Clinging to habits von Tsutsumi ================================================================================ Kapitel 1: Sinkende Schiffe --------------------------- Titel: Clinging to habits Teil:1/7 Autor: Tsutsumi Disclaimer: Alle Charaktere aus Yu-Gi-Oh!, die ich hier benutze, gehören nicht mir. Ich leihe sie mir nur aus und gebe sie hoffentlich unbeschädigt zurück. Ebensowenig verdiene ich Geld hierfür. Pairing: Tristan x Joey Kommentar: Diese FF hier ist die Antwort auf Rei17´s und Maddles Päckchenchallenge "7 Angewohnheiten" vom "Challenge"-Zirkel hier auf Animexx. Ich hoffe, ich kann sie gebührend beantworten^^ Wenn Gewohnheit der Sehnsucht weicht, ist es meistens schon zu spät (Damaris Wieser) Sinkende Schiffe Klassenzimmer. Kein Joey. Seto Kaiba hat die Zeitung fachmännisch in einer typisch-großkotzigen Art, für die andere erst fünf Jahre zu studieren pflegen, aufgeschlagen. Seine Augen hängen auf den verschieden großen Lettern, schwenken eilig beim Lesen von links nach rechts und wieder zurück. Der Kaffee neben ihm, wahrscheinlich ohne Milch und Zucker, dampft ebenso hochmütig hoch. Und auf der Titelseite prangt moderat und kühl das Neueste vom Neuen aus aller Welt. `Schiffstaufe perfekt- Die "Queen Victoria" geht als größtes Kreuzfahrtschiff auf Jungfernfahrt und zugleich in die Geschichte e-´ Kaiba klappt die Seite raschelnd zu. "Ich würde es begrüßen, wenn ich meine Zeitung alleine lesen dürfte." Die gewohnt giftig-bissige Bemerkung ruft meine Aufmerksamkeit zurück. Ich blicke ihn nicht an- zu kurz ist der Augenblick zwischen Kaffee, Schiffen und meiner Unentschlossenheit in der großen Pause. Schulflur. Kein Joey. Meine Zähne verbeißen sich im labberig gewordenen Schulbrot, während ich mich ungeduldig durch die Reihen aus tratschenden Mädels und pöbelnden Proleten durcharbeite. Einmal halb verschluckt, dann plötzlich der grauenerregende Lehrer auf zwölf Uhr, bei dem ich eigentlich noch nachsitzen muss. Um ihn nicht unnötig daran zu erinnern, Ausweichmanöver in Richtung Klo. Mit dem Brot, das mir aus dem Mund hängt, warte ich an der Tür, schaue mich einmal mit einem vergewissernden Blick um und spüre die mindestens sechs Kerle hinter mir, die mit heruntergelassener Hose, sich selbst haltend, mich verdutzt anstarren. Buäh. Ich spucke das Brot in den Mülleimer und nehme lieber Magenknurren bis siebzehn Uhr in Kauf. Schulhof, vor der Turnhalle. Kerl, der wie Joey aussieht, aber sich schnell als Strohmann entpuppt. Dazwischen Tea, die sich mit zwei Freundinnen Stepper nach draußen geholt hat und, umringt von sabbernden Männern, ihrer Tanzerei nachgeht. Ich höre den Kies unter meinen Schuhsohlen knirschen, als ich mich sanft, aber bestimmt, durchdrängle. "Nicht auf dem Klo, nirgends auf dem Schulflur!", proklamiere ich kurz und knapp. "Also, wo steckt er diese Woche?" Tea steppt hoch und runter auf diesem Teil. Im Grunde genommen ist es eine einzelne Stufe, schwarz, breit und nutzlos. Wer will schon was mit einer einzelnen Stufe anfangen? Okay, wenn man drei davon hat, kann man schon eine Mini-Treppe bauen, aber im Grunde genommen hüpfen die Mädchen auf Baukastenteilen herum, bei denen sie uns verurteilen, dass wir damit manchmal noch spielen- es sei ja so kindisch. "Die "Queen Victoria" ist schon beinahe über den Atlantik!", antwortet sie, in all ihrer Fitness kein bisschen aus der Puste. "Komm mir nicht damit!", verschränke ich die Arme "Hast du ihn gesehen?" "Habt ihr denn noch immer nicht mit diesen dämlichen Spiel aufgehört?" Sie schwenkt ihren Kopf, sodass ihr die Haare elegant und wunderschön in den Nacken fliegen, macht Nachstellschritte auf dem Stepper, neben dem Stepper...ahm...unter dem Stepper? "Das ist ja furchtbar!" Aber sie muss lachen; das ist das Schlimme an Tea. Ich fürchte, ihre Kinder werden später im Supermarkt davonlaufen, die Tischdecke dreimal täglich herunterreißen und sich gegenseitig Kaugummi in die Haare schmieren. Sie kann einfach nicht auf Dauer so tun, als wäre sie streng. Es sei denn, sie ist streng. Ja, da gibt es in der Tat einen Unterschied! "Versuch´s doch mal auf höherem Niveau!" Schuldach, fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn. Letzte Chance, diesmal zur Abwechslung zu gewinnen! Joey liebt es, zu spielen. Vielleicht, weil sein Leben viel zu ernst verläuft, vielleicht, weil er so gerne Traumtänzer auf realem Parkett ist. Oder auch nur, weil er es gewohnt ist. Mittwoch ist unser "Hide and seek"-Tag. Er versteckt sich irgendwo auf dem Schulgelände. Habe ich ihn dann nicht bis Pausenende gefunden, muss ich ihm etwas spendieren. Meistens ist es Kuchen oder Schokolade oder solcherlei Zeugs, manchmal auch mal ein Playboy. Einmal war es Badesalz. Ja, Joey ist durch und durch Genussmensch, wie sich hier abzeichnen dürfte. Habe ich ihn dann doch noch gefunden, schuldet er mir einen Gefallen. Meistens beordere ich ihn dann zu mir nach Hause, hole Pizza und Cola und lasse ihn an der Spielekonsole die schwierigsten Stellen meiner Spiele durchzocken, um danach als Bester dazustehen. Im Grunde genommen gewinnt Joey immer. Aber das hat sich so eingebürgert. Seit der Mittelschule bin ich so etwas wie ein Schatten für ihn. Wir gehen kaum irgendwo getrennt hin. Wo er ist, bin auch ich. Wo ich rumhänge, ist Joey meistens nicht weit. Selbst jetzt, wo er mit Yûgi und Duel Monsters beinahe zwei Drittel der Woche verbringt, bin ich dabei. Ich stehe dann daneben, feuere ihn an, drücke ihm die Daumen, tue so, als ob ich verstehen würde, was die einzelnen Karten bedeuten. Joey liebt Spiele eben. Manchmal kommt er an mit einem Jojo, dann wieder mit dem neuesten Strategiespiel, was er sich aus dem Laden von Yûgis Opa geliehen hat, dann ist es wieder das gute alte Duel Monsters. Ich schleiche übertrieben vorsichtig über das Dach bis ich Stimmen höre. Stimmen? "Nein, nicht schon wieder dein schwarzer Magier!" "Wieso denn nicht?" Lachen. Drei Schritte weiter und dann sehe ich, wie könnte es anders sein, Joey und Yûgi auf der Bank sitzen, zwischen sich ein Mini-Reise-was-weiß-ich-Duel-Monsters-Spiel. Der schwarze Magier ist bei diesem Teil so klein, dass er mehr Ähnlichkeit mit einer lila Heuschrecke hat, als mit seinem richtigen Erscheinungsbild. Man könnte ihn glatt breittreten. Vorsichtig pirsche ich mich an, betrachte Joeys geraden, schmalen Rücken, der ein bisschen zittert, weil er sich noch immer über Yûgis Lieblingskarte aufregt. So vertieft sind beide in das Spiel, dass sie mich gar nicht bemerken. Und ich liebe von mir selbst inszenierte Überraschungsmomente! Schnell, sanft, mit einem stimmlosen Kichern, was ich irgendwie nicht unterdrücken kann, lege ich schließlich von hinten die Hände auf Joeys Gesicht, sodass er die Karte, die er gerade spielen wollte, vor Schreck fallen lässt. Ein kurzes Zittern durchfährt ihn, Yûgi grinst mich verschwörerisch an, als hätte er von Anfang an mit mir unter einer Decke gesteckt. Joey windet sich ein bisschen. Ein unglaublich frustriert gespieltes Stöhnen entweicht seinen Lippen und dann beginnt er, sich umzudrehen und meine Hände bestimmt nach oben zu schieben. "Ach menno, musste das jetzt sein, Tea?" Da lässt mein Griff gleich von ganz alleine los. "Tea?!" , blaffe ich unkontrolliert. "Wie kommst du bitte auf Tea?" Die Sonne scheint direkt in Joeys Gesicht, lässt seine zerzausten blonden Haare glänzen wie bei diesen tollen Models in Shampoo-Werbungen, wenn sie unter der Dusche beim Shampoonieren Orgasmen vortäuschen. Und darunter erhellt das Licht seine braunen Augen noch ein wenig mehr. Ich stehe hinter der Lichtgestalt meines besten Freundes- hey, ich habe ihn nur ein ganz klein wenig erschreckt- und er erkennt mich nicht einmal? "Oh.." Jetzt grinst er breit. "Sorry, Tris´! Du bist sonst selten so anhänglich." Yûgi lächelt uns in seiner gewohnt selig-heiligen Art an. "Was gibt´s denn?" Ich presse in einem erstaunten Hüsteln Luft aus meinen Lungen; "Wie ´was gibt´s´? Ich hab dich gefunden, Joey! Du hast verloren, das gibt´s!" Er hat es doch nicht vergessen, oder? Plötzlich ist da diese blöde Ahnung. Ein unausgesprochenes Missverständnis? Vergesslichkeit? Nein...nein...Er hat sich auf dem Dach versteckt und, um sich die Zeit zu vertreiben, einfach eine Runde mit Yûgi gespielt. Mehr war es nicht. Ganz sicher. Außerdem ist gar keine Zeit für Miesepetrigkeit und Argwohn. Ich habe endlich wieder einmal gegen Joey gewonnen, und das heißt, dass wir uns heute Abend endlich mal wieder bei Pizza und `Tekken 3´ treffen werden. Irgendwo fühle ich mich tatsächlich erleichtert, auch wenn diese Gewohnheitsbesuche völlig banal sind. Es ist eine angenehme Gewohnheit, ein fast schon geliebtes Gefühl. Schließlich sind Joey und ich unzertrennlich. Und das soll sich in Zukunft auch nicht ändern. "Ah so..." Joey grinst mich unverwandt und geheimnisvoll an. "Heute Abend bringe ich deine Play Station wieder zum Qualmen, mein Freund!" Und plötzlich ist es wieder da, dieses gewohnte leichte Kribbeln der Vorfreude, das durch meine inneren Organe rutscht wie eine teure Edeldroge... ~~~*~~~ Es gibt zum Glück Dinge, die sich nie ändern. Zum Beispiel, dass ich vergesse, vor unserem Zockerabend eine von den Colaflaschen voher zu öffnen, weil ich sie etwas abgestandener mag. Zum Beispiel, dass Joey sich jedes Mal begeistert über diese meine Unsitte aufregt, weil er es eklig findet. "Erst wenn sie dir beim Schlucken den Rachen wegätzt, ist die Mischung aus Kohlensäure, Koffein und Zucker perfekt!", pflegt er zu sagen, immer wenn ich an meinem Glas ein paar Kohlensäurebläschen wegzuschwenken versuche. Was sich auch nie ändert, ist, dass der Pizzabote ungemein unfreundlich ist. Dafür ist er schnell und kräftig, schleudert mir die Pizzakartons immer mit derartigem Schwung auf den Tisch, dass die Salami hinterher neben dem Teig liegt. Ich weiß nicht, wie er das macht, aber er schafft es immer wieder. Danach blaffen wir uns zwei, drei missmutige Wörter zu, ich bezahle und er verlangt Trinkgeld. Was er nicht bekommt. Wovon er noch missmutiger wird. Bis er mich einen `Geizarsch´ nennt, rausstapft und die Tür hinter sich zuknallt. Aber ich glaube, irgendwo mögen wir uns. Joey lässt heute Abend auf sich warten. Das ist beinahe schon beängstigend, weil ich dadurch Zeit habe, um auf den Einfall zu kommen, diesmal die Flasche wirklich vorher zu öffnen. Mit der sprudelnden Limonade lümmele ich auf der Couch vor dem Fernseher herum und zappe mich wartenderweise durch die Programme. Und ich habe Zeit... Auf Programm eins haben vier Kerlchen rhythmische Bewegungsstörungen, während sie versuchen, ein Lied zu singen, was ich bestimmt schon in drei verschiedenen Versionen von drei anderen Zappelgruppen kenne. Spontan, aus Langeweile, und um nicht ständig auf die Uhr gucken zu müssen, renne ich vor den Spiegel, hebe mein T-Shirt an und vergleiche meine Bauchmuskeln mit denen der Kerlchen. Und stelle fest, dass ich sehr gegen sie abstinke. Programm zwei bietet eine dieser nach-21-Uhr-Talk Shows, in denen sich Politiker, Kulturschaffende und weltberühmte Künstler treffen, um über Hundertwasser, Politik und den Sinn von Eierschneidern zu sinnieren. Ein Weilchen höre ich zu und versuche dem Intellekt zu folgen. Aber ich schaffe das nicht besonders lange, weil ich so furchtbar zappelig bin. Habe große Lust, auf Kanal 1 zurückzuschalten. Programm drei ist der Nachrichtensender, der 24 Stunden lang die wichtigsten Meldungen bringt. Gerade will ich schon weiterzappen, als ich plötzlich Bilder von diesem Schiff sehe, von dem Tea heute Mittag gesprochen hat. Das Schiff aus Kaibas Zeitung. Ich beuge mich unwillkürlich vor. "Vor circa zwei Stunden wurde der bauliche Fehler vom verantwortlichen Schiffszimmermann festgestellt", erklärt die hübsche Nachrichtensprecherin in kühlem Tonfall. "Bis dato wurde die `Queen Victoria´ als neuestes schnellstes Kreuzfahrtschiff angepriesen. Dass sie nun mitten im Atlantik langsam aber stetig sinkt, entspricht derselben erschreckenden Ironie wie beim Schicksal der Titanic vor beinahe hundert Jahren." Gebannt starre ich auf den Bildschirm und sehe Luftaufnahmen von einem Hubschrauber oder Flugzeug oder was immer das auch ist. Wie ein riesenhafter weißer Wal bäumt sich das Schiff ein Stückchen mit dem Bug auf. Sieht als, als ob es über das Heck langsam ins tiefe Wasser abgleitet. Drumherum, wie Ameisen, tummeln sich hunderte winziger Boote und noch kleinerer Menschen in weißen Rettungswesten, hektisch, panisch. Ich erfahre, dass die `Queen Victoria´ das modernste Kreuzfahrtschiff ist, was je gebaut wurde, mit so neuen Technologien, dass es jetzt zum Glück so langsam mit Wasser vollläuft, dass hoffentlich kein einziger Mensch zu Schaden kommt. Der Titanic nachempfunden, handelt es sich dabei um eine Art Museumsschiff, mit Rettungsbooten, die ironischerweise so aussehen wie der Titanic. Und als ich mich zu fragen beginne, ob das Sinken dieses Riesenbootes vielleicht nicht sogar zur ganzen Titanic-Nachmachshow dazugehört, klingelt plötzlich ein Telefon. Völlig aufgeschreckt springe ich auf, wühle unter den Pizzakartons nach dem schnurlosen Handteil. "Hey, ich bin´s, Joey!" Wie beruhigender Balsam schlägt mir seine warme Stimme entgegen. Ich weiß nicht genau, warum, aber schon immer hatte Joey einen seltsamen Einfluss auf mich. Wann immer ich nervös und zappelig bin, reicht manchmal ein Wort oder eine Geste von ihm aus und ich beruhige mich. Als hätte ich Tabletten genommen. Andererseits gibt es diesen Effekt auch genau andersherum. Wie oft hat er mich nicht schon so furchtbar nervös gemacht, dass ich aufgekratzt durch die Gegend gerannt bin, mich beim Essen verschluckt habe, irgendetwas zerbrochen habe. Es ist manchmal verrückt. Aber so ist das nun mal bei besten Freunden. Und darüber bin ich froh. "Na, wo bleibst du denn?", plaudere ich, weiterhin auf den Bildschirm starrend. "Die Pizza ist schon beinahe kalt, die Cola dafür warm!" "Najaa..." , beginnt er, doch seine Stimme bleibt an diesem einen Wort hängen, als wäre er gerade einer dieser armen Passagiere, die sich an Rettungswesten und Rettungsboote hängen. "Ich bin gerade noch bei Yûgi und..." Na klar, wo auch sonst, denke ich plötzlich verbittert. So plötzlich, dass es mich selbst erstaunt. "...und er hat hier gerade von seinem Opa die neueste Duel Disk geliehen bekommen. Einer von Kaibas Technikentwicklern lässt die testen. Die ist echt genial!", jubiliert Joey ins Telefon. "Aber der holt die morgen schon wieder ab, das ist das Blöde. Sag mal..." Okay, jetzt kommt´s. Ich spüre, wie sich mein Griff um den Hörer seltsam versteift. "Du willst bei Yûgi bleiben und die Disk ausprobieren, bevor sie morgen wieder weg ist?", nehme ich ihm den Satz weg. Mit ganz ruhiger Stimme, was mich selbst erstaunt. Und ich weiß, er würde jetzt nicken, mit diesem schelimsch-verschämten Gesichtsausdruck, mit dem er uns alle um den Finger wickeln kann. Mit dem er selbst Kaiba schwach machen könnte, wenn er nur lange genug daran arbeitet- dessen bin ich mir ganz sicher. Aber Joey steht nicht vor mir. Unsere jahrelang erprobte, wortlose Verständigung funktioniert am Telefon leider nur sporadisch. "Ähm...jaa..", nuschelt er. "Es tut mir echt Leid, Tris´. Nachdem ich das heute Mittag schon vergessen hatte." `Schiffsunglück unausweichlich´ steht im Fernsehen geschrieben, auf der roten Leiste, auf der die allerneuesten Meldungen entlanglaufen, immer und immer wieder. Unausweichlich. Alle haben sich verkalkuliert. Und ich sitze da, wortlos, wie vor den Kopf gestoßen von Joeys letztem Satz. "Aber das ist echt das Allerneueste vom Neuesten! Ich versprech dir, ich mach´s wieder gut, ich spendier dir die nächste Pizza! Nächste Woche!" Ich kann förmlich hören, wie er mich- und vielleicht auch sich selbst- zu beschwichtigen versucht, eifrig eine Wortgruppe an die andere hängt. Da tut er mir schon wieder Leid. So leid, dass ich mich aus meinem schockähnlichen Zustand herausquäle, die Augen schließe und mich auf die roten und schwarzen Flecken hinter den Lidern konzentriere. "Ist schon okay, Joey.", sage ich sanft. "Tob dich in Ruhe aus. Meine Videospiele laufen ja nicht weg. Und ich auch nicht." Einen Moment lang ist es still zwischen uns. Dann; "Echt jetzt? Ist das wirklich okay für