm kurz zugewinkt hatte öffnete sie auch gleich die Tür. Virginia Blackwell, von Beruf Krankenschwester und Mutter eines mittlerweile erwachsenen Sohnes, sah kopfschüttelnd auf die mitleiderregende schmale Gestalt vor sich. Es war ein hübscher Junge mit nachtschwarzem Haar und verblüffend rabenfederfarbenen Augen. Doch die schöne Gestalt konnte nicht das unterdrückte Zittern des Jugendlichen verbergen, was sie allerdings auch nicht weiter wunderte in Anbetracht dieser gefährlichen Wunde. Mit gesenktem Kopf hatte Nathanael, wie Caspars Freund Jake ihn vorgestellt hatte, nur um eine Nadel und etwas festes Garn gebeten, doch Virginia, die sich denken konnte, was er damit vorhatte, schüttelte nur sanft den Kopf. "Das ist keine gute Idee, Nathanael. Ich will nicht behaupten, du wärest schwach oder etwas dergleichen, aber es ist eine große Wunde bei der es nicht mit zwei Stichen getan ist. Ein Stich nach dem anderen würde dich langsam aber sicher in den Wahnsinn treiben vor Schmerz." Sie seufzte leise. "Am liebsten würde ich dich ins Krankenhaus schaffen, aber ich glaube kaum, dass du freiwillig mitkommen würdest und zwingen kann ich dich ja nicht..." Der junge Schwarzhaarige biss sich in die Lippe, um nichts zu antworten, doch gleichzeitig war sein Trotz erwacht und er starrte sie herausfordernd mit seinen schwarzen Augen an. Einen Moment lang konnte sie nur den Kopf schütteln, dann sagte sie etwas leiser: "Lass mich das machen, ich bin Krankenschwester..." Für einen Augenblick konnte sie Unglauben in seinem Gesicht lesen, bevor er zu seiner beherrschten, nichtsverratenden Miene zurückfand, und sie konnte ihr Mitleid nun nicht mehr ganz verbergen, als ihr klar wurde, dass es wohl nur sehr wenige Menschen in Nathanaels Leben gab, die sich je um ihn gekümmert hatten und einen Moment lang befürchtete sie, er könne auch ihr Mitleid mit sturem Trotz beantworten und sich weigern, doch dann nickte er schließlich leicht und senkte wieder den Blick. ~*~ Es ging rascher als erwartet. Nachdem sie alle Sachen, die sie brauchte, zurechtgelegte hatte und Jake unbehaglich zurück ins Wohnzimmer verschwunden war, hatte sie schnell und koordiniert die Wunde gesäubert und mit Antiseptikum behandelt und dann mit sicherer zielgerichteter Hand die Wunde genäht, das ganze anschließend sauber verbunden. Eine Betäubung hatte der Junge abgelehnt und sie musste zugeben, dass es sie überraschte, den Schwarzäugigen zwar stark zitternd, aber immer noch bei vollem Bewusstsein vorzufinden. Abgesehen von einem einzigen Schmerzenschrei, den er schließlich nicht mehr hatte zurückhalten können, hatte er geschwiegen wie ein Grab. "Fertig", sagte sie leise. "Ich gebe dir ein wenig Schmerzmittel und Antiseptikum mit, dann müsste die Wunde schnell heilen - du hast nämlich gutes Fleisch und eine Menge Glück, mein Lieber... Das heißt jedoch nicht, dass du es dir leisten könntest, dein Glück noch weiter herauszufordern. Du wirst also wohl oder übel anstrengende Bewegungen meiden - und versuch nach Möglichkeit kein Wasser mit der Wunde in Berührung kommen zu lassen, weil es sonst sein könnte, dass-" Jake klopfte leise an die angelehnte Tür, trat jedoch ein ohne auf ein Antwort gewartet zu haben. Er sah aus, als wäre ihm ein wenig unwohl, doch Virginia war sich ziemlich sicher, dass sein Unwohlsein nichts mehr mit Nathanaels Wunde zu tun hatte. "Caspar ist am Telefon und möchte mit dir sprechen", sagte er nur, während er dem Jüngeren mit festem Blick ins Gesicht sah, um sich von der Naht abzulenken. Und Caspars Mutter entging nicht, wie sich etwas im Blick des schönen Jungen änderte, als der Name ihres Sohnes fiel. Ohne es selbst zu bemerken runzelte sie leicht die Stirn, besah prüfend den wohl Sechzehnjährigen, der zwar deutlich kleiner als ihr Francis, jedoch auch immer noch wesentlich größer als sie war. Und als hätte Nathanael dies ganz instinktiv gespürt, wandte er sich schnell ab und verließ den Raum um ans Telefon zu gehen. Weder Jake noch sie selbst folgten ihm, um dem Jüngeren zu zeigen, wo sich das Telefon befand. Stattdessen blickte sie fragend den besten Freund ihres Sohnes an, bekam jedoch nur ein hilfloses Schulterzucken zur Antwort. "Er ist es, nicht wahr?", verlangte sie mit gesenkter Stimme zu wissen. "Er ist der Grund, warum Caspar die letzten Wochen und Tage so niedergeschlagen und zerstreut war..." Ein zustimmendes Augenschließen war die einzige Erwiderung, die sie auf ihre Frage erhalten sollte. Unruhig tigerte Caspar in seinem Zimmer hin und her, ging im Kreis, versuchte es mit Däumchendrehen und langsam bis Einhundert zählen. Doch das einzige Ergebnis, das dabei herauskam, war, dass er sich wie ein Idiot fühlte. Immer wieder sah er diesen ängstlichen, stechende Schmerzen in seiner Brust verursachenden Blick der zwei glänzendschwarzen Kohlestücke und wurde von ihnen verfolgt wie von seinem eigenen Schatten. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und da Jake, der einzige Mensch - abgesehen von Vivien -, dem er sich in dieser Hinsicht anvertrauen konnte, nicht da war, veranlasste ihn seine Verzweiflung irgendwann, seine Mutter anzurufen. Er wusste, sie würde keine dummen Fragen stellen - sie war zwar manchmal sehr neugierig, aber wenn es darauf ankam, konnte er sich darauf verlassen, dass sie ihm zur Seite stand, ohne dass er mehr erzählen musste als er ertragen konnte. Doch es war nicht Virginia Blackwell, die den Hörer nahm und nervös "Hier bei Blackwell" antwortete. "Jake?", fragte Caspar überrascht in die Hörmuschel hinein. "Was tust du denn bei meiner Mutter?" Sein bester Freund wollte gerade antworten, als Caspar durch das Telefon einen Schmerzensschrei vernahm. "Jake!", rief er alarmiert. "Was ist da los? Wer hat da geschrieen??" Der junge Mann am anderen Ende der Leitung atmete tief und hörbar durch, erklärte dann leise: "Das war Nathanael..." "WER?" Verwirrt runzelte er die Stirn. Jake sprach den Namen sehr vorsichtig aus, als hätte er Angst vor Caspars Reaktion darauf, doch der Medizinstudent konnte sich nicht entsinnen, jemanden zu kennen, der diesen Engelsnamen trug. "Rocco", erklärte sein Kumpel leise. Caspar schwieg. Nicht, dass er das wollte, aber in jenem Augenblick wurde seine Kehle von einer gnadenlosen Hand umbarmherzig zugedrückt. "Ich habe ihn gefunden oder besser gesagt, ich habe ihn durch Zufall auf der Straße getroffen. Und zwar - reg dich jetzt _bitte_ nicht auf - mit einer großen Schnittwunde auf der Brust." "WAS?", schrie er entsetzt und blass wie die Wand hinter ihm in den Hörer, trat Jakes Bitte mit Füßen. "Es ist nicht so schlimm, wie es aussah. Er hat nur eine ganze Menge Blut verloren, aber ansonsten geht es ihm ganz gut.", antwortete jener hastig. "Deine Mutter näht gerade die Wunde und-", er brach einen Moment ab, erklärte dann ehrlich und zugleich irgendwie hilflos: "Ich weiß nicht, ob er will, dass du kommst... er hat zwar nach dir gefragt, wo du bist und wie es dir geht... ich weiß nicht... es ist alles ziemlich kompliziert... Aber vielleicht... vielleicht kann ich ihn dir ans Telefon holen?" Der Blonde nickte mit noch immer zugeschnürter Kehle ängstlich, bevor er sich durch ein besorgtes "Caspar? Bist du noch dran?" bewusst wurde, dass Jake sein Nicken kaum sehen konnte. "Ja, bitte", krächzte er. Dann hörte er wie der Hörer zur Seite gelegt wurde und sich leise Schritte vom Telefon entfernten. Alain folgte der fremden Frau ins Haus. Sein erster Blick galt den Fenstern. Sie waren geschlossen, aber nicht _abgeschlossen_, wie er es in den letzten Monaten oft gesehen hatte. Sie führte ihn in ihr Schlafzimmer, bedeutete ihm, sich auf den Stuhl vor der Spiegelkommode zu setzten, was er auch, fast zu seiner eigenen Überraschung, ohne zu zögern tat, und wühlte einige Minuten leise fluchend in einem Schrank, bis sie triumphierend eine riesige Wachsdecke zu Tage förderte. Etwas schief lächelnd breitete sie diese über ihr Bett: "Tut mir leid, aber Blutflecken bekommt man so schwer wieder raus.", fügte sie, offensichtlich verlegen hinzu. Alain nickte nur schwach. Mrs. Blackwell kam auf ihn zu, die Arme einladend ausgebreitet und bat ihn, sich schon mal aufs Bett zu legen, während sie ihren Verbandskasten holen wollte und war schon halb zur Türe hinaus, als sie zu ihm zurücksah, wie er apathisch auf das Bett starrte. Unsicher kam sie zurück und half ihm, sich hinzulegen. Alain fühlte sich in dem großen Bett nicht wohl. Da es mitten im Raum stand, konnte er nicht sehen, was hinter ihm war. Er konnte aus seiner Position heraus auch die Tür nicht sehen, und wer eintrat konnte ganze fünf Schritte gehen, ehe er ihn aus den Augenwinkeln erkennen konnte. /Ich werde verrückt./ dachte er, leicht hysterisch. /Ich leide an Verfolgungswahn!/ In diesem Augenblick öffnete sich die Tür wirklich leise, und Alain richtete sich panisch auf. Sein Herz raste und sein Atem ging schnell, als wäre er gerannt. Doch es war nur Caspars Mutter, die, in den Händen ein Verbands-Koffer und ein kleines braunes Täschchen sowie zwei Wassergläser auf einem Tablett, zurückkam. Sie sah Alain blass und aufrecht im Bett sitzen, die Augen angstgeweitet auf die Tür gerichtet, und stellte das Tablett so hastig ab, dass sie etwas Wasser verschüttete. Den Sanitätskasten ließ sie einfach fallen. Mit zwei Schritten stand sie neben Alain und nahm ihn, ohne zu fragen was er hätte, einfach in den Arm, drückte ihn an sich und wiegte ihn hin und her wie ein kleines Kind. Dann, als er nicht mehr so sehr zitterte, zog sie ihm sanft den Pullover über den Kopf. "Ich heiße Virginia." erklärte sie ihm leise. "Und du?" "Nathanael." Alain war Jake dankbar, dass er sich einmischte, da er sich nicht sicher war, ob er dieser Frau eine neue Lüge erzählen konnte (oder wollte?). Er hatte gar nicht bemerkt, dass Jake ebenfalls herein gekommen war. Virginia packte neben ihm ihr braunes Täschchen aus, in dem sich einige kleine Glasflaschen und eine Spritze befanden. Alain zog eine Augenbraue hoch und Virginia, seine Reaktion offensichtlich missverstehend, bemerkte nebenbei, sie würde ihre zerbrechlichen Materialien nie im Medizinschrank aufbewahren. Sie öffnete eine der Flaschen und wollte gerade die Spritze füllen, als Alain schwach den Kopf schüttelte, ohne den Blick von der spitzen Nadel zu lösen. "Nein!", er wusste nicht einmal, ob er das Wort geflüstert, geschrieen oder auch nur gedacht hatte. Virginia versuchte nicht ihn zu überzeugen. Sie bot ihm noch Tropfen und Schmerzpillen an, doch auch das lehnte er ab. Jake floh aus dem Zimmer und Virginia bat Alain leise sich einfach hinzulegen und sich etwas zu entspannen. Sein Atem raste, als Virginias Hand sanft über seine nackte Brust streichelte, sein ganzer Körper verkrampfte sich, doch sie hörte nicht auf. Langsam wurde er ruhiger. Als er sich völlig beruhigt hatte und kurz vor dem Einschlafen stand, strich sie ohne Vorwarnung mit einem feuchten Lappen über die dreckverkrusteten Ränder der Wunde. In der ersten Sekunde spürte er gar nichts, doch dann, plötzlich begann es zu brennen. Er schloss die Augen und biss sich auf die Zunge, sich nur auf den Schmerz in seinem Mund konzentrierend. Seine Finger krallten sich in die Matratze unter ihm, als Virginia immer und immer wieder sein Fleisch mit der dünnen, desinfizierten Nadel durchdrang, Nerven durchstach. /Sie hatte recht!/ stellte er in einem Anflug von hysterischer Heiterkeit fest. /Ich hätte das nicht selbst tun können./ durch den Schleier des Schmerzes hindurch, der sich über alle seine Sinne gelegt hatte, hörte er leise das Schrillen eines Telefons. Es riss ihn genau in dem Augenblick aus seiner Trance, als Virginia den letzten Stich setzte. Er bäumte sich auf. In seinem Hals schien etwas zu stecken. In Angst zu ersticken öffnete er den Mund. Der Druck in seiner Kehle löste sich in einem Schrei, der in seinen Ohren widerhallte. Erschöpft lies er sich zurücksinken. Virginia beendete ihre Arbeit so schnell es ging und Alain war dankbar dafür. Jake trat ein und Alain sah, noch bevor er es aussprach, an Jakes Blick, was er ihm sagen wollte. Er fiel mehr aus dem Bett, als dass er aufstand. Vor der Tür lehnte er sich erst mal gegen die Wand und kämpfte einen Schwindelanfall nieder. Erstaunt hörte er, wie Virginia und Jake über Caspar sprachen... und ihn! Er hatte den Blick der Frau gespürt, wie sie ihn taxierte. Er wollte gern wissen, zu welchem Ergebnis sie gekommen war, aber er hätte nie danach gefragt. Das Telefon stand auf einer dunklen Kommode im Wohnzimmer. Alain nahm den Hörer, der neben dem Telefon lag, ließ sich an der Wand nach unten gleiten und lauschte eine Weile auf das Geräusch, das Caspars Atem verursachte. "Was willst du?", fragte er kalt. Er konnte hören, dass der junge Mann am anderen Ende der Strippe die Luft anhielt. Als Caspar nach einer Ewigkeit, wie es Alain schien, endlich antwortete, klang seine Stimme rau und brüchig: "Hi... wie geht's dir `Nathanael´?" "Gut! Sehr gut sogar.", antwortete er, "Wieso?" Es war deutlich, dass Caspar sich unwohl fühlte: "Wirklich alles in Ordnung?", er zögerte eine Weile. "Jake hat mir gesagt, dass du verletzt bist..." "Nicht wirklich.", log Alain, "Nicht mehr als ein harmloser Kratzer!" Fast glaubte er schon, er würde keine Antwort mehr bekommen, als Caspar fast zwei Minuten schwieg, und wollte auflegen, doch dieser meldete sich mit bitterer, erstickter Stimme wieder zu Wort. "Was habe ich auch erwartet... Du hast ja gesagt, du würdest nie aufhören, mich anzulügen!" Alain zuckte mit den Schultern. Fast panisch redete Caspar weiter, als wollte er Alain unbedingt am Telefon behalten; als hätte er Angst, Alain würde das nächste "Unglück" passieren, sobald er auflegte. "Ich hab noch deine Tasche. Wenn du willst, komme ich gleich rüber und bringe sie dir!" Wieder hörte Alain diese, fast "dröhnende" Stille, als Caspar wieder den Atem anhielt. "Nein!", die Kälte, die dieses Wort aus seinem Mund begleitete, erschreckte ihn selbst. "Ich kann dich nicht hindern her zu kommen, da es ja _deine_ Mutter ist, aber ich werde nicht mehr hier sein!" "Oder Du sagst mir einfach einen anderen Treffpunkt...?", Caspar flüsterte, sodass Alain Mühe hatte, ihn zu verstehen. "Ich geb dir dann einfach dein Zeugs zurück und geh dann wieder", fügte er hastig hinzu, als Alain zu einer Antwort ansetzte. Eine Weile starrte Alain einfach nur auf seine zitternden Finger. Dann sagte er, noch immer eisig, "Okay! Heute, 24°° Uhr, an meinem Arbeitsplatz." und legte auf. Caspar fröstelte, als er auflegte. Diese _kalte_ Stimme... noch immer hallte sie in ihm, so eisig wie ein Winter in Sibirien, während er selbst sich so sonderbar hilflos fühlte, weil er schlicht und einfach _Angst_ um den anderen hatte. Wie konnte es nur sein, dass der andere so viel stärker schien als der blonde Student, obwohl er doch bedeutend jünger war? Ja... ja, vielleicht hatte Vivien Recht und er hatte sich tatsächlich in die schwarzen Tiefen verliebt, die oft so kühl und unnahbar, aber ebenso unsicher und verletzlich sein konnten... Kapitel 4: - Eiskalt - ---------------------- Zitternd schlang er die Arme enger um seinen Oberkörper, dabei immer bedacht, Nathanaels nun recht schwere Tasche nicht fallen zu lassen, musste dabei wieder an Nathanaels (er hatte beschlossen, dass ihm dieser Name besser gefiel, denn irgendwie war der Junge trotz seines Jobs doch irgendwie sehr engelhaft) spärliche Bekleidung denken. Am liebsten hätte er seine Mutter gebeten, den Jungen für eine Weile bei sich aufzunehmen, aber er wusste, dass jener dies niemals angenommen hätte, sei es aus Stolz oder aus peinlicher Berührtheit. Also hatte Caspar getan, was er konnte, hatte Nathanael ein paar belegte Brote, zwei Äpfel und eine Tafel Schokolade eingepackt, weil er so mager war und wenigsten heute, oder besser gesagt morgen, sollte er nicht hungern müssen. Außerdem noch einen kuschelig weichen Pullover, der dem Kleineren vielleicht ein wenig zu groß sein, ihn auf jeden Fall aber wärmen würde. Auch das Notizbuch, dass Nathan "vergessen" hatte, befand sich in der Tasche, die an seiner breiten Schulter hing. Allein die Zeichnung, die er von dem Schwarzäugigen gemalt hatte, stand noch bei ihm zu Hause in einem kleinen schwarzen Rahmen, da es das einzige Bild von diesem war, das er besaß, und er sich einfach nicht davon hatte trennen können. In der Zeit, in der Nathanael verschwunden war, hatte er in dem Notizbuch weitergeschrieben und nicht selten waren Zeilen wie "Ich vermisse ihn" oder "Langsam macht es mich wahnsinnig" zu finden, doch als Caspar es eingepackt hatte und auch jetzt noch, war ihm dies entfallen - vielleicht hatte ja auch das Schicksal seine Finger im Spiel. Nur die kleinen Tüten mit dem weißen Pulver darin, welche er alle samt und sonders in der Toilette entsorgt hatte, waren nicht mehr in der abgewetzten Tasche und da Caspar annahm, dass Nathanael es sofort bemerken und ihn fortan ewig hassen würde, hatte er zu guter Letzt noch einen kleinen Brief in feinsäuberlichen Lettern beigelegt. Für einen Außenstehenden waren die üblichen Fragen wie etwa "Ich hoffe es geht dir gut?" sicherlich nur Belanglosigkeiten, doch für den Blondschopf waren sie bitterer Ernst. Wie oft hatte er sich gefragt, wie es dem Kleinen wohl gerade ging und hatte gleichzeitig befürchtet, jener könnte schon längst leblos in irgendeiner dunklen Gasse liegen. Was jedoch die Drogen anging, so hatte er sich mit keinem Wort entschuldigt, hatte im Gegenteil sogar ausdrücklich geschrieben, dass es ihm nicht Leid tat und dass er Nathanael die Drogen einfach niemals hätte geben _können_. Während der Medizinstudent bibbernd die Kälte verfluchte, näherte er sich Nathanaels Arbeitsplatz. /Arbeitsplatz.../ Bei diesem Gedanken verdunkelte sich Caspars Gesicht wie eine schwarze Gewitterwolke den Sommerhimmel. Verdammt, der Junge war hübsch und ganz bestimmt nicht dumm - wie konnte es also sein, dass ihm in ihrer ach so zivilisierten Welt und ihrem Land der Freiheit und grenzenlosen Möglichkeiten nichts anderes blieb, als sich an schmierige Perverse zu verkaufen? Im nächsten Moment erblickte er die schlanke Gestalt des anderen, atmete erleichtert auf. /Endlich.../ Doch schon in der darauf folgenden Sekunde tauchte ein unangenehm aussehender Mann mittleren Alters auf, wollte offensichtlich, dass der Jüngere mit ihm kam. Ohne dass er es registrierte, begann Caspar loszurennen. Nun konnte er auch die Stimmen der beiden hören, vernahm, wie Nathanael verärgert rief: "Verzieh dich, ich bin fertig für heute!" Vielleicht hätte er das nicht tun sollen, denn der deutlich betrunkene Mann schien Abfuhren gar nicht gut zu ertragen und begann schon handgreiflich zu werden, als der Braunäugige endlich die letzten Meter überwunden hatte und seinen erklärten Erzfeind ohne lange zu fackeln niederschlug. "Lass uns gehen", sagte er grob und zog den Jüngeren ohne eine Widerrede zu dulden einfach mit sich. Normalerweise hätte er den Jüngeren im Gegenteil sogar _gebeten_, doch nun war er einfach zu wütend, musste schnell hier weg um den "Kunden" nicht noch aus reiner Mordlust umzubringen, die nun in ihm brodelte, heißer als reinster Hass, konnte den Gedanken, dass sich diese engelsgleiche Gestalt tagtäglich benutzen lassen musste, einfach nicht ertragen. Caspar bemerkte nicht, wie die Zeit verging oder wie Nathanael ab und zu versuchte, sich zu wehren und aus seinem stählernen Griff loszureißen, bis sie auf einmal an seinem Lieblingsplatz angekommen waren und die kalte Wut in ihm so plötzlich verschwand wie sie aufgetaucht war. Erschöpft und zitternd, doch nicht vor Kälte, ließ er sich gegen den Stamm einer alten Eiche sinken, schloss für einen Moment einfach nur die Augen und atmete tief durch, während er darauf vertraute, dass der Kleine blieb, wo er war. Schließlich hatte er sich weit genug gesammelt, um betreten zu flüstern: "Tut mir Leid... Dir ist es sicher nicht recht, wenn ich deine Kundschaft verprügele, aber..." Er brach ab, schüttelte angeekelt und wütend den Kopf. "Nein, verdammt, es tut mir eben nicht Leid! Dieser Perverse hätte dich vermutlich sogar einfach vergewaltigt, wenn ich ihn nicht niedergeschlagen hätte!!" Alain beendete seine Schicht früher als sonst. Er hatte kaum mehr die Kraft nur herum zu stehen und wäre sicher beim nächsten Kunden zusammengebrochen. Seine Hand glitt wie von selbst in seine Hosentasche und griff nach einem Messer, das er immer für den Notfall dabei hatte, als ein fetter, nach Alkohol stinkender Mann auf ihn zuwankte und seine wurstfingrige Hand unter Alains Hemd gleiten ließ. Er wies ihn mit einer Kälte zurück, von der er fürchtete, sie nie mehr los werden zu können. Er hielt sie auch wie einen Schutzschild vor sich, als Caspar überraschend auftauchte und ihn hinter sich her zerrte, ehe Alain auch nur begriffen hatte, was geschehen war. Er brauchte sie, um sich gegen Caspar zu wehren. Er wollte ihn nicht mit in die Sache mit seinem Vater hineinziehen. Aber dies war nicht der Hauptgrund. Das einzige, das ihn davon abhielt, schluchzend in die Arme des rettenden Engels zu werfen, war die Angst, dass er sich falsche Hoffnungen machen könnte. /Vielleicht ist `falsche Hoffnungen machen´ auch die falsche Formulierung/, dachte er. Er machte sich keine "Hoffnungen" auf ein besseres Leben, unter dem Schutz eines Mannes, der versucht hatte, ihm _echte_ Zuneigung entgegenzubringen. Daran glaubte er schon lange nicht mehr. Doch er wollte einfach mal wieder einschlafen, ohne sich sorgen zu müssen, ob er am nächsten Tag wieder erwachen würde, oder erfroren, mit zerschnittener Kehle, oder einfach von den allzeit präsenten Ratten getötet unbemerkt für immer in diesem Dreckloch liegen würde. Es bereitete ihm keine Mühe, mit Caspar Schritt zu halten. Als dieser keuchend anhielt blieb Alain nur wenige Schritte vor ihm stehen und beobachtete fasziniert, wie seine Haare im Licht einer Straßenlaterne golden glänzten, hörte erst schweigend zu. /Jetzt!