dich?" Wie typisch von ihm, noch zweimal nachzuhaken. "Ja..ja, ist es, na klar." Ich grinse debil in den Telefonhörer. "Verschieben wir das einfach auf nächste Woche...oder auf das Wochenende!" Da höre ich ihn zurückgrinsen; "Wah, danke, Tris´, du bist echt wunderbar! Ich erzähl dir auch morgen alles in der Schule darüber!" Ich nicke müde. Und denke plötzlich, dass mir das Spiel völlig schnurzpiepegal ist. Aber weil es Joey ist, werde ich zuhören, das weiß ich jetzt schon. Ich werde zuhören, mich mitbegeistern und froh darüber sein, dass er bei mir ist. "Okay!", grinse ich. "Viel Spaß und grüß Yûgi!" "Mach ich! Bis dann!" "Zur Stunde werden die restlichen circa 200 Passagiere in Rettungsbooten geborgen. Bis jetzt ist noch unklar, wann Schiffe aus der näheren Umgebung zu Hilfe kommen können, da sich das Wetter hier auf See zunehmend verschlechtert." Der Reporter im Hubschrauber kämpft gegen den Lärmschwall des Propellers an. "Sicher ist jetzt jedoch, dass weder Mitarbeiter noch Gäste verletzt wurden. Es werden also alle mit einem Schrecken davonkommen und dem Wissen, dass sich Naturgewalten und Technik auch in den heutigen Zeiten nicht so einfach vom Menschen beherrschen lassen. Damit gebe ich zurück ins Studio." Mein Grinsen ist wie festgetackert. Auch noch, als ich beginne, allein meine blöde, abgestandene Cola zu trinken und die kalte Pizza mit dem festgewordenen Käse zu essen. Zwei Pizzen, das reicht bei mir bis übermorgen. Er hat es also wirklich vergessen heute Mittag. Nachdem ich mich bis eben noch verzweifelt gegen diese Ahnung gewehrt habe, musste mir Joey das natürlich jetzt als beschämtes Geständnis bringen. Hätte er nicht einfach die Klappe halten können? Ich bin wütend. Auf ihn? Auf mich? Das weiß ich nicht genau. Alles, was mir im Moment klargeworden ist, mit einem Mal, wie bei einer plötzlichen Eingebung, ist, dass nichts mehr so ist wie früher. Lange genug muss ich es irgendwo geahnt haben. Mit einem Mal fühle ich mit den armen Leuten, die im kalten, stürmischen Atlantik treiben, klatschnass, mit einer zu engen Rettungsweste, die einem oben die Luft und unten die Blutzufuhr abschnürt. Etwas Unerwartetes ist geschehen; etwas, was schon immer im Hintergrund gelauert hat. Ich bin wie dieses blöde Schiff da. Aktuell, aber dennoch überholt. Ich kann nicht mithalten mit Yûgi und seinen Kartentricks. Mit Kaiba und seiner Duel Disk noch viel weniger. Mit fest verankertem, krankhaft anmutendem Grinsen sitze ich da, esse und trinke ganz langsam vor mich hin. Und als ich mich endlich ganz langsam vom Nachrichtensender trennen kann, mit mir allein Videospiele zocke, beginnen meine Mundwinkel langsam wehzutun. Ich verliere natürlich. Wie immer, wenn Joey nicht bei mir ist. To be continued... Kapitel 2: Neun von zehn Punkten -------------------------------- Titel: Clinging to habits Teil: 2/7 Autor: Tsutsumi Disclaimer: Alle Charaktere aus Yu-Gi-Oh!, die ich hier benutze, gehören nicht mir. Ich leihe sie mir nur aus und gebe sie hoffentlich unbeschädigt zurück. Ebensowenig verdiene ich Geld hierfür. Pairing: Tristan x Joey Kommentar: Diese FF hier ist die Antwort auf Rei17´s und Maddles Päckchenchallenge "7 Angewohnheiten" vom "Challenge"-Zirkel hier auf Animexx. Ich hoffe, ich kann sie gebührend beantworten^^ Warnung: sappy, Shounen Ai Neun von zehn Punkten Ich fühle mich wie durch den Fleischwolf gedreht. Als hätte mich heute Nacht irgendwas gefressen und wieder ausgekotzt. Als ich zehn Minuten nach dem Weckerklingeln in Richtung Küche um Wohnzimmer an der Pizza vorbeilaufe, wird mir direkt übel. Scheint so, als würde der Pizzajunge in nächster Zeit nicht kommen müssen. Da wird er sich aber freuen! Gedankenverloren kippe ich zwei Tassen Kaffee in mich hinein, esse ein Käsebrot und fange ein zweites an. Ich stehe im Badezimmer, rasiere mich, höre Musik. Ziehe mir mein Uniformhemd falsch herum an. Es ist, als hätte ich ein Vakuum im Kopf. Böse Zungen behaupten zwar, dass das immer so sei, aber ich fürchte, diesmal stimmt es tatsächlich. Als hätte sie mich gestern ins technische K.o. befördert, schlägt Joeys Stimme noch immer ein wenig in meinen Ohren, so ähnlich wie der Pulsschlag rauscht, wenn man gerade die Meile gerannt ist. Ich bin noch wie benebelt. Vielleicht liegt es auch an der ganzen Schiff-Sache, versuche ich mir auf dem Schulweg einzureden. Von wegen Titanic, sterbende Menschen, gerettete Menschen, Dramatik pur- und dazwischen rief eben zufällig Joey an. Hey, in Wirklichkeit geht alles wie gewohnt weiter. Kaiba schmeißt eben alle Jubeljahre ein neues Produkt auf den Markt, damit er sich wieder einen neuen Hubschrauber kaufen kann mit diesem prollig silbernen KC drauf oder damit er Mokuba ein Pony schenken kann oder irgendsoetwas. Joey wird sich davon immer faszinieren lassen. Das heißt nicht, dass ich abserviert bin. Oder? Wir waren immer zusammen, seit der Mittelschule. Ich kenne Seiten an Joey, die kaum ein anderer gesehen hat. Ich war dabei, als er seine Wandlung durchmachte vom immer übelgelaunten Schläger, der tief drinnen einfach nur ein verdammt trauriger Kerl war, zum strahlenden Nervenbündel. All das schweißt doch zusammen. Hundertprozentig, da bin ich mir fast sicher. Und es ist tatsächlich wie gehabt. Als ich in das Klassenzimmer trete, sitzt Seto Kaiba, ein Bein über das andere geschlagen, wie immer teilnahmslos an seinem Platz, schon wieder mit einer Zeitung am Wickel. Nur, dass er gerade die Börsenseite aufgeschlagen hat. Wahrscheinlich hat er den Teil mit der sinkenden `Queen Victoria´ schon längst durch. Einen Moment lang muss ich still in mich hineingrinsen. Kaiba mit dem Börsenteil der Zeitung. Ausgerechnet er beruhigt heute Morgen als erster meine Nerven, indem er einfach tut, was er immer tut und nicht plötzlich ganz andere Sachen veranstaltet. Joey sollte sich an ihm ein Beispiel nehmen! Aus Dankbarkeit grinse ich ihn direkt an, während ich an ihm vorbeistolpere und ihm einen guten Morgen wünsche. Er antwortet, wie immer, nicht. Schließlich bin ich ein so niederes Subjekt, dass er mit mir nicht zu reden braucht. Wie immer. Braver Kerl! Die nächste, die mein verwirrtes Ego streichelt, ist Tea. Sie sitzt ebenfalls bereits an ihrem Platz, spielt gedankenverloren mit einer ihrer braunen Strähnen und blättert dabei mit vorsichtigen Fingern in einer Sportzeitschrift. Joey hasst es, wenn sie ihr Haar so zwirbelt. Er meint, davon würde man Spliss bekommen, jedes Mal. Dann beginnt er immer, sich mit spitzen Gesten durch die Haare zu fahren und mit einem französisch-schwulen Akzent über Teas Haarpflege auszulassen. Ein Spielchen, was er solange treibt, bis es nicht mehr witzig ist; weil Tea ihm entweder den Mund zuhält oder Yûgi vor Lachen vom Stuhl fällt. Apropos...der Kurze ist ja auch schon da. Wie immer mit seinen Karten zugange. Wie hätte es anders sein können. Ab und an beugt er sich möglichst unauffällig nach vorne und flüstert stimmlos seinem Milleniumspuzzle zarte Worte zu, immerzu mit seinem typisch seligen Blick. Im selben Moment klingelt draußen die altersschwache Schulglocke, von der es eigentlich heißt, dass der Hausmeister sie seit drei Monaten reparieren soll. Wenn man sie hört, hat man immer den Eindruck, einer sterbenden Gans, so leicht quäkig und quietschend. Zeitgleich- der Lehrer kramt gerade die Anwesenheitsliste aus seiner Tasche- knallt, wie beinahe jeden Tag die Tür noch einmal auf. Ich muss beruhigt grinsen. Ja, das ist er, mein bester Freund Joey Wheeler, der mit hängender Zunge, schief geknöpftem Hemd und wehenden Haaren gerade noch so rechtzeitig zum Unterricht kommt. Manchmal habe ich das Gefühl, er passt diesen Moment absichtlich ab um so als eine Art Running Gag in die Geschichte unserer Oberschule einzugehen. Für eine gute Story tut er schließlich alles. Dass Joey ohnehin ein einziges Phänomen auf zwei Beinen ist, ist hier jedem klar. Joey, der so viele Großen der Größten im Duel Monsters ohne irgendwelche Götterkarten geschlagen hat. Joey, der das Geld aufbrachte, um seiner Schwester eine Augen-Operation zu bezahlen. Joey, der alles und jeden in seinen Bann zieht. Er hat es immerhin geschafft, dass Seto Kaiba ihn als sprechendes, menschliches Subjekt ansieht. Ich weiß, dass ich diesen Status wahrscheinlich ohnehin nie bekommen würde, da könnte ich anstellen was ich wollte. Vielleicht, weil ich die Leute nicht so einfangen und für mich begeistern kann. Mein bester Freund ist darin Spezialist. "Alle finden Joey niedlich", sagt Tea regelmäßig, wenn ich sie manchmal nach dem Sportunterricht abhole und wir gemeinsam zu Yûgi und Joey zum Mittagessen gehen. "Die anderen Mädels sehen ihn beim Fußballspielen herumalbern und würden ihn am liebsten knuddeln, knutschen und verhätscheln!" Dann lache ich jedes Mal und frage sie, ob sie das denn nicht auch gern tun wolle. Schließlich sei sie doch auch ganz süß. Blaue Flecken von Ellenbogen, die mir daraufhin verschämt in die Seite gerammt werden, trage ich mit Würde. Mit zerzausten Haaren wirft Joey schließlich sein Schulzeug von sich, kramt nach seinem Englischbuch und startet einen Rundumwinker an Yûgi, Tea und mich, die wortlose Art, guten Morgen zu sagen. Und was danach geschieht ist so reine Routine, dass ich die Uhr danach stellen könnte. Bücher aufschlagen, Übersetzungsübungen, Leseübungen, wasweißnicht-Übungen. Auch der Englischlehrer enttäuscht mich nicht. Mit einem Mal fühle ich, wie müde ich wirklich bin. ~~~*~~~ Die gefühlte Temperatur draußen beträgt so sommerlich schöne 25 Grad Celsius, dass es mir zur Mittagspause buchstäblich in den Zehen und Fingern juckt. Manchmal spielen Joey, Yûgi und ich nach dem Essen ein bisschen Volleyball auf dem Schulhof. Ja, direkt nach dem Essen; so ungesund leben wir. Nebenbei johlen wir Tea und ihren Mädels auf ihren Stepper-Stufen zu, um ihr das Gefühl zu geben, eine richtig heiße Braut zu sein. Das ist sie nämlich in der Tat, aber so glaubt sie es uns nie. Taten zählen bekanntlich mehr als Worte. Und so kommt es, dass, als die Schulglocke zur Mittagspause quäkt, ich so schnell wie möglich nach meinen Sandwiches greife und die anderen förmlich vor die Tür schleife. "Herrliches Wetter!", plaudert Tea begeistert, als sie sich neben uns drei anderen auf der Schulbank niederlässt. "Da müsste man direkt nach der Schule zum Baden fahren." Sie reckt sich und atmet demonstrativ tief ein und aus. "Bin dabei!", nuschele ich durch Weißbrot und Truthanschinken. Etwa übereifrig, das gebe ich zu. "Dann machen Joey und ich Yûgi und dich beim Wasserball zur Schnecke!" Beste Freunde sind nämlich unschlagbar. Damals, in unserer finstersten Bandenzeit konnten Joey und ich gemeinsam fünf Kerle vom Kaliber eines Bodyguards fertigmachen. Fertigmachen in dem Sinne, dass sie hinterher blaue Augen hatten und uns beim Wegrennen nicht erwischt haben; okay, aber man muss bedenken, dass diese Typen reichlich älter waren als wir. Wenn ich mich im Nachhinein daran erinnere, waren das die besten Momente damals. Mit vom Keuchen offenen Mündern durch die Straßen hetzen, nebeneinander, umeinander, uns gegenseitig über Zäune helfend, an Jacken und Händen zerrend, halb ineinander verschlungen und beinahe grenzenlos frei. "Na, was ist, ihr beiden?", wendet Tea sich Yûgi und Joey zu. "Kommt ihr auch mit?" In dem Moment starrt der Kleine auf einmal verlegen zu seinem Milleniumspuzzle herunter und an ihm vorbei auf seinen angefangenen Schokokeks. "Tut mir Leid", sagt er verschämt; "Aber heute Nachmittag ist in der City Hall diese Spielemesse..." "Na, das ist doch nicht so schlimm", mische ich mich ein und versuche, nebenbei unauffällig Schinken, der zwischen meinen Zähnen klemmt, mit der Zunge wegzupulen. "Dann gehen wir halt abends baden. Da ist es ohnehin nicht mehr so heiß." "Aber die Messe ist wahnsinnig groß!", sagt Joey plötzlich, der von Yûgi Kekse am laufenden Band isst. Wann sich das eingebürgert hat, weiß ich auch nicht. Jedenfalls isst er Yûgi regelmäßig die Hälfte seines Schulessens weg. Früher ist er auch schon ohne Essen zur Schule gekommen. Das liegt manchmal daran, dass sein Vater nicht einkaufen geht. Oder so besoffen ist, dass er manchmal Essen oder gar ganze Wohnungseinrichtungsgegenstände aus dem Fenster wirft. Zum Glück wohnen sie nur im zweiten Stock. Aber die Lebensmittel kann man schlecht verwenden, wenn sie erst mal auf der Straße liegen. Früher habe ich Joey Sandwiches mitgebracht. Die mit Ei und Käse mag er besonders gerne. Aber irgendwann hat sich das geändert. Ich glaube, es fing damit an, dass Yûgi zu mir meinte, dass wir uns gemeinsam um Joey kümmern könnten in der Hinsicht. Wann, warum und wie daraus ein Alleingang geworden ist, kann ich nicht mehr genau sagen. "Eh man da überall durch ist und alles ausprobiert hat, ist der ganze Tag rum!", fuchtelt mein bester Freund wild mit den Händen herum. Seine braunen Augen sind meinen so nahe, dass ich in ihnen das berühmt-berüchtige Wheeler-Glitzern erkennen kann. Das hatte er schon immer, und jedes Mal, wenn ich es auf´s Neue erblicke, fühle ich mich wie beruhigt und nervös zugleich. Es ist diese Energie, die er um sich herum verteilt und mit der er Leute ansteckt ohne dass er es weiß. "Da müssen wir gleich nach der Schule hin!" , sagt er bestimmend. "Ja..", Yûgi lächelt. "Das wollte ich eigentlich damit sagen. Kommt ihr auch mit?" Meine Tagträume vom Wasserspaß zu viert, von einer Freizeitaktivität, die ich endlich wieder mit Joey tun möchte, ohne die Worte "Karte" oder "Monster" zu gebrauchen, versinken in der Finsternis meiner Gedanken. Ist das alles etwa ein Fluch? "Ich komme gerne mit!", sagt Tea am anderen Ende der Bank und lächelt. "Vielleicht finde ich ja was Schönes!" Ich bewundere ihren Optimismus. Nein, wirklich, Tea würde selbst inmitten einer Jahrhundertsturmflut noch solche Sachen sagen wie "Ach, seht mal, wie schön die Muscheln aussehen, die da an dem überfluteten Hausdach kleben!" Gut, ich gebe zu, das ist übertrieben. Aber es ist Tea. "Und du, Tris´?" Ich schrecke aus den halb abgedrifteten Gedanken hoch. Irgendwie würde mich Joeys Stimme immer wieder zurück ins Bewusstsein reißen. Selbst wenn ich einen Motorradunfall hätte und für klinisch tot erklärt werden würde- ein Wort von Joey Wheeler und ich würde aufstehen und mit ihm aus der Leichenhalle rennen. So muss das zwischen besten Freunden sein. Selbst wenn einer von ihnen sich gerade verraten fühlt. "Ach, weißt du..." Ich grinse unbeholfen und kratze mich umständlich am Kopf. "Du weißt doch, ich bin nicht so der Typ für solche Sachen. Ich würde eh nur bei den Videospielen hocken- und selbst da würde es mir irgendwann langweilig werden." Joey legt den Kopf schief, sodass ihm ein paar der hellblonden Strähnchen sanft in die Augen fallen. "Ach komm schon, Duke kommt wahrscheinlich auch!" Als ob das ein Argument wäre. Wenn ich nicht von vorne bis hinten mit Karten zugeschmissen werde, dann mit Würfeln und Karten. Ich schließe meine Augen frustriert, doch lächle weiter, fahre müde mit den Händen über die Augen. Und dann platzt plötzlich ein Satz aus mir heraus, der mir so unpassend erscheint wie ich unpassend wäre wenn ich mit Tea auf Steppern herumhüpfen würde. "Kommt deine Schwester auch?" Eine watteweiße Wolke schiebt sich in dem Moment vor die Sonne, sodass ich die Augen nicht zukneifen muss, als ich sie wieder öffne und die bunten Flecke vor ihnen zähle, die daher rühren, dass ich an meinen Augäpfeln herumgedrückt habe. Ich blicke in drei grinsende Gesichter. "Wenn ich sie frage, bestimmt." Joey kaut geräuschvoll auf einem Schokokeks herum. Krümel sprenkeln seine roten Lippen, dunkel, süß. "Sie hat ja ohnehin einen Narren an die gefressen!" Jetzt lachen sie, alle drei. Bin ich hier in einer Sketch Show gelandet? "Na, und wie´s scheint, beruht das auf Gegenseitigkeit!", witzelt Tea und zwirbelt schon wieder an ihren Haaren herum. "Ah, Tea, wie oft soll ich´s dir noch sagen, du sollst deine Haare nicht so misshandeln!" Natürlich springt Joey gleich darauf an. Er fuchtelt mit dem Keks herum, krümelt seinen ganzen Blazer damit voll. "Lass mich mit meinen Haaren doch machen was ich will!", keift Tea gespielt beleidigt zurück. "Kümmere dich mal lieber um deine Mähne!" "Mit meiner Mähne ist alles in Ordnung! Aber du hast bald keine Haare mehr auf dem Kopf, wenn du so weitermachst!" Irgendwo drifte ich ab in Gedanken. Zurück in die Vorstellung, wie es wohl geworden wäre, wenn wir heute zum See gefahren wären. Wasserball gespielt hätten. Ich hätte Sandwiches gemacht. Salami. Und Käse mit Ei, extra für meinen besten Freund. Meinen besten Freund, der mir schon wieder wie durch die Finger gleitet. Hinüber zu Yûgi und seinen Karten. Plötzlich habe ich das unbestimmte Gefühl, unter so einer kleinen Gewitterwolke zu sitzen, wie sie sie in den Cartoons und Comics so gern darstellen. Als ob es nur auf mich niederregnen würde. Und Blitze treffen mich direkt in den Kopf. Irgendwo bemerke ich wie nebenbei, wie Tea aufgestanden ist und plötzlich neben mir steht, um sich für den Rest der Pause zu entschuldigen. Der Stepper und die männlichen Groupies rufen. Irgendwo zwischen Gewitter, Kekskrümeln, braunen Glitzeraugengedanken und den Geräuschen vom knirschenden Kies unter uns dringt plötzlich ihr besorgter Blick zu mir durch. Der Sonnenschein funkelt in ihren gezwirbelten Haaren. "Alles klar mit dir, Tristan? Du grinst die ganze Zeit schon so komisch, als würde dir wer die Mundwinkel hochzerren." ~~~*~~~ Seto Kaiba telefoniert. Es ist eines dieser ganz neuen, tollen Silberhandys, die die Mädchen mit glitzernden Strasssteinchen und Herzchenstickern bekleben und die sie anschließend mit fünf Kilo Schlüsselanhängern belasten, angefangen bei Hello Kitty bis zu Batman. Aber Kaiba nicht. Der hat stattdessen an der Klappe wieder einmal nur sein Firmen-"KC" kleben. Spontan versuche ich mir vorzustellen, wie es wäre, wenn er Mokuba wirklich ein Pony kaufen sollte. Ob sie das arme Tier silbern färben und ihm ein "KC" ins Fell rasieren würde? Ich hänge halb, sitze halb an meinem Tisch und blinzele müde durch die heruntergezogenen, aber leicht geöffneten Lamellen der Jalousien des Klassenzimmers. Draußen dringt der Lärm von den letzten fünf Minuten der Mittagspause herein. Ich habe keine Lust gehabt, bei Tea zuzugucken und mir mitanzusehen, wie sich Kerle nach ihr umgucken. Sie anfeuern macht nur mit Joey richtig Spaß, zumal er das viel, viel besser kann als ich. Und als Yûgi und eben mein bester Freund die Karten auspackten, um "nur mal eben schnell" das Duell von gestern Abend nachzustellen und zu gucken, welche Alternativen man hätte spielen können, habe ich das Handtuch entgültig geworfen. Wer hätte gedacht, dass ich einmal hier landen würde? Schließlich verbringen nur Außenseiter ihre Pausen allein im Klassenzimmer. "Es ist mir egal, wie viel Johnson davon hält!", bellt Kaiba in sein Handy, allerdings mit gehaltenem, geschäftsmännischem Ton. "Diese Aktien werde abgestoßen, wenn ich es sage! Ich pokere nicht um zwei Millionen." Er lehnt sich langsam zurück und schlägt wieder das eine Bein über das andere. Wie er das schafft, ist mir ein völliges Rätsel. Seine Beine sind viel zu lang, eigentlich müsste er unpraktischerweise mit dem Knie gegen die Tischplatte knallen, vor Schmerz wimmern und den Kerl am anderen Ende aus Frust anbrüllen. Aber das wird wohl nie passieren. Vor ihm liegt, akkurat zusammengefaltet, die heutige Zeitungsausgabe. Vorne ist ein Bild von der `Queen´ zu sehen, fast ganz versunken. Daneben Berichte und Interviews mit dem Kapitän. Ich blinzele verhalten hinüber. "Nein, das werde ich nicht.", fährt Kaiba ruhig fort. Bedrohlich ruhig. "Ich sehe Johnson und Sie heute Nachmittag ohnehin in der Konferenz. Sollten Sie beide bis dahin keine ordentlichen Zwischenberichte vorzuweisen haben, sagen Sie mir besser jetzt schon Bescheid, damit ich Ihre Kündigungspapiere vorbereiten kann." Ich lege meine verschränkten Arme auf der Tischplatte ab und bette meinen Kopf darin. Und auf mich fallen unzählbar viele Licht- und Schattenstreifen von der Jalousie. Es ist still. Kaiba hat aufgelegt. Wahrscheinlich werden die Leute aus seiner Firma schnell aufmüpfig. Kein Wunder, hätte ich einen Chef, der womöglich nur halb so alt ist wie ich, würde ich auch aufmucken. Andererseits bewundere ich Kaiba irgendwo für sein Durchhaltevermögen, mit der er unermüdlich anderen ihre Grenzen aufzeigt. Darin ist er klasse. "Sag mal, Kaiba..." Ich blinzele aus dem Fenster, sehe Mädchen draußen vor dem Haus vorbeiflanieren, sehe Jungen hinterhergucken. Und diese beiden Lehrer da, die gemeinsam Pfeife rauchen. "Ich weiß, ich bin für dich nur eine nicht ernstzunehmende Randfigur, und du hast sowieso immer Besseres zu tun." Auf dem Volleyballfeld rutscht ein Mädchen böse aus. "Aber eines würde ich echt gern mal wissen. Nur so aus Neugier!" Er raschelt mit dem Blazer seiner Schuluniform. Und auch wenn ich ihn nicht ansehe, ich habe das Bild seines ausdruckslosen Gesichtes mit den hartgeformten Augen direkt in meinem Kopf. Seto Kaiba, der Großkotz, dem Joey so wunderbar Paroli bieten kann. Können wird. Ich weiß das, ich habe Joey immer dabei zugesehen und angefeuert. "Angenommen, du würdest Mokuba ein Pony kaufen..." Licht blendet mich. "Was würde er dann damit machen?" Ich höre, wie sich der lange, schmale Körper vom seinem Stuhl erhebt. Eine Präsenz, die mir in einem friedlichen Moment wie diesem trotz allem Respekt einflößt. Die Stille des Zimmers hängt dumpf in meinen Ohren. Ich kann förmlich hören, wie alles um mich herum verstaubt. "Würde er jeden Tag ausreiten? Würde er es Butterblume nennen und nur noch Bücher über Pferde lesen? Und sich nie wieder mit Duel Monsters beschäftigen? Oder gar dir?" Kaibas Schritte hallen leicht, als er auf den Flur tritt und die Tür hinter sich zumacht. Er hat kein Wort gesagt, sich nicht einmal geräuspert. So wie immer. Ich wusste es. Kaiba lässt mich nicht im Stich. ~~~*~~~ Es ist Abend, als ich auf der Couch wieder zu mir komme. Noch immer liegt da diese abartige, kalte Pizza von gestern Abend. Irgendwo zwischen Traum und Bewusstsein nehme ich mir vor, sie so schnell wie möglich zu entsorgen. Und dann weiß ich wieder, was ich hier mache. Dass ich mich hierher geschmissen habe, gleich nachdem ich aus der Schule gekommen bin. Mein Kopf hämmert unerträglich. Ich wette, Yûgi, Tea und Joey amüsieren sich gerade prächtig auf der Messe. Vielleicht, denke ich, hätte ich doch mitkommen sollen. So tun, als ob mich das alles wahnsinnig interessieren würde. Nun, ich hasse Duel Monsters nicht. Ich hasse gar nichts. Aber das ist bei mir so wie mit Kaninchen. Ich mag Kaninchen, ich streichle sie gerne, ich weiß ungefähr, wie man sie hält und dass man sie nicht an den Löffeln anfassen darf, weil ihnen das weh tut. Das gibt mir aber noch lange keinen Grund, zu einer Kaninchenausstellung zu gehen, um dort über die Fellzeichnung eines Löwenköpfchenwidders zu diskutieren. Duel Monsters ist genau so. Ich mag es. Ich weiß ungefähr, wie man es spielt. Fertig. So richtig habe ich nie verstanden, warum alle Welt plötzlich ihre Konflikte mit den Karten lösen wollte. Ich wurde überrumpelt davon, habe verpasst, mich einzufügen und mitzumachen. Darwin würde jetzt sagen, dass ich nicht fit genug war und von der Evolution zum Nebendarsteller degradiert wurde. Nur weil ich Probleme lieber mit Worten oder, falls nötig, mit den Fäusten löse. Es wäre auch alles kein Problem...aber diese Karten...und Yûgi...entziehen mir meinen besten Freund. Ich nehme erschöpft einen Schluck wunderbar abgestandener Cola und gehe im Gedanken den heutigen Tag durch. Kaiba mit seiner Zeitung. Tea mit ihrer Sportzeitschrift und ihrer Lieblingsdisziplin ´Haare zwirbeln´. Yûgi, der an seinem Platz Karten und Puzzle ordnete. Die quäkende Schulglocke. Joey, der zu spät kam. Der Lehrer mit seiner alltäglichen Fadheit. Sodann Joey, der bei Yûgi Kekse und Brot pumpte. Tea auf dem Stepper. Kaiba, der mich ignorierte. Es ist wie eine Liste; eine Liste von Dingen und Menschen, die so wie immer waren, sich wie immer verhielten. Gewohnheiten, Alltag, der um mich jeden Tag passiert, dem ich vertrauen kann. Aber eines fehlt; Tristan, der mit Joey zusammen ist. Neun von zehn Punkten. Im Kopf zähle ich noch mal durch. So wie man Punkte einer zurückerhaltenen Arbeit noch mal durchzählt, weil man hofft, dass der Lehrer sich verzählt hat, dass es doch in Ordnung ist, dass man doch noch den fehlenden Punkt irgendwo findet. Aber hier weiß ich ganz genau, dass Joey nicht innerhalb der nächsten zehn Sekunden in mein Wohnzimmer stürmen wird, mir um den Hals fallen und sagen wird, dass er jetzt doch baden gehen will. Ich bin durchgefallen, habe versagt. Den Freundschaftstest nicht bestanden. Neun von zehn Punkten. Weniger als ungenügend. Missmutig sitze ich auf der Couch und versuche, meine durcheinandergeratenen Haare zu ordnen. Meine Frisur neigt sich leicht nach links. Ich zappe durch die Kanäle, auf der Suche nach etwas, was mich ablenkt. Doch da ist nichts, was meine Aufmerksamkeit für länger als zehn Sekunden hält. Eine tiefe Unruhe sitzt in mir und da ist nichts, was mich besänftigen, was mich beruhigen kann. Ich kann ihn nicht einfach anrufen; er ist nicht zu Hause und ein Handy besitzt er auch nicht. Wenn ich jetzt bei ihm anrufen würde, würde ich ohnehin nur seinen Vater am Rohr haben. Und was sollte ich mit dem schon besprechen? Ich trinke Cola und pflege den ekligen Geschmack, der sich in meinem Mund angesiedelt hat wie eine Horde wüster Bakterien. Draußen ist es bereits dunkel. Neun von zehn Punkten. Als die Colaflasche leer ist, läuft im Fernsehen diese Werbung für den Top-Süßwarenhersteller des Landes. Menschen, die sich umarmen, die einander küssen und herzen; wunderschöne Mütter, die ihre noch wunderschöneren Kinder umarmen, nachdem diese ihnen Schokolade in die Hand gedrückt haben. Büromenschen, die eher danach aussehen, als ob sie Besitzer eines Fitnessstudios wären, strahlen über das ganze Gesicht. Warum auch nicht? Die werden immerhin nicht mit Karten betrogen. "Weil es dich gibt!" trällert der Slogan engelsgleich. Fünf Minuten später halte ich es nicht mehr aus. Wie ein nagendes Gefühl, ganz tief drinnen, ist diese unglaubliche Nervosität. Gepaart mit den Kopfschmerzen bauscht sich in mir der reinste Amoklauf hoch; es ist als würde mir der kalte Schweiß ausbrechen- was er aber nicht tut, es fühlt sich nur so an-, es ist als würde ich ohne zusammenhängendes Denken handeln, kopflos, haltlos. Neun von zehn Punkten. "Ja, hallo?" Plötzlich hocke ich am Telefon und weiß weder ein noch aus. "Hallo? Ist da jemand?" Durch die Telefonleitung klingt diese Stimme noch niedlicher und noch mädchenhafter als ohnehin schon. Schon als ich sie zum ersten Mal gehört habe, als Joey sie mir vorgestellt hat, war ich so verzückt von ihr, dass ich dachte, sie könnte glatt eine Barbie-Stimme sein. "Ja...hi.", presse ich hervor. Mein Kopf hämmert. "Ich bin´s...Tristan." Da endlich die Erleichterung; "Ah, du bist es! Wie geht´s dir?" "Gut.", lüge ich. "Und dir? Hoffentlich auch gut!" Hoffentlich besser als mir. "Ja, auch gut." Ich fürchte, sie strahlt so richtig am anderen Ende. In diesem Moment fällt mir wieder ein, was Tea vorhin meinte. Angeblich soll Serenity an mir einen Narren gefressen haben. Verdammt, warum hab ich sie angerufen? "Aber sag mal...warum rufst du mich denn an?" Ja, warum? Ich kann kaum richtig denken unter all den Kopfschmerzen, unter dem ekelhaften Mundgeschmack, unter den zitternden Gliedern, die vor Schreck ganz schön beben. "Weil...ähm...weil es dich gibt.", imitiere ich die Stimme aus dem Fernsehen, in erbärmlicher Art und Weise. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was hier geschieht. Was ich mache. Wie ich von Joey plötzlich auf Serenity, seine Schwester, gekommen bin, will mir nicht in den Kopf. Vielleicht wollte ich ihre Stimme hören? Als Ersatz zu seiner? Ich stehe da wie der letzte Idiot, habe ein mit Cola bekleckertes Hemd an und pule im Gel in meinen Haaren herum. Und ich fühle mich nervös. Unendlich nervös. "Weißt du, Serenity... willst du...hast du nicht mal Lust, mit mir auszugehen?" To be continued... Kapitel 3: Interpretationen --------------------------- Titel: Clinging to habits Teil: 3/7 Autor: Tsutsumi Disclaimer: Alle Charaktere aus Yu-Gi-Oh!, die ich hier benutze, gehören nicht mir. Ich leihe sie mir nur aus und gebe sie hoffentlich unbeschädigt zurück. Ebensowenig verdiene ich Geld hierfür. Pairing: Tristan x Joey Kommentar: Diese FF hier ist die Antwort auf Rei17´s und Maddles Päckchenchallenge "7 Angewohnheiten" vom "Challenge"-Zirkel hier auf Animexx. Ich hoffe, ich kann sie gebührend beantworten^^ Warnung: sappy, Shounen Ai Interpretationen Irgendwann vor einem halben Jahr ungefähr hat Tea Joey und mir dieses Mädchenspiel mit dem Kaugummipapier beigebracht. Ich erinnere mich, dass es ein fauler Nachmittag war, an dem wir bei Tea zu Hause herumgesessen und keine Lust auf Hausaufgaben gehabt hatten. Und wenn uns langweilig ist, sind Joey und ich zu allem bereit. Man nimmt dazu das äußere Papier von Kaugummis. Am besten macht sich dafür Wrigley´s. Man nimmt zu zweit ein Papier, jeweils zwischen Daumen und Zeigefinger und zerreißt es dann gemeinsam in zwei Hälften. Dann muss man, indem von auf der Vorderseite beginnt, aufgedruckte Buchstaben und Zahlen nach dem Alphabet abzählen. Der erste Buchstabe vorne ist A, dann folgt B, es wird so weitergezählt, bis man am Ende ist; dann dreht man das Papier um, klappt die Öffnung auf und zählt an den kleinen Zahlen und Buchstaben, die auf den weißen Streifen gedruckt sind, weiter. Ich hätte mir vorher nie träumen lassen, was für komplizierte Spiele die Mädchen spielten. Wir Jungs pflegten früher immer Rugby ohne Regeln zu spielen, was genaugenommen einfach nur Prügeln mit Ball ist. Aber die Mädchen zählten stattdessen Buchstaben ab. Auf Kaugummipapier. Der Buchstabe, bei dem man am Ende ankommt, ist der Anfangsbuchstabe des Namens des späteren Geliebten, hat Tea uns erklärt. Also versuchten wir es. Und weil Joey wie so oft so gierig war, hatte er nach dem Reißen die größere Hälfte. "Ich habe ein T raus!", hat er gegrinst und Tea schließlich in die Seite geknufft. "Mach dich bereit, Baby!" Und auch wenn Tea sich daraufhin wahrscheinlich gewünscht hat, uns nie wieder so etwas beizubringen...mir fehlt das alles. In letzter Zeit lernen wir auch so gut wie gar nicht mehr gemeinsam. Und wenn Joey lernt, dann tut er das mit und bei Yûgi, weil er dort ohnehin schon zwei Drittel der Zeit nach Schulschluss herumhängt. Es ist nicht so, dass er da nichts lernen würde, ganz im Gegenteil. Yûgi kann um Klassen besser erklären als ich, was wahrscheinlich daran liegt, dass er den Stoff auch vollständig kapiert. Ohnehin scheine ich Yûgi nur in einer einzigen Disziplin zu schlagen. In der Körpergröße. Dabei mag ich Yûgi. Wirklich. Wie sehr hat es mir hinterher leid getan, dass ich ihn damals gehänselt und geärgert habe. Nachdem er sich für Joey und mich hat verprügeln lassen, nach all den Freundschaftsbeweisen, nach all den Duellen kann ich mir den Kleinen nicht mehr wegdenken. Er ist immer für einen da, immer freundlich, immer lieb, immer verständnisvoll. Es ist klar, dass Joey so sehr an ihm hängt. Vielleicht kann Yûgi ihm all das geben, was er daheim vermisst. Vielleicht fehlt Joey zuallererst die Feinfühligkeit, mit der man ihn behandeln muss, um aus ihm diese Wahnsinnsenergie zu kitzeln, die in seinem Augenglitzern steckt. Yûgi hat diese Feinfühligkeit. Mein Feingefühl besteht lediglich darin, Joey zu Cola und Videospielen einzuladen. "Nicht wahr!" Tea fährt halb von ihrem Stuhl hoch. "Du hast echt ein Date mit Serenity?!" "Schrei doch noch lauter!", knurre ich und hebe beschwichtigend die Hände. "Vielleicht will der Direx auch was von dieser Neuigkeit haben!" "Tut mir Leid!" Grinsend setzt sie sich wieder, streicht ihren Rock glatt und nimmt einen kleinen Schluck von diesem sündhaft teuren Vitamindrink, den sie immer mit in die Schule schleppt. "Aber ich bin einfach so von den Socken! Ich hätte ohnehin mein Tanzgeld verwettet, dass das mit euch noch was wird!" Scheinbar habe ich mich gerade der Falschen mitgeteilt, stelle ich innerlich seufzend fest. Wer hätte gedacht, dass Tea so eine Skandalnudel ist. Obwohl...ist es ein Skandal, wenn ich mit Serenity ausgehe? "Sei froh, dass du das nicht getan hast!" Ich beiße umständlich von meinem Schulbrot ab. "Ein Date heißt doch noch