/, schrie sein Verstand, /Bitte ihn jetzt, dich mitzunehmen!!/ doch die Worte, die aus seiner Kehle drangen, waren nicht dieselben: "Was sollte das?" hörte er sich selbst wie von fern fragen, "Wieso vergewaltigen? Das ist mein verdammter JOB! Ich schreibe Ihnen auch nicht vor, was Sie tun sollen und was nicht! Wenn Caspar den Wechsel zum höflichen "Sie" überhaupt bemerkte, ignorierte er ihn einfach. "JOB?", ächzte Caspar. "Das... das ist kein _Job_, das ist-" Caspar zuckte zusammen. Nein, er hatte nicht das Recht, das zu verurteilen, was Nathanael tat. So schluckte er mühsam seine mit Fassungslosigkeit durchmischte Wut herunter, sah den Jüngeren ernst an, musterte ihn von oben bis unten, überging dessen Antwort, auch wenn sie höllisch schmerzte und er etwas dazu hätte sagen müssen. Er sah blass aus und fror so erbärmlich, dass es dem Einundzwanzigjährigen beinahe körperlich wehtat den Kleinen so zu sehen. Schweigend stellte er die Tasche vor Nathanaels Füße, immer darauf bedacht, ihn jetzt nicht zu berühren, da er dann für wirklich gar nichts mehr hätte garantieren können, war er doch schon jetzt so unendlich erleichtert - nein, _glücklich_ - ihn mehr oder weniger unversehrt zu sehen. Dann schloss er die Augen, wisperte leise: "Du weißt, dass die Naht wieder aufplatzen wird, wenn du dich überanstrengst, oder?" Einen Moment war er von Caspars Antwort irritiert. /Welche Naht.../, doch als hätte der Gedanke an die Wunde den Schmerz neu entfacht, fühlte er das Brennen und wunderte sich, wie er sie so lange hatte ignorieren können. Hastig griff er nach der Tasche, die Caspar vor ihm auf den Boden gelegt hatte. Er hörte, wie der Schwarzhaarige die Tasche schulterte, _spürte_ den zögernden Blick auf seiner Haut, bevor jener mit hörbar zur Teilnahmslosigkeit gezwungener Stimme antwortete: "Ich muss jetzt nach Hause." Obwohl Caspar ihn am liebsten durchgeschüttelt hätte, blieb er still und wo er war, lachte nur eiskalt auf: "Ja, natürlich, ich vergaß... dein _liebevoller_ "Vater" wartet sicher schon auf dich..." Bitter wandte er sich ab. /Sag es ihm!/, verlangte die hartnäckige Stimme in seinem Kopf /Bitte ihn, dich über Weihnachten aufzunehmen!/, doch da Caspar sich schon abgewandt hatte murmelte er leise ein paar Worte zum Abschied und ging eilig wieder zurück in die Richtung, aus der er mit Caspar vor kaum 3 Minuten gekommen war. Verzweifelt lauschte er mit geschlossenen Lidern, wie Nathanael davonlief, die durch den Schnee knirschenden Schritte schnell immer leiser wurden. Und in genau diesem Augenblick hielt Caspar es nicht mehr aus, zerfiel die Maske der Unberührtheit zu Staub, konnte ihn nicht mehr länger davon abhalten, dem Jüngeren zu folgen, ihm bis zu seinem zu Hause nachzulaufen. Er wechselte die Tasche, die er nicht so schwer in Erinnerung gehabt hatte, von der linken zu rechten Schulter und stapfte durch den noch immer dicht fallenden Schnee davon. Verwundert drehte er noch einmal den Kopf, als eine seiner Kolleginnen ihn zurückrief, als er wortlos an ihr vorbeilaufen wollte. Es war die kleine Rothaarige, die vor einem Jahr ins Geschäft eingestiegen war. "Fröhliche Weihnachten! Ich weiß, dass das erst übermorgen ist, aber ich hab mir Urlaub genommen, also werden wir uns vorher nicht nochmal sehen. Übrigens: ich heiße Pia.", rief sie ihm zu. Alain blieb perplex stehen und starrte sie an. Erst als er sicher war, dass sie nichts weiter sagen würde, keine hämische Bemerkung machen, und ihr Lächeln immer schwächer wurde, wagte er es, das Lächeln zu erwidern. Hastig drehte sie sich wieder weg und Alain ging, in einem merkwürdigen Gefühl der Melancholie, den Blick nicht, wie sonst, zu Boden gerichtet, sondern den fallenden Schneeflocken entgegen gehoben, den Kopf weit in den Nacken gelegt, zielsicher durch einige düstere Gassen nach Hause. Doch je weiter er sich von dem weihnachtlich geschmückten Straßen entfernte und immer weiter in die stinkenden Slums vordrang, desto mehr veränderte sich das Gefühl, desto weiter senkte sich sein Blick, und als er nicht einmal in der Ferne Lichter blinken und Weihnachtsmusik dudeln hören konnte, rannte er, ohne gemerkt zu haben, wann er damit angefangen hatte, die Augen auf seine Schnee aufwirbelnden Schuhspitzen gerichtet. Ohne auch nur einmal aufzusehen, bog er in einige der kleineren Gassen ein. Vor einer alten Bauruine, einem bedrohlich düsterem Rohbau, noch ohne Treppen, Türen oder Fensterscheiben, blieb er stehen. Er warf einen hastigen Blick über die Schulter zurück ehe er sich durch die mit nicht abgeholtem Sperrmüll und liegen gelassenem Baumaterial verbarrikadierte Türöffnung zwängte. Drinnen war es genauso kalt wie draußen, doch hier war er wenigstens vor schneidendem Wind geschützt. Hohes, lautes Quieken ließ ihn herumfahren, als eine der vor der Tür liegende Küchenzeile umkippte. Ratten huschten zwischen seinen Füßen hindurch, krallten sich in seine Beine, wenn er versehentlich einer auf den Schwanz trat. Wütend fluchend bahnte er sich seinen Weg durch die fliehenden Tiere zu einem der Metallpfosten, die das Dach stützen sollten. Einige Augenblicke tastete er blind an dessen Rückseite entlang, bis er das alte Seil fand, dass er dort befestigt hatte. Die ersten zwei Wochen, in denen er hier gelebt hatte, hatte er im Erdgeschoss ausgehalten, doch dann beugte er sich den Gesetzen der Tierwelt und kletterte an einem Pfosten hinauf, in den ersten Stock, um den aggressiven Ratten und hin und wieder hier unten übernachtenden Obdachlosen zu entkommen. Dort hatte er fast ein Jahr gelebt, als er eine neue Entdeckung machte, die ihn dazu brachte, noch weiter oben zu leben: einen großen Stapel liegen gelassenen Baumaterials, vor allem Steine, Balken und Seile. Daraus hatte er sich ein eigenes "Haus" gebaut. Eine 5 m² große Nische, im hintersten Winkel des Geschosses, hatte er mit einer Mauer aus Steinen, die er einfach übereinander gelegt hatte, abgetrennt, mit Balken überdacht und seine, vom Sperrmüll geholte, kaputte Matratze und seine ganze Habe, unter anderem eine beeindruckende Sammlung verschiedenster Klingen (von Küchenmessern, die er bei "Hausbesuchen" mitgenommen hatte, über Taschenmesser bis zu seinem persönlichen Stolz: einem schönen, mittelalterlichen Dolch (natürlich alles gestohlen)) darin versteckt. Ein paar Schritte davon entfernt stand eine rostende Metallwanne, bis zum Rand mit, von einer dicken Eisschicht überzogenem, Regenwasser gefüllt. Ein "Trampelpfad" in der dicken Schicht aus Staub und der durch die leeren Fensteröffnungen hereingewehte Schnee zeigten deutlich, welchen Weg Alain normalerweise zurücklegte. Er kletterte an dem Seil nach oben, war jedoch zu faul es einzuziehen. /Nachher!/, dachte er, /Wenn ich geschlafen hab. Es ist schon ewig keiner mehr hier gewesen!/ Müde schleppte er sich zu seiner Schlafkammer, zündete einen der überall herumliegenden Kerzenstummel an. (In Gedanken eine Entschuldigung, an Gott gerichtet, formulierend. Seine Kerzen stahl er meistens in einer Kirche, da diese nicht so gut bewacht wurden wie die Kaufhäuser.) Dann zog er sich aus, nahm einen Stein von einem, im krassen Gegensatz zum Rest der Etage, ordentlich gestapelten Haufen und stapfte nackt auf die Wanne zu. Davor ließ er sich schwerfällig auf die Knie sinken und schlug immer und immer wieder auf die Eisschicht ein, bis sie splitternd zerbrach. Das Eis fischte er heraus und stieg in die Wanne. Nach den Minusgraden draußen war das noch ungefrorene Wasser richtig angenehm und er kniete sich, einen leisen Seufzer nicht unterdrücken könnend, in die Wanne. Seine Tasche, die er direkt neben sich gelegt hatte, zog er nun zu sich heran und holte daraus eine Haarbürste hervor. Sofort meldete sich sein schlechtes Gewissen. Er würde Morgen gleich losgehen und sie Caspars Mutter zurück geben! Morgen! Oder übermorgen... Er versuchte eine Weile sich wenigstens die schlimmsten Knoten aus den Haaren zu kämmen, aber da er so was nicht oft tat (so etwa aller drei Jahre, wenn er nicht einen Friseur unter seinen Kunden hatte), verhedderte er sich hoffnungslos und gab es bald wieder auf. Den Kopf hängen lassend versuchte er sich zu entspannen. Er änderte diese Haltung vorerst auch nicht, als er leise Schritte näher kommen hörte. Erst als die Person, die offensichtlich nicht gehört werden wollte, hinter ihm stand, hob er den Kopf und griff unauffällig nach einer wasserdichten Blechdose, die am Grund der Wanne gelegen hatte. "Was willst du, Vater?", fragte er leise, während er die Dose unter Wasser öffnete, und das Schweizer Messer, das darin gelegen hatte, herausnahm und öffnete. "Ich habe das Geld noch nicht. Oder bist du nur gekommen, um zuzusehen, wie ich in diesem Dreckloch hocke, immer hungrig. Wie ich Tag für Tag um meine Existenz kämpfe, wenn auch nicht immer mit ganz legalen Waffen? Warum kommst du immer wieder? Es ist immer dasselbe. Wann fängt es dich wohl zu langweilen an, mit mir zu spielen; wann werde ich so uninteressant wie Paco, wann ende ich so wie er? Wann wirst du mich töten? Und jetzt erzähl mir nicht, bei mir wäre es etwas anderes, nur weil ich dein Sohn bin! Das hat dich nie interessiert. Ich weiß, dass du gekommen bist, um mich zu bestrafen. Für das, was Gestern geschehen ist, hab ich recht?" Mit einer zitternden Hand schob er seine Harre beiseite und bot seien ungeschützten Nacken dar. Die Schritte kamen näher. Alain verkrampfte sich, als zwei Finger über die Narben und offenen Wunden, die fast alle entzündet waren, strich. Er hasste die Art seines Vaters, zu Bestrafen. Keine dieser Wunden war tödlich, keine besonders tief oder anders gefährlich, soweit er das beurteilen konnte, doch sie schmerzten. Wenn sein Vater besonders übel gelaunt war, hatte er immer gute Ideen. Besonders gern mochte er Salz. /Noch ein Schritt.../ dachte Alain. Und wirklich, der Mann trat nun ganz an ihn heran und beugte sich leicht über Alain. Dieser konnte aus den Augenwinkeln eine grob menschliche Form ausmachen. Das genügte ihm. Im Hocken drehte er sich blitzschnell um. Sein Messer zog einen tödlich surrenden Halbkreis durch die Luft, zielte auf die Kehle seines Vaters. Doch eine Hand des anderen schnellte vor und hielt Alains Finger auf, stoppte die Klinge, zwei Zentimeter vor dem ungeschützten Hals. Alains Blick wanderte aufwärts und sah erstarrt in ein Paar Augen. Unterdrückt keuchend hielt Caspar inne. Der Kleine war verdammt schnell und kannte sich viel besser aus als er, sodass der Student ihn nicht nur einmal aus den Augen verloren und gerade noch so wiedergefunden hatte. Gleichzeitig hatte er innerlich schon zum millionsten Mal seinem Kampfsporttrainer gedankt, der ihn über Jahre hinweg solange gedrillt hatte, bis seine Bewegungen kraftvoll geschmeidig und leise wie die eines Tigers waren, denn sonst hätte er sich ohne Zweifel schon längst verraten. Vor ihm ragte nun eine Ruine dessen auf, was wohl mal ein Rohbau für ein Haus hatte sein sollen, konnte nicht verhindern, dass seine linke Augenbraue besorgt nach oben zuckte. /HIER wohnt er?/ Nach einer Weile wagte er es, dem Jüngeren in das düstere baufällige Gebäude zu folgen, musste sich erst an die Lichtlosigkeit dieses Ortes gewöhnen, während er angeekelt und unterdrückt fluchend vor den quiekenden, beharrten Ratten zur Seite wich. Schließlich hatten sich seine Augen der Dunkelheit angepasst und zeigten ihm ein noch leicht schwingendes Seil, das aus der übernächsten Etage herabhing. Caspar zögerte nicht, war innerhalb weniger Sekunden das wenig vertrauenerweckende aber dennoch zuverlässig haltende Seil hinaufgeklettert, folgte einem Trampelpfad im Schnee in ein anderes "Zimmer". Nur dass ihn dieses Mal statt reiner Dunkelheit flackerndes Kerzenlicht erwartete, das ihn unwillkürlich an seine Wohnung erinnerte. Auf dem Boden erkannte er Nathanaels Sachen, sodass ihm der Atem stockte. Der Kleine würde sich doch hier nicht mit einem weiteren Kunden treffen - ...oder? Im selben Moment vernahm er ein plätscherndes Geräusch, wie von jemandem, der sich gerade in einer Badewanne wusch, zuckte erschrocken zusammen, während er herumfuhr und ungläubig auf die gutvertraute, schmale Gestalt blickte, die tatsächlich in einer Badewanne saß - nur dass sie, im Gegensatz zu der bei Caspar zu Hause, uralt und am Rand mit Eis (!) bedeckt war... Irgendetwas schnürte ihm die Kehle zu, ließ ihn nicht einmal den leisesten Laut hervorbringen, selbst als Nathanael ihn ansprach, wobei er Caspar offensichtlich für seinen... _Vater_ hielt. Hilflos kam er näher, erstarrte entgeistert als er die schrecklichen Wunden im Genick des jungen Schwarzäugigen erblickte, strich mit den zitternden Fingern seines ausgestreckten Armes darüber, als müsse er sich so von ihrer Existenz überzeugen. Ein scharfer Schmerz durchzog seinen Körper, ausgehend von seiner bebenden Hand, und es fühlte sich an, als würde er in einem einzigen Augenblick all die Qualen durchleben, die Nathanael über die Jahre hinweg hatte ertragen müssen. Sein Mund stand offen, doch er bekam keine Luft mehr, und mit vor Entsetzen nassglänzenden Augen beugte er sich über den Kleineren, wollte ihn einfach nur in die Arme schließen und ihm leise Worte des Trosts zuhauchen - und hätte es beinahe mit dem Leben bezahlt. Nur seine in langjähriger, harter Arbeit geschulten Instinkte retteten ihn, indem er seinen Körper ohne nachzudenken zurückwarf und er gleichzeitig die heranrasende Hand packte, eisern umschloss, bevor ihm das Messer gefährlich werden konnte. Erstarrt blickte er auf das Taschenmesser, entwand es ohne hinzusehen den feingliedrigen Fingern, starrte unentwegt in die schwarzen Augen, während das Messer auf den Boden prallte und in die Dunkelheit sprang. Er konnte nicht fassen, dass Nathan ihn wirklich hatte töten wollen - selbst wenn er ihn für jemand anderen hielt. Schweigend machte er wieder den einen Schritt auf die Badewanne und den darin hockenden Schwarzhaarigen zu - und sah die Pfütze gefrorenen Badewassers nicht. Das Letzte, was er spürte, war ein scharfer Schmerz in seinem Genick, als es unglücklich auf einen Haufen loser Ziegelsteine prallte. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Alain erwachte erst aus seiner Erstarrung, als Caspar fiel. Er stand hastig auf und griff nach dem Arm des Studenten, verfehlte ihn jedoch. Er stieg aus dem Wasser, überwand die Eispfütze in einem schnellen, aber viel umsichtigeren Schritt als Caspar, und kniete neben ihm nieder. Eine Weile rüttelte er hilflos an dessen Schulter, schlug ihn mit der flachen Hand ins Gesicht und versuchte sogar, ihn mit einem vom halb gefrorenen Wasser feuchten Zipfel Caspars Pullovers zu wecken. Erst als all das nicht half, kam er auf die Idee, den Mann auf den Bauch zu drehen. Alain erschrak, als er die blutverklebten Haare berührte. Sanft strich er sie beiseite. Eine fast 10 Zentimeter lange Platzwunde zog sich über seinen Schädel, und nun, da Alain die auf die Wunde gedrückten Haare zur Seite strich, rann das Blut ungehindert über Alains kalte Finger. "SCHEISSE!", schrie er seine Angst hinaus. Er packte Caspar so sanft wie möglich unter den Armen, hob seinen Oberkörper ein Stück an und schleifte ihn die paar Meter bis zu seiner Wohnnische einfach über den, zum Teil mit Schnee bedeckten, Boden. Währenddessen redete er leise, beruhigend auf Caspar ein, obwohl er wusste, dass dieser ihn vermutlich nicht hören konnte. Er legte Caspar auf seine Matratze, deckte ihn zu, riss ein Stück Stoff aus dem Bezug und rannte barfuß wie er war zu der Wanne zurück, um den Stoffstreifen nass zu machen. Vorsichtig wischte er etwas von dem Dreck, der von den Steinen in die Wunde gelangt war, weg, wusch den Lappen abermals aus und wickelte ihn zweimal um Caspars Kopf, so dass die Wunde wenigstens etwas geschützt war. In seiner Angst war ihm gar nicht aufgefallen, wie kalt es hier war, und dass er noch immer nackt herum lief. Hastig zog er sich an und ließ sich auf den Boden, neben Caspar, sinken. /Was, wenn er stirbt? Ich kann ihm hier nicht helfen!/ Nachdenklich spielte er mit einem der Eiskristalle, die sich in seinem Haar gebildet hatten, da er sie weder abgetrocknet noch warm gehalten hatte. Er war schon aufgestanden um ein Feuer anzuzünden, als er sich an Virginias Abschiedsworte erinnerte: "Wenn du Hilfe brauchst, oder dich einfach mal nur irgendwo aufwärmen willst, komm doch einfach vorbei. Egal wann!" . Er trat aus der "Hütte" und sah, durch eins der leeren Fensterlöcher hindurch, zum Mond. Es musste kurz nach zwei Uhr sein. Alain beschloss für sich, dass Virginia wohl _wirklich_ "egal wann" gemeint haben musste, und holte Caspar, noch immer in die Decke gewickelt, ebenfalls heraus. Dann zog er seine Tasche zu sich heran und leerte sie auf dem Boden. Jede Menge Zeug, dass definitiv _nicht_ ihm gehörte kullerte heraus. Er war froh, dass er seine Spritze wiederfand. Aber das Dankesgefühl, das in ihm aufgestiegen war wie ein Ballon, zerplatzte, als er bemerkte, dass der Rest fehlte. Laut fluchend schüttelte er den Pullover aus, in der Hoffnung, die Tütchen könnten sich darin verfangen haben, doch sie waren weg. Noch immer vor sich hin fluchend zog er sich den Pullover über, biss in eins der Brote und beäugte die Schokolade misstrauisch. Da er bisher, soweit er sich erinnern konnte, so etwas noch nie gegessen hatte (er nahm einfach mal an, dass es sich um etwas Essbares handelte) packte er sie wieder ein, warf sich die Tasche über die Schulter und legte sich selbst von hinten Caspars Arme um den Nacken. /Der Mann wiegt bestimmt dreimal so viel wie ich!/, ächzte er in Gedanken, als er Caspar mühsam zum Ausgang schleppte. /Na toll!/. Kritisch sah er an dem Seil herunter... ~.~ Er hatte Caspar vorerst in den Schnee, vor die Ruine, gelegt und suchte ein geeignetes Brett, das er als Schlitten verwenden konnte. Als er nichts fand, trat er einfach die Rückwand aus einer der billigen Einbauküchen heraus und legte sie neben den Studenten, um ihn besser rüber heben zu können. Eine der noch daran genagelten Leisten ließ er gleich befestigt, um den improvisierten Schlitten besser ziehen zu können. "Du schuldest mir ne neue Tasche!", murmelte er dabei, missmutig auf das Brandloch in der alten starrend. ~.~ Virginia meinte tatsächlich "egal wann". Alain musste zwar diesmal sieben Mal klingeln, ehe sie den Kopf zum Fenster raus steckte, aber sie lächelte Alain freundlich zu und ließ ihn sofort eintreten, als sie ihn erkannte. Ihr Lächeln verblasste jedoch, als sie ihren Sohn bemerkte, der blass und regungslos auf dem Brett hinter Alain lag. "Er ist hingefallen und hat sich den Kopf angeschlagen. Ich war's nicht!", verteidigte er sich sofort, als er ihren ängstlichen Blick auf Caspar geheftet sah. Caspar stöhnte mit verkniffenem Gesicht auf. In seinem Kopf schien eine Horde grüner Gnome Riverdance aufzuführen. Seltsamerweise hatten sie alle das Gesicht eines schwarzäugigen Engels... Als er jedoch die Augen öffnete und sich in dem Bett aufrichtete, welches er als das seiner Mutter identifizierte, und tatsächlich den Kleinen sah, der neben dem Bett saß und seinen Kopf und die Hände zum Schlaf darauf gebettet hatte, musste er warm lächeln, strich ihm eine der verfilzten und dennoch schönen schwarzen Strähnen aus dem blassen Gesicht, nahm die kleinere Hand in seine große. Obwohl der Blonde sehr behutsam gewesen war, schlug der Jüngere sofort die Augen auf, sah ihn einfach nur stumm an. Und ebenso schweigend umarmte Caspar ihn, flüsterte ihm dann ins Ohr: "Danke, dass du mich hierher gebracht hast - wie immer dir das auch gelungen ist..." Dann legte er sich zurück, weil ihm doch ziemlich schwindelig war, ließ aber nicht die Hand des anderen los, schloss die Augen und wisperte leise: "Weißt du, ich habe als Kind immer davon geträumt, dass zu Weihnachten einen Engel kommt und mit uns feiert... Und als ich dich das erste Mal sah... bist du mir genau wie so ein Engel vorgekommen... Deswegen... Würdest du Weihnachten mit mir verbringen?" Er lauschte angespannt, drückte die Hand etwas fester, als könne er den Schwarzäugigen so vom Gehen abhalten, wartete auf die Antwort, die so oder so sein Leben verändern würde... Virginia rannte die fünf Stufen zum Bürgersteig fast hinunter und half Alain den regungslosen Körper ihres Sohnes in ihr Bett zu tragen. Mit schnellen, geübten Bewegungen untersuchte sie die Wunde und desinfizierte sie gründlich. Alain stand neben ihr und erklärte ihr leise was passiert war. Er schwieg, als sie ihm, in mütterlichem Ton, zurechtwies, er hätte wegen seiner Verletzung gar nicht baden dürfen. Virginia bat ihn aufzupassen, dass Caspar sich im Schlaf nicht zu heftig bewegte und rauschte hinaus um Tee und Suppe zu kochen. Alain kniete neben dem Bett nieder, sodass er die Tür im Blick hatte und legte den Kopf auf seine verschränkten Arme. /Du musst wach bleiben!/, sagte er zu sich selbst. /Nur einen Moment die Augen schließen... Aber du darfst nicht einschlafen./ Sein Kopf schien nur noch aus hämmernden Schmerzen zu bestehen, und wenn er daran dachte, dass es Caspar noch viel schlimmer gehen musste, konnte er sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Er musste doch eingeschlafen sein, denn er erwachte erst, als jemand seine Hand ergriff. Erschrocken fuhr er hoch und sah direkt in Caspars braune Augen. Überrascht ließ er es geschehen, dass Caspar ihn umarmte und ließ ihn auch ausreden, als dieser, kaum hörbar, seine Bitte hervorbrachte. Dann jedoch zog er zweifelnd eine Augenbraue hoch und erwiderte, ebenso leise: "Du musst dir den Kopf wirklich böse angeschlagen haben!", und entzog ihm die Hand, die dieser noch immer umklammert hielt. Er stand, entschlossen die Müdigkeit verdrängend, auf und ging in die Küche zu Virginia. Er wurde gleich freundlich empfangen, indem sie ihn besorgt musterte und ihm drei Teller in die Hand drückte. "In der Schublade mit dem roten Knauf findest du Löffel. Deck bitte schon mal den Tisch! Brot ist in der weißen Metalldose neben dem Toaster. Du siehst halb verhungert aus!" Alain tat schweigend, was sie ihm aufgetragen hatte und stellte sich dann mit auf dem Rücken verschränkten Armen neben sie. "Caspar ist wach.", sagte er schließlich leise, während er einen Schritt zurück trat, damit Virginia ungehindert eine der Schubfächer neben dem Herd öffnen konnte. Virginia schenkte ihm ein breites Lächeln. "Schön! Dann kannst du ihm ja Bescheid sagen, dass das Essen fertig ist!" Missmutig stapfte Alain aus der Küche. Er hatte keine Lust wieder allein mit dem Mann zu sein. /Engel.../, dachte er kopfschüttelnd /Der spinnt doch. Oder er ist wirklich blauäugig.../ Caspar war wieder eingeschlafen, doch Alain hatte keine Hemmungen ihn zu wecken. Um ihn nicht berühren zu müssen, was dieser falsch auslegen könnte, warf er einfach zwei der Kissen, die Virginia neben das Bett gelegt hatte, damit diese sie nicht stören konnten, nach Caspar. "Es gibt was zu Essen.", rief er Caspar noch zu, das Zimmer schon wieder verlassend. Die Bohnensuppe war sehr gut, doch Alain war nicht in der Stimmung dies zu würdigen. Er würde es nicht mehr lange aushalten, ohne seine Drogen. Natürlich beherrschte er sich, aber er wäre am liebsten aufgesprungen und rausgerannt. "Nun... Nathanael", begann Virginia fröhlich, "Ich nehme mal an, dass du so heißt... ich habe beschlossen, dass du über die Feiertage bei uns bleibst! Und keine Widerrede! Ich hab dich jetzt für das Weihnachtsessen mit eingeplant und ich hab sogar schon ein passendes Geschenk für dich gefunden!" Alain versuchte zu widersprechen, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. "Falls du glaubst, du müsstest unbedingt mit deiner Familie feiern, ist diese natürlich auch herzlichst eingeladen!" Alain zuckte hilflos mit den Achseln und murmelte eine kaum hörbare Zustimmung und etwas, das man mit etwas gutem Willen, und davon besaß Virginia besonders viel, als "Danke" auslegen konnte. Er vermied es Caspar anzusehen und löffelte stumm weiter seine Suppe. /Na toll!/, dachte er sarkastisch. /Weihnachten im fröhlichsten Familienkreis. Und wann zum Teufel soll ich mich dann mit Simon treffen?/. Er musste seinen Dealer unbedingt sehen, sonst würde er durchdrehen. Aber er setzte seine Maske mit dem freundlichen Lächeln auf und sah sich aufmerksam im Esszimmer um, noch immer vermeidend, in Caspars Richtung zu sehen. Caspar aß schweigend, versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Das Essen schmeckte gut, auch wenn Bohnensuppe nicht unbedingt sein Leibgericht war, aber ob es nun ein Festmahl oder trockenes Brot war blieb sich im Moment gleich - seine Geschmacksnerven schienen ohnehin auf unangenehme Weise betäubt und nichts mochte ihm wirklich schmecken. Es war nicht einmal Nathanaels Zurückweisung. Innerlich hatte er _gewusst_, dass der Schwarzäugige niemals zugestimmt hätte, zu bleiben, wäre seine Mutter nicht gewesen. Irgendwie konnte er es auch verstehen. Er erinnerte sich an die grässlichen Wunden im Nacken des Jüngeren und dachte daran, dass jemand, der solche Wunden hatte einstecken müssen, auch seelische Verletzungen davongetragen haben musste. Vermutlich war Vertrauen ein Fremdwort für ihn... und ein... _Kunde_ sicherlich niemand, bei dem man damit anfangen konnte, es zu erlernen... Aber er konnte den schleichenden Wahnsinn in Nathanaels Augen glitzern sehen, die unstillbare Gier nach vollkommenem Rausch. Und er wusste, dass, wenn der Kleinere nicht von selbst zu ihm kam, er am Ende schließlich doch gegen die Drogen verlieren würde. Und gegen ein... _Ding_ zu verlieren war weitaus schlimmer, als von einem Mensch oder dessen Gefühlen besiegt zu werden... Er dachte an den Augenblick zurück, in dem die weißen Tütchen mit dem Wasser im Abflussrohr vor seinen Augen verschwunden waren. Warum nur hatte er gewusst, dass es nichts bringen würde? Dass er mit dieser Tat nicht auch Nathanaels Sucht wegspülen konnte? Was zum Teufel nützten ihm ein Medizinstudium und die Grundlagen der Psychologie, wenn er sie nicht auch im echten Leben verwenden konnte? Nicht _hier und jetzt_ anwenden konnte? Schweigend stand er auf und räumte sein Geschirr ab, schaute nur kurz noch einmal ins Esszimmer hinein, den Anblick seines schwarzhaarigen Engels meidend, erklärte einsilbig: "Mom, ich muss kurz weg - bin bald wieder da..." Mit wenigen, abgehackten Griffen, die nichts mit der üblichen Eleganz eines durchtrainierten Kampfsportlers gemein hatten, machte er sich den schwarzen Mantel und einen leicht schimmernden, dunkelblauen Schal um und war auch schon verschwunden, bevor seine Mutter ihm in den Flur folgen und ihn wie sonst üblich an der Tür verabschieden konnte. ~.~ Er brauchte bei weitem nicht so lange, wie damals, als er Nathanael gesucht hatte. Er wusste ungefähr wo er den Dealer finden würde und wenn er nicht da war, dann trieben sich garantiert irgendwelche einschlägig bewanderten Gestalten in der Nähe herum, die er fragen konnte. So dauerte es auch nicht einmal eine halbe Stunde und zwei kurze Gespräche, bis er den Mann gefunden hatte, den er suchte. Wieder empfand er diese unterschwellige aber äußerst präsente Gefühl der Aversion gegen diesen Typen. Er strahlte etwas seltsam aufdringlich Unangenehmes aus, geradeso wie ein fast unerträglicher Geruch. Der Dealer sah ihn nur abschätzig an. "So sieht man sich wieder... Ich nehme an dieses Mal willst du Stoff statt Informationen, eh? Eigentlich handele ich ja nur mit Leuten, die ich kenne, aber ich will mal nicht so sein. Willst du was Bestimmtes?" Caspar zögerte, dann fragte er: "Was hat er sonst genommen?" "Oh, es ist für den Kleinen? Na ja, hübsch ist er ja, dass muss man ihm lassen... Und für Geld oder Drogen tut er so ziemlich alles, schätze ich... Hab ja gehört, er soll richtig talentiert sein, stimmt das? Zu dumm, dass ich mich nicht auf meine Kunden einlasse... Ist schlecht fürs Geschäft...", plauderte er mit unverbindlichem Tonfall. Offensichtlich machte ihm das ganze Spaß. Der Blonde jedoch versteckte seine unbändige Wut hinter einer Maske der Ausdruckslosigkeit, wiederholte mit starrem Gesicht unnachgiebig seine Frage. "Ach, bald ist das Fest der Liebe, da muss es was Besonderes sein, meinst du nicht auch? Hier... das ist besser. Viel besser. Ziemlich neu. Keine Nebenwirkungen. Eine halbe Tablette reicht für ein bis zwei Stunden Vollrausch vom Feinsten..." Im Tausch gegen ein paar Geldscheine bekam er eine unscheinbare Pillendose, die normalerweise Vitamintabletten enthielt, in die Hand gedrückt, versuchte dabei so gut wie möglich Hautkontakt zu vermeiden. Caspar fühlte sich merkwürdig. Eine seltsame Distanz hatte sich in ihm ausgebreitet, ließ die Realität und jegliche Wahrnehmungen sonderbar dumpf werden. Der Student hatte geglaubt, sich für diese Handlung die Hand abhacken zu müssen oder dass er vielleicht würde kotzen müssen vor Abscheu. Doch nichts davon trat ein. Stattdessen steckte er die Pillendose weg als würde ihn das alles nichts angehen und ging grußlos, schwang sich drei Meter weiter auf sein - natürlich - schwarzes Motorrad - eine wunderschöne Kawasaki ZX-10R für die er wohl ewig gespart hatte mit einem dunkelblauen Tribal-Muster darauf, welches er selbst aufgeklebt hatte. Virginia ließ ihm kaum Platz zum Atmen, so mütterlich besorgt wuselte sie um ihn herum. Alain grinste in sich hinein als sie in besorgtem, mütterlichem Ton auf Caspars Unvorsichtigkeit schimpfte: "Dass der Junge in SEINEM Zustand auch noch Motorrad fahren muss... der sollte lieber im Bett bleiben und warten bis es ihm wieder richtig gut geht! Und ich bleib wieder auf dem ganzen Nachtisch sitzen. Naja, dann muss er ihn halt alleine essen, wenn er zurückkommt!" Doch als sie das schadenfrohe Grinsen des Jungen sah, baute sie sich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor ihm auf. "Und nun zu dir! Was hast du dir nur dabei gedacht..." Alain hörte gar nicht mehr hin. Er beschränkte sich darauf eine reuevolle Maske aufzusetzen, während er mit den Gedanken schon wieder weit weg war. Wie kam der Mann nur auf "Engel"? Er hatte in einem Kinderbuch (extragroße Schrift) von Engeln gelesen und sie waren immer als edel, rein, unschuldig und wunderschön bezeichnet worden. Seine Freier hatten ihn früher manchmal "schön" genannt, aber inzwischen war sein Körper verbraucht. Im Winter, wenn die Kälte seine Haut austrocknete und aufriss und die Menschen genug mit sich selbst und ihren Winterdepressionen zu tun hatten, war es am schlimmsten. Endlich ließ Virginia ihn in Ruhe und er schlenderte am Bücherregal entlang und entzifferte die Buchrücken, bis sie mit dem Nachtisch zurück kam. Es war schön, einfach dazusitzen, Tiramisu in sich rein zu schaufeln und dem neusten Klatsch und Tratsch zu lauschen. Als Virginia den Schlüssel im Schloss hörte lief sie sofort an die Tür und Alain blieb allein und verunsichert auf dem Sofa zurück. /Ich passe nicht hierher!/ Der langhaarige Blondschopf huschte wie ein Schatten durch den Nieselregen, während sich die Nacht nun endgültig der Pulsader Amerikas bemächtigte. Durch die schwarze Kleidung verschmolz er perfekt mit der Dunkelheit und nur sein hellfarbenes Gesicht und die honigblonden Haare erschienen wie ein verschwommener Fleck im verregneten Dunkel, sodass ihn ein ferner Beobachter wohl für eine Geistererscheinung gehalten hätte. Seine geschmeidige Beweglichkeit hatte er wiedergewonnen und man mochte es nicht glauben, aber irgendwie fühlte er sich erleichtert. Innerlich hatte er mit Nathanael abgeschlossen. Entweder er würde aus freiem Willen zu Caspar kommen und bei ihm bleiben oder er würde es nicht tun. Es lag nicht in seiner Macht, Nathanael zum einen oder zum anderen zu bewegen. Entweder Gott meinte es gut mit ihm oder er interessierte sich nicht für das junge Menschlein, dessen Leben durch einen seiner Engel völlig aus der Bahn geraten war. /Jedenfalls kann keiner behaupten, mein Leben sei langweilig/, dachte er ironisch und drehte den Schlüssel im Schloss. "Bin wieder da!", rief er in die warme, aus allen Ecken Gemütlichkeit ausstrahlende Wohnung hinein. "Ah, Caspar! Wo bist du überhaupt gewesen? Du warst plötzlich einfach weg!", rief sie und sah ihn vorwurfsvoll an. Das konnte sie wirklich sehr gut, wenn sie es auch selten tat. Irgendwie vermutete Caspar, dass Frauen dieser Blick angeboren war... Vielleicht ebenso sehr, wie der Instinkt, der gute Mütter spüren ließ, wann ihren Kindern die größte Not drohte. Jedenfalls schien er bei der seinen ausgezeichnet zu funktionieren. Wieso hätte sie Nathanael sonst so unkonventionell zu einem gemeinsamen Weihnachten einladen sollen? "Ich will dich nicht anlügen, Mom, aber glaub mir, dir würde es nicht gefallen. Es hat etwas mit Nathanael zu tun - ich hoffe das reicht dir als Erklärung. Und sei mir nicht böse, aber ich bleibe auch nur kurz - und werde dieses Jahr nicht Weihnachten mit dir feiern können." Jetzt war es heraus. Den Entschluss hatte er während des Fahrens gefasst. Wenn er auf seinem Bike saß und den Fahrtwind an seinen Kleidern zerren spürte, konnte er ohnehin am Besten denken. Und er spürte, dass seine Entscheidung richtig war. Es würde nichts bringen, auf Nathanael einzustürmen. Wenn er wirklich wollte, dann würde er von selbst kommen - und wenn nicht... nun, dann hätte das Ganze ohnehin keinen Sinn. Schließlich wollte er ihn zu nichts zwingen... Seine Mutter sah ihn ehrlich enttäuscht an, aber er bekam auch ihr vollstes Verständnis zu spüren. "Ich habe es befürchtet... Aber gut, du bist jetzt erwachsen und ich kann dich nicht mehr behandeln wie ein kleines Kind. Du musst selbst entscheiden, was du für das Beste hältst. Doch ich will hoffen, dass dich wenigstens deine Schwester zu Gesicht bekommt, verstanden? Ihr seid immerhin Geschwister!" "Ja, Mom. Danke... Und ich ruf dich dafür an, in Ordnung? Dann kannst du mir sagen, wie du so schnell ein Weihnachtsgeschenk für ihn auftreiben konntest... Und was es überhaupt ist..." Der schwarzäugige Engel, ungeschlagenes Hauptthema all seiner Gedanken, hockte auf der Couch und Caspar musste nicht versuchen, sich an seinen Psychologiekurs zu erinnern, um zu erkennen, dass ihm seine Umgebung nicht wirklich behagte. Vielleicht fühlte er sich nach all der Zeit auf der Straße tatsächlich wohler in einem abbruchreifen Haus als in der beschaulichen Stube einer achtbaren amerikanischen Bürgerin. "Nathanael", sagte er leise und schreckte den anderen ungewollt aus irgendwelchen Gedanken. "Ich möchte kurz mit dir unter vier Augen sprechen." Ohne eine Antwort abzuwarten ging er in seine ehemaligen Räumlichkeiten, die nun zu einem Gästezimmer umfunktioniert worden waren. Das Zimmer war liebevoll eingerichtet, sodass man fast die Tatsache vergessen konnte, dass man nur Gast war und nicht wirklich hier lebte. Das große, weiche Bett war für den Kleinen frisch bezogen worden und immer Zimmer hing der leichte, sanfte Geruch eines Trockenblumen-Potpourris. Der Kleinere setzte sich mit vor der Brust verschränkten Armen auf das Bett und starrte stur an ihm vorbei. Traurig über die förmlich greifbare Distanziertheit, warf er dem Jüngeren die Plastikdose hin. "Da... was Besseres konnte ich nicht finden, aber ich hoffe es genügt fürs Erste. Der Typ meinte, eine halbe Tablette sei genug. Mehr als eine Ganze ist nicht zu empfehlen, auch wenn es angeblich keine Nebenwirkungen hat... Keine Angst, ich verlange dafür keine Gegenleistung. Wahrscheinlich will ich nur mein Gewissen damit beruhigen, auch wenn ich dafür deine Drogenkarriere vorantreibe. Versprich mir nur, dass du nicht mit Achtzehn tot in einer Gasse liegst, okay? Hm... das war's schon... Ich weiß nicht, ob es dich beruhigt, aber ich werde Weihnachten nicht hier verbringen. Du kannst jederzeit rüberkommen, wenn du magst, aber ich... ach egal", er brach ab, sah dem verloren wirkenden schwarzhaarigen Elfen auf dem Bett kurz aber tief in die Augen, sprach dann leise: "Man sieht sich... vielleicht." Damit ging er wieder auf den Flur hinaus, verabschiedete sich noch kurz aber herzlich von seiner Mutter und ging dann. ~.~ Weit kam er jedoch nicht. Seine Kawasaki stand nur wenige Meter weit entfernt im Dunkeln, sodass man sie nicht gleich sehen konnte. Seufzend lehnte er sich gegen das aufgebockte Motorrad, legte den Kopf in den Nacken und ließ sich weichkalte Schneeflocken in sein Gesicht fallen. Und zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, er wäre Raucher und könnte sich nun eine Zigarette anstecken. Stattdessen blieb er reglos in der Kälte, sog einfach nur tief die eisige Luft ein und versuchte mit ihrer Hilfe seine Gedanken zu klären - was ihm nicht gelang. Eine ganze Weile starrte Alain einfach nur auf die Dose in seiner Hand, ohne zu begreifen, was das sein sollte. "V I T A M I N C", buchstabierte er... bis er endlich begriff, was Caspar damit meinte. /Ich will nicht mit 18 sterben!/, dachte er, ironisch lächelnd. /Ich hoffe, dass das viel schneller geht! Außerdem weiß ich eh nicht, wann ich 18 werde... also ist es schwierig sich an den Befehl zu halten./ Er stockte und legte den Kopf leicht schief, als würde er auf irgendetwas lauschen. Das Döschen noch in der geballten Faust rannte er plötzlich hinter Caspar her aus der Wohnung, vorbei an der verwunderten Mrs. Blackwell. Etwas verwirrt blieb er auf der Straße stehen und sah sich um. Es schneite schon wieder und einige Augenblicke sah er fast gar nichts. Dann bemerkte er, einen mattschwarzen Schimmer, fast unsichtbar im Schatten des Hauses. Zögernd trat er näher und erkannte die Silhouette eines Mannes der den Kopf in den Nacken gelegt hatte und ihn nicht zu bemerken schien. "Ich brauche keine Almosen!", verkündete er. Er spürte selber, dass er klang wie ein kleines, trotziges Kind, doch er konnte nichts dagegen tun. "Ich bezahle mein Zeug entweder mit Geld oder mit... Naturalien." Einen Moment sah er ihn störrisch an, verzog dann jedoch das Gesicht zu einem anzüglichen Grinsen. "Oder hat es dir nicht gefallen?" Er hasste sich dafür und verstand nicht, warum er das jetzt gesagt hatte, aber die Nähe des Mannes verunsicherte ihn. Er wusste nicht, ob dieser es nun ehrlich meinte. Es kam oft vor, dass seine Kunden ihm ihre "Freundschaft" anboten und ihn, wenn er darauf hereinfiel, ausnutzten und über seine Leichtgläubigkeit lachten. Er hatte sich geschworen, dass ihm das nie wieder passieren würde. Eine Weile hatten sie sich nur schweigend angesehen. Caspar zitterte, doch Alain schob es auf die Kälte. "Außerdem musst du mir noch eine neue Tasche besorgen!", brach er abrupt das Schweigen und hielt ihm die kaputte Umhängetasche vors Gesicht. "Und du musst mir mal das Buch ausleihen, aus dem du deine Erklärung für das Wort "Engel" hast... wahrscheinlich stimmt sie nicht mit der aus meinem Buch überein!" Er legte den Kopf schräg und beobachtete die Reaktion des anderen mit hochgezogener Augenbraue. Dann musste er, gegen seinen Vorsatz, grinsen, so komisch war Caspars ungläubiger Gesichtsausdruck. Caspar blinzelte verstört. Hatte er jetzt schon wieder Halluzinationen, kaum dass er Nathanael nicht gesehen hatte? Ungläubig streckte er die Finger nach dem Jüngeren aus und die Kuppen trafen auf weichwarme Haut. Wie vom Blitz getroffen zuckte seine Hand zurück. /Ich muss verrückt geworden sein/, dachte er mit seltsamer Heiterkeit. Gerade eben hatte er jegliche Hoffnung aufgegeben, den Kleineren je wieder zu sehen, und nun stand er hier, wollte ihn "bezahlen" und verlangte im gleichen Moment eine neue Tasche, was ja zwangsläufig eine neues Treffen bedeutete. Unsicher machte er einen Schritt zurück, sodass er mit dem Rücken gegen einen der beiden Lenkergriffe stieß - wenn er Halluzinationen hatte, dann fühlten sie sich sehr real an. Aber nichtsdestotrotz war ihm dies alles zu unglaublich, als dass er es wirklich glauben konnte. Er schlug traurig die Augen nieder, war wie betäubt, während er sprach. "Natürlich hat es mir gefallen, aber... ich bevorzuge es dennoch, wenn man mit mir schläft um _meiner_ Willen und nicht... wegen meines Geldes. Deswegen _kann_ ich nicht noch einmal mit dir schlafen... nicht so. Das mit deiner Tasche... tut mir Leid. Ich werde natürlich für Ersatz aufkommen... Und eine Bibel kannst du dir auch bei meiner Mutter ausleihen... sie hat so viele, sie würde dir wahrscheinlich sogar mit Freuden eine schenken..." Ruckartig drehte er sich um und setzte sich auf sein Motorrad. Seine Finger zitterten, während er den Motor startete und die diversen Anzeigen aufleuchteten. Doch er setzte sich weder den schwarzroten Helm auf, noch fuhr er los. Nach einer kleinen Ewigkeit sagte er leise, ohne dem Schwarzäugigen in die dunklen Tiefen zu sehen: "Wenn du mitfahren willst, solltest du dir wenigstens den Helm aufsetzen..." Einen Moment tastete sein Blick unsicher über das Gesicht des Studenten, suchte nach Anzeichen der Unehrlichkeit, einem verräterischem Flackern im Blick. Dann verleierte er kurz die Augen und murmelte etwas wie "Wozu?", während er sich hinter Caspar auf die Maschine setzte. Caspar wollte anfahren, doch da kam Virginia, die die Szene offenbar aus einem der Fenster heraus beobachtet hatte, aus dem Haus gerannt. Sie wedelte wild mit einer Daunenjacke und ließ Alain nicht eher mit Caspar mitfahren, als bis dieser, ergeben seufzend, die Jacke angezogen und bis zum Hals geschlossen hatte. Dann küsste Virginia die Beiden noch auf die Wange und rief Caspar noch die Ermahnung, vorsichtig zu fahren, nach, doch sie waren schon um die nächste Kurve verschwunden. Alain war der mütterlich besorgten Dame im Stillen doch dankbar, als der eisige Fahrtwind sein Gesicht und die Hände zerschnitten. Es war schon fast einen Monat her, dass er das letzte Mal auf einem Motorrad gesessen hatte, und Caspar fuhr auch nicht unbedingt vorsichtig... Aber wahrscheinlich suchte er auch einfach nur einen Vorwand um sich an dem Mann vor ihm festzuklammern. Er zögerte lange, ehe er seine steif gefrorenen Finger unter Caspars Pullover schob. Enttäuscht zog er seine Hände wieder unter dem Wollpulli des Studenten hervor, als sie das Ziel erreicht hatten, und spürte sofort wieder, wie sie in der eisigen Luft zu kribbeln und zu schmerzen begannen. Er hatte seinen Entschluss gefasst. Er würde seine Schulden begleichen, sich von Caspar noch das Geld für eine neue Tasche geben lassen und dann gehen. /Warum weiß ich in seiner Nähe nie, ob ich wegrennen und mich verstecken soll, ihn umarmen oder nach ihm schlagen?