lange nichts." Die Sonne scheint genauso schön wie vor zwei Tagen. Nur dass Tea ihren Stepper heute ausnahmsweise mal nicht rausgeholt hat, weil die Teile erneuert werden. Ich ertappe mich dabei, wie ich mir wünsche, dass Duel Monsters Karten auch mal erneuert werden müssen. "Ach papperlapapp!" Tea schüttelt ihre Haare. "Wo geht ihr denn hin?" Ich gucke missmutig auf den Kiesboden zu meinen Füßen. "In den Zoo." "In den Zoo?" Ich brauche nicht hinzusehen um zu wissen, dass sie eine Augenbraue in die Höhe gezogen hat. "Ja doch, in den Zoo!", gebe ich ungeduldig zurück. "Ich kann das nun mal nicht so gut mit Essen gehen, Blumen, Konzerten und dem ganzen Scheiß. Außerdem findet ihr Mädels Tiere doch süß, da dachte ich, das ist für den Anfang ganz gut." Das scheint sie zu überzeugen. "Okay, okay!", sie nippt wieder an dem Drink. "Außerdem seid ihr ja sowieso verliebt, da ist es ja im Prinzip auch egal, wo ihr hingeht und was ihr macht." Das lässt mich halb an meinen Sandwich ersticken. "Moment mal!", huste ich und klopfe mit der Faust auf meine schmerzende Brust. "Wer hat gesagt, dass wir verliebt sind?" Wieder diese Augenbraue. Wieso nur habe ich manchmal das Gefühl, dass ich vergesse, dass Tea ebenfalls ein Mädchen und somit auch mal unverständlich ist? Sie stellt ihre Flasche beiseite und beginnt an den Fingern abzuzählen; "Du fragst aus dem Blauen heraus Joey nach ihr; ob sie mitkommt zur Spielemesse. Dann rufst du sie an, bist dabei total nervös, kriegst Schweißausbrüche und stotterst!" Oh, ich wusste es, ich hätte es ihr besser nicht erzählt! "Und zu guter Letzt gehst du mit ihr in den Zoo! Jetzt beleg mir mal bitte, dass du nicht in sie verknallt bist!" "Tea...", Ich wende mich meiner Freundin mehr zu. "Ich mag Serenity. Ich hab sie gern, als Freundin. Keine Ahnung, ob ich mich je in sie verliebe. Jetzt dreh mir doch bitte keinen Strick daraus!" Jetzt starrt sie mich entgeistert an, ganz so, als hätte ich ihr versucht, Quantenphysik beizubringen. Ihre hübschen, braunen Haare glänzen frischgewaschen in der Sonne, sind sorgfältig gekämmt. Ich habe sie nie angefasst, aber sie sehen aus, als würden sie sich ganz seidig weich anfühlen. Nicht so wie Joeys, die sind, wenn sie frisch gewaschen sind, ein bisschen struppig. Dafür glänzen sie noch mehr. Und obwohl sie sich irgendwo rauh anfühlen, streiche ich gerne neckisch durch sie hindurch, ordne Strähnchen, halte sie beinahe sanft zwischen den Fingern. Ich vermisse das. "Aber warum gehst du denn dann überhaupt mit ihr aus?" , fragt Tea völlig verständnislos. "Wenn du sie nur nett findest..." Ich lasse den Kopf leicht hängen. Das mache ich in letzter Zeit öfter, weil er mir so unendlich schwer vorkommt. Dabei ist doch nur ein Vakuum da drin... Wahrscheinlich habe ich die Spielregeln nicht verstanden. Aber scheinbar habe ich mit der Date-Sache wenigstens eines erreicht- Joeys geballte Aufmerksamkeit. Denn nach dem Unterricht kommt er direkt zu mir gestürmt, als ich langsam die Straße entlanglaufe, mit wenig wippenden Schritten. Seine Haare fliegen typisch völlig durcheinander und mit Yûgi im Schlepptau, wie könnte es auch anders sein, fällt er mir so plötzlich von hinten an den Hals, dass ich mich ein wenig erschrecke. "Hey du Schurke!", lispelt er mir mit einem schlechten italienischen Akzent ins Ohr, jagt mir ganze heiße und kalte Schauer über den Nacken und den Rücken. Ich bin es fast nicht mehr gewöhnt, ihn so nahe bei mir zu haben. Nicht, dass wir ständig gekuschelt haben oder dergleichen, so unmännlich sind wir nicht, aber trotzdem spüre ich, wie tief in mir etwas glücklich zu grinsen anfängt. Ein grinsender Magen...diese Vorstellung hat schon beinahe was für sich. "Du entführst also morgen mein Schwesterherz?" Ich spüre seine Hände auf meinen Schultern lasten, den feinen, ganz warmen Druck und wie seine Haare, seine Wange Millimeter an meinen vorbeirutschen, als er langsam wieder von mir ablässt. Seine schlanken Finger streifen kurz meine Hand und dann quetscht er sich grinsend gegen mich, Schulter an Schulter. Und ich habe das Gefühl, plötzlich wieder richtig Luft zu bekommen; als wäre eine Art unsichtbares Korsett von mir abgesprengt. Mein bester Freund redet mit mir! "Also ich...", beginne ich und spüre die Hitze, die er mir mit dieser Wahnsinnsenergie zusendet. Joey lacht über das ganze Gesicht; "Du musst ja deswegen nicht gleich rot werden!" Da kratze ich mich verlegen am Kopf. "Naja...ich hoffe, dass das keine Katastrophe wird.", sage ich und grinse debil. Interessant, früher habe ich das in seiner Anwesenheit nie getan. Oder aber ich habe es immer getan und merke es jetzt zum ersten Mal. "Ach Quatsch!", sprudelt Joey hervor und knufft mich in die Seite, dass es kitzelt. "Sie ist toll und du bist ´n netter Kerl, der ihr die Sterne vom Himmel pflückt oder wie auch immer das Verliebte ausdrücken würden. Dir vertraue ich da voll und ganz!" Er lächelt sanft, schüttelt die zerzauselten Haare und hält mir den Daumen hoch. Und für einen Moment sehe ich ihn an, sehe sein glückliches Gesicht und denke mir, wie glücklich ich selbst jetzt auch sein sollte. Schließlich werden wir alle eine riesengroße, aberglückliche Familie sein, wenn ich erst mal mit Serenity verheiratet bin und ihr ein Kind nach dem anderen schenke. Ab und zu wird Onkel Yûgi zu Besuch kommen, wird Spielzeug zu Werbezwecken verteilen und schließlich mit Handys mit einem silbernen "KC" drauf herumwinken. Joey wird nebenan wohnen. Und ich werde ihn nur sehen, wenn bei uns mal das Salz alle ist und ich welches borgen gehen muss. So wird das sein. Zumindest nach Teas und Joeys Interpretationen. Schließlich bin ich ja ein netter Kerl. Ja, ganz genau. Ich bin der nette Kerl von nebenan, der niemals ausrastet, der immer da ist und einen anfeuert und der sich nie beschwert, wenn ihm was nicht gefällt. Es gibt eine neue Definition zu "netter Kerl" und die heißt Tristan Taylor. ~~~*~~~ An diesem Abend stehe ich lange Zeit auf dem winzigen Balkon meiner kleinen Wohnung. Balkon ist eigentlich zuviel gesagt; die Bezeichnung "großer Platz für Tauben zum Hinscheißen" trifft es eher. Aber es ist schön hier und ich sehe die letzten Strahlen der roten Abendsonne, die wie Metastasen den seichtblauen Himmel entlangkriechen. Wie böse Vorboten des absoluten Desasters. Serenity ist ein liebes Mädchen, in der Tat. Ich würde viel für sie tun. Ich würde sie bemuttern wo ich könnte. Habe ich sie deshalb angerufen? Ich lasse meinen schmerzenden Kopf, in dem die Gedanken hämmern wie winzige Erdbeben, auf die Balkonbrüstung sinken. Es ist angenehm kühl. Wollte ich mir letztendlich nur jemanden suchen, den ich eine Runde beschützen kann? Oder erinnert mich die Sehnsucht nach meinem besten Freund als Kumpel nur an die Sehnsucht nach seiner Schwester, nach der ich in Wirklichkeit verrückt bin? Interpretation über Interpretation. Aber wo die Wahrheit liegt, weiß momentan wahrscheinlich niemand. Ich starre trübsinnig in die Ferne aus Häusern und Straßen, höre das Schreien von ein paar Krähen; und obwohl ich gerade zu Abend gegessen habe, fühlt sich mein Magen irgendwie so leer an, als würde ich geradezu verhungern. In dieser Nacht kann ich lange Zeit nicht einschlafen. Keine Ahnung, ob das am Nachbarn liegt, der seine Scheiß Hip Hop-Musik wieder so laut aufgedreht hat, dass ich bis hierher jeden einzelnen englischen Fluch verstehe. Wahrscheinlich ist er der Meinung, dass mit dem Einbruch der Samstagnacht und somit des Wochenendes jeder und alles gern beschallt werden möchte. Meine insgeheime Theorie ist, dass er für eine kleine Firma die Stabilität von Lautsprechern testet. Ich liege eingegraben zwischen Kissen und der Decke, auf meinem rechten Ohr und kann den regelmäßigen Schlag meines Herzens im Ohr klopfen hören. Wenn ich die Augen in der Dunkelheit zwischendurch öffne, fährt das Schwarz der Nacht in mich hinein und gleichzeitig wieder heraus, wie ein extra Atem. Und zwischen den ungemein sanften Klängen von "Candy Shop", der Weichheit meines Bettes und meinen sich im Kreis drehenden Gedanken fällt mir wieder der wohl intensivste Moment ein, den es zwischen Joey und mir je gegeben hat. Plötzlich ist die Erinnerung da, wie von Treibsand hochgedrückt. Es war in der einen Nacht, kurz nach Weihnachten, vielleicht vor einem oder zwei Jahren. Da stand Joey plötzlich wie aus dem Nichts heraus neben meinem Bett. Blinzelnd. Ich wusste sofort wieder, dass ich ihm einen Zweitschlüssel für die Wohnung gegeben hatte, mit den Worten zu mir zu kommen, wenn er es zu Hause nicht aushielte. Es gab aber nur diese eine Nacht, in der er mein Versprechen beim Wort nahm. Ich erinnere mich, dass wir kein einziges Wort gewechselt haben. Er, weil er zu beschämt und frustriert war und ich, weil ich alles wie im Halbschlaf tat. Ihn auf das Bett zog, ihm Jacke und Pullover abstreifte. Er brachte die Kälte von draußen mit herein wie einen Mantel, den er nicht abstreifen konnte. Seine Haare rochen nach dem Winterwind, der den ganzen Tag über geblasen hatte. Mein Bett ist nicht besonders breit, aber es ging, als wir ein Stückchen zusammenrutschten. Ich habe nie großartig mit Joey über seinen Vater und seine Beziehung zu ihm gesprochen. Weil ich es nie für nötig gehalten habe. Sein Vater ist in meinen Augen ein verkommenes Subjekt ohne jegliches Verantwortungsgefühl. Joey hat ihn noch nie besonders oft erwähnt; er versucht eher, das ganze Problem totzuschweigen. Und auch wenn wir in dieser Nacht nicht miteinander redeten, wir haben uns niemals zuvor -und auch nicht hinterher- soviel über seinen Vater unterhalten. Irgendwann schlug ich die Augen auf und konnte selbst in der Dunkelheit Tränen der Wut in denen meines besten Freundes stehen sehen. Die Art, wie er sich verkrampft halb krümmte, wie er die Hände in meine Bettdecke krallte, wie er vor sich hinstarrte und in seinem Kopf wahrscheinlich gerade Mordszenarien abliefen vor Zorn. Es gibt für jede Situation ein richtiges Wort, da bin ich mir fast sicher. Doch hin und wieder gibt es zu diesem Wort eine Alternative, die fast besser ankommt. Ich habe Joey hinterher nie wieder in den Arm genommen; weil sich das nie so wirklich ergeben hat. Schließlich kuscheln Kerle ja auch nicht ununterbrochen herum oder halten Händchen wie die Mädchen. Aber jetzt und hier, genau in dieser Sekunde spüre ich die Erinnerung wahrhaftig, wie ich ihn einfach tröstend an mich heranzog, ihm mit einer Hand kurz durch die strubbeligen Haare fuhr und versuchte, die Kälte aus seinem Körper zu wärmen. Er drückte sich halb gegen mich, krallte sich noch mehr in die Bettdecke und presste kurz seinen Kopf gegen meine Brust. Für ein paar Sekunden zitterte der ganze Körper wie in einem unhörbaren Schrei, den Joey stumm und still ins Innere meines Brustkorbes entsandte. Ich konnte aufeinandergebissene Zähne hören, einen angehaltenen Atem spüren. Und Sekunden später begann er, sich zu beruhigen, als wäre er wie über einen Berg gekommen, nach Luft schnappend. Niemand außer uns beiden weiß davon, dass wir kurz darauf Arm in Arm selig weggepennt sind. Es ist ein Geheimnis, welches niemanden sonst angeht, weder Tea noch den unfehlbaren Yûgi. Jetzt ist Joey viel glücklicher als noch vor einem Jahr. Er wird nicht wieder neben meinem Bett stehen und meine Hilfe brauchen. Zu einem Glückspilz geworden, braucht er nicht mehr von mir an die Hand genommen werden. Das denke ich noch, kurz bevor ich wegdöse, völlig emotionslos. Joey braucht mich gar nicht mehr. Darum entgleitet er mir auch- oder ich ihm? Jetzt ist es an der Zeit, mich nicht mehr an ihn zu hängen. Tristan, der nette Kerl, ist so verständnisvoll und kümmert sich jetzt um Serenity... To be continued... Kapitel 4: Fortpflanzung ------------------------ Titel: Clinging to habits Teil: 4/7 Autor: Tsutsumi Disclaimer: Alle Charaktere aus Yu-Gi-Oh!, die ich hier benutze, gehören nicht mir. Ich leihe sie mir nur aus und gebe sie hoffentlich unbeschädigt zurück. Ebensowenig verdiene ich Geld hierfür. Pairing: Tristan x Joey Kommentar: Diese FF hier ist die Antwort auf Rei17´s und Maddles Päckchenchallenge "7 Angewohnheiten" vom "Challenge"-Zirkel hier auf Animexx. Ich hoffe, ich kann sie gebührend beantworten^^ Warnung: sappy, Shounen Ai Fortpflanzung Es ist mir geradezu peinlich. Als ich aus dem Bus steige, der direkt vor dem Zoo hält und gemächlich auf den Eingang zuzuschlendern beginne, mache ich mir Gedanken darüber, ob ich nicht lieber den im Kleiderschrank verstaubenden Sonntagsanzug hätte anziehen sollen. Ich sehe Serenity schon weitem; sie leuchtet geradezu in ihrem sonnengelben Kleid. Zum Glück sind da keine Rüschen dran. Rüschen sind mir unheimlich. Aber die dazu passenden gelben Schleifen im Haar, der ebenfalls strahlendgelbe Sonnenschirm, den sie über sich aufgespannt hat und das zierliche Umhängetäschchen in Gelbrot, welches sie dazu über der Schulter trägt, machen das Bild von einer jungen Dame, die auf ihren Rosenkavalier wartet, perfekt. Aber ich habe keine Rosen dabei. Auch keine Pralinen. Das einzige, was mir spontan einfällt, sind die letzten beiden Kaugummis in meiner Hosentasche, die bestimmt schon zwei Jahre da liegen. Meine Frisur sieht aus wie immer und als ich prüfend an mir herunterschaue, starren mir ein Paar blaue, schlammverschmierte Schuhe, ausgewaschene Jeans und ein rot-schwarz-graues T-Shirt entgegen, auf dem vorne „Malice“ und auf dem Rücken „Kiss my ass“ steht. Noch schlimmer hätte ich meine Wahl wohl wirklich nicht treffen können. Dennoch strahlt Serenity buchstäblich von Kopf bis Fuß als ich sie erreiche. Ganz rote Wangen hat sie, wahrscheinlich vor Aufregung. „Mylady!“, sage ich grinsend, fasse sanft nach ihrer rechten Hand und gebe ihr, um mein äußeres Erscheinungsbild wenigstens ein bisschen zu entschärfen, einen zarten Handkuss. „Ich hoffe, Ihr musstest nicht allzu lange meiner harren!“ Das scheint ganz gut bei ihr anzukommen. „Ja..ich meine, nein, musste ich nicht!“ Sie kichert verlegen und schaut aus großen Augen zu mir hoch. „Ähm..ich meine...hi!“ Ich kann mir direkt vorstellen, wie sie heute Früh vor ihrem begehbaren Kleiderschrank stand und sich nicht entscheiden konnte, was sie anziehen sollte. Einmal habe ich den Zirkus bei Tea mitgemacht und bin jetzt für mein Leben gezeichnet. Warum machen Mädchen sich solche Gedanken darum, was ihr Liebster davon halten könnte, wenn sie mal ein Paar blaue Schuhe zu einer mintgrünen Hose anziehen? Wenn es danach ginge, hätte mich die Modepolizei schon längst eingebuchtet, ausgepeitscht und bei Brot und Wasser verrotten lassen. Mit Joey war es nie so kompliziert. „Wollen wir reingehen?“, frage ich mit dem besten Lächeln, was ich Serenity zu schenken gedenke und halte ihr meinen Arm zum Unterhaken hin. Sie zwirbelt den Griff ihres Schirms mit nervös zittrigen Fingern und kommt aus dem Verlegen-Gucken gar nicht mehr raus. „Ja, natürlich.“ ~~~*~~~ Wir flanieren durch den Zoo, in gemächlich gemütlichem Tempo, immer die Sonne im Rücken, immer den zarten Sommerwind von vorne. Ein wunderbar weiches Licht hüllt uns ein; sie in ein würdevolles Dahinschreiten mit wehender Spitze und golden glänzenden Haaren; und mich in ein krummes Hinterherlatschen mit den Händen in den Hosentaschen. Wenn ein Hersteller dieser abartig kitschigen Hintergrundvideos für Karaokelieder die Szene beobachten würde, er würde mich raustuschieren und statt meiner ein hübsches Pferdchen oder so was reinsetzen. Mokubas Butterblume, genau. Gemeinsam bestaunen wir die Giraffen, denen ich gerade mal bis zum Knie gehe und von denen eine so aufgeplustert und arrogant daherstolziert, dass ich sie im Geheimen Seto Kaiba taufe. Wir kommen am Streichelzoo vorbei, der sofort das Interesse meiner Begleitung erweckt. Die nächste Dreiviertelstunde stehe ich da, halte Schirm und Tasche, komme mir blöde vor und lache trotzdem Serenity zu, während sie versucht, möglichst stilvoll Schafe, Esel und Ziegen zu füttern und zu streicheln. Sie hat hinterher einen Haufen grauer Haare an ihrem Kleid, aber das sage ich als Gentleman lieber nicht. Und während des gesamten Ausflugs spüre ich, wie das Mädchen mir im Geiste, und auch körperlich, verzagt näher zu kommen versucht. Einmal eine kurze Berührung unserer beiden Hände, flüchtig wie ein Windhauch. Dann ihr verlegenes Lächeln, welches über allen Eindrücken in den Sonnenschein hineinstrahlt wie eine erdnahe Supernova. Die Art, wie sie den Sonnenschirm dreht, wenn sie mit mir redet. Oh ja, sie redet in der Tat sehr viel; von der Schule, von Lehrern, von Freunden, von Süßigkeiten, von Spielen, von der Schule, von Lehrern... Ich habe das Gefühl, sie fängt irgendwann immer wieder von vorne an. Aber irgendwo hat sie keine andere Wahl. Ich weiß nämlich nicht, wie ich ihr auf all die Informationsstürme antworten soll. „Ist ja klasse!