/ Aber erst mal verschob er seine Gedanken. "Boa... wenn wir noch länger hier draußen rumstehen erfriere ich noch! Mach endlich diese verdammte Tür auf!" Während der Fahrt versuchte er sich auf die Straßen und die beleuchteten Anzeigen seines Motorrads zu konzentrieren, doch es gelang ihm eher schlecht als recht ob dieser verführerischen Nähe und als sich kalte, jedoch schnell wärmer werdende Finger über seine Haut stahlen und eine ganze Bataillon Gänsehaut über seinen Körper schickten, hätte er sich beinahe zu sehr in die Kurve gelegt und damit womöglich ihrer beider Todesurteil unterzeichnet. Caspar war nie ein übervorsichtiger Fahrer gewesen, liebte den Reiz des schnellen Fahrens, den kalten Wind, der mit seinen eisigen Fingern über ihn strich und ihn einhüllte, aber er war vor allem auch immer noch ein _sicherer_ Fahrer, der es nicht unbedingt auf einen Genickbruch und ein Leben im Rollstuhl anlegte. Nun aber fiel es ihm mehr als nur schwer, sein Bike zu lenken und einzig und allein der Gedanke, dass er mit Nathanael hinter sich um Himmels Willen keinen Unfall bauen durfte, war vielleicht dafür verantwortlich, dass sie halb erfroren, ansonsten jedoch unversehrt bei Caspars Wohnung ankamen. Aber wie mühsam es auch gewesen war, sich zu konzentrieren, als der Schwarzhaarige seine Finger zurückzog, wünschte er sich, die Strecke von seiner Mom bis hierher wäre bedeutend länger. Erst als ihn sein Engel wider Willen ungeduldig anfuhr schreckte er aus seinen Gedanken und dem Anblick des schmalen, von fließendem Ebenholz umgebenen Gesichts, schloss mit zitternden Fingern die Haustür und in der dritten Etage schließlich auch seine Wohnungstür auf. War es draußen so eisigkalt gewesen, dass Nathanael seine zitternden Finger hoffentlich der Kälte zuschrieb, so erschlug sie nun die Wärme, die in der sehr kleinen aber gemütlichen Zweizimmerwohnung herrschte. Es war fast ein Tag vergangen, seit Francis, wie seine Mutter ihn so gerne nannte (auch wenn Caspar fand, dass es eher ein Mädchenname war, und ihn nicht mochte - wobei die Alternative, immer wieder mit einer Theaterpuppe oder später mit einem Filmgeist verglichen zu werden - besonders zu Grundschulzeiten - auch nicht immer so toll gewesen war), die Wohnung auf dem Weg zu dem Jüngeren verlassen hatte und auch wenn die Heizkörper auf eine niedrige Stufe heruntergedreht waren, hatten die gut 20 Stunden völlig ausgereicht um aus seiner Wohnung eine Art - nach Weihnachten riechende - Vorhölle zu machen, was die Temperaturen anging. Er dirigierte Nathanael in sein Wohnzimmer und hechtete dann durch die Räume um die Heizkörper auszumachen und hier und da Fenster aufzureißen. Als er in der Küche war, fiel sein Blick auf ein Brotmesser, das in der Spüle lag, und für einen Moment war er versucht, alle Messer zu verstecken, doch dann ließ er sie wo sie waren. Wenn sich Nathanael wirklich um jeden Preis umbringen wollte, dann würde er es auch tun - wenn nicht mit einem _seiner_ Messer, so mit dem, das er in der Wanne plötzlich aus dem Nichts hervorgezaubert hatte. Außerdem glaubte er nicht, dass es dem Kleineren gefiel, wenn Caspar ihm belehrend mit dem Zeigefinger vor der Nase herumfuchtelte. Schnell setzte er noch Wasser für Tee auf, nahm einen imaginären Schluck Mut und Zuversicht und ging dann zurück ins Wohnzimmer. "Also... entweder du schläfst hier auf dem Sofa oder du nimmst mein Bett und ich mach mich hier breit. Ganz wie du willst", rief er betont fröhlich, um seine Unsicherheit notdürftig zu übertünchen, während er sich scheinbar gelassen mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen lehnte und versuchte nicht gleich wieder bis über den Kopf in den beiden schwarzen Tiefen zu versinken. Im ersten Augenblick glaubte Alain, die Hitze würde ihn erschlagen, doch schon wenig später fand er sie sogar sehr angenehm. Sein Körper kribbelte beim Auftauen wie verrückt und er war froh, dass Caspar raus gegangen war und so sein leises Schnurren nicht hören konnte. Ein Geruch hing in der Wohnung, wie er ihn immer im Winter in den Häusern wahrnehmen konnte. Er mochte es, wenn es überall nach Essen und Nadelzweigen roch und die Kerzen, die in den Fenstern standen. Er erschauerte als ein kalter Luftzug durch die Wohnung pfiff. Eine Gänsehaut überzog seinen Rücken. Das Gesicht in eins von den Sofakissen gedrück,t lauschte er auf das Geräusch von Caspars Schritten. /Schläft er öfters hier auf dem Sofa? Oder warum riechen die Kissen so sehr nach ihm?/ Bei dem Gedanken musste er grinsen. Alain sah auf und begegnete Caspars Blick. Anstatt ihm zu antworten streckte er sich einfach auf dem Sofa aus, drückte ein Kissen besitzergreifend an sich und schloss die Augen. Fast zwei Minuten blieb er so liegen und hörte, dass auch Caspar sich nicht von der Stelle rührte. Dann stand er auf und sah sich aufmerksam in der Wohnung um. "Wieso hast du die Fenster aufgemacht?", fragte er grinsend und gespielt zitternd. Er ging an Caspar vorbei durch alle Räume und schloss die Fenster wieder, lächelte den verdutzten Studenten entwaffnend an. "Zieh doch lieber deine Jacke aus, wenn dir zu warm ist!" Seine eigene warf er über die Garderobe und kam zurück ins Wohnzimmer. Mit geschlossenen Augen ließ er sich an der Heizung entlang auf den Boden gleiten und kuschelte sich an das heiße Metall, das ihm fast den Rücken verbrannte; wärmte seine tauben Finger. Das war so viel schöner als die eisüberzogenen Wände seiner Wohnnische. Alain starrte den Weihnachtsbaum an, ohne ihn zu sehen. Er hätte später nicht mehr sagen können, wie lange er so dagesessen hatte. Irgendwann ließ er sich auf die Seite fallen und suchte sich eine gemütliche Schlafposition. Innerlich seufzte Caspar tief. Wusste Nathanael eigentlich, was er für eine Wirkung auf den Blonden hatte? Wahrscheinlich nicht. Oder es kümmerte ihn einfach nicht. Nachdenklich, noch immer - oder besser: _wieder_ - schweigend betrachtete er den Jüngeren, der sich an die Heizung schmiegte. Er selbst wäre nach wenigen Sekunden wieder zurückgewichen vor der brennenden Hitze, aber Nathan schien sie nichts auszumachen. Im Gegenteil. Doch auch wenn der Schwarzhaarige das heiße Blech nicht als schmerzend empfand, so sah er doch deutlich wie sehr sich die sonst ganz blasse feine Haut rötete. Schnell verschwand er in sein Schlafzimmer, nahm kurzerhand sein eigenes Bettzeug, weil es schneller ging und Kissen und Decke bereits bezogen waren, machte dem Engel mit den gebrochenen Flügeln sein Nachtlager zurecht. Dann ging er leise zu dem, wenn nicht schlafenden so zumindest vor sich hin dösenden, Nathanael, lud ihn sich auf die Arme und trug ihn mit einem leichten Lächeln zum Sofa, deckte ihn gut zu. Dem Mediziner in ihm blieb dabei nicht verborgen, dass die Rötung der Haut bereits zu intensiv war, als dass sie einfach wieder verschwunden wäre. Scheinbar ohne es zu registrieren hatte der Kleine sich eine Verbrennung ersten Grades zugezogen. Nicht weiter schlimm und dennoch schmerzhaft genug, sodass der Jüngere es hätte bemerken und schon aus Reflex hätte zurückzucken müssen... Vorsichtig strich er über eine der geröteten Stellen, spürte das Blut darunter heftiger als gewöhnlich pulsieren, wie bei Schmerzen solcher Natur üblich. Das war nicht gut. Ganz eindeutig nicht gut. Aber was sollte er schon dagegen tun? Nathanael konnte alles tun und lassen wie es ihm gefiel. Wenn Caspar ihm helfen wollte, so blieb ihm nichts weiter, als die Wunden nachträglich zu versorgen - und natürlich würde er es morgen auch tun. Zumindest das würde er sich als Medizinstudent nicht nehmen lassen, und wenn er den Jüngeren dafür fesseln und knebeln musste! "Schlaf gut", flüsterte er dem schönen Jungen ins Ohr, streichelte ihm kurz über die Wange und strich dabei einige der verfitzten Strähnen aus dem blassen Gesicht, stand dann auf und löschte das Licht. Sie konnten auch morgen noch reden. Besser gesagt: sie _mussten_ reden. Leise schloss er die verglaste Tür hinter sich. Erst jetzt spürte er seine eigene Müdigkeit wieder, dafür mit umso größerer Heftigkeit. Das Motorradfahren hatte ihn mehr erschöpft als er zugegeben hätte und auch der pochende Kopfschmerz hinter seiner Stirn, an den Schläfen und im äußersten Hinterkopf, kehrte wieder in sein Bewusstsein zurück, ließ sich nicht länger verdrängen. Leise stöhnend holte er die zweite Schlafgarnitur samt den Bezügen heraus und machte sein Bett, öffnete noch einmal kurz das Fenster. Als er sich jedoch gerade seiner Bekleidung entledigt hatte und in seinen Schlafanzug schlüpfen wollte, wurde ihm mit unerwarteter Intensität schlecht, sodass er es nur noch geradeso schaffte unter die Bettdecke zu schlüpfen. Einige Sekunden später und seine Beine hätten einfach nachgegeben. Einen einzigen Vorteil hatte die Erschöpfung jedoch: Nachdem er sich ein paar Mal herumgewälzt hatte, um eine einigermaßen erträgliche und vor allem möglichst schmerzfreie Schlafposition zu finden, glitt er so schnell in einen unruhigen Schlaf, dass ein Beobachter es wohl schlicht und einfach mit einem Zusammenbruch verwechselt hätte. Trotzdem sollte es keine erholsame oder gar lautlose Nacht für ihn werden... Alain wachte nach ein paar Stunden, vor Kälte zitternd, auf und sah sich um. Sein Rücken schmerzte und er lag nicht mehr neben der Heizung. "Verdammter Arzt!", fluchte er leise vor sich hin, als er den Schlaf weit genug abgeschüttelt hatte, um wieder klar denken zu können. /Wahrscheinlich hat er mich hier hoch gelegt/. Er streckte sich und stand auf um sich aus der Küche ein Glas Wasser zu holen. Die Tischkante prallte schmerzhaft gegen seinen Hüftknochen, doch er war trotzdem zu faul, das Licht an zu machen. In der Küche war es viel dunkler als im Wohnraum, da das Küchenfenster von der Straße, und so von allen Straßenlaternen, abgewandt war. Als er sich so weit an die Dunkelheit gewöhnt hatte, dass er die Küche in ihrem nächtlich tristen Grau genauer erkennen konnte, trat er an den Kühlschrank und öffnete ihn leise. "Warum muss er auch den Tisch mitten in den Raum stellen...", grummelte er vor sich hin und rieb sich die schmerzende Hüfte. "Das hätt` auch ins Auge gehen können!" Einen Moment starrte er in den offenen Kühlschrank, dann schloss er ihn wieder. /Was wollte ich eigentlich?/ Etwas verwirrt schloss er die Tür wieder und sah sich die Notizzettel an, die Caspar überall mit Magneten festgepinnt hatte, zwar chaotisch durcheinander und trotzdem ein schönes Gesamtbild ergebend. Zeichnungen, mit Kuli gekritzelt, hingen da rum, irgendwelche Auflistungen, die Alain aber aufgrund der Dunkelheit nur als Kontraste wahrnehmen konnte, Fotos und Zeitungsausschnitte. Sein Blick fiel auf eine Kanne Tee, die neben dem Toaster stand, und er griff danach. Schon hatte er angesetzt einfach aus der Kanne zu trinken, als er sich daran erinnerte, dass er hier nur Gast war und sich wenigstens etwas besser benehmen sollte, und öffnete sämtliche Schränke, bis er die Tassen gefunden hatte. /Wer bewahrt Tassen auch schon unter der Spüle auf?/, entschuldigte er sich bei sich selbst für sein langes Suchen. Er setzte sich auf die Anrichte und trank den Tee, nachdenklich auf den Kühlschrank gegenüber starrend. Alain lauschte auf jedes leise Geräusch, das Grummeln der Heizung, das Knarren des Gebälks, den Wind, der an den Fenstern rüttelte und große, weiche Schneeflocken dagegen trieb, und zuckte zusammen, als er ein leises Stöhnen vernahm. Vor Schreck hätte er fast seine Tasse fallen gelassen, wenn sich seine Finger nicht gleichzeitig so verkrampft hätten, dass es ihm unmöglich gewesen wäre sie abzustellen. Einige Momente saß er einfach nur da und wartete, bis sein Herz aufhörte wild gegen seine Brust zu hämmern und seine Hände sich wieder entspannten, ehe er sich von der Anrichte gleiten ließ und hinüber in Caspars Schlafzimmer ging. Caspars Zimmer war vom Licht einer Straßenlaterne erhellt und Alain kniff die Augen zusammen. Nach der Dunkelheit, die in der Küche geherrscht hatte, war ihm selbst dieses Dämmerlicht unangenehm. Als er das Zimmer wieder erkennen konnte sah er sich nach Caspar um. Der junge Mann warf sich in seinem Bett unruhig hin und her, murmelte im Schlaf vor sich hin. Ab und zu entschlüpfte seinen Lippen ein leises Stöhnen. Schweiß rann über sein Gesicht. Die Decke hatte er von sich getreten und Alains Blick wanderte zu dem offenen Fenster. Mit drei schnellen Schritten trat er vor um es zu schließen. Zumindest sah so die Theorie aus. Tatsächlich verhedderte er sich nach dem ersten Schritt in Caspars Pullover, den dieser achtlos auf den Boden geschmissen hatte, und er stolperte mehr gegen die Scheibe, als dass er darauf zu getreten wäre. Hastig sperrte er den kalten Wind aus, schaufelte vorher noch den sich schon auf der Fensterbank angehäuften Schnee nach draußen und drehte sich dann wieder zu dem Schlafenden um. Zögernd trat er einen Schritt näher, legte die Hand auf Caspars Stirn um ihn zu beruhigen. Er zog sie jedoch sofort zurück. Caspar glühte. Alain verließ den Raum und machte sich auf die Suche nach einem Badezimmer. Da er keine Lust hatte, erst nach einem frischen Handtuch zu suchen, nahm er einfach das, das neben dem Waschbecken hing, drehte das kalte Wasser auf und tränkte den Stoff. In dem Medizinschrank daneben kramte er eine Weile herum, bis er einsah, dass er im Dunkeln nichts finden würde und entschloss sich das Licht an zu machen. Es dauerte eine Minute, bis seine Augen sich an das künstliche, grelle Licht gewöhnt hatten, doch dann fand er recht schnell, was er suchte: Unter Pflastern (einige mit bunten Bildchen drauf, wie er kichernd feststellte) vergraben lagen ein paar kleine, silberne Blechdosen. Alain war sehr dankbar dafür, dass Caspar die Dosen alle extra beschriftet hatte, und er so recht schnell die mit der Aufschrift "Fieber" fand. Er steckte sie in die Hosentasche, griff sich die Packungsbeilage und wollte den Schrank schon schließen, als ihm die "Beruhigung"-Dose ins Auge fiel. Hastig und mit einem leichten Anflug von Schuldgefühlen schluckte er drei der Pillen und setzte sich in der Küche an den Tisch, um unter der inzwischen erhellten Lampe besser lesen zu können. Das nasse Handtuch hatte er in die Spüle geworfen und saß nun etwas unschlüssig über dem in winziger Schrift bedrucktem Papier. Es dauerte fast fünf Minuten, bis er den Text so weit genug entschlüsselt hatte. Mit einem Schulterzucken griff er sich das Handtuch, füllte seine Tasse wieder mit Tee und tapste zurück in das dunkle Zimmer des Studenten. Alain traute sich nicht Licht anzumachen und stolperte natürlich, aus der hellen Küche kommend, wieder über die überall verstreuten Dinge. Er spürte wie seine stechenden Kopfschmerzen langsam nachließen und zog in Erwägung, noch einmal ins Bad zu gehen und sich noch eine Tablette zu holen, doch in diesem Moment stöhnte Caspar wieder leise. Wie um irgendetwas zu entkommen warf er sich hin und her. Die Tasse klapperte leise, als Alain sie vorsichtig auf dem Nachttischchen abstellte. Er beugte sich über den Blonden, strich ihm vorsichtig einige schweißverklebte Strähnen aus dem Gesicht und legte ihm das kalte Handtuch auf die Stirn. Dann nahm er ihn in den Arm, richtete ihn vorsichtig, versucht den anderen nicht zu wecken, in eine aufrechte Position und schob ihm eine Tablette zwischen die Lippen. Alain setzte sich am Kopfende des Bettes auf Caspars Kissen, zog den glühenden Körper des anderen leicht an sich, so dass dieser sich gegen seine aufgestellten Beine lehnen konnte, und flößte dem Mann einige Schlucke des Tees ein, bis er sicher sein konnte, dass er auch die Tablette mitgeschluckt hatte. Dann ließ er Caspar wieder auf seine Matratze gleiten, seinen Kopf in Alains Schoß gebettet und strich ihm beruhigend über die Wange, bis er nicht mehr ganz so stark zitterte. Vorsichtig, um Caspar nicht aufzuwecken erhob sich Alain wieder, holte die Decke des Älteren und deckte ihn ordentlich zu. Er war schon fast zur Tür hinaus, als er noch einmal zurück sah. Casper sah wirklich mitleiderregend aus, wie er da so allein in dem recht großen Bett lag. Er hatte wieder angefangen zu murmeln und zu wimmern. Seufzend drehte er sich um, ging zu seiner Couch zurück, zog sich Jeans und T- Shirt aus und legte sich wieder hin, eng in seine Decke gewickelt und auf das leise Wimmern aus dem Nebenzimmer lauschend. Kapitel 5: - Ein Wintermärchen - -------------------------------- Leise stöhnend öffnete Caspar vorsichtig die Augen. Sein Wecker zeigte ihm in roten Leuchtziffern eine viel zu frühe Zeit an und am liebsten hätte er die Augen geschlossen und weitergeschlafen, doch er wusste genau, dass er es trotz seiner nicht gerade rosigen Verfassung nicht mehr können würde. Dabei war es allerdings nicht so, dass es ihm schlecht ging - im Vergleich zu gestern Nacht war er um genau zu sein geradezu lebendig, allerdings fühlte er sich schwach und ausgelaugt, müde und betäubt... Und zudem völlig orientierungslos: Verwirrt versuchte er herauszufinden, wo er war, bis ihm völlig klar wurde, dass es wirklich _sein_ Wecker war und er in _seinem_ Bett lag. Sehr langsam richtete er sich auf, begann sich leicht zu strecken um seinen Kreislauf in Schwung zu bringen, bemerkte dabei nicht wenig erstaunt ein noch leicht feuchtes Handtuch in seinem Schoß, das wohl auf seiner Stirn gelegen hatte, obwohl es eigentlich im Bad sein sollte. Und auch das Fenster, das er gestern nicht mehr hatte schließen können, war nun fest verriegelt, um Kälte und Wind auszuschließen. Einige Minuten des angestrengten Nachdenkens vergingen bis ihm endlich wieder einfiel, _wer_ gestern noch auf seinem Motorrad gesessen hatte: /Nathanael!/, dachte er mit einem dankbarem Lächeln auf den Lippen. Noch immer müde, nun aber deutlich besser gelaunt, stand er auf, brachte als erstes das Handtuch zurück und kramte in dem Schrank, in welchem er unter anderem auch verschiedene Medikamente aufbewahrte, nach einem neuen. Plötzlich aber stutzte er, besah sich seine Medizin genauer. Die Dose mit den Fiebertabletten hatte ihren angestammten Platz verlassen und diejenige, die Beruhigungsmittel enthielt, stand sogar noch offen herum. /Ach Kleiner.../ Seufzend schloss er sie, beließ es aber bei einem Kopfschütteln, brachte kurz die Morgentoilette und eine Mini-Dusche hinter sich, um den kalten Schweiß, der unangenehm auf seiner Haut klebte, loszuwerden und richtig aufzuwachen. Schließlich betrat er leise sein kleines aber gemütliches Wohnzimmer, erblickte auch gleich den Schwarzhaarigen als würde sein Blick wie magisch von ihm angezogen. Sanft lächelnd zog er ihm die verrutschte Decke wieder über die Schultern, strich ihm ein paar kleine Haarsträhnen von der neckisch nach oben gebogenen Nase. "Manchmal kannst du echt süß sein...", lachte er leise, um den Schlafenden nicht zu wecken, ging dann in die Küche, um schon einmal das Frühstück vorzubereiten. Er wusste zwar nicht, was der Schwarzäugige mochte, aber schätzungsweise war er nach einem jahrelangen Leben auf der Straße ohnehin nicht sonderlich wählerisch. Also begann er sich an seine Aufgabe zu machen, konnte aber auch, während er Brot schnitt und verschiedene Sachen wie gekochte Eier, Brotbeläge und - aufstriche sowie Gemüse anrichtete, nicht aufhören, über den Jüngeren nachzudenken. /Wie soll es jetzt nur mit dir weitergehen...?/, überlegte er hilflos, hielt kurz inne darin, Tomaten zu schnippeln, und auf einmal fiel ihm ein, dass Nathanael schließlich auch noch einen... _Job_ hatte, fragte sich, ob er nicht Ärger bekommen würde, da er doch einen Tag nicht zur "Arbeit" erschienen war. Tief seufzend ging er zu dem Jüngeren, um ihn für das Frühstück zu wecken, während der Kaffee durchlief. "Aufwachen, Kleiner! Es gibt Frühstück", flüsterte er leise, nachdem er sich vor der Couch hingehockt hatte um etwa auf gleicher Höhe mit dem Liegenden zu sein, rüttelte ganz leicht an dessen linker Schulter. Nach einer unerwartet ruhigen Nacht erwachte Alain, als ihm die Sonne direkt ins Gesicht schien. Aber seine Umgebung war so warm und gemütlich, dass er sich einfach "weigerte" aufzuwachen und mit geschlossenen Augen liegen blieb und versuchte sich selber vorzuspielen, er würde noch schlafen. Fast hatte er es geschafft wieder einzudösen, da fiel auch schon ein Schatten über sein Gesicht und eine große, warme Hand schüttelte ihn an der Schulter. Unwillig öffnete er das linke Auge und sah den blonden Mann über sich prüfend an, ob er es wert wäre, dass er für ihn seine Wiedereinschlafpläne verwarf. Grummelnd warf er einen Blick auf das Frühstücktablett und drehte sich wieder zur Seite. "Ich frühstücke _nie_!", teilte er ihm nur mit und kuschelte sich fester in die Bettdecke. Der weiche, warme Bezug fühlte sich so gut auf seiner von der Kälte ausgetrockneten Haut an. Noch immer nur das rechte Auge geöffnet haltend, verrenkte sich Alain ein bisschen um von seiner Position aus auf die Küchenuhr sehen zu können. Neun Uhr! Normalerweise schlief er um diese Zeit noch. Vor sich hin fluchend rappelte er sich dann doch etwas hoch und sah sich um. Sein Blick fiel auf das Tablett mit Essen, dass Caspar auf dem Couchtisch abgestellt hatte. "Hat Virginia die Tischdecke da gehäkelt?", fragte er beiläufig, während er die Wände mit Blicken abtastete. Da er keinen Kalender fand war er dann gezwungen Caspar nach dem Datum zu fragen. "Der 23.12.", antwortete ihm der Student und Alain stöhnte leise auf. "Ich muss nachher noch mal weg!", erklärte er dem Anderen. Sein Blick wanderte wieder zurück zu dem liebevoll hergerichteten Frühstückstablett. /Du solltest dir abgewöhnen, so früh zu essen! Sonst hast du den Rest des Tages Hunger und kannst in der Nacht nicht arbeiten!/, hallten die Worte eines Kollegen durch seinen Kopf. Er hatte sich immer daran gehalten und daran gewöhnt: Essen erst nach verrichteter Arbeit! "Ich hab nämlich noch einen Termin mit einem Kunden.", plapperte er einfach weiter. "Der ist vor einer Woche nach längerer Abwesenheit wieder in die Stadt gekommen und ist dann auch gleich zu mir gekommen um mich um ein... Rendezvous zu bitten. Franklin ist Friseur! Er hat versprochen sich erst mal um meine Zotteln zu kümmern", Alain zupfte leicht verlegen an einer verfilzten Haarsträhne. "Dafür kriegt er nen Rabatt!", fügte er noch etwas leiser hinzu. Dann stand er auf und schälte sich aus seiner Decke. "Darf ich mal dein Bad benutzen? Ich hab's zwar gestern schon ein bisschen durchwühlt, aber ich glaube ich sollte der Höflichkeit wegen noch mal nachfragen!" Er grinste Caspar an. "By the way, wie geht's dir eigentlich? Ich hoffe mal ich hab dir die richtigen Tabletten gegeben! Ich hab mich dabei nämlich auf deine Beschriftungen verlassen. Also wenn ich dir jetzt irgendein blödes Potenzmittel oder Hustenbonbons gegeben habe bist du selber schuld!" Das Grinsen erstarb kurz darauf wieder. "Hast du was dagegen, wenn ich... mir hier.. naja.. du weißt schon, das Zeug, das du mir gestern gegeben hast?" Unsicher sah er dem anderen in die Augen. Wie würde er wohl reagieren? Alain wandte den Blick ab und sah zu Boden, wobei ihm erst auffiel, dass er weder Hose noch T-Shirt trug. Einen Moment wollte er schon Caspar zur Rede stellen, doch dann fiel ihm wieder ein, dass er sich in der Nacht dann selber noch ausgezogen hatte. So griff er einfach nach der Hose, das T-Shirt ließ er einfach liegen. Es war warm genug... eher etwas _zu_ warm. Er ging los und drehte als erstes die Heizungen ein Stück runter. Dann wandte er sich wieder zu Caspar um, beobachtete ihn nur stumm an das Fensterbrett gelehnt und strich gedankenverloren über die Narbe. "Mir geht es wieder gut, danke...", flüsterte der Blonde leise und freute sich, dass Nathanael so gelassen war und weder Angst noch Misstrauen zeigte, - zumindest bis er auf seinen Kunden und dann auch noch die Drogen zu sprechen kam. Mit gefrorenen Gesichtszügen wandte er sich ab, vergrub seine Finger fest in der Decke auf der Couch bis er sich einigermaßen beruhigt hatte und erwiderte dann leise knurrend: "Natürlich habe ich etwas dagegen!!! Aber du nimmst es ja sowieso, also mach schon..." Tief atmete Caspar durch, ließ schließlich seine Finger aus dem Stoff gleiten, stand auf und sah dem Jüngeren fest in die Augen: "Hier kann ich wenigstens aufpassen, dass du nicht zu viele nimmst..." Einen Moment lang ließ er seinen Blick über die gleichzeitig unsicher und entspannt wirkende Gestalt an seiner Heizung schweifen, kam dann langsam näher, blieb erst stehen, als er mit ausgestrecktem Arm die schwarzen Haare berühren konnte, mit dem restlichen Körper aber noch etwas mehr als einen halben Meter entfernt stand. "Und was deine ‚Zotteln' angeht... Das mache ich! Du nimmst schon so viel weniger als du mit deinem", er schluckte trocken, "Körper und... Talent... verlangen könntest. Außerdem musst du _mir_ nichts dafür zahlen - ich hoffe, du weißt das inzwischen... Ebenso wie dir meine Tür jederzeit offen steht, egal wann und wieso und, _ohne_, dass du etwas dafür tun musst, hast du verstanden?" Er begegnete Nathanaels undefinierbarem Blick, der fragend hochgezogenen Augenbraue, wechselte errötend schnell wieder das Thema: "Jedenfalls... Ich bin zwar angehender Mediziner und kein Frisör, aber so etwas kriege ich auch noch hin... Ruf mich einfach, wenn du fertig bist... Ein frisches Handtuch findest du im Fach unter den Medikamenten und frische Unterwäsche-" Caspar stockte, beobachtete wie die schlanken, nervösen Finger über die frische Narbe strichen, konnte sich nicht davon abhalten, ebenfalls zart über das verwachsene Gewebe zu streichen und - zuckte erschrocken zusammen, stolperte einen Schritt zurück, bevor er hastig seinen Satz beendete: "...bring ich dir dann noch rüber!", und irgendetwas von seinem Kaffee murmelte um regelrecht vor dem Kleineren in die Küche zu fliehen. Heftig atmend ließ er sich auf einen der beiden Küchenstühle sinken, legte seine Stirn und die Handinnenflächen auf die kühle Tischplatte. "Scheiße, ich werd noch mal wahnsinnig wegen dir", murmelte Caspar halb lachend, halb verzweifelt. Aber wenn... Vivien Recht behalten sollte und er sich tatsächlich in den Kleineren verliebt hatte... - was war dann mit all seinen Beziehungen vor "Nathanael"? Selbst Samuel hatte ihn niemals derart aus der Fassung gebracht, sein Herz so hart schlagen lassen, dass er nicht mehr wusste, wer er eigentlich war... Niemals hatten ihm solch kleine Gesten wie ein offenes Grinsen soviel bedeutet wie jetzt. Niemals hatte sich verfilztes Haar oder vernarbte Haut so unglaublich, so... _wunderschön_ angefühlt, ihm eine Gänsehaut über den Körper gejagt, die einfach nicht mehr schwinden wollte, einfach, weil sie zu _ihm_ gehörten... Plötzlich blinzelte er, runzelte die Stirn. /Da war doch noch irgendetwas... bloß wa- SCHEISSE! DIE UNI!/ Erschrocken blickte er auf die Küchenuhr und sank seufzend wieder zusammen. Erst kurz nach neun. Also hatte er noch gut zwei Stunden bis er da sein musste, weil er donnerstags immer später aufstehen konnte, dafür aber länger als sonst in der Uni bleiben musste. Seufzend trank er den mittlerweile nur noch lauwarmen Kaffee und ging dann in sein Schlafzimmer, um Wäsche für den Kleinen und sich herauszusuchen, überlegte dabei was er mit Nathanael machen sollte, da seine Zweitschlüssel bei Jake waren. Als der Schwarzhaarige ihn schließlich zu sich rief, ging er grübelnd ins Bad, reichte ihm ein Paar frischer Boxershorts, war immer noch in Gedanken, was allerdings wohl auch ganz gut so war, in Anbetracht der Tatsache, dass der Jüngere gerade so schön und vor allen Dingen _nackt_ wie Gott ihn schuf vor ihm auf den kalten Fließen stand. "Hör mal, ich muss dann auch noch weg zur Uni. Du weißt ja, ich bin Student. Ich weiß ja nicht wo du", er räusperte sich mit brennenden Wangen, "_verabredet_ bist, aber wenn du willst, kann ich dich mit in die Innenstadt nehmen und wenn du... fertig bist, kommst du einfach zu mir. Die meisten Professoren haben normalerweise nichts dagegen, wenn mal ein Gast in ihren Vorlesungen sitzt... Notfalls erzählen wir denen einfach, dass du später Medizin studieren willst, dann fressen sie dir aus der Hand... Jedenfalls musst du dann nicht hierher laufen und vor der Tür warten bis ich komme. Ich hätte dir ja auch meinen Zweitschlüssel geben, aber den hat Jake..." Blinzelnd sah er auf, als er bemerkte, dass er bisher mit seiner Zahnbürste geredet hatte, auf die er gerade etwas Zahnpaste gab, und setzte noch ein "In Ordnung?" hinzu, bevor er begann, seine Zähne zu putzen und abwartend zu dem Kleineren hinunter sah. Alain löste sich zögernd von der Heizung und machte sich in Richtung Bad auf. Er zog die Dose mit den Tabletten aus der Hosentasche, nahm eine heraus und biss ein Stückchen ab. Schließlich wollte er nicht völlig abwesend auf Caspars Teppich liegen... Im Bad schlüpfte er schnell aus Jeans und T-Shirt, stellte sich unter die Dusche und ließ das Wasser heiß über seinen Körper rinnen. Es war schon eine ganze Weile her, dass er sich das letzte Mal warm gewaschen hatte. Alain bedauerte es, die Dusche wieder verlassen zu müssen, raffte sich dann aber doch auf und kramte, den Boden volltropfend, nach einem Handtuch. Das dauerte bei ihm etwas länger, da er sich nicht zwischen dem dunkelroten und dem hellgrünen entscheiden konnte. Um den Konflikt zu umgehen, griff er sich dann doch ein dunkelblaues und trocknete sich ab. Irgendwie fühlte er sich toll. Die Schmerzen des Entzuges waren verschwunden, ihm war warm und er würde heute bestimmt nochmal was zu Essen bekommen. Er gab Caspar Bescheid und spülte sich den Mund noch mit einem selbst hergestellten Zahnpasta-Mundwasser aus, bis der Ältere auftauchte. "Was soll ich denn in der Uni?", fragte er verwirrt. "Ich war nicht mal in der Schule, ich kann nicht schreiben und nur sehr sehr schlecht lesen.", gab er zu und hielt Caspar auffordernd einen Kamm hin. Die Shorts, die dieser mitgebracht hatte, streifte er schnell über, stutzte und kicherte leise. Der Stoff hing grad so noch auf seiner Hüfte und erfüllte seinen Zweck nicht ganz. Alain zog die Hose höher, aber sie rutschte sofort wieder zurück. Er zuckte mit den Achseln, wackelte leicht mit der Hüfte, so dass der Stoff ganz zu Boden glitt und stieg dann einfach ohne Unterwäsche in seine Jeans. "Franklin wollte mich bei dem Friseur neben dem Campus treffen, da arbeitet er nämlich. Da passt das doch ganz gut. Aber ich glaube wirklich, dass das nicht so gut wäre, wenn ich da bei dir im Unterricht dabei bin. Denn der Professor wird sicher wütend, wenn er merkt, dass ich nichts von dem verstehe, was er erzählt, und am Ende lässt er das dann noch an dir aus, dass du solche Leute mit anschleppst... Nee, lass mal. Außerdem kann ich mich in meinen Klamotten da nicht sehen lassen und dein Zeug passt mir ja nicht, wie wir eben festgestellt haben." Alain überlegte eine Weile, zuckte dann abermals mit den Achseln und drehte sich weg um sein T-Shirt wieder anzuziehen. Er würde sich schon irgendwie beschäftigen. Etwas ungeduldig begann er dann mit dem Kamm zu wedeln und sah demonstrativ auf die Uhr. Wenn Caspar das unbedingt selber machen wollte, bitte, aber dann musste er das tun, bevor Alain zu Franklin ging, weil der nichts weniger ausstehen konnte, als strubbelige Haare. Und Alains Mähne war schon jenseits von allen Strubbeln. Wieder rauschte ein warmer Schauer durch Caspar, als er sah wie ungewohnt entspannt Nathanael vor ihm stand. Er nickte leicht, "Das habe ich mir schon gedacht...", dann zuckte er auch schon mit den Schultern. "Solange wir uns irgendwie verständigen können ist das doch egal, oder? Und um etwas zu verstehen musst du nicht lesen und schreiben können, sondern nur ein bisschen Verstand haben und den traue ich dir durchaus zu... Na wart einfach mal Weihnachten ab - das Christkind hat mir versprochen, dir auch was mitzubringen", lächelte er geheimnisvoll, nachdem er sich den Mund ausgespült hatte. Als er jedoch sah, wie der Schwarzhaarige versuchte seine Shorts anzuziehen und sie dann mit gekonntem Hüftschwung wieder abschüttelte, wurde sein Mund ganz schnell äußerst trocken und er musste sich wirklich _zwingen_ um sich auf die schwarzen Augen zu konzentrieren, die ihn auch noch eindeutig provokativ anfunkelten - oder bildete er sich das nur ein und er war einfach nur kurz davor, die Beherrschung zu verlieren? Jedenfalls seufzte er eindeutig enttäuscht als Nathanael absagte, nahm dann aber wortlos den Kamm, zog den Jüngeren aus dem Bad heraus in sein Schlafzimmer, weil er auf seinem Bett deutlich mehr Platz hatte und es auch viel bequemer war. Das Erste, was er dann tat, war aber den Kamm wieder beiseite zu legen. Die schwarzen Haare glänzten zwar noch immer schön, waren aber wirklich dermaßen durcheinander, dass der Kamm einfach stecken bleiben würde und er wollte ihm ja nun auch keine Halbglatze verpassen indem er ihn mal eben ein paar tausend Haare ausriss. Mit ein paar Griffen hatte er Nathanaels Kopf ein wenig nach vorne geneigt, dann kauerte er sich neben ihn und setzte vorsichtig mit seinen Fingern an, teilte das Haar geduldig in mehrere Zentimeter breite Strähnen, die dann nach und nach entwirrt wurden. Es war eine mühselige und langwierige Arbeit, da er irgendwie Hemmungen hatte dem Kleineren wehzutun, und deshalb lieber jedes Haar einzeln entwirrte anstatt sie mit einem kräftigen Ruck voneinander zu trennen... Trotzdem genoss er es sehr, genoss das Gefühl des weichen Haares unter seinen Fingerkuppen, aber auch die samtige Haut des Nacken und des Halses, die er ab und zu zufällig berührte. "Ist es dir etwa lieber stundenlang in der Kälte rumzustehen? Die werden dich schon nicht auffressen! Da sind doch außer dem Prof bloß ein paar Studenten, die zumeist auch nicht soo gut betucht sind. Und wenn du neuerdings schüchtern wirst, kannst du dich gerne hinter mir verstecken - groß genug bin ich ja... Allerdings glaube ich, dass die Meisten deine Kleidung nur insofern stören wird, dass sie dich lieber _ganz_ ohne sie sehen wollen würden...", erwiderte er grinsend, stockte dann jedoch schuldbewusst. Caspar hatte diese Anzüglichkeit nur so vor sich hin gesagt, wie er es von seinen Freunden eben auch gewohnt war, doch von denen musste ja auch keiner seinen Körper verkaufen und er wollte nicht, dass Nathanael ihn falsch verstand. Ohne dass er recht wusste, was er tat, zog er den Kleineren schnell in seine Arme, seufzte erstaunt auf, schien der harte und zugleich anschmiegsam weiche Körper doch wie für seine Arme gemacht, vergrub sein Gesicht nahe dem rechten Ohr Nathanaels in dessen mittlerweile weitestgehend wieder in Ordnung gebrachten Haar und flüsterte entschuldigend: "Tut mir Leid. Es war nicht _so_ gemeint, ja? Ich hab nur einfach nicht nachgedacht, bevor ich das gesagt habe..." Schluckend atmete er den betäubend süßen Geruch des Jüngeren ein, in den sich nun noch der schwache Duft seines Duschgels mischte, streichelte selbstvergessen über den flachen Bauch, auch wenn ihn das T-Shirt eindeutig störte... Andererseits hätte seine Entschuldigung wohl eher weniger glaubhaft geklungen, wenn er gleich darauf lüstern über seinen schwarzen Engel hergefallen wäre... Alain schloss die Augen und konzentrierte sich nur auf die Finger, die sich sanft und vorsichtig durch seine Haare arbeiteten. Es war schön sich so entspannen zu können. Wo waren nur seine Reflexe und Paranoia geblieben? Egal! Er vermisste sie nicht! Eine Weile lag er einfach nur da und genoss die Berührungen des Älteren. Dann zwang er sich dennoch die Augen zu öffnen und auf die Uhr auf Caspars Nachttisch zu sehen. Es war eine Digitaluhr. Mit denen hatte Alain noch Probleme, da er das Uhrenlesen auf die selbe Art gelernt hatte wie das Entziffern von Buchstaben: nämlich indem er die Passanten am Bahnhof nach der Zeit gefragt hatte, die sich dann (meist genervt) umgedreht und auf die nächstbeste Bahnhofsuhr gezeigt hatten um ihm die Uhrzeit provokativ langsam und deutlich vorzulesen. Nur leider hatten fast alle Bahnhöfe und U-Bahnstationen noch analoge Uhren, oft auch ohne Ziffern. Aber er wollte sich auch nicht die Blöße geben, Caspar nach der Zeit zu fragen, nachdem er die Uhr schon so lange angestarrt hatte. So musste er wohl oder übel anfangen die einzelnen Zahlen zu entziffern. /Warum nehmen die da so komische, eckige Zahlen?/, fluchte er innerlich und konzentrierte sich weiter auf die grün leuchtende Anzeige. 1...0...? 10! und das Andere... /Woher soll ich denn wissen, welcher der beiden Schnörkel eine Fünf sein soll und welcher eine Zwei?/. Aber falls es tatsächlich 10:52 heißen sollte hätte er jetzt wirklich ein Problem. "Du, Caspar?", er stupste den Mann hinter sich mit dem Ellebogen an. "Ich weiß ja nicht, wie schnell _du_ läufst, aber ich glaube _ich_ müsste demnächst los... Wir treffen uns nämlich um 11 Uhr. Und jetzt ist es schon... ziemlich spät. Ich glaube, da du die Haare jetzt schon entwirrt hast werden wir nicht viel länger als... zwei Stunden brauchen. Wenn du mir sagst wo, kann ich ja mal bei deinem Unterricht vorbeischauen." Er löste sich von Caspar und glitt geschmeidig vom Bett und sah dann auffordernd zu ihm zurück. Er wollte sich schon umdrehen, als er noch mal stockte. "Du hast nicht zufällig ein etwas engeres T-Shirt, das du mir mal borgen könntest? Ich komme mir da wirklich doof vor, in so schmutzigen, kaputten Sachen aufzutauchen. Ich weiß doch, dass die Uni eine Schule für ganz Tolle ist!" Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die Finger angespannt in der gewohnten Erwartung gleich in einem Knoten hängen zu bleiben, doch nichts passierte. Er versuchte es noch ein paar Male und lächelte Caspar dann dankbar an. "Ich sollte die Haare wohl wirklich nicht so lang tragen.", meinte er, leicht errötend. "Jetzt hast du einen ganzen Vormittag deine Freizeit an meiner Unfähigkeit meine Haare in Ordnung zu halten verloren. Das tut mir Leid! Ich versuch's irgendwann wieder gut zu machen. Da ich ja, wie du inzwischen weißt, kein Geld habe kann ich's ja abarbeiten..." Er überlegte einen Moment, sah den anderen nicht an. "Ich könnte zum Beispiel mal deine Wohnung durchputzen oder so was...", meinte er, während er seine Schuhe suchte und hineinschlüpfte. Er stockte wieder, spielte mit den ungewohnt lockeren Haarsträhnen, streifte die Schuhe noch einmal ab und kam ins Schlafzimmer zurück. "Hast du nun ein T-Shirt? Ich mach's auch nicht kaputt oder dreckig! Du kriegst es in ein paar Stunden zurück! Ich kann's dir auch gewaschen zurückgeben, wenn dir das lieber ist." Alain legte den Kopf schief und sah Caspar bittend an. /Irgendwie ist es schön mit jemandem reden zu können.../, dachte er. /Vielleicht war es doch eine gute Idee, Virginias Einladung anzunehmen./ "Ich wollte dich übrigens nicht von deiner Mutter verjagen... Falls du ihr wegen mir abgesagt hast...", er brach ab. Wieso nahm er sich nur so wichtig? Vielleicht hatte Caspar auch einfach keine Lust die Feiertage bei einer älteren Dame zu verbringen? Vielleicht wartete er einfach nur schon lange auf eine Gelegenheit, sich den Tag für eine Studentenfete frei zu räumen? Caspar erwachte wie aus einem Traum. Er schluckte leicht, nickte dann aber, auch wenn der andere dies nicht sehen konnte, und murmelte leise: "In Ordnung... Ich fahre dich, dann kommst du nicht zu spät zu... deiner Verabredung. Ich möchte nicht, dass du Ärger bekommst, weil ich nicht auf die Zeit geachtet habe..." Bedauernd nahm er war, wie der weiche schlanke Körper seinen Armen genommen wurde, und schaffte es vermutlich nicht ganz, die Sehnsucht aus seinem Blick zu bannen. Jedenfalls dauerte es eine ganze Weile bis er seiner Stimme wieder über den Weg traute, weshalb er den Jüngeren eine Weile lang reden ließ. Als Nathanael sich jedoch schließlich in seinem Redefluss unterbrach, sah er ein, dass es Zeit wurde einmal wieder etwas zu sagen. "Doch, lass sie so - so sind sie wunderschön. Und ich habe es wirklich gern gemacht...", erwiderte er also rau, ohne recht zu begreifen was er sagte. Als er es schließlich tat, wurde er leicht rot und fügte hastig hinzu: "Ich hab noch ein schwarzes Oberteil von einer Exfreundin. Eigentlich wollte ich es ihr wiedergeben, aber da sie es bevorzugt hat, nie wieder mit mir zu reden und ich vergessen habe, es wegzuschmeißen, dürfte es noch irgendwo in meinem Schrank rumliegen. Ich denke es dürfte dir passen und dass es eine Frauenklamotte ist, sieht man ganz bestimmt nicht... Heutzutage kann man Männlein von Weiblein ja sowieso oft nur noch unterscheiden, wenn sie nackt sind... Wenn du magst kannst du es behalten, ich kann eh nichts damit anfangen..." Schnell stand er auf und wühlte in seinem Kleiderschrank, um nach kurzer Zeit das langärmelige, enganliegende Oberteil hervorzuzaubern, das zwar eindeutig aus einer Kunstfaser hergestellt worden war, sich aber fast genauso wie feine Seide anfühlte. /Oder seine Haut.../, bemerkte die Stimme in seinem Hinterkopf hämisch, bevor er sie zum Verstummen bringen konnte. "Da", sagte er nur rau und verschwand schnell in der Küche, während der Schwarzhaarige sich umzog. Betont langsam nahm er den Plan von der Pinnwand, auf dem seine Vorlesungen und die dazugehörigen Säle angegeben waren, um Nathanael genügend Zeit zu geben. Dann drehte er sich um, ging zurück Richtung Schlafzimmer, aus dem der Kleinere gerade trat, und drückte ihm wortlos das Papier in die Hand. Während der Kleinere ungeduldig an der Tür wartete, holte er noch schnell seinen Laptop und alle anderen Dinge, die er für die Uni brauchte, dann schob er den Schwarzäugigen auf den Flur hinaus, schloss schnell ab und verfrachtete den lebendigen Engel an seiner Seite auf den Beifahrersitz. "Wo soll ich Sie absetzen, junger Herr?", fragte er lächelnd, während er den Motor startete und anfuhr. Er folgte den Anweisungen zu einem eigentlich einen sehr guten Eindruck machenden Friseursalon für die etwas bessere Mittelschicht. Caspar fragte sich, ob auch nur ein einziger der Kundschaft von der Päderastie seines Friseurs wusste, denn der Blonde konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Nathanaels Kunde ein gutaussehender Anfangzwanziger sein sollte, der gerade erst seine Ausbildung abgeschlossen hatte. Lautlos seufzend ließ er den Jüngeren aussteigen und erinnerte ihn an sein Versprechen, zur Uni zu kommen, dann winkte er noch einmal mit einem verzerrten Lächeln und fuhr wieder los, da er mangels Park- oder auch nur Standplatz in zweiter Reihe gehalten hatte und er im Rückspiegel bereits ein herannahendes Gefährt erkennen konnte. Krampfhaft versuchte er die Vorstellung in seinem Kopf zu verdrängen, die ihm vorgaukelte, dass er den Jungen gerade persönlich in die Höhle des Löwen chauffiert und ihn nun einfach zurückgelassen hatte - doch es wollte ihm einfach nicht gelingen... Unsicher trat Alain vor dem Laden von einem Fuß auf den anderen. Hoffentlich war er nicht viel zu spät. Zögernd trat er einen Schritt auf den Laden zu und sah durch die Scheibe. Franklin stand an der Kasse und schien das Geld zu zählen, dass er bisher eingenommen hatte. Alain staunte nicht schlecht, als er mehrere größere Scheine entdeckte. Sein Kunde sah auf und löste sich von seinem Platz. Mit dem "Mittagspause"- Schild kam er zur Tür und öffnete Alain. Mit einer einladenden Bewegung bat er ihn herein und folgte, nachdem er das Schild aufgehangen und mattschwarze Rollos runtergelassen hatte. "Setz dich auf einen der Stühle und zieh dir schon mal das T-Shirt aus!", wies der drahtige Mittvierziger Alain an. "Schön, dass du dir die Haare wenigstens vorher gekämmt hast! Das erleichtert einiges! Deine Zotteln waren auch wirklich nicht zu ertragen gewesen." Alain blieb vor einem der Frisierstühle stehen und sah zu Franklin zurück. "Können wir das heute nicht mal lassen? Ich finde meine Haare toll, so wie sie jetzt sind... außerdem brauch ich alles Geld! Ich bin mal wieder mit meinen Zahlungen im Rückstand." Er sah Franklin nicht ins Gesicht, zog sich nur, unnötig langsam und aufreizend, das T-Shirt über den Kopf. Franklin musterte ihn eine Weile. Sein Blick verharrte eine Weile auf der noch unverheilten Wunde und wanderte höher, zu Alains Haar. "Los, setz dich hin! So gespalten und dreckig wie deine Zotteln wieder sind krieg ich eh keinen hoch... Sieh's als Weihnachtsgeschenk!" Der Frisör, der seine eigenen graumelierten Haare unter einer Schicht blutroter Farbe versteckt hatte, die von helleren Strähnen durchzogen war, drückte Alain auf den Sitz, zog seinen Kopf zurück, so dass er mit gestreckter Kehle vor ihm lag. Aus einem Reflex heraus zuckten Alains Hände an seinen Hals, um sich zu schützen, aber Franklin hielt seine Hände fest und fuhr mit der Zunge über die weiche Haut. Panisch versuchte sich Alain zurückzuziehen, als der Mann nun auch die Zähne einsetzte, konnte jedoch nicht ausweichen. Sanft und bedrohlich schmiegte sich das schwarze Leder des Sitzes von allen Seiten um ihn. Alain schlenderte betont locker über den Campus. Es bereitete ihm Schmerzen, zu gehen, aber das ignorierte er geflissentlich und kümmerte sich viel mehr um die Frage, wie er Caspar jetzt finden sollte. Immer wieder fuhr er mit der Hand durch sein Haar. Es war nicht viel kürzer, aber angestuft, so dass es viel lockerer in seinen Nacken fiel. /Ich sollte sie öfters waschen!