“ sage ich zwischendurch, oder „Echt, wirklich? Das muss ja ziemlich abgefahren gewesen sein!“ Abgefahren. Dieses primitive Wort benutze ich sonst nie. „Weit du, Tristan...“ , beginnt sie mit ihrer zuckersüßen Stimme, als wir an einem Softeisstand halten. „Ich hätte nie damit gerechnet, dass du mich mal...fragen würdest, ob wir mal...“ „Hm? Ob wir was?“ Ich krame in meinem Portemonnaie nach Kleingeld. Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich, wie der Eisverkäufer hinter der Kasse ungeduldig von einem Fuß auf den anderen tappt. „Naja, zusammen weggehen.“, vervollständigt meine hübsche Begleiterin sich. Ihre zarten Finger greifen nach der Waffel, so richtig lady like. Und ich kann nicht anders, als ihr dabei zuzusehen, während ich dem Verkäufer das Geld beinahe gegen den Kopf werfe vor Verpeiltheit. „Weißt du was?“, übertöne ich sein Fluchen. „Deine Hände sehen ja fast aus wie Joeys!“ Irgendwo im Hintergrund ertönt das laute klagende Miauen eines Pfaus. Serenity hält im Eislecken inne. Ihre kleine, niedliche Zunge ist genauso quietschrosa wie das Erdbeersofteis in ihrer Waffel. Überhaupt alles ist klein und niedlich an ihr. Angefangen bei den Sandaletten, in denen ihre Füße über ihre Knie bis zu den zierlichen Wimpern, die verwundert hoch- und runterklappen. Manchmal habe ich das Gefühl, Serenity ist wirklich eine Art Puppe. „Wie kommst du jetzt darauf?“ , fragt sie perplex, als ich sie vom Eisstand wegziehe, da mir der Eisverkäufer bereits Schläge androht. Ja, wie komme ich darauf? Soll ich ihr sagen, dass ich gerade bemerkt habe, dass ich die ganze Zeit versuche, Joey in ihr wiederzuerkennen? Wäre nicht besonders ratsam zu einem Date. Das wäre dasselbe, wie wenn Joey mit mir zusammen wäre und mir die ganze Zeit erzählen würde, wie geil meine Schwester aussähe. Wenn man davon absieht, dass ich keine habe. „Ach, nur so.“, lüge ich, sogar ohne rot zu werden. Das Ganze ist mir schon ein wenig peinlich. „Ich hab ihm ja oft genug auf die Hände geguckt, wenn er sich duelliert hat.“ Das besänftigt ihre Sorge einigermaßen. „Ach so. Ja, das ist wohl so ziemlich das einzige, was uns äußerlich verbindet.“, sagt sie grinsend. „Joey wurde ja schon öfter damit geärgert, dass er Hände hat, die wie meine aussehen. Alle in der Familie meinten, dass er zu weiblich sei.“ Sie schaut kurz auf den Asphalt unter uns. Hinter uns liegt in der Ferne der Streichelzoo und vor uns eröffnet sich ein neuer Gehegekomplex. Ein afrikanischer Elefant schaut zu uns herüber und lässt seine großen Ohren in der sommerlichen Hitze hin und herflappen. „Das war noch vor der Trennung unserer Eltern.“, erzählt Serenity weiter und zeigt mir plötzlich ein strahlendes Grinsen. Und ich weiß, dass dieses Grinsen von derselben Sorte ist, die ich in letzter Zeit bei Joey und Yûgi anwende. Das lässt mich mit Serenity mitfühlen. „Joey war da noch klein und ich ja auch. Aber ich weiß noch genau, dass er sich daraufhin auf dem Spielplatz ab und zu mit voller Wucht und Absicht hingestürzt hat. Damit er, wenn unsere Mutter ihm die aufgeschürften Knie und Hände eincremen musste, sagen konnte, dass er ja ein richtiger Junge ist.“ Ich muss mir das bildlich vorstellen. So ein kleiner, winziger Joey, schon damals mit blonden Wuschelhaaren , Pflastern an den Händen und diesem trotzigen Blick, mit dem er heute noch Kaiba und andere Idioten bedenkt. Wer hätte gedacht, dass sich daraus so ein Komplex entwickeln konnte. Ich bereue es, ihn nicht früher gekannt zu haben. Der feinen Familie hätte ich schön die Meinung gesagt. Vielleicht hätte das was geholfen. Und ich hätte Joey beschützt und davor bewahrt, absichtlich hinzufallen. Vielleicht wäre er dann gar nicht erst traurig geworden. Wir kommen dem Elefanten näher. Er steht neugierig am Graben, der sein Gehege vom Weg der Zoobesucher abschirmt. Seine kleinen Augen haben sich auf uns geheftet, als wäre er ein Privatdetektiv in Aktion. Wer betrachtet hier eigentlich wen? „Ist der nicht süß?“, freut Serenity sich und reißt mich damit schon fast brutal aus den Gedanken. „Komm, Tristan, füttere ihn mal!“ Jetzt bin ich daran, verwundert von meinem Eis abzulassen. Der Geschmack von Pistazie und Mandel liegt mir so wunderbar auf der Zunge. Ja, ich liebe extravagante Eissorten. „Was? Wieso?“ , bringe ich verdutzt heraus. „Weil er bestimmt will! Hier, ich nehm dein Eis solange!“ Auf einmal ist sie ganz flink, kramt mit der freien Hand in der Tasche herum, fördert etwas Weißes, Viereckiges zutage und drückt es mir in die Hand. Erst bei näherem Hinsehen stelle ich fest, dass es sich um ein klebriges Würfelzuckerstück handelt, an dem Sandkörnchen haften. Wie lange und warum Serenity so etwas mit sich herumschleppt verkneife ich mir mal zu fragen. Man weiß ja, Frauen tragen die seltsamsten Sachen mit sich durch die Gegend. Als ich wieder hochsehe, starrt mich der Elefant nun direkt an. Diese Szenerie scheint er wohl zu kennen und streckt langsam und gemächlich den Rüssel vor. „Vergiss es!“, keuche ich erschrocken. Mein Herz ist zwei Etagen nach unten gerutscht und puckert wie irre durch meine Gedärme wie eine Achterbahn, die über Gleise rattert. „Der beißt mich doch!“ „Das ist doch nur sein Rüssel!“, gibt Serenity schon fast empört wieder und nimmt mir das Eis ab. „Komm schon, du siehst doch, dass er es haben will!“ Sie lächelt entschuldigend. Na toll, das habe ich ja total vergessen. Als Kerl muss ich ja gemäß der Rollenverteilung stark und mutig sein, mit Steinen Mammuts erledigen und Löwen mit bloßen Händen erwürgen können. Plötzlich stehe ich da, mit weichen Knien, im schwarzen „Kiss my ass“-Shirt und mit einem Dreitonner vor mir, der sich mit allen Mitteln verbiegt und streckt, um seinen Rüssel über den Graben zu bekommen. Ich habe kein Problem damit, mich mit allem möglichen Getier anzulegen, wenn es jemanden, den ich sehr mag, bedroht. Dann springt so etwas wie ein Beschützerinstinkt an, der mich alle Angst vergessen lässt. Aber dieser Elefant will Serenity nun mal nicht fressen. Der steht einfach nur da. Kein Fall für Super-Tristan. Daran werde ich mich nie gewöhnen, denke ich leicht verzweifelt, als ich verzagt einen Schritt näher auf die Absperrung zugehe und zitternd die Hand nach dem Rüssel auszustrecken beginne. Immer den Starken zu spielen. Natürlich bin ich ein starker Kerl. Manchmal. Und wenn ich mal nicht stark gewesen bin bisher, kam mir immer Joey zu Hilfe. Auch jetzt würde er neben mir stehen, mir gut zureden und mich anfeuern, und nicht hinter mir stehen und von mir erwarten, Tiere dressieren zu können. Zum Glück ist der Elefant ganz vorsichtig. Als ich beinahe über die Absperrung falle weil ich mich so strecke, wandelt sich meine Angst. Weich und warm fühlt sich so ein Rüssel an, mit der rauhen Haut wie Schmirgelpapier. Das Tier tastet sich behaglich über meine offene Hand und dann spüre ich, wie es den Zucker aufnimmt, wie in eine Art Faust einschließt und wegnimmt. Ich kann sehen, wie der große Kopf sich hebt, das große Maul geöffnet wird und der viel zu winzige Zucker darin verschwindet um genossen zu werden. „Das war genial!“, würde Joey jetzt sagen und mich sanft in die Seite knuffen. Und ich würde ihn zurückknuffen und ganz stolz seinen anerkennenden Blick genießen. Wenn er hier wäre. Als ich mich erleichtert und schon beinahe stolz, weil ich über meinen eigenen Schatten gesprungen bin, umdrehe, stehen da nur Serenity, die mich anstrahlt und ein Tierpfleger, der mir die Ohren lang zieht, weil es verboten ist, Tiere zu füttern. Ich kann mich nicht daran gewöhnen. Ein unbestimmtes Gefühl sitzt mir im Bauch, so ähnlich wie eine Übelkeit bevor man kotzen muss, weil man etwas Schlechtes gegessen hat. Doch es ist so unsicher und so unsichtbar, dass ich nicht anders kann, als es wieder hinunterzudrücken in die Tiefen meines Darms, in die Penetranz meiner erneut aufkommenden Kopfschmerzen. Ich nehme mir insgeheim vor, mich demnächst auf Migräne untersuchen zu lassen. Wir flanieren bei den Affen vorbei. Ein riesiger Orang Utan sitzt zusammengesunken vor der Scheibe, die ihn von der Außenwelt abgrenzt, den Kopf unter die Höhe der Schultern gesenkt und starrt trübe vor sich hin. Als ich mich vor ihn stelle und versuche, seinen Blick einzufangen, habe ich auf einmal das Gefühl, dass er durch mich hindurchsieht als wäre ich nur eine weitere Scheibe, unbedeutend. Irrelevant. Wolken schieben sich vor die Sonne. Mir fällt zwischendurch auf, dass ich heute keinen Wetterbericht gehört habe. Aber das ist ja egal, denke ich und versuche dabei zu grinsen. Serenitys Schirmchen würde uns zur Not auch vor dem Regen schützen. Im Tropenhaus ist es gerammelt voll. Am Eingang lese ich, dass vor einer Woche Krokodilbabys geschlüpft sind. Eigentlich interessiere ich mich nicht für solche schuppigen Viecher, die einen wie Porzellanfiguren anstarren, bevor sie einem das Bein ausreißen; ich bin eher der Typ Junge, der seit zehn Jahren schon einen Hund haben will um ihm beizubringen wie man Stöckchen holt, bis zehn bellt und morgens die Zeitung holt, natürlich mit passgenau ausgebissenem Politikteil, damit man sich am Frühstückstisch nicht ganz so sehr aufregen muss. Doch Serenity, die sich nun den Mut gefasst hat, meine Hand zu nehmen, zerrt mich einfach begeistert hinter sich hier. Zwischen grünen Pfeilgiftfröschen, die einen durch die Terrariumscheiben scheinbar hypnotisieren wollen und Komodowaranen huschen wir wie durch eine eigene Dschungelwelt. „Jetzt sag bloß, du stehst auf all dieses Getier!“, sage ich belustigt, als sie sich am dritten Echsenkäfig die Nase plattdrückt. „Ein bisschen schon“, kichert sie und wirft ihr langes Haar zurück, was überhaupt nicht wie Joeys aussieht. „Die sehen alle so anders aus...beinahe wie Aliens! Nur die Spinnen will ich mir lieber nicht ansehen, die finde ich eklig!“ Richtig, eine Insekten- und Spinnenabteilung gibt es ja hier auch noch. Dass ich da lieber auch nicht reingehe, sage ich besser nicht. „Sag mal, Tristan...“ Vorsichtig greift Serenity wieder nach meiner Hand. Ihre Finger sind sonnengewärmt und fühlen sich noch weicher an als Joeys, so ähnlich wie Zuckerwatte. Nur dass sie nicht kleben. „Wenn da eine riesige Vogelspinne wäre“, sie schüttelt sich demonstrativ um mir zu ihre Abneigung gegen diese Viecher zu zeigen. „Würdest du sie für mich wegmachen?“ Ich schlucke kurz. Nichts läge mir ferner. Wahrscheinlich würde ich lauter kreischen als Serenity, auf den nächstbesten Baum hechten und warten, bis sich das Vieh verzogen hätte. Nein, da ist mir die Variante „Löwe mit bloßen Händen erwürgen“ lieber. Aber als ich in Serenitys Augen sehe, kommt mir die Erwartung eines immer mutigen Kerls entgegengekrochen. „Natürlich.“, sage ich also, mit geknickter Stimme, weil ich mich gerade nicht ganz so gut verstellen kann. Und fühle mich irgendwie unendlich müde. Mein Kopf schmerzt. „Wah, sieh mal, Tristan!“ Irgendwie habe ich mehr das Gefühl, mit einem Kind unterwegs zu sein als bei einem Date. Was wahrscheinlich auch eher an mir liegt. Unter einem Date habe ich mir bisher immer Candlelight Dinner vorgestellt, Kino mit Popcorn, große Gefühle und vor allem Herzklopfen. Herzklopfen. Was soll ich denn sagen, wenn mich Tea später löchert? (Und das wird sie.) Dass ich nur Herzklopfen hatte, als ich mit einem Elefanten Rüssel gehalten habe? Serenity zieht mich zu einem Terrarium mit der hundertsechsundsiebzigsten Schildkrötenart, die sie hier haben. „Hast du auch schon mal gesehen, wie die sich fortpflanzen?“ Nein, das habe ich wirklich nicht. Und es sieht auch wirklich, wie das Mädchen sagte, alienhaft aus. Das Weibchen mit dem kleinen Mäulchen und dem gelbgefärbten Kinn steht teilnahmslos in der Gegend herum, kaut schnappend auf Eisbergsalat herum. Der Schildkrötenkerl hingegen hängt halb auf ihm, den Hals langgestreckt, die Stummelbeinchen auf dem Panzer der Liebsten abgelegt und stöhnt. Er stöhnt wirklich, das kann man sogar durch die Scheibe hören. Wie ein alter, kranker Lustgreis, der keinen mehr hochbekommt, völlig bewegungslos, als hätte man da drinnen die Zeit angehalten, mit aufgerissenem Maul. Fortpflanzung. „Sex sieht echt bei jeder Spezies gleich aus!“, witzele ich und habe plötzlich Joeys Lachen dazu im Kopf, als wäre ich so eine Soap, wo nach jedem Kalauer die Lachmaschine angeworfen wird. Serenity aber lacht nicht, sondern schaut mich nur aus großen Augen unverständlich an. Und ich habe schon wieder diese schmerzenden Mundwinkel vom Dauergrinsen. So anstrengend. Auf einmal erscheint mir all das sinnlos, stelle ich insgeheim fest, als wir das Reptilien- und Amphibienhaus verlassen und plötzlich in strömendem Regen stehen. Ich mag Serenity. Wirklich. Aber wenn ich ganz ehrlich bin...und diese Ehrlichkeit gestehe ich mir plötzlich ein, vielleicht weil ich solche Kopfschmerzen habe und so müde bin, ist das auch alles. Wenn ich so grausam wäre, meine Freunde nach Beliebtheit zu ordnen, käme Serenity irgendwann hinter Yûgi. Vielleicht habe ich nur so oft an ihr herumgebaggert, weil es damals ganz lustig war, mit Duke Konkurrenz zu spielen. Verdammt, warum habe ich sie nur angerufen? Warum muss ich die Arme so in die Irre führen für eine Lüge, eine Vermutung, durch die ich nicht mal selbst durchsteige? Unter ihrem leuchtendgelben Schirm, der uns beide nur dürftig schützt, weil er so klein ist, stehen wir mitten im Zoo. Neben uns kreischen die Zebras übermütig hin und her, ihr hoher, schriller Singsang tingelt durch die feuchte Luft wie ein einziges Echo. Wie halb in Trance fühle ich mit einem Mal Serenitys zarte, kleine Puppenlippen auf meinen. Nie hätte ich vorher gedacht, dass sie so dominant werden würde, mich so schnell zu sich runterziehen und mit einem Kuss überrumpeln würde. Süß wie Zuckerwatte ist ihr lipglossgetünchter Mund, süß wie Zuckerwatte ist alles an ihr, ihr ganzes Wesen. Und vor meinem geistigen Auge sehe ich mich plötzlich vor dem Traualtar mit diesem Mädchen. Weil ich sie angerufen habe und nicht wusste, warum. Plötzlich sehe ich unsere Kinder vor mir, in süßen gelben Kleidchen und Sonntagsanzügen, mit Krawatten mit Sponge Bob-Motiven drauf, mit Sonnenschirmen, in einem netten Gärtchen mit englischem Rasen; sie trinken selbstgemachte Zitronenlimonade und waschen ihre Haare nur mit Bioshampoo. Fortpflanzung. Tristan, alles was zählt, ist die Fortpflanzung. Du passt nicht in das Schema der Natur, wenn du dich nicht an Serenity hängst wie der Schildkrötengreis vorhin; wenn du nicht stöhnst und dabei Spaß hast. Im Gedanken erscheint vor mir Serenity, nackt, mit diesem Eisbergsalatblatt im Mund... In genau diesem Moment schnelle ich zurück, so plötzlich als hätte ich mich verbrannt. Regen klatscht mir unsanft auf die Haare, von hinten an das Shirt, sodass es mir nass an den Schulterblättern klebt. Ich keuche, und Serenity schaut mich geschockt an. „Tut...tut mir Leid...“, stammelt sie. Doch ich bin so furchtbar durcheinander und perplex, dass mein Beschützer- und Beruhigungsinstinkt wie ausgeschaltet ist. Nicht einmal grinsen kann ich mehr. „Ich wollte nicht...“ „Es liegt nicht an dir!“, entgegne ich und schnappe nach Luft wie ein Ertrinkender. „Es ist nur...ist nur so, dass...“ Ja, was denn eigentlich? Ich bin ein Kerl und sie ist ein Mädchen. Ein furchtbar tolles Mädchen. Fortpflanzung. „Tristan, ist alles in Ordnung mit dir?“ Ihre großen Augen...mit diesen abertausenden von Lichtspiegelungen darin, kommen näher. Und eine kühle Hand legt sich auf meine. „Du bist so schrecklich blass!“ Mein Kopf explodiert! Wahrhaftig, eine Sekunde lang überlege ich, ob ich nicht um Hilfe rufen soll, ob ich nicht schnell das Handy hervorkramen und schnell einen Notarzt rufen soll. Es ist, als würde in mir etwas hochkochen, von dem ich bis dato nicht wusste, dass es existiert. Vor meinen Augen tanzen Farben. „Es tut mir Leid...