/, stellte er fest, schüttelte den Kopf, so dass seine Haare im eisigen Dezemberwind wehten und lachte leise. /Vielleicht im Sommer.../ Er zog den Zettel aus der Tasche, den Caspar ihm gegeben hatte, und strich ihn glatt. Nachdenklich griff er wieder in die Tasche und zog auch noch den frisch gebügelten Geldschein heraus. Seufzend blieb er stehen. /Ich brauche noch Geschenke für Caspar und seine Mutter... Das heißt, dass ich nachher noch in die Stadt muss./ Aber als erstes ging er Caspar suchen. Nachdem er durch einige Gänge geirrt war fand er den richtigen Hörsaal. Er atmete tief durch und betrat den Raum. Der Professor sah auf und unterbrach sich kurz. "'Tschuldigung!", nuschelte Alain leise und setzte sich gleich hinten an der Tür auf den erstbesten freien Platz. Eine Weile versuchte er angestrengt zu entziffern, was an der Tafel stand, gab es aber bald auf und hörte nur noch zu. Unsicher warf er ab und zu einen Blick in die Runde, und stellte fest, dass alle außer ihm schrieben. Ab und zu streifte ihn ein Blick von anderen Studenten, meist fragende. Plötzlich zuckte er zusammen. Ein Zettel, kariert und oft zusammengefaltet, traf ihn an der Nase. Erschrocken blickte er sich um, aber keiner sah zu ihm... bis auf einem rothaarigen jungen Kerl neben Caspar, der ihm verschwörerisch zuzwinkerte. Er entfaltete den Zettel ordentlich und entzifferte den Text. 'Hey Süßer! Schon vergeben?' Alain hob wieder den Blick und sah in zwei erwartungsvoll auf ihn geheftete Augen. Er lächelte gezwungen freundlich und schüttelte leicht den Kopf. Ihm war grad nicht nach einem weiteren Kunden, aber Geld abzulehnen konnte er sich nicht erlauben. Endlich war die Vorlesung vorbei. Es war zwar interessant gewesen, aber irgendwie fühlte sich Alain so ganz allein in der letzten Reihe unwohl. Gut... er war nicht wirklich allein, aber er kannte keinen der Männer, die neben ihm saßen. Als der Professor schließlich seine Sachen zusammenpackte und einen der Studenten bat die Tafel abzuwischen, sprang Alain auf und verließ mit den anderen den Raum. Neben der Tür lehnte er sich an die Wand und wartete auf Caspar. Bevor Caspar auch nur in Sichtweite kam, trat der Rotschopf neben Alain und grinste ihn breit an. Alain lächelte zurück. "Na, dass war aber mal ne originelle Anmache!", kommentierte er mit sarkastischem Unterton. "Ich bin Cameron, und du?" Nur mit halbem Ohr auf die Antwort achtend zog Alain wieder den Zettel von Caspar aus der Tasche um zu gucken, wo sie als nächstes hin mussten, aber der Andere unterbrach ihn. "Ich heiße René.", stellte er sich vor und rückte noch enger zu dem Jungen. Alain löste sich erleichtert von der Wand, als Caspar auf ihn zu kam. "Du hast nicht zufällig einen Zettel für mich?" Alain sprach so leise, dass nur Caspar ihn hören konnte. "Die schreiben nämlich alle irgendwas mit... ich komm mir da so komisch vor. Ich hab ja gar nichts dabei und so..." Alain drehte sich wieder weg und beugte sich zu Renés Ohr. "Für 20 Dollar verschwinde ich mit dir ne halbe Stunde auf der Toilette.", hauchte er. René sah nicht so aus, als würde er am Hungertuch nagen... Der Blonde nickte und angelte nach dem linierten seiner beiden Schreibblöcke sowie einem schwarzen Kugelschreiber. "Klar kannst d-", Caspar hielt inne, während sich Nathanael wieder zu ihm drehte. Hatte er das gerade richtig verstanden? Der Kleine fing gerade an hier an _seiner_ Uni vor _seinen_ Augen seinen nächsten Kunden aufzureißen?? Wütend drückte er dem Schwarzhaarigen das Gewünschte in die Hand und mit den Worten "Da! Du kannst ja später nachkommen, wenn du _fertig_ bist!!" rauschte er zornig zum Saal seiner nächsten Vorlesung. Gereizt ließ er seinen Rucksack zu Boden fallen und trat einmal _völlig unauffällig_ gegen die Verkleidung des Tisches, die normalerweise alles was die Studenten _unterhalb_ des Tisches taten vor den Professoren verbarg. Im Moment zog sie jedoch im Gegenteil noch die Aufmerksamkeit des Profs mit einem dumpfen Laut auf sich, sodass Caspar einen mahnenden Blick auffing. Aufgebracht ließ er sich auf seinen Stuhl sinken, legte die Wange auf den rechten Unterarm, während er auf die Uhr an seinem linken Handgelenk blickte und sehnsüchtig darauf wartete, dass die Vorlesung begann. Nicht, dass sie ihn von dem schwarzäugigen Engel hätte ablenken können, der in letzter Zeit ununterbrochen durch seinen Kopf geisterte und sich dem beständigen Flattern in seinem Magen nach auch nicht selten in seinen Bauch verirrte... Traurig seufzend malte er Muster auf die schon ziemlich abgenutzte Tischplatte. Es war schon schwer genug gewesen, sich heute zu konzentrieren und die Tatsache zu verdrängen, dass der Jüngere genau in diesem Augenblick "sein Geld verdiente". Aber selbst einmal davon abgesehen, dass der andere das nicht wissen konnte, schien er auch nichts weiter von einem schlechten Gewissen oder dergleichen zu halten... /Schlechtes Gewissen? Weshalb? Ihr seid nicht zusammen - außer in deinen Wunschträumen vielleicht - schon vergessen? Er ist dir rein _gar nichts_ schuldig!/, erinnerte ihn eine hämische Stimme. Das Schlimmste aber war, dass er mit Nathans nächstem Kunden sogar locker befreundet war und nicht nur das - nein, sie waren natürlich auch schon zusammen im Bett gewesen (schließlich musste die Schwulen-und-Bi-Fraktion der Uni doch "zusammenhalten"). Zumindest in dieser Hinsicht konnte Caspar damit zwar wenigstens beruhigt sein, weil er wusste, dass René eindeutig "auf die Feder statt auf's Leder" stand und ohnehin meistens _unten_ war, aber wie zum Teufel sollte er ihm denn von nun an noch ins Gesicht sehen? Einmal ganz abgesehen von der unleugbaren Tatsache, dass _er_ ja schließlich auch schon mit Nathanael geschlafen hatte... oder wie immer man den körperlichen - wenn auch zugegebenermaßen äußerst angenehmen - Überfall des Jüngeren auf ihn nennen wollte... "Ach scheiße...", fluchte er unglücklich. Noch eine Minute, dann würde die Vorlesung beginnen - und natürlich waren weder René noch Nathanael anwesend... Er wusste nicht recht, was in ihn fuhr, aber plötzlich sprang er auf, griff nach seinen ohnehin noch nicht ausgepackten Sachen und stürmte mit gesenktem Blick an dem sicher äußerst dumm aus der Wäsche schauenden Professor vorbei, der ihm sogar noch besorgt nachrief, ob er sich nicht wohl fühle. /Ob ich mich nicht wohl fühle? Nein, Herr Professor, zu meinem Bedauern muss ich Ihnen gestehen, dass ich mich _ganz und gar nicht_ wohl fühle!!!/, dachte er schnaubend und ging in die Cafeteria, wo er "irgendwas Trinkbares" bestellte und sich dann mit seinem - wie er nach einem Blick in die Plastikflasche feststellte - Joghurtdrink in eines der hinteren Eckchen des Speiseraumes verzog. Das Getränk ließ er unangetastet, obwohl das Essen und Trinken ganz im Gegensatz zu der Schulkost seiner High School etwa durchaus zu genießen war, drehte nur die Flasche in seinen Händen und wusste nichts mit sich anzufangen. Er starrte einfach nur in das blassgelbe Getränk hinein, dachte nichts und erreichte langsam aber sicher einen Zustand absoluter Leere für den ihn jeder Meditierende beneidet hätte. Und Caspar musste zugeben, dass diese gepriesene Leere in ihm durchaus einen Vorteil hatte, denn endlich hörte er auf ständig an... Wie-hieß- er-doch-gleich zu denken und begann sich stattdessen den Kopf über die überaus wichtige Frage zu zerbrechen, ob die armen rechtsdrehenden Milchsäurebakterien möglicherweise einen Kollaps bekamen, wenn er sie ständig in die entgegengesetzte Richtung drehte... Alain sah Caspar verdutzt hinterher. Was war das denn eben? Caspar war doch nicht etwa eifersüchtig, oder? Verwirrt den Kopf schüttelnd wandte er sich wieder zu René um und wartete auf die Antwort. Der kramte gerade seinen Stundenplan heraus, wohl um zu sehen, ob er seine nächste Vorlesung unbedingt brauchte, oder ob er die nicht einfach mal ausfallen lassen konnte. Mit einem Grinsen und einem schnellen Blick über die Schulter machte er sich dann auf den Weg in Richtung Toilette und bedeutete Alain, ihm zu folgen. In der Toilette drängte René ihn an eine Wand und küsste ihn sanft, ließ seine Finger unter Alains T-Shirt gleiten. Er stockte, als er die Unebenheiten in der Haut spürte. Verwundert, hastig strich er Alains Shirt hoch, berührte mit erschrockenem Blick den noch recht frischen Schnitt auf der Brust des jungen Strichers. Die... Arbeit hatte der Naht nicht besonders gut getan, doch sie hatte gehalten. René ließ den Stoff wieder los, der geschmeidig über Alains Haut glitt und dessen Körper wieder verbarg. "Nee, Cam, ich glaub nicht, dass das, was wir vorhatten, besonders gut für dich ist!", sagte er leise und küsste Alain trotzdem noch mal. "Aber du bist süß! Krieg ich deine Handynummer? Wir können das ja mal später nachholen, wenn es dir besser geht!" Alain sah den anderen verblüfft an. Was interessierte es den, wie es ihm ging, aber er war schon dankbar, dass René ablehnte. "Ich hab kein Handy. Aber nach Weihnachten findest du mich jeden Abend in der 7th Avenue...", nuschelte er fast unhörbar, lächelte den Rotschopf kurz, und schauspielerisch gesehen perfekt, dankbar an, ehe er die Örtlichkeiten hastig verließ. Er rannte durch die Gänge, bis er den entsprechenden Hörsaal gefunden hatte, streckte den Kopf durch die Tür und stellte auf einen Blick fest, dass Caspars Blondschopf fehlte. Leise sprach er den jungen Mann in der letzten Reihe an, der auch vorhin schon neben Alain gesessen hatte, und fragte ihn nach "seinem" Studenten. Der erklärte ihm nur unwirsch, da Alain ihn ablenkte, dass der den Raum schon zu Beginn der Stunde verlassen hatte. Seine guten Manieren mal zum Einsatz bringend bedankte und entschuldigte sich der Junge und verließ den Saal wieder. Etwas ratlos schlenderte er nun durch den Gang, hörte noch, wie René wohl den Hörsaal betrat und schlenderte einfach mal in die entgegengesetzte Richtung. "C... afe..teria...", stotterte er die Aufschrift an einer der Türen zusammen und beschloss es dort mal zu versuchen. Und er hatte Glück: Über einem Joghurtdrink meditierend saß an einem der Tische ein recht abwesend wirkender Caspar. Alain setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber und sah den anderen einen Moment an, ehe er ihn auf sich aufmerksam machte. "Wieso bist du nicht in deinem Unterricht?", fragte er in Smalltalk-Laune. Er legte den Kopf schief und sah den anderen zweifelnd an. "Du bist doch nicht etwa eifersüchtig auf Franklin und René? Wenn, hast du ne echt blöde Art das rüberzubringen! Und du bist schlimmer als jeder Klischee-Ehemann. Meine neue Frisur scheint dich nämlich irgendwie auch überhaupt nicht zu interessieren... das wird nie was mit uns beiden!", scherzte er einfach drauf los und bettete seinen Kopf auf seine verschränkten Hände auf der Tischplatte, so dass er den anderen jetzt von unten her durch Anstarren nervös zu machen versuchte. Als ihm bewusst wurde wie kindisch er sich grad aufführte setzte er sich aufrecht hin und blickte Caspar wieder durch seine starre Maske des Ernstes und der Unnahbarkeit an. "Komm! Wir sind nicht verheiratet. Nicht mal zusammen. Jetzt führ dich nicht auf wie ein bockiges Kleinkind und hör auf zu schmollen!" Er spielte mit einer der bis unters Kinn reichenden Haarsträhnen. "Gehst du heute noch mal zu einer Vorlesung oder war's das bis nach den Ferien? Ich jedenfalls geh jetzt in die Stadt was einkaufen. Ich glaub deine Vorlesungen bringen mir nichts, solange ich nicht schreiben kann... Medizin hilft mir eher noch weniger durchs Leben. Vor allem wenn der von Zellen erzählt, und ich nehme jetzt einfach mal an, dass er nicht _die_ Art von Zellen meinte, die ich mal testsitzen durfte. Wenn du nichts mehr vorhast, könnten wir ja zusammen gehen. Es sei denn, du findest das Studium der Inhalts- und Geschmacksstoffe deiner Chemiemilchpampe da interessanter." Innerlich schlug er sich selbst vor den Kopf, die Maske jedoch jegliche Gefühlsregungen verbergen lassend: /Wieso fang ich schon wieder mit diesen blöden Sprüchen an?/ Caspar erschrak leicht als Nathanael plötzlich neben ihm auftauchte, hörte wie apathisch zu und wich gleichzeitig dem Blick des Jüngeren gekonnt aus. "Weil ich sowieso nichts mitkriegen würde - _deswegen_!", antwortete er mit zitternden Lippen. "Und was deine Haare angeht - die sind mir völlig gleichgültig. Sie gehören ja sowieso nur einem Stricher, der ein paar Tage lang bei mir wohnt und dann auf nimmer Wiedersehen verschwinden wird, ohne sich auch nur nach mir umzudrehen. Seien wir ehrlich: Ich bin dir völlig egal. Aber weißt du... ich möchte zwar nicht wie ein Spießer klingen, doch dafür, dass du bei mir übernachtest, könntest du immerhin so freundlich sein und es mir wenigstens nicht immer unter die Nase reiben..." Bitter starrte er in seinen Joghurtdrink. "Geh ruhig einkaufen, ich trinke lieber meine "Chemiemilchpampe" zuende... Bei der laufe ich immerhin nicht Gefahr verrückt zu werden vor Eifersucht... Aber was rede ich da... was verstehst _du_ schon von Eifersucht oder...", endlich blickte er auf, fand für einen kurzen Augenblick lang den Mut, für das, wonach er sich die ganze Zeit verzehrte und so beugte er sich über den Tisch zu Nathanael, küsste ihn sanft und flüchtig auf die Lippen, ehe er leise hinzufügte: "...oder Liebe..." Dann stand er trotz seiner Worte doch auf und ging Richtung Tür, blieb noch einmal kurz stehen ohne sich umzudrehen, während Nathanael noch immer wie angewurzelt dasitzen musste. "Ich gehe nach Hause - da kann ich mich selbst bemitleiden und dir dann die Tür aufmachen, wenn du kommst...", erklärte er, fast nur flüsternd, und verließ eilig aber nicht überhastet die Cafeteria, schließlich das Universitätsgebäude und wanderte dann langsam über den recht verlassenen Campus, bis er ganz plötzlich stehen blieb und sich nach dem Haupteingang umdrehte. Wieso hoffte er nur so sehr, dass Nathanael ihm folgen und ihm das Gegenteil all seiner düsteren Vermutungen beteuern würde, wenn er doch genau wusste, dass es nie geschehen würde? War das wirklich Liebe? Schließlich hatte er ganz zweifellos auch Samuel geliebt, doch bei ihm hatte es sich so vollkommen anders angefühlt als jetzt... Vielleicht nicht ganz so intensiv, aber auch bedeutend weniger schmerzhaft... "Ob ich dich wohl irgendwann vergessen kann, wenn du nicht mehr bei mir bist?", fragte er leise, obwohl der junge Schwarzhaarige es ja nicht hören konnte. "Und will ich das denn überhaupt?" Alain starrte dem Anderen verblüfft hinterher. Er gestand sich selbst nicht ein, wie sehr ihn die Worte des Studenten getroffen hatten. "Bin ich ein schlechter Mensch, nur weil ich nicht weiß, was Liebe ist?", sprach er erst leise in den Raum. Dann hob er seine Stimme: "Ich tu das auch nicht, weil mir das besonders Spaß macht! Ich tu das um zu überleben, du Idiot!" Alain ließ sich auf einen Stuhl sinken und stützte den Kopf auf die Hände. "Ich dachte, wir könnten Freunde werden... aber das war wohl zu viel verlangt!" Trotzig fasste er für sich einen Beschluss: Er würde nicht zu Caspar zurückgehen. Und er würde Weihnachten auch nicht bei dessen Mutter verbringen. "Dann feier doch mit deiner Milchpampe!", schrie er den schlechten Van Gogh Kunstdruck an. Er hatte es nicht nötig, sich die Tatsache, dass er dem anderen irgendwas schuldig war, dafür, dass er bei ihm wohnen durfte, immer wieder aufs Brot schmieren zu lassen. Auch wenn der andere jetzt noch glaubte ihn zu lieben, irgendwann würde die Einsicht folgen, und dann _würde_ er einfordern was ihm zustand. /Ich hätte ihn nie so nah an mich ran lassen dürfen./ Als er den Kopf hob und aufstand war er wieder völlig hinter der Maske des leicht unterkühlten Strichers verborgen. Und er würde sie nicht wieder ablegen. Mit blau gefrorenen Lippen und Fingern kletterte er über die alte, kaputte Küchenzeile ins Innere seiner "Wohnung", entschlossen jetzt ein Bad zu nehmen und sich dann mit einem guten Buch die Zeit bis zur Arbeit zu vertreiben. Aber als er dann frierend vor der schon wieder zugefrorenen Wanne stand verging ihm die Badelust. Eine Weile stand er nur da und betrachtete sein Spiegelbild im Eis. Als er Franklins Salon verlassen hatte war er vor Stolz auf die schöne Frisur fast geplatzt, jetzt wandte er sich angewidert ab. /Er hat Recht: Egal wie schön Frank meine Haare herrichtet, sie werden immer ein Teil des wertlosen Strichers bleiben. Warum habe ich mir von dem Kerl einreden lassen, ich wäre mehr wert, als ich an Lohn verlange... ich bin es nicht!/ Langsam drehte er sich um, kroch in seiner Höhle, in der immer Dunkelheit oder Dämmerung herrschte, und warf sich auf seine Matratze, die Feder einfach ignorierend, die sich durch den dünngewetzten Stoff in seinen Rücken grub. Die Kerzen lagen unangerührt in ihrer Ecke. Wie lange er einfach nur stumm in einer Ecke lag und die Wand anstarrte wusste er nicht. Plötzlich richtete er sich auf, griff sich ein Messer und verließ schnell den Schutz seiner Höhle. Auf dem Eis vor der Wanne rutschte er aus und fiel auf die Knie, blieb vor dem Metallbottich hocken. Wild entschlossen griff er das Messer fester. Tränen tropften auf die Wasseroberfläche wo sie, wie der Rest der Flüssigkeit, erstarrten. Schnell, so dass er keine Zeit hatte sich das genauer zu überlegen, hob er die Klinge. Er wusste, wenn er nicht schnell handelte würde er es wieder nicht tun. Hastig hob er das Messer in seinen Nacken, packte die Haare, die locker über seinen Rücken fielen, und schnitt sie ab. Zweimal tief durchatmend sah er auf das dicke Büschel der langen, nachtschwarzen Haare hinab. Dann machte er sich auf die Suche. Eine Weile trat er unschlüssig auf der Stelle, die Hand kurz vor Caspars Klingel schweben lassend. Zögernd drückte er eine Klingel, allerdings die neben der von Caspar. "Craws?", erklang die Stimme einer Frau unbestimmbaren Alters in der Gegensprechanlage. "Entschuldigen Sie, aber ich muss zu Mr. Blackwell, hab aber meine Schlüssel zuhause liegen lassen..." Die Frau schaltete die Sprechanlage wortlos ab. Alain wollte schon wieder enttäuscht weggehen, als das leise Summen des Türöffners erklang. Hastig rannte er die Stufen zu Caspars Wohnung hoch, dass sein Hemd hinter ihm herflatterte. Überhastet ließ er sein Gepäck fallen und stapfte dann langsam die schönen Holzstufen wieder herunter, die Wärme des Treppenhauses genießend. Zögernd sah Alain noch einmal zu der geschlossenen Tür zurück. Da lag sein Päckchen auf Caspars Schwelle: Das T-Shirt von Caspars Freundin, die Jacke von Virginia, die Dose Pillen und ein Bund Haare, zusammengehalten von einem Stück Absperrband. Daneben hatte er einen Zettel gelegt. Es hatte Alain fast eine Stunde gekostet, den Brief auf das, aus einem seiner Groschenromane gerissenen, Papier zu schreiben, wobei er mühsam die Worte und Buchstaben abgemalt hatte: "Stimt, ich weis nicht was liebe ist! Aber was ich weis reicht um zu überleben! Ich kome alleine zurecht! Kom nie wider zu mir nach hause!! Grüs deine mum und sag es tut mir leit! der kleine stricher" Kapitel 6: - Das Ende? - ------------------------ Kommentar: Auch wenn der Kapitel-Titel "Das Ende" heißt, ist die Story damit noch NICHT abgeschlossen. Mit diesem Kapitel geht nur ein bestimmter Abschnitt in Alains und Caspars Leben zu Ende, daher der Titel. Achtung: dieses Kapitel ist außerdem noch NICHT gebetat! Unruhig ging Caspar hin und her, versuchte krampfhaft sich zu beschäftigen und konnte sich doch nicht länger als zwei Minuten auf eine Sache konzentrieren, setzte sich schließlich ruhelos auf die Couch, die Knie angezogen, eines der Dekorkissen zwischen Oberschenkel und Bauch geklemmt. /Wo zum Teufel bleibt er??/, dachte er besorgt und gleichzeitig schon halb verzweifelt, tausend Dinge schwirrten ihm durch den Kopf, als er diesen resigniert sinken ließ und ihm so Nathanaels Duft in die Nase stieg. Beunruhigt fragte er sich, ob der junge Schwarzhaarige vielleicht in Schwierigkeiten geraten und einem alten Freier begegnet oder nun einfach nur sauer auf ihn war. Sogar Caspar selbst konnte schließlich nicht sagen, weshalb er so ausgetickt war und all die Dinge gesagt hatte, die ihm schon jetzt so unendlich Leid taten. Wie konnte er sich auch einfach so das Recht herausnehmen über Nathanael zu urteilen, obwohl er doch nur so wenig über ihn wusste? Nun... Vielleicht genauso, wie er sich in den schwarzäugigen Engel verliebt hatte, ohne ihn wirklich zu kennen... Apathisch starrte er auf die Ziffern seiner Digitaluhr, die sich scheinbar Millionen Male vor seinen Augen änderten bis er plötzlich aufsprang. Nein! Irgendetwas stimmte da nicht und wenn er Nathanael jetzt nicht suchen ging, dann war es vielleicht schon zu spät! So schnappte er sich nur schnell den Mantel sowie die Schlüssel für Wohnung und Auto, denn innerlich rechnete er bereits mit dem Schlimmsten und dann würde er mit seinem Motorrad wohl nicht viel anfangen können. Allerdings kam er nicht sehr weit. Um genau zu sein bis zur Tür, denn gerade als er hinausstürmen wollte, trat er mit dem Fuß gegen etwas Weiches und fand so ein Päckchen, dessen Inhalt er beklemmend gut kannte. "Scheiße!!", fluchte er und trat wütend gegen den Türrahmen. Nathanael war hier gewesen und er hatte nichts gemerkt, hatte ihn nicht vom Gehen abhalten können? Wem zum Teufel hatte er ins Trinken gepisst, dass er so etwas verdient hatte?? Hastig überflog er die wenigen Zeilen, ging sich innerlich selbst an die Kehle, während eine unsichtbare Hand sein Herz zerdrückte wie eine überreife Tomate, dann schmiss er die Sachen einfach in die Wohnung und zog die Tür ins Schloss ohne sich noch mit deren Abschließen aufzuhalten, nahm vier Stufen auf einmal als er die Treppen hinunterstürmte und anschließend mehr in seinen BMW hechtete als irgendetwas anderes. /Das tust du mir nicht an, Nathan, das _kannst_ du mir nicht antun, verdammt noch mal!!/, dachte er immer wieder, würgte vor Aufregung zweimal den Motor ab, als er vor dem Lenkrad saß, hätte schlicht vergessen sich anzuschnallen, wenn ihn das an seinen Nerven zehrende Piepen nicht daran erinnert hätte, bis auch das erledigt war. Noch nie hatte er den New Yorker Verkehr so gotteslästerlich verflucht wie heute, dennoch hatte er letztendlich erstaunlich wenig Zeit benötigt, was wohl damit zu tun haben musste, dass er unzähligen Leuten die Vorfahrt geschnitten, die roten Ampeln auf seinem Weg ganz zufällig allesamt _übersehen_ hatte und noch etwa vierhundert Verkehrsregeln gebrochen hatte, immer vorausgesetzt natürlich, dass das New Yorker Straßenverkehrsgesetz überhaupt so viele besaß. Doch alles woran er denken konnte war das Küchenmesser, dass Nathanael einmal mitgenommen hatte und die noch frische Schnittwunde über der Pulsader bei ihrem nächsten Zusammentreffen. Dann - ENDLICH!!! - kam der heiß ersehnte Rohbau in Sicht und Caspar trat so heftig auf die Bremse, dass es schon fast ein Wunder war, dass er nun kein Loch im Wagenboden hatte... Schnell sprang er aus dem Wagen, schob die Tür jedoch klugerweise ganz leise zu, sodass Nathanael nicht etwa durch das Türknallen alarmiert wurde. Dann stürmte er in das Fast-Haus, hangelte sich das Seil in einer Zeit hinauf, für die ihm sein ehemaliger Sportlehrer wohl ein "A" mit Kusshand gegeben hätte und sah sich heftig atmend um, bevor er erblickte, was er suchte. Einen Moment lang wurde ihm richtiggehend schlecht vor Erleichterung, dann überwand er die wenigen Meter und hatte Nathanael auch schon fest in seine Arme gezogen, bevor dieser auch nur blinzeln konnte. "Nathan", stieß er hervor und vergrub sein Gesicht in dem schlanken Nacken des Jüngeren, küsste jede einzelne Narbe und konnte sich einfach nicht beruhigen. "Nathan, ich... Gott, danke..." Glücklich drehte er den völlig überrumpelten Jungen in seinen Armen herum, drückte ihn wieder an sich und konnte minutenlang nichts anderes tun, als den verstörten Jungen mit Händen und Lippen zu kosen, sinnlose aber beruhigende Worte zu flüstern und ihn einfach nur dankbar zu umarmen. Der Blonde konnte gar nicht alles aufzählen, was er sich ausgemalt hatte, doch er konnte sich nun jedenfalls bescheinigen, eine ziemlich kranke Fantasie zu haben... Irgendwann hatte er sich schließlich beruhigt, auch Nathanael wehrte sich immer stärker gegen Caspars eiserne Umarmung und er wusste, dass es nun an der Zeit war, Nathanael unmissverständlich klar zu machen, was er dachte und fühlte. "Bitte hör mir zu Nathan. Ich werde dich jetzt loslassen, aber bitte hör mir zu, ohne mich zu unterbrechen, ja?", bat er, tat dann wie versprochen und der Schwarzhaarige wich ein paar Schritte zurück, blieb dann jedoch wo er war. Erst jetzt fielen ihm die Haare auf, doch er sagte vorerst nichts dazu, weil es einige Dinge gab, die noch viel wichtiger waren als Haare, die jederzeit nachwachsen konnten: "Ich... ich habe deinen Brief gelesen und ich... ich weiß, dass ich nicht mehr kommen sollte, aber... ich kann nicht, verstehst du?", stammelte er, trat hart schluckend einen Schritt auf seinen gefallen Engel zu, hielt jedoch sofort inne, um den Kleineren nicht zu verschrecken. "Das... das was ich in der Cafeteria gesagt habe, das... es war falsch. Nicht, dass ich eifersüchtig war, aber der Rest... Ich war nur so...", er senkte die Stimme, zuckte hilflos mit den Schultern, "eifersüchtig eben... und es hat mich wütend gemacht, dass du... und dann ist einfach eine Sicherung bei mir durchgebrannt... Es war nicht so gemeint, dass musst du mir glauben! Ich konnte ja nicht ahnen... nein, das stimmt nicht, aber ich habe in dem Moment einfach nicht so weit gedacht und... ich mag dich trotzdem sehr, deswegen... deswegen _darfst_ du einfach nicht von mir verlangen, dich nie wieder zu sehen, weil... Wenn du mir schon nicht dein Herz schenken kannst, musst du mir wenigstens deine Freundschaft lassen, Nathan... bitte..." Dann hielt Caspar es einfach nicht mehr aus, zog Nathanael wieder in seine Arme und küsste ihn mit einer solchen Entschlossenheit und zugleich Zärtlichkeit, dass es ihn selbst überraschte, und er hoffte, der Jüngere würde verstehen, dass sowohl seine Worte als auch seine Gefühle ehrlich waren. "Vergib mir, Nathanael... auch wegen deiner Haare... sie waren und sind wunderschön und... darf ich sie dir wieder gerade schneiden? ...bitte?" Alain erstarrte, als er in ein paar starke Arme gezogen wurde. /Vater!!/, war das erste, das ihm durch den Kopf schoss, doch schon wenige Augenblicke später wurde ihm klar, dass er sich geirrt hatte... Aber er war auch nicht sicher, ob er darüber nun froh war oder nicht. Er tat wie ihm gesagt wurde und hörte stumm zu. Seine Emotionen hinter seiner Maske gut verborgen. Nachdem Caspar geendet hatte ließ Alain seinen kalten Blick lange auf dessen Gesicht ruhen, wartete, ob noch etwas kommen würde, ehe er sprach. "Was ich mit meinen Haaren mache geht Sie überhaupt nichts an, Sir! Ich sag Ihnen doch auch nicht, wie Ihre Frisur auszusehen hat! Mir gefällt's so!", log er und drehte sich weg. Langsam ging er zu seiner Hütte zurück. "Sie wissen, dass das einfach nicht funktionieren _kann_. Ich werde meinem Beruf weiterhin nachgehen müssen und Sie werden wieder ausrasten. Es wäre wirklich besser, wenn wir uns nicht mehr sehen. Ich hab mir darüber ernsthaft Gedanken gemacht, ob Sie das nun glauben oder nicht. Und ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass es so am besten für uns beide ist. Bitte gehen Sie! Auch wenn Ihnen das wohl so erscheint, es ist nicht besonders schwer mich zu vergessen." Schnell und ohne noch einmal zurückzusehen verschwand Alain in seiner Hütte, schmiss sich auf die alte Matratze und kauerte sich zusammen, das Gesicht ganz nah an die eisüberzogene Wand gedrückt. Tränen rannen über seine Wangen. Seinen Groschenroman hielt er fest an seine Brust gedrückt. Wieso war in den Büchern immer alles gut? Es gab doch immer nur einen Bösewicht und sonst ging alles gut. Der Ritter gewann alle Schlachten, wurde von allen bewundert und bekam natürlich am Ende seine Prinzessin. Plötzlich wütend schmiss er das Buch gegen die Wand am Fußende. Er biss in seine dünne Decke, um kein verräterisches Geräusch zu machen, als krampfhaftes Schluchzen seine Kehle empor kroch und ihm die Luft abschnürte. Schnell wickelte er sich ganz in die Decke, genoss die davon ausgehende Wärme und versuchte die immer schneller nachströhmenden Tränen mit einem Deckenzipfel wegzuwischen. /Bitte, Caspar. Geh! Mach es mir nicht schwerer als es schon ist./, dachte er verzweifelt und versuchte mit weinen aufzuhören, was allerdings nur dazu führte, dass er noch krampfhafter schluchzte. Er hörte erst viel zu spät, dass Caspar auf seine Höhle zu kam. Er wollte ihm zurufen, er sollte ihn alleinlassen, aber er traute seiner Stimme nicht. Er wollte nicht, dass Caspar sein Schluchzen hörte. "_Sir?_ SIE??", wiederholte er leise, aber deshalb nicht minder hysterisch, zitternd, spürte wie sein Herz brutal krampfte, als Nathanael ihn bat zu gehen. /Dich vergessen? Nein! Niemals!/, dachte er entsetzt, schüttelte den Kopf. Nein! Das konnte und das _würde_ er nicht! Doch der schwarzhaarige Junge sagte nichts mehr und ließ Caspar einfach stehen. Erstarrt stand der Braunäugige da und blickte auf die Stelle, an der Nathanael aus seinem Blickfeld verschwunden war, ohne zu einem klaren Gedanken fähig zu sein, wusste nur, dass das, was der Jüngere da von ihm verlangte, schlicht und einfach unmöglich war. Dann ballte er die Hände zu Fäusten und setzte sich leise in Bewegung, betrat jedoch erst nach einigem Zögern den kleinen abgegrenzten Abteil - vielleicht hatte er ja innerlich schon geahnt, dass ihm Nathanaels Anblick schier das Herz zerreißen würde. Schnell kniete er sich neben den Kleineren und nahm ihn sanft in seine Arme, zog ihm dann bestimmt den Zipfel der Decke aus dem Mund, hörte fast augenblicklich das Schluchzen, das Nathanaels Körper schüttelte. Traurig strich er die warmen Tränen von dem blassen aber hübschen Gesicht, seufzte leise, bevor er es wagte, den Blick der bodenlosen Tiefen einzufangen. "Ich weiß, wir kennen uns noch nicht sehr lange, Nathan...", begann er und stockte, holte noch einmal tief Luft, während er eine der schwarzen Strähnen hinter das kleine Ohr schob, um dann entschlossen hineinzuflüstern: "Aber du solltest mittlerweile zumindest wissen, dass ich dich niemals so einfach aufgeben werde... Du kannst von mir verlangen, dass ich jetzt gehe, aber... letztendlich würde ich früher oder später ja doch wiederkommen und du weißt das." Einen Moment noch zögerte er, dann nahm er Nathanaels Kinn und drehte es sich zu, küsste ihn kurz und nur sehr vorsichtig. "Du sagst, es wäre nicht schwer, dich zu vergessen, aber das stimmt nicht. Es _ist_ schwer, weil du weitaus wundervoller und schöner bist, als du immer behauptest. Und du bist mir mehr wert, als du dir offensichtlich einzureden versuchst. Ich bitte nicht jeden Menschen darum, Weihnachten mit mir zu verbringen, verstehst du? Ich habe überhaupt noch nie jemand auf so eine Art und Weise dazu eingeladen - nicht bevor ich dich traf. Und... ich habe noch nie jemanden darum gebeten, bei mir zu wohnen, aber... ich... - nun bitte ich dich darum. Wenn es dir unangenehm ist, kostenlos bei mir zu wohnen, dann kannst du mir ja ein wenig im Haushalt helfen, aber... ich möchte... möchte, dass du... bei mir bist. Denn ich - werde dich nicht vergessen. Ich konnte es all die Monate seit unserem ersten Treffen nicht, aber nun kann ich es erst recht nicht mehr." Langsam, mit geröteten Wangen, ließ er Nathanael los, nahm sich bloß seine Hände, betrachte sie mit einem dicken Kloß im Hals. Dann drückte er sie sanft und flüsterte: "Ich werde auch versuchen meine Eifersucht zurückzuhalten, aber... bitte komm mit mir. Bitte..." "Bitte... gehen Sie weg! Lassen sie mich in Ruhe!", schluchzte Alain, klammerte sich aber gleichzeitig so fest an den Größeren, dass dieser gar nicht die _Möglichkeit_ gehabt hätte, sich von ihm zu lösen. "Ich will nicht dahin zurück!", flüsterte er in einem plötzlichen Stimmungsumschwung, das Gesicht in Caspars Jacke vergraben. "Kannst du mir nicht da raus helfen? Ich schaffe das allein nicht!" Alain wurde ruhiger. Eine Weile blieb er noch so liegen, den Kopf gegen Caspars Brust gelehnt und ließ sich von dem ruhigen Herzschlages des größeren trösten. Dann stand er schnell auf. "Willst du zum Essen bleiben? Ich muss noch mal schnell... einkaufen, aber ich bin gleich wieder da! Wartest du solange auf mich?" Hoffnungsvoll setzte er seinen Bettelblick auf und sah Caspar von unten her an. Überrascht blickte der Blonde in die schönen schwarzen Augen, die ihn geradezu anflehten, blieb einige Momente still vor fassungslosem Glück. /Hat er mich gerade wirklich gefragt, ob ich zum Essen bleiben will?/, dachte er betäubt, spürte seinen Herzschlag nicht mehr, weil er die Grenze des Gesunden längst überschritten hatte. Dann nahm er unwillkürlich die Hand des anderen, fuhr mit der anderen streichelnd über die ausgekühlte Wange, bevor er nickte, nur um sofort wieder den Kopf zu schütteln. "Ja - oder warte: Kann ich nicht mit dir kommen? Ich könnte dich fahren, dann geht es schneller!", erklärte er hastig, auch wenn man ihm wohl ansah, dass er Nathanael im Moment einfach nicht hergeben wollte. Nicht, nachdem er kurz davor gewesen war, ihn endgültig zu verlieren. Dann zog er den Schwarzhaarigen, noch bevor jener antworten konnte, mit sanften Nachdruck an sich, beugte sich leicht hinunter und flüsterte ihm mit ernster Stimme ins Ohr: "Ich werde alles für dich tun, was in meiner Macht steht, Kleiner - alles..." "äh...", machte Alain besonders geistreich. "Najaaaa... weißt du.. ich. Ich shoppe eigentlich lieber allein. Außerdem..." Alains Gedanken rasten. Wenn Caspar jetzt mitkam könnte er nicht auf seine übliche Weise einkaufen, aber er brauchte das Geld. Außerdem wollte er doch noch Geschenke für Caspar und Virginia besorgen... Warum musste das auch immer alles so schwer sein? "Weißt du, Caspar... es würde mir viel mehr helfen, wenn du hier bleiben und ein ordentlich großes Feuer entfachen würdest, damit sich die Hütte hier ein wenig aufgeheizt hat, wenn ich wiederkomme." Alain wühlte einen Moment unter seiner Matratze, zog einen seiner Groschenromane hervor, sah kurz auf das Titelblatt, legte es weg und suchte weiter. Noch zwei weitere Bücher wurden aussortiert, bis er fünf etwas zerfledderte hefte in Caspars Richtung hielt. "Die kannst du zum Anzünden nehmen. Streichhölzer müssten hier auch irgendwo sein... warte mal.." Er wühlte weiter, bis er eine platt gedrückte Streichholzschachtel gefunden hatte. Mit einem schnellen Griff hatte er die untere Hälfte der Matte umgeklappt, so das am Fußende seiner Hütte etwas Platz entstand, der auch schon eindeutige, verkohlte Stellen aufwies. Schnell kletterte er noch auf das Dach, schob zwei der Bretter, die er über seine Backsteinmauern gelegt hatte zur Seite, damit der Rauch abziehen konnte. Als er damit fertig war, sah er Caspar grinsend an. "So, ich geh mal schnell los... mal sehen, was du hier als Feuermeister zustande bringst!" Schweigend sah Caspar in das fröhliche Gesicht und fast kam es ihm vor, wie das des Christkindes nur mit schwarzem und nicht blondem Haar umrahmt. Vielleicht war dies ja auch der Grund, warum ihm der Name "Nathanael" für den Jungen am besten gefallen hatte. Dann, bevor der Kleinere sich davon machen konnte, trat er einen Schritt näher, berührte die beiden ausgekühlten Wangen mit seinen Fingern und zog sie etwas zu sich heran, um die blassen Lippen wieder rot zu küssen. Er tat es sanft und bedächtig, jede Sekunde auskostend, ohne jedoch mehr zu tun als diesen unvorstellbar süßen Mund zu liebkosen und es zu genießen. Schließlich zog er seinen Kopf ein Stück zurück, besah sich die dunkelschimmernden Lippen, die glänzend schwarzen Augen. Kurz beugte sich der Blonde noch einmal vor um seinen Mund schnell und liebevoll auf die weiße Stirn zu drücken, dann ließ er Nathanael los und flüsterte mit einem Lächeln: "Also gut. Ich werde hier auf dich warten... Aber bleib nicht zu lange..." Alain rannte. Die eisige Luft schnitt ihm in die Haut, aber er ignorierte das. Er wollte Caspar nicht warten lassen, aber er musste auch noch Geschenke suchen! Das Essen zu besorgen ging relativ leicht und schnell... er hatte nicht gehofft den Würstchenverkäufer schlafend anzutreffen, und hatte sich so nicht nur eine Hand voll rohe Würste schnappen können und die dann durch schnelles Rennen verteidigen (ja, das hatte er auch schon ausprobiert. Der Verkäufer gehörte der Erfahrung nach nicht zu den trainiertesten Sprintern), sondern er hatte sich auch noch in aller ruhe einige Brötchen und eine Flasche Ketchup in einen Beutel packen können. Heute musste sein Glückstag sein. Zuvor war er noch in einer Kirche gewesen, hatte eine Hand voll Hostien, eine Flasche Messwein und vier Kerzen eingesteckt und irrte nun durch die Einkaufsmeile auf der Suche nach einem Geschenk. /Was schenken sich die Leute überhaupt?/, war die erste frage, die ihm in den Sinn kam. Worüber würde er selbst sich freuen? Ehe er dazu kam den Gedanken weiter zu verfolgen tippte ihm von hinten Jemand auf die Schulter. Erschrocken fuhr er herum und sah in Simons breit grinsendes Gesicht. "Na, kleiner? Brauchst du wieder was? Ich mach dir auch ein super Weihnachtsangebot!" Alain überlegte, entschloss sich dann dazu sich tatsächlich etwas zu kaufen. Obwohl er das in der Aufregung der letzten Stunden gar nicht mitbekommen hatte sehnte sich sein Körper wieder nach den Tabletten, doch Simon suchte keine Pillen, sondern eine kleine Spritze aus dem inneren seiner Innentaschen hervor. Ohne das es noch weiterer Worte benötigt hätte ging Alain weiter, bog in eine Seitenstraße ein, die zu der Zeit völlig verwaist war, setzte sich auf den gefrorene und Schneebedeckten Boden und wartete auf Simon, der auch wenige Minuten später erschien. Ein wunderbar warmes Gefühl im inneren schlenderte Alain nun an den Schaufenstern entlang. Simon hatte ihm den Tipp gegeben, das sich die Leute oft gegenseitig Bücher schenkten. So stand er nun etwas unsicher vor der großen Buchhandlung und betrachtete das Angebot. Es gab so viele... und er wusste nicht, was Caspar und Virginia denn gerne lasen. Außerdem hatte er sich vorgenommen, die Geschenke nicht zu stehlen. Wenig später verließ er den Laden wieder mit zwei Büchern, die er in schön buntes Papier eingewickelt bekommen hatte und machte sich zurück zur Ruine. Rasch und geübt hangelte er sich einhändig das Seil nach oben, zog es ein, versteckte die Tüte mit den Büchern in einer Ecke und ging dann auf seine Hütte zu. Unschlüssig besah sich Caspar die Dinge, die ihm zum Feuermachen zur Verfügung standen und musste unwillkürlich an seine Heizung daheim denken. Einen Moment lang überlegte der Braunäugige, ob er nachher, wenn der Kleine wieder zurück war, nicht einfach vorschlagen sollte, zu ihm zu gehen, wo es nicht nur wärmer sondern auch sicherer und komfortabler war als hier. Dann jedoch verwarf er den Gedanken wieder. Nathanael hatte ihn zum Essen eingeladen, nicht anders herum und das vermutlich um sich erkenntlich zu zeigen. Wenn er nun seine Wohnung vorschlug würde er den Jüngeren damit wohl nur vor den Kopf stoßen und das wollte er nicht. Also nahm er sich die Streichhölzer und alles andere und begann ein kleines Feuer zu entfachen, so wie er es aus seinen Skiferien kannte, als sie sich eine Skihütte mit Kamin gemietet hatten. Lange würde es nicht brennen, dafür waren die paar Hefte aus Papier zu wenig und Holz, das er hätte verwenden können, sah er nicht. Daher ging er kurz heraus und nahm sich einige Ziegelsteine, die er nacheinander in das Feuer legte damit sie heiß wurden und die Wärme in sich aufnahmen. Die erhitzten Steine legte er dann unter Nathanaels Decke, denn so würde sich der Kleine schnell wieder aufwärmen können, wenn er zurück war. Dann setzte er sich auf die aufrollbare Campingmatratze und zog den Mantel enger um sich, blicklos in das Feuer starrend. Irgendwann jedoch schloss er einfach die Augen, stellte sich das Gesicht des Jüngeren vor, und spürte erneut, wie erleichtert er darüber war, nicht endgültig von ihm zurückgestoßen worden zu sein. Nein, er wollte sich wirklich nicht ausmalen, was er getan hätte, wenn es doch so gekommen wäre. Ob er wohl ausgetickt und wahnsinnig geworden wäre? War seine Liebe schon so stark, seine Abhängigkeit von jenem wundervollen Lächeln der blassen schmalen Lippen so groß? Denn inzwischen konnte er zwar mit Sicherheit sagen, dass er sich verliebt hatte, doch waren richtige Liebe und bloßes Verliebtsein noch lange nicht dasselbe. ...oder? Er wusste es nicht genau. Und während er darüber nachdachte glitt er langsam aber stetig immer tiefer hinab in sein Unterbewusstsein bis er schließlich in einen leichten Schlaf gesunken war. Alain ging auf seine Hütte zu. Gleich als erstes fiel ihm auf, das nur eine kleine Flamme zu funzeln schien. Verwirrt sah er auf die kleine Flamme, die sich gerade über sein letztes Buch hermachte. /wieso hat er kein Holz aufgelegt?