“, stottere ich und taumele Schritte nach hinten. Der Sommerregen weicht mich ein wie eine verkalkte Dusche. „Ich kann nicht... Ich will nicht.“ Das Gesicht des Mädchens wird kleiner, wenn ich weggehe. Und das Keckern der Zebras dröhnt in meinen Ohren. „Du kannst nicht was?“ Sie steht noch immer auf dem selben Fleck. Von hier aus sieht sie aus wie so eine Wunschelfe aus Cinderella, wunderhübsch. Wie eine Porzellanpuppe. Etwas, was man ansehen, aber nicht anfassen will, weil die eigenen Hände viel zu schmutzig sind. Und von oben strömt der Regen, viel zu kalt, viel zu klischeehaft. „Ich kann nicht bei dir sein...“ ~~~*~~~ Nass bis auf die Haut. Durchgeweicht bis auf die Unterhose und darunter. Wenn die zwei Kaugummis in meiner Tasche vorhin noch genießbar waren, jetzt sind sie es garantiert nicht mehr. Ich schaue nicht nach oben, weil ich weiß, dass mich all diese schwarzgrauen Wolken da oben sonst zum Flennen bringen würden. Und Kerle flennen nicht, egal wie verwirrt und durcheinander sie sind. Es reicht, wenn Serenity sich gerade höchstwahrscheinlich die Augen ausweint, weil ich sie hab stehen lassen und weggelaufen bin wie von der Tarantel gestochen. Der Regen wäscht das Gel aus meinen Haaren, sodass sie beginnen, fade herunterzuhängen. Aber das macht nichts. Ich will ja niemanden mehr beeindrucken. Ich will nie wieder jemanden beeindrucken. Ich bin beziehungsunfähig. Irrelevant. Die Evolution wird mich beiseite schieben. Was sollte sie auch sonst anfangen mit so einem komischen Männchen, welches um Weibchen balzt, sie aber sofort fallenlässt, sobald es sie haben kann. Mein Kopf summt, als würde ein Schwarm Hummeln durch sein Vakuum rauschen. Und das Gatter von der Absperrung zum Elefantengehege, zu dem ich zurückgelaufen bin, über das ich nach innen geklettert bin, drückt mir von hinten an den Rücken. Meine Hose ist schon längst durchgeflutet. Vom auf dem Boden Sitzen. Ich weiß nicht, was ich will. Alles, was da ist, ist die Gewissheit, dass der geplatzte Augenblick von eben nicht mehr zu reparieren ist. Es gibt kein Zurück mehr. Joey wird mich hassen. Wenn er das nicht ohnehin schon tut. Ich habe seine Schwester stehen lassen. Mit zerbrochenem Blick neige ich meinen Kopf nach oben und lächle, mit klatschnassem Gesicht, dem Elefanten traurig zu, der mich wiedererkannt hat, sich wieder über den Graben streckt und meine feuchte Hand nach Würfelzucker absucht. Seine rauhe, knubbelige Haut streicht über meine. Und fühlt sich fast schon tröstend an... To be continued... Kapitel 5: Amphetamine ---------------------- Titel: Clinging to habits Teil: 5/7 Autor: Tsutsumi Disclaimer: Alle Charaktere aus Yu-Gi-Oh!, die ich hier benutze, gehören nicht mir. Ich leihe sie mir nur aus und gebe sie hoffentlich unbeschädigt zurück. Ebensowenig verdiene ich Geld hierfür. Pairing: Tristan x Joey Kommentar: Diese FF hier ist die Antwort auf Rei17´s und Maddles Päckchenchallenge "7 Angewohnheiten" vom "Challenge"-Zirkel hier auf Animexx. Ich hoffe, ich kann sie gebührend beantworten^^ Warnung: sappy, Shounen Ai Amphetamine Schlechte Laune ist nur dann wirklich genießenswert, wenn man erstens; nicht weiß wo sie herkommt und zweitens; sie allein und in Ruhe pflegen kann. Heute ist Samstag, ein nahezu perfekter Tag dafür. Schon beim Aufwachen spüre ich den verdächtigen dumpfen Groll irgendwie im Innersten meines Kopfes. Doch heute kann ich etwas dagegen tun, heute kann ich schnell genug eine Schmerztablette nehmen. Beinahe regungslos sitze ich beim Frühstück über meinem Kaffee und Käsebrot und male mir, es wirkt als wär es stundenlang, aus, was ich tun würde, wenn ein Tumor in meinem Kopf sitzen würde. Wenn mir der Arzt sagen würde, dass ich nur noch zwei Wochen zu leben hätte. Draußen scheint die Sonne milchig durch einen seltsamen Wolkendunst, den der Tag gestern hinterließ wie einen furchtbaren Nachgeschmack, den man verzweifelt mit Pfefferminz bekämpft. Wahrscheinlich würde ich einmal Bungee Jumping machen. Wenn mein Rücken dabei kaputtginge, wäre das ja letztendlich völlig egal. Ich würde allen Leuten etwas Kleines schenken. Tea einen nagelneuen Stepper für zu Hause. Oder auch zwei oder drei, damit sie sich eine vernünftige Treppe bauen kann. Den Kaibas ein quietschbuntes Handy mit rosa Hello Kitty-Aufklebern. Yûgi einen Hund, damit er ihm statt meiner das Stöckchenholen beibringt. Serenity eine Schildkröte und eine fette Schokoladentorte als Entschuldigung für gestern. Und Joey... Stundenlang hocke ich am Fenster, starre aus der Küche in die Welt hinaus wie durch einen Türspion ins ganze Universum, als hätte es vorher an meiner Tür geklingelt. Starr und stumm betrachte ich, wie das Wetter aufklart und langsam aber sicher immer sonniger wird. Wie soll ich Joey beibringen, dass ich seiner Schwester nicht wehtun wollte? Obwohl ich´s doch getan habe, mit vollstem Bewusstsein? Wie soll ich ihm sagen, dass es mir so furchtbar Leid tut? Jetzt wird er noch viel weniger mit mir zu tun haben wollen. Super-Tristan ist zum Oberschurken geworden. Ich zocke zehn Minuten lang mein Lieblingsvideospiel. Die Farben auf dem Fernseher verschwimmen immer wieder wie von selbst ineinander und werden zu einem rosa Mischmasch, wie durchgekauter Kaugummi. Ein seltsames Ziehen aus meinem Darm, welches ich zuerst als Hunger interpretiere, treibt mich von der Couch weg. Einen Salat mit Öl und Zitronensaft später sitze ich aber wieder da. Mein Gehirn arbeitet unablässig auf Hochtouren. Wie ein Puzzle ist mein Leben plötzlich geworden. Weil auf einmal nichts mehr so ist, wie ich es gewohnt bin. Angewohnheiten haben mich bisher immer bestimmt. Ich war es immer gewöhnt, mit Joey durch die Gegend zu ziehen, nicht mit Serenity. Bin ich deswegen so durcheinander? Verdammt, denke ich dann wiederrum, als ich mich durch das Sonntagnachmittagsprogramm zappe, ich bin nicht Yûgi, ich hasse Puzzles. Ich will auch keines haben mit einem uralten Geist, der mir ständig vorsagt, was als nächstes in meinem Leben passieren wird. Wenn Yûgi der Meister und Besitzer aller Rätsel- und Kartenspiele ist, bin ich höchstens König der Loser. Das dafür dann aber auf ganzer Linie. Zweimal versuche ich, bei Serenity anzurufen. Mein Gewissen quält mich so sehr, dass mir davon schon schlecht wird. Oder es lag daran, dass der Salat schon seit drei Wochen im Kühlschrank lag. Oder daran, dass der Elefant von gestern irgendwelche Elefantenviren auf mich übertragen hat und daraus jetzt Menschenviren geworden sind, die sich meinem Bauch eingenistet haben. Ich wähle, aber höre vor der letzten Zahl auf. Was sollte ich schon sagen? Hey, Serenity, tut mir Leid wegen gestern, aber eigentlich will ich gar nichts von dir? Ich krame in meinem Portemonnaie herum um mir selbst vorzumachen, dass ich nach ihrer Festnetznummer zu Hause suche. Doch alles, was mir dabei in die Hände fällt, ist das uralte Stück Kaugummipapier von dem Spielchen, was Tea Joey und mir beigebracht hat. Als ich die Buchstaben noch mal durchzähle, ist mir beinahe schon wieder nach Heulen zumute. Weil ich ein J raus bekomme. Tea und Joey. Ein Traumpaar, was sich bei mir schon jetzt vorauszusagen scheint. Wir hätten so ein schönes Doppelpaar abgegeben. Tea und Joey. Serenity und ich. Naja, beinahe. ~~~*~~~ Irgendwann wird mir all das zu blöde. Eine Weile überlege ich, ob ich mir nicht einfach eine Pizza bestelle. Nicht weil ich Hunger habe, sondern um mal wieder mit dem Pizzajungen zu streiten. Damit hätte ich wenigstens etwas Gewohntes in dieser komischen Realität. . Als es zu dämmern beginnt, nehme ich mich schließlich zusammen und beschließe, einen Spaziergang zu machen. Davon abgesehen, dass das ohnehin nur Leute machen, die jenseits der sechzig sind, beziehungsweise einen Hund haben, erkläre ich mich für noch freakiger als ich zweifellos ohnehin schon bin. Die Gedankenflut in meinem Kopf hat sich nicht verändert. Noch immer versuche ich, dieses Puzzle zu durchschauen, in welchem ich scheinbar knietief stecke. Doch das Rauschen ist bereits leiser geworden, wie ein immerwährender Tinnitus, der einen in die Verzweiflung treibt. Wo ich gerade über Puzzles nachdenke und mir das wenige Hirn zermartere, kommt plötzlich wie gerufen Yûgi des Weges. Manchmal fühle ich mich wie der Kerl in diesem Film, dessen Leben von Geburt an von Fernsehkameras verfolgt wird und voll ist von Schauspielern. Doch zum Glück bin ich nicht egozentrisch genug, um den Gedanken an eine „Tristan Show“ weiter zu verfolgen. Obwohl es ja interessant ist, sich vorzustellen, wie Millionen von Menschen auf der Erde herumspekulieren, was ich als nächste tun werde. Wird er am Ende doch glücklich? Oder rafft ihn das Unglück über den Verlust seines besten Freundes dahin? Ein junger Mann mit diesem herrlich altmodischen Namen, der an gebrochenem Herzen stirbt; hatten wir das nicht schon einmal in diesem Buch...? „Hi!“, ruft Yûgi schon von weitem und seine Frisur hüpft munter auf und ab. Natürlich ist er so eifrig und rennt auf mich zu anstatt zu warten bis wir uns in der Mitte des Gehwegs treffen. Die Sonne hat sich gerade verabschiedet und zerrt über den Himmel einen Schleier aus mittelblauer Dämmerung hinter sich her. Ein wunderbar weiches, rötliches Licht taucht den Kleinen in hübsche Farbtöne, die irgendwo zwischen Violett und Rosa schwanken. „Hi!“, gebe ich zurück und erhebe eine Hand zum Gruß. „Na, was machst du hier?“ „Ich dreh nur so ´ne kleine Runde.“, nuschele ich und vergrabe die Hände in den Hosentaschen. Irgendwie ist mir gerade gar nicht danach, mit Yûgi zu reden, so ganz und gar nichts. „Und du?“, frage ich dann aber doch nach. Ja, das ist auch so eine Angewohnheit von mir. Selbst wenn es mich nicht interessiert, ich frage trotzdem danach um meinem Gesprächspartner das Gefühl zu geben, dass er mich interessiert. Oder nein...vielmehr um ihm das Gefühl zu geben, dass auch ich wichtig bin. Irgendwie muss ich mir das bei Joey angewöhnt haben. Yûgi spielt verträumt mit einer seiner wirren Haarsträhnen herum; „Mein Opa veranstaltet heute eine `Nacht der Spiele´. Bis um drei Uhr in der Früh können die Leute kommen uns kostenlos seine Spiele ausprobieren. Magst du auch kommen? Es gibt auch Getränke umsonst!“ Als ob er mich damit ködern könnte. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass die Mutos ihre Cola extra für mich abstehen lassen. „Ich ähm...ich weiß nicht so recht...“, stammele ich und grinse angestrengt. „Das wäre doch echt schön!“, plappert der Kleine weiter; „Wir sehen dich in letzter Zeit so gut wie gar nicht mehr.“ Nur mit aller Mühe und Not schaffe ich es, mich zu beherrschen. Allerdings würde ich Yûgi jetzt am liebsten mit Manier von früher in den nächsten Mülleimer stecken, mit dem Haarschopf voran. Als ob es meine Schuld ist, dass diese Spielefreaks mich nicht mehr sehen! „Ich bin halt nicht so der Spieletyp.“, presse ich angestrengt heraus, aber die Mimik stimmt. Zement ist nichts gegen die Steifheit meines Grinsens. „Ja, ich weiß.“ Jetzt lächelt er versöhnlich. Das ist so typisch Yûgi irgendwie. Man hat immer den Eindruck, dass er versucht, einen zu retten mit seinem Gerede über Freundschaft, guten Willen und Anstand. Er ist wie ein Hypnotiseur, der dir ganz ohne Pendel Schuldgefühle einreden kann. Und das Schlimmste daran ist ja, dass er das nicht einmal absichtlich macht. Zum Ausrasten. „Aber...“ , er senkt den Blick. „...ich glaube, du und Joey...“ Angestrengt blicke ich hoch in den Abendhimmel. Irgendwie glitzert die Venus und ein Stück daneben steht die Mondsichel, fein und spitz wie eine Sense. Ich spüre den Zorn in mir ganz genau. Weil Yûgi plötzlich anfängt, in meiner Wunde herum zu stochern. „..ihr seht euch nicht mehr so oft.“ Meine Schultern verkrampfen sich. „Da hast du allerdings recht.“, entgegne ich ruhig. „Ich würde aber nicht sagen, dass das unbedingt meine Schuld ist.“ Eines ist aber angenehm an Konversationen mit Yûgi, denn er hat eine unglaublich hohe emotionale Intelligenz. Man braucht nur Andeutungen zu machen und schon versteht er sie. Als wäre sein Gehirn ein einziges Netz aus Assoziationen. Und so senkt er sein Köpfchen noch ein wenig mehr. Weil er versteht. Eigentlich müsste ich ihn jetzt noch mehr mögen. Er ist der einzige, der begriffen hat, was hier los ist. „Mag sein...“, sagt er leise. Wir laufen ganz langsam nebeneinander her. Unter unseren Füßen knirschen winzige Kieselchen auf dem sommerheißen Asphalt. „Ich habe so etwas schon geahnt. Willst du nicht mit Joey darüber reden?“ „Was sollte ich denn da mit ihm reden?“, entgegne ich patzig. In meinen Gedärmen scheint sich gerade alles zu verknoten. Dieser beschissene Salat von vorhin. Und da heißt es, man soll sich gesund ernähren! Ich wette, Schweinshaxe wäre schon längst verdaut; zum Teufel mit Ballaststoffen! „Wenn ich sage, dass ich mit seinen Karten nichts anfangen kann, würde das gar nichts helfen.“ In der Ferne taucht die Straßenecke mit dem Laden der Mutos auf. Man kann schon das Gekreische von Kindern und Jugendlichen hören, die sich bereits zweifellos amüsieren. Ich glaube sogar, Duke zu erkennen, der in diesem Moment zur Ladentür hereinhuscht. „Nein, das meine ich nicht.“, sagt Yûgi schnell und hüstelt kurz. „Ich meinte eigentlich ein grundlegenderes Gespräch.“ Da bleibe ich stehen. In meinem Kopf sticht es plötzlich, trotz Schmerztablette. Entweder die Dinger taugen nichts oder...es ist wirklich etwas Ernstes. „Wie?“, blaffe ich. „Worüber sollten wir diskutieren, verdammt?“ Irgendwo vor zehn Metern muss ich mein Lächeln verloren haben. Und vor fünf Metern den eisernen Willen, immer freundlich zu sein. Doch es geht nicht. Yûgi hat zwei Finger genau dahin gelegt, wo es verdammt weh tut und nun rührt er unsensibelerweise darin herum als wäre ich Gulaschsuppe. „Zum Beispiel darüber, dass du von ihm enttäuscht bist.“ , beharrt Yûgi vorsichtig. Seine hellen Augen schimmern irgendwie wie Wassertropfen durch den alten Abend. Überall um uns herum gehen die Straßenlaternen an und surren ins Halbdunkle hinein. „So enttäuscht, dass du versuchst, dich an seiner Schwester abzulenken.“ Jetzt ist der Augenblick gekommen, in dem ich spätestens beginne, mich nach dem nächstbesten Mülleimer umzusehen. Der große, Allwissende spricht zu mir, nicht zu fassen! Yûgi, der doch von nichts eine Ahnung hat. Yûgi, der immerzu die Welt retten will und immer wie ein Blumenmädchen mit einer Bombenlaune herumläuft; Yûgi, bei dem immer alles so verdammt einfach zu sein scheint. „Kümmere dich lieber um deinen eigenen Kram“, presse ich angestrengt heraus und schaue zur Seite. „Um zu sehen, wie ihr drei immer unglücklicher werdet?“ Er ist ja richtig hartnäckig heute. Hat er nicht etwas Besseres zu tun? Hat er nicht ein Turnier zu schlagen, eine Entführung zu verhindern, eine Welt zu retten? Irgendwas? „Tristan, unsere Clique hat ein entscheidendes Problem. Nämlich, dass wir alle nicht über unsere Probleme reden, wenn es uns nicht gut geht. Aber das ist nicht gut. Serenity, Joey und du, ihr würdet nie darüber reden, dass euch etwas bedrückt.“ Wie ein Redner am Pult hält er inne, wahrscheinlich um die Worte auf mich wirken zu lassen. Ich gebe zu, insgeheim hoffe ich auch darauf, dass Serenity nicht petzen geht und dieses Desaster von Date von gestern irgendwo im Kapitel `Jugendsünden´ einordnet. Und wenn sie nach Joey kommt, kann ich mir da ja vielleicht recht sicher sein. „Also...“ Yûgi schaut mir fest in die Augen, als es ihm gelingt, meinen Blick einzufangen. Die Nacht wird lauwarm werden, wie es scheint. Über allem, dem Asphalt, dem Himmel, dem Zirpen der Grillen, liegt diese sommerliche Gemütlichkeit, die ich so liebe. Ich spüre mich zittern. „...willst du es Joey nicht einfach sagen?“ Yûgis Augen strahlen diese Allwissenheit aus. Diese ruhige, gemächliche Mentalität eines alten Weisen, der das Ende der Welt vorraussagen kann. Yûgi ist perfekt. Ein perfekter, hübscher Junge, mit dem perfekten Herzen, so unendlich freundlich und niemals nachtragend. Yûgi räumt auch immer sein Zimmer auf; er gewinnt in allen Spielen, die er beginnt, er schreibt mitunter die besten Noten in der Klasse. Der perfekte Freund Yûgi. Irgendwo brennt bei mir eine Art Sicherung durch. „Ach, meinst du wirklich?“ , donnere ich mit einem Mal und komme ihm bedrohlich nahe. Der Impuls, ihn am Kragen zu fassen und unsanft zu mir zu ziehen, siegt schließlich. Weil ich in diese perfekten Augen schauen, die nie etwas Argwohn ausstrahlen, die niemals über jemanden lästern würden. Yûgi, das Unschuldslamm hoch drei! Er bringt mich schlicht zur Weißglut. „Ich soll ihm also sagen, wie sehr es mich ankotzt, dass er mich einfach links liegen lässt und nur noch hinter dir herrennt wie so ein dämlicher Hund, ja?“ Plötzlich habe ich das Gefühl, als würde ich würgen. Nicht wirklich körperlich; aber trotz allem ist es, als würde etwas in meiner Brust aufplatzen und rausschleimen wie zu alter Joghurt. „Tristan..!“, keucht Yûgi ängstlich und fasst nach meinem Handgelenk. Mein Griff muss ziemlich hart sein. Gut so, denke ich da, einmal soll er mal nicht ungeschoren davonkommen. Das Adrenalin putscht mich hoch wie in den schlimmsten Bandenzeiten, in denen ich Leute von größerem Kaliber verprügelt habe. Gemischt mit dieser schleimenden Wut aus meinem Brustkorb fühlt sich alles mit einem Mal nur noch furchtbar an. Als ob irgendwo Eiter austreten und eine alte Wunde aufdecken würde. Nämlich die Wahrheit. Dass ich Joey furchtbar vermisse. So furchtbar, dass es manchmal eben weh tut. „Ich sag dir was, du ach so toller Freund!“, wüte ich und stoße Yûgi mit der Hand, die eben noch sein Hemd festhielt, zurück. „Ich habe mich nie beschwert, dass Joey mich gegen dich eingetauscht hat. Auch nie darüber, dass du mich mit deinen verdammten Klugscheißereien beinahe in den Wahnsinn treibst. Aber dann mach dich gefälligst nicht auch noch lustig über mich!“ Er taumelt zwei, drei Schritte zurück von der Wucht meines Schubses. Seine waidwunden Augen starren mich so riesig wie Teller an und ich habe das Gefühl, wenn ich mir den gequälten Gesichtsausdruck noch länger angucke, werde ich wirklich zum Amokläufer. So ähnlich wie ein Bär alles kurz und klein schlägt, weil die Kugel in seinem Fleisch so fürchterlich schmerzt. „Manchmal wünsche ich mir...,“ schnaufe ich, als ich schon dabei bin, mich von Yûgi abzuwenden und die Straße runterzulaufen; weg von dem Spielzeugladen, von Duke, von dem kleinen Quälgeist hinter mir. „Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn wir dir für deine Klugscheißereien doch noch mal eins auf´s Maul hauen würden!“ ~~~*~~~ „Hey, du!“ , versucht dieser Typ meine Aufmerksamkeit zu erregen. Den kenne ich inzwischen; hat er doch eben noch die beiden süßen Mädchen da an der Ecke angequatscht und davor die schwarz geschminkten Kerle an der Tür. Ja, ich bin wirklich geflüchtet. Ich habe genau das getan, was man an einem Samstagabend überhaupt am besten gar nicht tun sollte: Mich mit einem guten Freund verkracht, mich nicht bei einer lieben Freundin entschuldigt, der ich Glauben gemacht habe, dass ich sie interessant finde. Zu allem Übel bin ich tatsächlich in den nächstbesten Club geflohen. Mit dem gestern verregneten „Kiss my ass“-Shirt bin ich hier ja auch genau richtig, auch wenn ich eben bemerkt habe, dass da am Bauch ein netter Fettfleck prangt. Aber das egal, denn ich bin nicht hier um jemanden aufzureißen. Es ist eher ein Verstecken gekoppelt mit dem Vorgang des sich Ablenkens. Die Luft ist typisch stickig für eine Disco. Man ist ja praktisch eingehüllt in einen stickigen Nebel aus Zigarettenrauch, Biergestank (innerhalb von zehn Minuten verkippen auf der Tanzfläche zwei Leute ihr Bier) und Grasgeruch, der so abartig stinkt, dass einem übel wird. Seichte Popliedchen wechseln sich ab mit Trance und leichten Rocknummern. Die Musik dröhnt ungemein im Ohr, besonders, wenn man sich wie ich, gleich auf die nächste Sitzgelegenheit stürzt, die gleich neben dem Lautsprecher ist. Da bekommt der Ausspruch `Sich betäuben wollen´ doch mal eine ganz neue Bedeutung. „Hey, du sieht down aus!“, raunt mir der Typ neben mir zu. Sein Haar steckt voller Gel und steht in alle verschiedenen Richtungen ab. An der Augenbraue hängt dieses Piercing; das erste und Markanteste der Merkmale, die mir an ihm auffallen. „Stress mit der Freundin?“ Ha, wenn der wüsste! Auf der Tanzfläche schieben sich unzählige Menschen halb lüstern, halb breit ineinander. Kerle mit Mädchen, Mädchen mit Mädchen. Einige sehen gar nicht mal so schlecht aus. Und weil es so heiß ist hier drinnen, wird man den Gesamteindruck einer verschwitzt-unkontrollierten Orgie gar nicht mehr los. Alle wollen ´dirrty´ und `naughty´ sein und merken dabei gar nicht, wie bescheuert sie sich aufführen. „Das geht dich gar nichts an!“, brülle ich dem Störenfried ins Ohr und fühle mich so unendlich deprimiert. Was mache ich auch hier ganz allein in diesem Hexenkessel? „Ah, verstehe!“ Er grinst. „Schlampen sind sie alle!“ Ja, na klar. Alles Schlampen. Vor allem Yûgi, denke ich sarkastisch und versuche mir, ihn in so einem knappen Lederhöschen vorzustellen, sich durch die Stadt hurend. Dieser absurde Gedanke lässt mich unweigerlich grinsen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass mein Gesprächspartner- wenn man ihn so nennen kann- selbst schon etwas breit ist. „Aber hier, ich hab hier das Wunder für dich!“ Kommt jetzt etwa der große, berühmt-berüchtigte Moment, in dem die Dealer ihre Ledermäntel zur Seite biegen und „psst“ machen? Gelangweilt erwartungsvoll wende ich mich dem schmierigen Kerl wieder zu. Er hat den Mund halb offen und guckt wie ein Fisch. Und tatsächlich, unter seiner kurzen Jacke kommt ein kleines Röhrchen zum Vorschein, wie ein Reagenzglas im Chemieunterricht- darinnen bunte Dingerchen, die wie Liebesperlen aussehen. „Damit kommst du echt auf Touren! Und alles and´re ist vergessen!“ Ich und Drogen? Das wäre ja mal ganz was neues. Die einzigen Drogen, die ich bisher konsumiert habe, waren Alkohol und zwei Zigaretten. Wobei mir nach den Zigaretten so schlecht war, dass ich Joey auf den Schoß gekotzt habe. Danach haben wir beschlossen, nie wieder diese Dinger anzufassen. Ich wegen der Übelkeit und Joey wegen des Traumas einer stinkenden Hose. Außerdem sind die Teile ohnehin viel zu teuer. Der Gedanke an Joey ist plötzlich ein sehr schmerzlicher. Mit der hohen Kunst des Vergraulens habe ich es bis jetzt auf sage und schreibe zwei Leute gebracht, die er sehr mag und die wegen mir jetzt wahrscheinlich weinen. Gut gemacht, Tristan, besonders nach den vielen Aktionen, wo du so getan hast, als wäre alles Friede, Freude, Eierkuchen. Eine kleine Welle der Verzweiflung jagt mir wie eine Gänsehaut über den Rücken. Und dann ist das auf einmal dieses Gefühl des „Jetzt ist auch alles egal“. „Wie viel?“, schreie ich gegen den Lärm an. Und es wirkt tatsächlich! Wenn man im Fernsehen Reportagen und Berichte über das Problem Drogen sieht, kann man überhaupt nicht nachvollziehen, wie rund es im eigenen Körper geht, sobald man zwei bunte Pillchen eingeworfen hat. Nun gut, keiner weiß, was alles darin ist; doch im Moment ist mir das egal. Vollkommen egal. Alle Müdigkeit, alle Trübseligkeit ist wie weggeblasen. Ich wandle wahrhaftig auf Watte, weicher, weißer Watte, die meine Füße zärtlich einhüllt wie ein mysteriöser Nebel. Die Discolichter senden kiloweise Lichter aus wie Fäden, wie Flecke, die sich vermischen und zu klingen beginnen. Noch nie habe ich vorher klingende Farben gesehen. Im Pulsschlagtakt dazu zucken die Töne vor meinen Augen hin und her. Die Musik ist jetzt nicht nur um mich herum- sie ist mir selbst; ich bin der Verstärker, der Mittelpunkt meiner kleinen Welt. Nichts ist laut und nichts ist leise. Ich bewege mich tanzend, hüpfend, taumelnd durch die Menge, strahle wildfremde Menschen an, werde sogar von zwei Mädchen angetanzt, tanze zurück, werde aber schnell wieder stehen gelassen, weil ich mich irgendwie nicht so ganz unter Kontrolle habe. Immer wieder taumelt mein Körper zur Seite, schlägt mein Kopf zu sehr aus. Ich kippe Bier hinter dem Drogenscheiß her, literweise wie mir scheint. Dreimal gleite ich aus auf den Bierresten der Vorgänger. Dann komme ich nicht schnell genug wieder hoch, liege auf dem dreckigen, stinkenden Boden und spüre kichernd harte Stilettoabsätze, Pumps, Stiefel auf meinem Rücken von den Leuten, die mich nicht oder erst zu spät sehen. Nie hätte ich gedacht, dass soviel wilde Energie in meinem Inneren steckt. Sie ist so unerschöpflich wie die in Joey, als ob sie beide verwandt wären. Wie ein Derwisch wüte ich über die Tanzfläche. Einige schubsen mich mit glücklichen, bunten Gesichtern zur Seite, dann lache ich, wühle in meiner bereits vollkommen zerstörten Frisur herum und poge zurück. „Hey!“ Irgendwann habe ich vergessen, was ich hier mache. Warum ich hergekommen bin. Da bin nur noch ich. Und diese seltsame, helle Stimme an meinem Ohr. „Hey! Tris´!“ Und der Arm, die Hände, die an mir zerren und versuchen, meinen total zusammengesunkenen Körper aufrecht zu stellen. Die energische Kraft darin fühlt sich wunderbar an. „Hey! Mein Gott, was ist denn nur los mit dir?!“ Wie ein sanftes Flüstern im Hintergrund zu der hämmernden Musik, die in meinen Ohren zu einem zärtlichen Tonmischmasch wird. Unendlich liebevoll umarmen mich Farben, Musik und Berührung, der Atem, der so nahe an mir ist. „Tris´, hallo!“ Jetzt ist alles gut. Das ist alles, was ich denke. Das ist alles, was ich wahrnehme und empfinde. Die leuchtend braunen Augen und die weichen Haare meines Freundes, noch so unverschwitzt, schließen sich mit meinen Farbenfantasien zusammen, werden eins. Unschlagbar. Joey ist hier. Jetzt ist alles gut! Ich fühle mich so unwahrscheinlich froh, so überglücklich, dass ich hochhüpfen will. Doch mein Körper versagt auf einmal seinen Dienst und ich kann nichts weiter machen als still am Rand der Tanzfläche zu stehen, Joey zu sehen und zu fühlen und meinen erschöpften Atem rasseln zu lassen. Amphetamine. Eine wundervolle Erfindung! Die geben mir alles was mir gefehlt hat, mit einem Schlag. Wer braucht Yûgi, wer braucht Tea oder Serenity? Niemand, denn die konnten mir nicht geben, was mir wundervolle bunte Pillchen hergezaubert haben. Irgendwann ist dieser millimeternahe Atem so warm und kitzelnd, dass ich mein Dauergrinsen erschöpft fallen lasse. Fremde Arme sind mit meinen verhakt. Ich spüre diese Körperwärme an mir, frisch und weich. Der Bass und die Melodie des Liedes dröhnen durch meinen Kopf, zum einen Ohr rein, zum anderen wieder hinaus. Farben zerren mein Hirn in das totale Chaos. Und ich stehe da, meine sehnsüchtigen Lippen so warm und fest auf Joeys gepresst, an ihm trinken wollend, mich an ihm halten wollend. Er ist hier, er ist da. So wahrhaftig wie ich wahrhaftig bin, wie meine Sehnsucht, genährt aus chemischen Stoffen, wahrhaftig ist. Sein Mund ist ruhig und süß, ich kann ein leichtes Beben in den Lippen fühlen, von dem ich nicht weiß, ob es von mir oder von ihm kommt. Aber ich habe ihn. Hier bei mir. Ich darf nicht loslassen. Wenn ich Joey jetzt loslasse, wird er niemals wiederkommen. To be continued... Kapitel 6: Eiskalt ------------------ Titel: Clinging to habits Teil: 6/7 Autor: Tsutsumi Disclaimer: Alle Charaktere aus Yu-Gi-Oh!, die ich hier benutze, gehören nicht mir. Ich leihe sie mir nur aus und gebe sie hoffentlich unbeschädigt zurück. Ebensowenig verdiene ich Geld hierfür. Pairing: Tristan x Joey Kommentar: Diese FF hier ist die Antwort auf Rei17´s und Maddles Päckchenchallenge "7 Angewohnheiten" vom "Challenge"-Zirkel hier auf Animexx. Ich hoffe, ich kann sie gebührend beantworten^^ Warnung: sappy, Shounen Ai Eiskalt Jemand hat mein Gehirn ausgeschaltet. Ich wandle durch schwarze Schleier in meinen Träumen. Das ist nicht metaphorisch gemeint, nein; es sind wirklich Schleier. Schwarze Schleier, Samtvorhänge mit Kordeln, Theatervorhänge, Kinovorhänge... Pausenlos laufe ich hindurch, nur um durch noch weitere zu gehen. Gardinen passiere ich ebenso wie Türvorhänge. Es ist seltsam. Zwei-, dreimal spüre ich Bewegungen an mir, ohne richtig aufwachen zu können. Dann nehme ich ein Schlucken wahr und Stimmen, die durch all meine Verwirrung und unendliche Erschöpfung klingen. Etwas Flüssiges rinnt meine Kehle hinunter, erst dann bemerke ich, dass das Schlucken zuvor mein eigenes war. Es ist, als ob mein Bewusstsein nur mit den Fingerspitzen an der Realität tastet und dann gleich wieder abtaucht. Der Schlaf ist unbarmherzig. Die Träume nehmen überhand, ich spüre, wie ich selbst schon mit Gewalt aufwachen will. Doch eine seltsame, ungekannte Macht steckt in mir. Wie Dornröschen schlafe ich dahin. Vollkommen erschöpft. Als wäre ich gestorben. ~~~*~~~ Dann, als ich aus der Ohnmacht erwache, ist es kalt. Trotz Bettdecke, in die mich irgendwer eingewickelt hat. Trotz der Kissen, in denen ich liege, die ich mit meinem verräucherten, ekligen Geruch eingestunken habe. Nur ganz langsam kann ich die Augen öffnen. Das Licht sieht alt aus. So muss sich ein Mensch fühlen, der aus dem Koma erwacht. Alles ist bekannt- und doch so fremd. Die Lichtstrahlen, die beim ersten Blinzeln blenden, die dir zeigen, dass du dich gerade von einer Welt in die andere bewegt hast. Das ist der Moment, in dem man überlegt, welche dieser Welten die realere ist. Dann beginnt man zu fühlen. Die Finger, Arme, Beine erspüren die Umgebung. Und schließlich zerrt das Bewusstsein das Herz hinterher, die Seele, die bis dahin vielleicht in Träumen steckte. Ich trete durch den letzten Vorhang. „Na, endlich aufgewacht?“ Als ich aufsehe, bemerke ich das Gewicht an der Seite des Bettes und das Gesicht meiner wahrscheinlich inzwischen einzigen Freundin. Und ich bin irgendwie so unendlich erleichtert, dass ich nicht ganz allein bin. „Ist okay, lass dir Zeit.“ Tea lächelt sanft. Neben mir auf dem Nachttisch tickt altbekannt mein Wecker. Doch allein den Kopf zu wenden und nach der Uhrzeit zu sehen ist ein einziger Akt der Verzweiflung für mich. Die hämmernden Kopfschmerzen sind wieder da- und schlimmer denn je. „Es ist halb acht, falls du das wissen möchtest.“ Sie hat ja schon richtig Schwesternmanier, stelle ich erstaunt fest. Professionell wickelt sie meinen schwitzenden Körper aus der Decke. Irgendjemand hat mir Jeans, Schuhe und T-Shirt ausgezogen. Ich setze mich ganz langsam auf. Langsam genug, um vom aufkommenden Schwindel nicht wieder ausgeknockt zu werden. „Abends halb acht?“, ächze ich erschöpft. „Scheiße...“ Tea rutscht ein bisschen näher, schiebt mir Bettdecke bis zur nackten Brust hoch. Und auch wenn ich noch nicht ganz da bin, ich habe ihren sorgenvoll schweigenden Ausdruck in den Augen schon längst gesehen. „Hier, trink mal!“, befiehlt sie mir mit routinemäßiger Stimme. „Du bist nämlich total ausgetrocknet.“ Kein Wunder, dass das Licht so alt aussieht. Die Sonne steht schon ganz tief, zerfließt in der Silhouette der Häuser der Stadt. Die Amseln schreien auch schon. Und über allem thronen ein paar Federwolken, die das warme Sommerwetter über das Land tragen, als stumme Zeugen. Ich habe über zwölf Stunden geschlafen. „Seht mal, wer wieder unter den Lebenden weilt!“ Wie ein Ausstellungsstück präsentiert Tea mich den anderen, als sie mir ein weißes T-Shirt überhilft und mich ins Wohnzimmer schiebt. Völlig verdutzt bleibe ich stehen. Nein, vielmehr möchte ich mich eigentlich umdrehen, wieder zurück ins Bett taumeln und einschlafen. Auf der kleinen, vollgekrümelten Couch stapeln sich Joey, Yûgi und Serenity. Viel schlimmer hätte es nicht kommen können. Obwohl, hätten sie Kaiba mitgebracht... Die drei machen Riesenaugen als sie mich sehen; als wäre ich irgendein Weltwunder oder ein Bild von Dali, an dem man zuerst erschreckt, weil es so komisch aussieht, bis man zu interpretieren beginnt. Nun, der Zeitpunkt ist günstig für sie. Für uns alle eigentlich. Denn jetzt können sie mich, schwächlich und kränkelnd wie ich bin, bei der Gelegenheit gleich zusammenschlagen. Besonders Yûgi und Serenity. Joey könnte noch oben drauftreten und dann räumt Tea meine sterblichen Überreste weg. Pragmatisch, praktisch, gut. Wortlos stehe ich da und schäme mich. Dafür, dass hier drei Leute sitzen, von denen ich zwei wie Dreck behandelt habe. Dafür, dass ich mich Joey so präsentieren muss. Dafür, dass Tea mich bemuttern muss. Dafür, dass ich stinke und furchtbar aussehe. Warum nur sind die alle hier? Eine Eiseskälte durchfährt mich. „Es geht dir gut, was für ein Glück!