/ Einen schnellen Blick auf den schlafenden Caspar werfend drehte er sich um und kletterte das Seil wieder hinab. Er hatte natürlich vergessen Caspar zu sagen womit er Feuer machen sollte, da es ihm selber so offensichtlich erschien. Mit wenigen, recht schnellen Schritten ging er zu dem Haufen Sperrmüll, der sich vor dem Eingang stapelte, trat einem der kaputten Küchenschränke die Rückwand aus und zerlegte den Rest ebenso geübt in seine Einzelteile. Manchmal erschien es ihm fast wie ein Wunder, wie immer mehr Sperrmüll hier her kam, wo doch alle, die in der Gegend leben mussten garantiert nicht das Geld für neue Einrichtungen hatten. Aber selbst wenn der Müllabhohldienst es einfach irgendwo abwerfen sollte: ihm war es egal, solange es sich zum Großteil um verwendbares Holz handelte. Eben dieses Holz band er nun mit einigen Knoten am unteren Ende seines Kletterseils fest, überprüfte den richtigen Halt und sprang, da er so viel Seil verbraucht hatte, dass er nicht mehr einfach durch Strecken an das Seil über dem Holz reichte, griff sich das Tau und hangelte sich schnell nach oben, um gleich darauf das Bündel Nachzuziehen und das Seil wieder sicher zur Seite zu legen. Mit dem Holz stapelte er hinter sich den Eingang seiner Hütte zu, so dass wenigstens etwas Wind auch von dort abgeblockt werden konnte, schmiss schnell ein Stück der Rückwand (die aus gut brennbarem Sperrholz bestand) in die noch leicht flackernden Seiten seiner Groschenromane und wartete, bis diese Feuer gefangen hatten und er dickeres Holz auflegen konnte. Dann griff er sich eine der rohen Bratwürste, die er mitgebracht hatte, riss den Darm mit einem Eckzahn auf und nuckelte an der Stelle ein wenig herum, bis er das erste Fleisch schmecken konnte. So genüsslich vor sich hin mampfend drehte er sich um und sah zu Caspar, der noch immer zu schlafen schien. Unter der Decke, die Caspar wohl im Schlaf um sich gewickelt haben musste, so verdreht wie sie war, lagen einige Ziegelsteine, was Alain doch irgendwo verwunderte, aber er ließ sie Liegen... Caspar würde sich schon was dabei gedacht haben! Mit einem Anflug von Stolz packte er das Essen aus, legte alles ordentlich neben das Feuer und griff sogleich nach einer weiteren Wurst, mit der er über Caspar krabbelte, so dass er direkt in sein Gesicht schauen konnte und dem noch schlafenden hinhielt. Alain kniete sich über Caspars Brust und stütze sich mit der freien Hand auf dem Körper des Studenten ab, als er sich vor beugte und Caspar heiser ins Ohr flüsterte: "Hey, Wach auf! Ich hab was zu Essen mitgebracht." Er hauchte Caspar noch einen Kuss auf die Nasenspitze und lehnte sich dann zurück, um es sich auf Caspars Bauch bequem zu machen, während er mit der Wurst vor dessen Gesicht rumwedelte und derweil an seiner eigenen weiter rumlutschte. Verschlafen blinzelte Caspar als er den sanften Kuss spürte, schlang automatisch die Arme um die schlanke Gestalt, die auf seinem Schoß hockte, zuckte jedoch leicht zusammen als das erste was er sah ein riesiger, ekliger Wurm war, der sich erst auf den zweiten Blick als noch rohe Bratwurst herausstellte. Er selbst kannte die Dinger nur von einem kleinen deutschen Imbiss, der hauptsächlich alle möglichen Arten gebratener Würste zu verkaufen schien, und hatte sie eigentlich noch nie roh gesehen... War eben nicht so wirklich _das_ typisch amerikanische Essen... Aber wen kümmerte das schon? Nathanael hatte es nur für sie beide beschafft und auch wenn er sich sicher war, dass er lieber nicht ganz so genau wissen wollte, _wie_ der Kleine es beschafft hatte, rührte ihn die Geste doch sehr. Vorsichtig zog der Blonde die Decke zwischen ihren beiden Körpern hervor, zog sie dann über sie beide, sodass sich der andere schnell wieder aufwärmen konnte. Zufrieden seufzte er auf. Sein schwarzhaariger Engel war viel zu mager um ihm zu schwer zu sein, aber er genoss das Gewicht auf seinem viel muskulöseren, männlicheren Körper. Er spürte eine leichte vom anderen ausgehende Bewegung, sah auf und verzog den Mund. "Die grillen wir vorher besser", bestimmte er nach einem Blick auf das deutlich gewachsene Feuer. "Sonst hast du nachher nur Bauchschmerzen..." Rigoros nahm er dem Jüngeren also seine Wurst weg, legte sie beiseite zu den anderen und senkte dann seine Lippen auf den weichen Hals, ließ seine Finger neugierig unter das Hemd gleiten, strich verspielt über den glatten Bauch, um eifrig dabei zu helfen, die weichzarte Haut wieder warm zu kriegen... Erst nach einer Weile hielt er schließlich inne, starrte in die schwarzen Tiefen, ließ sich eine Weile in ihnen fallen, bevor er sich endlich eingestand, dass sein Magen davon auch nicht voller wurde. "Dann lass mal sehen...", lächelte er den Schwarzhaarigen aufmunternd an, achtete jedoch ganz unauffällig darauf, dass er Nathanael wenigstens mit einem Arm halten durfte. Leise lachend die Decke ein wenig abschüttelnd richtete sich Alain wieder auf. Ein leises knurren entwich seiner Kehle, als ihm sein Fleisch weggenommen wurde, aber er war eh schneller als Caspar. Noch bevor dieser seinen Arm zurückgezogen hatte hatte Alain sich auch schon die fast aufgegessene Wurst geschnappt und wieder in den Mund geschoben. "Wenn du willst kann ich dir gerne eine übers Feuer hängen... aber sie verlieren dadurch ihren frischen Geschmack. Ich versteh nicht, wieso ihr immer alles erst kochen und braten müsst. Ich finde den natürlichen Geschmack viel besser als das gekochte... nagut, das stimmt nicht _ganz_, aber man sollte sich nicht ständig von irgendwelchen Gewürzen den Geschmack kaputt machen lassen... Oh Gott!", frustriert schrie Alain auf. "Ich habe nicht die geringste Ahnung was ich jetzt erzählt hab. Das war nicht nur völlig am Thema vorbeigeredet, sondern sogar für mich schlicht unverständlich!" Mit einem letzten Achselzucken legte er die Sache beiseite, suchte sich unter dem Holz, das er mitgebracht hatte einen langen Holzsplitter und Spießte eine der Würste darauf. Den Spieß zwischen seine Zähne klemmend griff er nach Caspars Knien, zog an ihnen bis seine Beine aufrecht standen und er sich, auf dem Bauch des Studenten sitzend, bequem anlehnen konnte. Obwohl der Span zu kurz war zuckte Alain nicht zurück, als das Feuer unangenehm heiß an seinem Arm brannte. Immerhin begann es langsam seinen ganzen Körper durchzuwärmen. Und er war immerhin noch weit genug von den Flammen entfernt, dass auch sein immer übervorsichtiger Mediziner sich nicht beschweren konnte. Einige Minuten saß er nur schweigend auf seinem neuen Liegestuhl, bis die Stille ihn zu erdrücken drohte. "Wie soll das mit uns jetzt weitergehen?", fragte er leise. "Was du vorhin gesagt hast klang zwar wirklich lieb, aber ich weiß, dass das nicht funktionieren kann! Vielleicht kannst du jetzt, wo du frisch verliebt bist... oder zu sein glaubst, über meine Fehler hinwegsehen, aber das wird nicht lange halten. Irgendwann fängst du an meine kleinen Macken, die dir am Anfang vielleicht noch `süß´ erschienen, zu hassen. Meine Narben... als sie frisch waren hab ich sie mit Stolz getragen, als Zeichen, dass ich es überlebt und überstanden habe. Jetzt sind sie nur noch hässlich und zeigen immer wieder meine Schwäche auf. Du siehst nur noch das Schlechte. Ein kleiner Fehler, sei es auch nur das Heben einer Augebraue oder ein Blick in bestimmten Situationen, wie ich auf manche Dinge reagiere. Irgendwann macht dich das verrückt. Oder ein Kämpfer wie du wird es nie verstehen können, wie viel Macht mein Vater über mich hat. Und jedes Mal, wenn er mich wieder gefunden hat wirst du ihn mehr hassen, bis dir eines Tages auffällt, dass meine Opferhaltung ihm gegenüber, meine Angst vor seiner Autorität das erst möglich macht. Mir fallen tausend Dinge an mir ein, die mich selber schon wütend machen, und egal wie oft ich beschließe, diese Angewohnheiten abzulegen, es passiert doch immer wieder. Außerdem glaub ich nicht, dass du es einfach so hinnehmen wirst, wenn ich weiterhin Drogen nehme. Aber für eine Entziehungskur habe ich nicht die Kraft." Eine ganze Weile schwiegen sie wieder, Alain wendete stumm Caspars Würstchen und schmiegte seine eiskalte Wange gegen dessen Knie. "Und ich bin hoffnungslos pathetisch, wehleidig und ich bemitleide mich selbst viel zu sehr." Alain beschloss, das es wohl besser wäre jetzt den Mund zu halten. Während des Redens hatte er noch zwei weitere Würste auf den Stock gespießt, so dass die aller unterste so nah an seinem Arm hing, dass sie nicht kalt werden konnte, aber auch nicht verbrannte. Leise seufzend reichte er Capar den Stock, legte sich dann auf die Matratze und kuschelte sich mit in seine Decke. "Du solltest nach dem Essen nach Hause gehen. Hier ist es kalt und du bist immer noch krank, oder zumindest noch nicht richtig, und vor allem nicht so lange gesund... Das wegen vorhin tut mir Leid. Ich werde heute auch nicht mit zu dir kommen! Ich glaube wir brauchen jetzt Abstand. Oder eher: Du! Ich... ach, ich weiß einfach nicht. Wieso konnte mich die Frau letztens nicht einfach _richtig_ überfahren? Das hätte vieles einfacher gemacht. Meinen Trip hat sie mir eh vermasselt..." Alain richtete sich noch einmal kurz auf, griff sich eine von den übrigen, noch rohen Würsten und ließ sich, zufrieden wie ein kleines Kind daran rumnuckelnd wieder zurück in sein warmes Bett fallen. Daran, dass das gerade so schön kuschelig warm war, weil neben ihm noch ein anderer Mann lag, wollte er jetzt gar nicht denken, weil das ja heißen müsste, dass es wieder kalt würde, sobald der verschwand. Naja, wenigstens hatte er noch sein Feuer... Als er hörte, was sein schwarzäugiger Engel da sagte, fuhr er erschrocken zusammen, wollte heftig etwas erwidern - dann aber wurde ihm klar, dass das ganze nur zu einer weiteren Diskussion geführt hätte, weil ihm der andere wohl wie so oft nicht geglaubt hätte. Daher hörte er eine ganze Weile lang nur schweigend zu, was Nathan so durch den Kopf ging, auch wenn er zuweilen einen starken Stich in der Brust verspürte. Er antwortete auch nicht, als der andere sagte, er solle nach dem Essen gehen, wobei er das Essen selbst im Moment kaum eines Blickes würdigte. Stattdessen begann er sich genau zu überlegen, was er nun sagen wollte: Es sollte ehrlich sein und von Herzen kommen, denn etwas anderes hatte der Jüngere nicht verdient. Belogen und betrogen wurde er auf der Straße sicher oft genug und auch die Liebe entschuldigte keine Lüge oder Halbwahrheit. Außerdem... außerdem hatte er Angst den schwarzhaarigen Jungen zu enttäuschen, der nun so vertraut mit ihm umging. Seine Antwort sollte Nathanael aber auch zeigen, dass er es ernst meinte und seine Gefühle nichts waren, was in einer Woche der Vergangenheit angehörte. "Ich habe keine Ahnung wie es weitergehen wird... Ich kann nämlich leider nicht in die Zukunft sehen, weißt du? Ich weiß nur, was _ich_ mir für _unsere_ Zukunft wünsche, mehr nicht", flüsterte er dann auf einmal leise. Kurz zögerte er, dann aber holte er tief Luft und redete weiter: "Das, was du da sagst, mag stimmen und deine Situation ist ganz sicher nicht die leichteste, vielleicht sogar die schwerste von allen, aber... du darfst nicht immer bloß negativ von dir reden und denken. Jeder hat schlechte Eigenschaften, nicht nur du. Sicher gibt es einige Sachen, die mich stören, aber ich kann sie im Moment nicht ändern - vielleicht auch nie. _Trotzdem_ liebe ich dich! Weil du auch viele gute Seiten an dir hast und weil du trotz deiner Fehler liebenswürdig bist. Denn ein Mensch besteht nun einmal nicht nur aus Fehlern - und selbst wenn ich dich noch so oft Engel nenne, bist und bleibst du das doch: ein Mensch. Außerdem solltest du nicht vergessen, dass auch _ich_ Fehler habe, dir auf die Nerven gegangen bin - und dennoch hast du mir eine zweite Chance gegeben, lässt mich ein wenig in deiner Nähe sein." Unsicher sah er in die schwarz glänzenden Augen, stellte seine Würste dann vorsichtig so ab, dass sie nicht schmutzig wurden, und nahm den Jüngeren einfach in den Arm, vergrub sein Gesicht in dem ganz weich gewordenen Haarschopf. Still genoss er die Wärme, den Duft, die bloße Nähe dieses kleinen Engels und weigerte sich daran zu denken, dass er ihn irgendwann auch wieder loslassen musste. /Mein Gott, seit wann bin ich so verschmust? So schlimm war ich ja nicht einmal als Kind!/, dachte er über sich selbst den Kopf schüttelnd - und wusste die Antwort doch längst: /Seit Nathan.../ Nathan... Plötzlich seufzte er leise auf, denn erneut wurde er sich der Distanz bewusst, die dieser ausgedachte Name zwischen ihnen schuf: "Nathanael" wusste seinen vollständigen Namen, wusste wer er _war_. Doch Caspar musste sich mit einigen wenigen Teilen aus einem Hunderttausend-Teile-Puzzle zufrieden geben, die nicht einmal zueinander passten... Wie sollte er denn je herausfinden, ob er dem wahren "Nathanael" oder nur einer Wunschgestalt verfallen war, wenn ihm alle Informationen nur bröckchenweise hingeworfen wurden wie einer Taube die Brotkrumen? "Darf ich... weißt du, ich habe mich zwar daran gewöhnt, dich Nathanael zu nennen und ich kann mir denken, dass du sicher nicht ohne Grund jedem Menschen einen anderen Namen nennst, aber... ich würde dich gerne mit deinem echten Namen anreden... oder zumindest mit dem, mit dem du am liebsten angeredet werden möchtest... ver-verrätst du ihn mir? Bitte...?" Mit geschlossenen Augen lehnte Alain an Caspars Brust, genoss die Sicherheit und die Wärme, die der Mann ihm bot. Er wollte nicht reden, hatte keine Lust die Sache mit seinem Namen zu erklären, aber andererseits wusste er auch, dass wenn überhaupt jemand, dann Caspar das Recht hatte es zu erfahren. Aber es war so schwer. Wo sollte er anfangen? "Ich habe keinen Namen!", beschloss er es einfach auf den direkten Weg. "Wenn ich irgendwo einen Namen höre oder lese, der mir gefällt, dann borge ich ihn mir für eine Gewisse Zeit und eine Person... Das funktioniert gut. So kann ich mich auch meinem gegenüber anpassen, ich überlege, was ihm wohl gefallen würde und suche mir dann eines der Bedeutungslosen Worte aus, mit dem er mich rufen kann." eine Weile sah er nur stumm in die Flammen und streichelte gedankenverloren über Caspars Arme, die ihn umschlossen. "Eigentlich brauchen doch nur Leute, die auf irgendeinem Amt registriert sind einen eigenen Namen, oder? Damit sie nicht immer wieder mit anderen verwechselt werden, wenn sie zum Beispiel Geld von der Bank holen wollen oder sowas. Ich selber nenne mich meistens... naja, Alain, aber wenn dir Nathan gefällt kannst du es auch bei Nathan belassen. Mir ist das egal. Der Name bedeutet "Frieden"... also Alain! Ich hab in einem Laden mal ein Buch gesehen, da stand zu jedem Namen eine Bedeutung drin. Ich hab ewig darin herumgesucht. Eigentlich mag ich den Klang noch nicht so richtig. Ich bin immer auf der Suche nach Namen, die mir von der Bedeutung _und_ vom Klang her gefallen... Nathanael heißt "Gott hat gegeben" und Jonathan "Geschenk Jahwes". Aber ist egal. Ich hab mich bisher auf keinen Namen richtig festgelegt, also wenn du möchtest kannst du dir einfach irgendeinen aussuchen." "Alain...", wisperte er leise in das Ohr des Jungen, langsam und genüsslich, als würde er sich den Klang wie ein Stück zartschmelzender Schokolade auf der Zunge zergehen lassen. /Ja, das passt zu dir... Denn mit dir in meinen Armen finde ich endlich den Frieden, den ich solange gesucht habe.../ "Ich weiß nicht... Du hast zwar Recht aber... für mich bedeutet mein Name auch zu wissen, wer ich bin. Zwar mag ich meinen zweiten Vornamen nicht wirklich, aber ich weiß zumindest, dass es meiner ist und ich denke, dass beruhigt ein bisschen... Aber... wenn dir der Klang von ‚Alain' noch nicht so richtig gefällt, dann sollte ich dich vielleicht einfach "Engel" nennen, bis du einen gefunden hast, den du wirklich magst?", neckte er den Jüngeren und biss zart in die Ohrspitze hinein. Und mit freudig klopfendem Herzen bemerkte er, dass sich ‚Alain' nicht dagegen wehrte, sich nur stumm von ihm umarmen ließ und ab und an selbstvergessen über Caspars Arme streichelte. Nachdem er wieder eine Weile überlegend in das flackernde Feuer gesehen hatte lachte er leise. "Caspar heißt Schatzmeister!" "Schatzmeister?", wiederholte der Blonde ein wenig überrascht, musste dann aber grinsen. "Soso...", säuselte er unschuldig. "Nun, dann sollte ich meinen Schatz gut hüten, um meinem Namen auch Ehre zu machen, nicht wahr?" Und ehe sich der Schwarzäugige versehen hatte, zog er ihn fest an sich und küsste sich sanft über das zarte, beinahe unnatürlich helle Gesicht. "Wie schön du bist", murmelte er bewundernd, fast ein wenig VERwundert. Wie hätte er auch ahnen können, dass er sich eines Tages in einen kleinen heimatlosen Stricherjungen verlieben würde? Schließlich hatte seine Mutter ihn anständig erzogen und als ein Junge, der niemals Armut zu spüren bekommen hatte, war er natürlich auch mit den oft sehr kleinbürgerlichen aber nun einmal allgegenwärtigen Vorurteilen aufgewachsen, die ihm bei aller Nächstenliebe, die ihm seine Mutter gepredigt hatte, sicher nicht dazu geraten hatten, Umgang mit "solchen" Leuten zu pflegen. Um sich nicht zu sehr in den wunderschönen, braunen Augen zu verlieren wandte er sich ab und griff wieder nach seinem Grillstock, um Caspar mit diesem vor dem Gesicht herum zu wedeln. "Jetzt wird erstmal gegessen!", befahl er und biss selber in seine eigene, noch rohe Wurst. Er hatte jetzt keine Lust mehr, über jetzt und später nachzudenken. _Besonders_ nicht über später, denn wenn er ganz ehrlich zu sich selber war gefiel ihm "Jetzt" sogar sehr gut! Und obwohl er selber das Thema aufgebracht hatte, wollte er die Rede auf keinen Fall wieder darauf bringen. Wie Napoleon schob er seine rechte Hand durch die Lücke zwischen zwei Hemdknöpfen und rieb mit seinen kalten Fingern über den juckenden Schorf, der seine Wunde bedeckte. Wieso fing er eigentlich immer an irgendetwas zu erzählen, sobald er in Caspars Nähe war. Lächelnd ließ Caspar sich seine Wurst geben und begann sie zu essen. Ein denkbar einfaches Mahl - aber mit diesem kleinen Engel in seinen Armen schmeckte es immer noch tausendmal besser als jeder Kaviar der Welt. Der Medizinstudent war einfach zufrieden und glücklich, dass sich trotz seiner Eifersucht alles zum Guten zu wenden schien, war dankbar, dass Alain ihm vergab und seine Nähe zuließ, ihm sogar schon so sehr vertraute, dass er immer mehr von sich preisgab - und ihn um Hilfe bat. Blicklos auf Caspars schöne Hände starrend kratzte er ein Teil des Schorfes ab, bis die ersten Bluttropfen seine Fingerkuppe berührte. Die brennenden Augen schließend schob er den Finger in den Mund. Vorsichtig ließ er seine Zunge um seine Fingerspitze gleiten und genoss den Geschmack des roten Lebenssaftes. Erst jetzt schrak er aus seinem Wachtraum auf, wischte schnell den Rest des Blutes von seiner Brust, ehe es in seinem Hemd versickern konnte. Er wollte nicht morgen zum Weihnachtsessen mit einem Blutfleck auf dem Hemd auftauchen. Es war zwar trotzdem recht schmuddelig, aber Virginia würde sich mal wieder viel zu viele Sorgen machen. "Darf ich trotzdem morgen zu euch kommen?", fragte er Leise an Caspars Finger gerichtet. Stirnrunzelnd griff er nach Alains blutigen Fingern und legte den letzten Zipfel seiner Wurst beiseite. Ohne Widerrede zu dulden, drehte er ihn zu sich herum und öffnete die oberen Knöpfe des dünnen Hemdes, nur um zu sehen, was er sich schon gedacht hatte. "Ach Engelchen, so geht das nicht!", seufzte er kopfschüttelnd. "Deine Wunde wird nie heilen, wenn du den Schorf immer wieder aufkratzt. Ich weiß, es ist unangenehm und vermutlich juckt es auch, aber da musst du jetzt einfach durch, wenn du nicht dein Leben lang damit herumlaufen willst... Und wo ist eigentlich der Verband hin? Mom hat dir doch ganz sicher einen gemacht!" Wieder seufzte er, dann sah er den Schwarzäugigen bestimmt und unnachgiebig an. "Nein, du darfst nicht morgen kommen. Du wirst _jetzt_ mit mir kommen! Du bist immer noch stark erkältet und außerdem muss deine Wunde versorgt werden, sonst könntest du Wundbrand bekommen - und glaub mir, Wundbrand ist nichts, was man sich wünschen wollte. Sei mir nicht böse, aber dein zu Hause hier ist jetzt einfach nicht der richtige Ort für dich, um wieder gesund zu werden. Und schon gar nicht, um Weihnachten zu feiern! Lass uns zurück zu mir fahren! Dann können wir morgen meine Mutter besuchen und übermorgen kommt noch meine Schwester vorbei - sie hat mich schon die ganze Zeit damit genervt, dass ich ihr endlich den Kerl vorstellen soll, der mir so den Kopf verdreht hat..." Er grinste ein wenig schief, zuckte dann mit den Achseln. So war sein Schwesterchen eben - und die Neugier lag den Frauen wohl ohnehin im Blut. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)