“, quietscht Serenity, dass es mir in den gefolterten Ohren dröhnt. „Da muss ich dir gleich einen Tee machen!“ Ihre langen Haare fliegen vergnügt mit als sie hochspringt und in die Küche flitzt. „Warte, lass mich dir helfen!“, ruft Yûgi leise. Er strahlt direkt, als er sich an mir umständlich vorbeischiebt, mich anlächelt- mit diesem furchtbar erleichterten Blick- und mir vorsichtig auf die Schulter tastet. Und ich verstehe die Welt nicht mehr. Habe ich die letzten beiden Tage etwa nur geträumt? Habe ich mir lediglich eingebildet, Serenity stehengelassen und Yûgi beschimpft und geschubst zu haben? Stimmt meine insgeheim ausgeheckte Theorie mit einem Paralleluniversum am Ende doch? Oder gehen die jetzt nur in die Küche, weil sie jetzt endlich das Öl heißmachen können, welches sie nachher über mir auskippen wollen? Regungslos starre ich den beiden hinterher, mit offenem Mund und wenig intelligentem Blick. Beinahe verzweifelt schon sehe ich Tea an, stumm, mit dieser nonverbalen Frage: `Was zum Teufel ist hier los?´ Vielleicht kommt gleich einer mit der versteckten Kamera heraus und ich laufe demnächst im Fernsehen, mit wüsten Haaren, dreckigen Shorts und kalkweißem Gesicht. So total verdutzt bin ich, dass ich Joey so spät so nahe an mir bemerke, dass ich erschreckt aufkeuche. Seine braunen Augen sind ganz ernst und verschlossen. Es ist seltsam, diese verdrehten Rollen. Sonst war ich doch immer der Vernünftigere von uns beiden und habe ihm Vorträge gehalten über das, was er zu tun und zu lassen hat. Sonst habe ich doch immer diesen besorgt-tadelnden Blick im Gesicht gehabt. Nicht er. Langsam und bestimmt fühlt er sich an, als er mich einfach in seine Arme zieht. Das ist so ungewohnt, dass mein Herz zu rasen beginnt, dass ich geradezu Schweißausbrüche bekomme, erbebe wie so ein kleines Schulmädchen, wenn sein Lieblingslehrer ihm mal zuwinkt. Und Joey ist so wunderbar warm. Seine Haut riecht sonnengebadet, seine Haare nach diesem Rosenduft-Shampoo, welches er nie zugibt zu benutzen. Ich muss die Augen schließen, um diesem Moment überhaupt gerecht werden zu können. „Mach so was nie wieder!“ Seine Stimme ist genauso ernst wie sein Blick. Und seine Arme, seine Hände liegen schon beinahe zärtlich auf meinem Rücken, meinen Schulterblättern. „Das Zeug hätte dich vielleicht sogar umgebracht, wenn du noch lange so weitergemacht hättest!“ Mein Kopf dröhnt so sehr, so furchtbar. Ein Schwindelanfall jagt den nächsten. Er hat ja recht. Genau genommen hat Joey immer recht. Was für ein Freund bin ich denn, wenn ich mich genauso beschissen verhalte wie sein Vater? Ganz bestimmt stinke ich nach Bier; und trotzdem hält er mich, weil er so froh ist, dass ich noch da bin. Und diesem Augenblick fällt es mir wieder ein, wie eine Gedächtnislücke, die sich von allein wieder schließt. Mein Herz überschlägt sich geradezu so dass es wehtut. In der letzten Nacht habe ich ihn geküsst. „Es tut mir Leid!“, murmele ich und höre, wie Tea so diskret ist und das Zimmer verlässt. „Tut mir wirklich Leid, Joey!“ Das Maß ist voll. Hier und jetzt. Ich bin so wahnsinnig erschöpft. Nicht nur von den Drogen; auch davon, immer den verständnisvollen, lieben Kerl zu spielen, der keine Bedürfnisse hat. Mein Zement-Grinsen tut weh, wenn ich es ziehe. Meine Gedanken sind nun mal voll mit Gehässigkeiten, mit dunklen Seiten. Ich kann nicht mehr so tun, als wäre alles eitel Sonnenschein. Müde und kraftlos lasse ich meinen Kopf auf Joeys Schulter sinken. Es kommt bestimmt nicht oft vor, dass Männer aus Frustration und zum Stressabbau heulen. Aber ich bin gerade der lebende Beweis dafür, dass es das auch gibt. Und selbst wenn ich die einzige Memme bin, die so was tut, ich habe keine Gedanken mehr dafür übrig, mich deswegen minderwertig zu fühlen. Wortlos lasse ich heiße Tränen laufen. ~~~*~~~ Später, beim gemeinsamen Essen erfahre ich, dass sie sogar einen Arzt geholt haben. Dass Joey ständig die Hand über meine Nasenlöcher hielt um zu prüfen ob ich noch atme. Das haben wir zusammen im Erste-Hilfe-Kurs in der Schule gelernt, das weiß ich noch. Serenity soll wohl alle verrückt gemacht haben, immerzu mit dem Telefon in der Hand, bereit, die Notrufnummer zu wählen. Ich kann mir das Chaos richtig vorstellen. Während sie eine Horrorgeschichte nach der anderen auspacken, möchte ich zwischenzeitlich am liebsten in der Tomatensuppe versinken, die Tea und Serenity gekocht haben. Ich schäme mich entsetzlich. Scheinbar übertreibe ich, wenn ich mal über die Stränge schlage, immer gleich. Inzwischen ist mir klar geworden, dass ich heute Nacht in der Disco nichts anderes war als ein sabbernder, wild um sich schlagender Idiot. Kein Wunder, dass ich ständig geschubst wurde. Mich hat auch niemand angelächelt, das war wahrscheinlich ebenso Drogentrip-Nebenwirkung wie die Farben und die sichtbaren Töne. An das Schlimmste von allem allerdings möchte ich gar nicht denken. Wahrscheinlich war das im Rausch nur eine Frage der Zeit. Wie oft hört man Frauen, die sich an jeden Kerl schmeißen, wenn sie breit oder betrunken sind; wie oft finden sich heterosexuelle Kerle am Morgen danach neben einem Mann wieder? Einen Moment grübele ich, ob mir das Küssen im Normalzustand wohl auch gefallen hätte. „Dann haben wir dir zwischendurch Wasser eingeflößt“, erählt Tea munter über dem Rest ihrer Suppe. „Ich wette, du hast vorher noch nie im Schlafen getrunken!“ „Wenn das denn Schlafen war!“, ergänzt Serenity besorgt. „Ich glaube ja eher, es war eine Ohnmacht!“ „Kann man denn stundenlang ohnmächtig sein?“, mischt sich Yûgi ein. „Unsinn! Hast du schon mal einen trinkenden Ohnmächtigen gesehen?“ Wie gut, dass Tea wenigstens einen kühlen Kopf bewahrt. Wir sitzen beieinander und reden ohne Unterlass. Worüber weiß ich später gar nicht mehr. Es sind so belanglose Sachen, dass sie einem sofort wieder entfallen. Das Wetter. Neue Spiele. Gerüchte über Leute in der Schule. Wir machen allesamt einen Riesenslalom um all das, was hier so furchtbar präsent ist, dass es mir halb die Kehle zuschnürt. Dass ich gestern breit war und einen ganzen Tag dehydriert im Bett rumlag. Dass ich mich einfach nicht überwinden kann, Yûgi und Serenity vor allen um Entschuldigung zu bitten, zumal die beiden den anderen scheinbar kein Wort erzählt haben. Sonst wäre Joey vorhin bestimmt nicht so nett zu mir gewesen. Draußen ist die Sonne längst untergegangen. Es ist als ob die Zeit dahin rast; ich bin darauf gar nicht eingestellt. Eben noch habe ich mich klasse gefühlt und mit Farben und Formen getanzt. Eben noch war da dieser schmierige Kerl, der unter seiner Lederjacke bunte Pillchen mit durchschlagender Wirkung verkaufte. „Ich bringe Serenity nach Hause.“ , sagt Joey irgendwann, nachdem er alle meine Salzstangen aufgegessen hat. Gut, dass ich die noch irgendwo ganz hinten im Küchenschrank gefunden habe. Ganz aufgetaut ist mein Freund die gesamte Zeit hinüber nicht. Sicherlich hat er wie immer seine Witzchen und Späße getrieben, versucht, Yûgi Salzstangen in die Nase zu stecken und Tea beinahe heißen Tee über den Schoß gegossen. Doch der verschlossene Ausdruck bleibt bis zuletzt in seinen Augen. Sogar bis zu dem Moment, in dem wir beide im Türrahmen stehen und uns eigentlich die Hände zum Abschied reichen. Das macht mir Angst. „Hey, trödel nicht so rum, Serenity!“, treibt er seine Schwester an. „Mama schimpft wieder, wenn ich dich zu spät zu Hause abliefere!“ Er grinst sie schelmisch an, weil sie nicht schnell genug ihre feinen Schuhe mit den scheinbar tausend Schnürchen, Schnällchen und Bändchen zukriegt. Und er lehnt locker am Türrahmen, während ich mich, ungewohnt schüchtern, an der Tür festhalte, als gälte es, mich vor Joey zu schützen. Er legt eine Hand auf meine Schulter; „Und dass du es ja nicht wagst, morgen in der Schule zu erscheinen. Du musst dich ausruhen!“ „Ach was.“, winke ich schnell ab. „Das Bisschen! Das wird sicher geh-„ „Nein!“, fällt er mir ins Wort. Seine Stimme ist fest und beinahe hart und als ich ihm in die Augen blicke, steht die Finsternis wie zusammengezogene Wolken darin. Oh nein. Er ist sauer. „Schone deinen Körper, Tris´! Den hast du schon genug bestraft.“ Bei jedem anderen hätte ich wahrscheinlich Theater gemacht; hätte gesagt, dass es wirklich nicht so schlimm ist, dass es gehen wird, ich nichts vom Stoff verpassen will. Doch gegen Joey habe ich keine Chance, nicht einmal den Hauch einer Chance. Er kennt mich eben doch noch wie seine Westentasche. All meine Macken, meine Komplexe. Sie sind ihm noch immer allgegenwärtig. Das beruhigt mich irgendwo und macht mir zugleich Angst. Weil ich plötzlich vermute, dass er mehr über mich weiß als ich selbst. Ja. Bestimmt weiß er schon die ganze Zeit was mit mir los ist, während ich noch immer im Dunkeln tappe. Er war im Puzzeln schon immer besser als ich. Als Tea, Joey und Serenity gegangen sind, ist es plötzlich so still in der Wohnung, dass ich Angst bekomme. Eigentlich will ich nur zurück auf die Couch, es mir bequem machen, doch mit einem Mal zittere ich am ganzen Körper wie so ein elender Hund im Schneesturm, den man vor´m Supermarkt angeleint hat. „Hier, das hilft bestimmt!“ Yûgi legt mir eine Decke um die Schultern, in die ich mich so bereitwillig einkuschle, dass ich direkt gegen den weichen Stoff bebe. Unglaublich so ein Turkey. Nennt man das so? Ich kann nicht verstehen, wieso Leute so abhängig von diesem Teufelszeug werden können. Zwei Stunden Paradies für zwölf Stunden anschließender Hölle. Aber vielleicht denke ich auch nur so, weil ich die Dinge, die ich im Rausch getan habe, so bereue. „Danke, Yûgi.“, presse ich leise zwischen den Zähnen hervor. Ich fühle mich so dreckig und mies ihm gegenüber. Es ist beinahe elf Uhr dreißig und er hat bis eben trotzdem in meiner Küche das Geschirr abgewaschen. Er hat diese wahnsinnige Engelsgeduld, diese unnormale, enorme Sanftmut, mit der er Tiger zum Weinen bringen könnte. Gestern noch hat mich das in den Wahnsinn getrieben. Doch heute ist das wie Balsam auf meiner verwirrten Seele. „Warum bist du hier?“ , frage ich schließlich in die Ruhe hinein. Das einzige Geräusch ist ein leises Schlürfen, wenn wir unsere heißen Teetassen ansetzen und vorsichtig kleine Schlückchen nehmen. „Wie meinst du das?“ Mit großen Augen guckt er mich an. „So wie ich es sage.“, raune ich ungeduldig. „Du bist hier und spülst mein Geschirr, obwohl ich dich gestern wie den letzten Dreck behandelt habe. Das versteh ich nicht!“ Mir fällt wieder dieser blöde Satz ein, den ich ihm gestern zum Abschied an den Kopf geknallt habe. Von wegen, dass es besser gewesen wäre, ihn doch mal wieder zu verhauen. Ich gebe zu, gestern habe ich das ernst gemeint. Aber jetzt, wo ich scheinbar den allertiefsten Punkt meines Lebens erreicht habe, tut es mir zutiefst Leid. „Naja...“ Yûgi blickt liebevoll in den trüben Tee in seiner Tasse. „Du bist eben mein Freund. Um Freunde kümmert man sich, besonders, wenn es ihnen nicht gut geht.“ Eigentlich hätte ich gleich mit so etwas rechnen können. Aber jetzt kann ich gar nicht genervt sein von dem, was er sagt. Mir geht es viel zu beschissen, und mich plagen viel zu große Schuldgefühle. „Yûgi...ich hab gesagt, dass ich dich gern verhauen würde.“, versuche ich, dem auf den Grund zu gehen. „Hat dich das kein bisschen verbittert gemacht? War es vorhin kein bisschen Genugtuung für dich, mich sabbernd und halbtot rumliegen zu sehen?“ Mit dem Daumen deute ich über meine Schulter in Richtung Schlafzimmer. „Du hättest mir in den Arsch treten können und hast es nicht getan!“ Ich grinse und knuffe ihn zärtlich von der Seite an. „Du hast eine einmalige Chance verpasst, Yûgi Muto!“ Jetzt schaut er mich direkt an, mit seinem bezeichnenden traurigen Lächeln, welches einem sagt `Ich weiß genau was mit dir los ist und werde dir das jetzt haarklein offenlegen.´ Das könnte mich noch immer auf die Palme bringen. Eigentlich. „Weißt du, Tristan...“, beginnt er mit heller Stimme. „Ich fürchte, wir kennen uns nicht gut genug, auch wenn wir Freunde sind. Ich weiß, dass ich auf jeden einen Eindruck mache, altklug und erhabener zu sein. Was soll ich sagen, ein Geburtsfehler vielleicht, so wie andere manchmal zu kurze Finger haben oder ein Chromosom zuviel.“ Ich mache große Augen. Hätte nie damit gerechnet, dass er das so sieht. „Ich hab schon mal versucht, cooler zu sein. So wie du. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass Joey mich genau so mag, wie ich bin. Mit all der Dramatik, mit meinem Hang zu großen Reden und mit meiner Gestik und Mimik, die manche Leute in den Wahnsinn treiben. Ich will niemandem altklug kommen, ich meine das nicht arrogant, ganz und gar nicht.“ „Moment mal!“, unterbreche ich Yûgi in seine verzweifelten Rechtfertigungen. „Du wolltest so sein wie ich?“ Der Kleine nickt. „Na klar. Joey hatte immer dich an seiner Seite. Es gibt viele Dinge, für die er dich bewundert. Du bist die Kraft, die ihn in schweren Zeiten trägt. Das könnte ich niemals allein tun.“ Irgendwo rutscht in meinem Brustkorb gerade etwas herunter. Vielleicht wieder mein Herz. Es puckert ganz aufgeregt. „Und trotzdem mag Joey mich,“, fährt Yûgi fort. „Das ist nämlich der springende Punkt.“ Er rutscht mir ein Stückchen entgegen, die Couch ächzt, alt wie sie ist, dumpf. Manchmal habe ich das Gefühl, sie führt ein Eigenleben. Manchmal verschluckt sie auch Sachen wie Socken, Korken, Flaschenöffner und Haushaltsgummis. Davon wird ihr aber irgendwann schlecht und beim nächsten Saubermachen muss ihr das alles operativ entfernen. Trotzdem ist es eine gute Couch. Ich sehe Yûgi an, dass er mich am liebsten bei den Schultern fassen möchte, um eindringlicher mit mir zu reden. Doch er lässt es bleiben. „Tristan“, raunt er; „Joey hat niemals vorgehabt, dich abzustoßen und durch mich zu ersetzen.“ Autsch, das tut weh. Es ist nicht besser geworden seit gestern. Mein Kopf hämmert wie blöde. Am liebsten würde ich Yûgi jetzt ganz weit wegschieben und mich krümmen. Aber ich fühle mich viel zu erschöpft, um überhaupt zornig zu sein. „Mag sein, dass er etwas ungeschickt darin ist, dir entgegen zu kommen.“, fährt Yûgi fort. „Dich immer nur zu Spieleconventions zu schleppen ist vielleicht der falsche Weg. Wahrscheinlich versucht er einfach nur, dich für dasselbe zu begeistern, was er so mag. Damit ihr wieder in ein- und derselben Sache unschlagbare beste Freunde seid.“ Vielleicht musste ich so tief fallen. Vielleicht musste ich mich so in den Ruin treiben, damit ich Yûgi in Ruhe zuhöre ohne ihn gleich aufzuschlagen. Er und ich sind so verschieden, dass es wahrscheinlich zwangsläufig krachen muss. Doch in genau diesem Moment, in dem meine Augen und Ohren vor Erstaunen überlaufen, bin ich einfach nur fasziniert. Und ich kann plötzlich verstehen, warum Joey so sehr an Yûgi hängt. Der Junge ist ein Zauberer. „Meinst du das ernst?“, presse ich hervor und versuche, nicht allzu aufgeregt zu wirken. Aber in meiner Brust herrscht ein wahrer Hurricane. Könnte das vielleicht sogar ein Herzinfarkt sein, ausgelöst durch zu viele erschlagende Gefühle? „Natürlich meine ich das ernst!“, blinzelt Yûgi verwundert. „Ich verarsche dich doch nicht.“ „Nein, so meine ich das nicht!“, fahre ich ihm dazwischen. „Bist du dir sicher, dass das wahr ist?“ Er nickt heftig und lächelt aufmunternd. „Tristan, was denkst du, was für Gedanken er sich um dich macht!“ Über das ganze Gesicht strahlt Yûgi, während er vor mir das Puzzle zusammensetzt, an dem ich schon seit Tagen verzweifelt herumpule. Ich konnte es auch gar nicht schaffen, stelle ich überrascht fest. Mir fehlten Teile. „Er hat gemerkt, dass da etwas nicht stimmte. Und das hat ihn verunsichert. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, irgendwo sucht er den Fehler ausschließlich bei sich. Vielleicht ist er dir auch deswegen aus dem Weg gegangen.“ „Und ich ihm, weil ich so einen Groll auf dich und die Karten hatte.“, gebe ich bereitwillig zu. Wenn wir schon Wahrsagen veranstalten, kann ich genauso gut mitmachen. „Weißt du, Yûgi, ich bin Gewohnheitsmensch. Ich brauche es, jede Woche in der Schule mit ihm Verstecken zu spielen, egal wie bescheuert ihr das finden mögt. Ich brauche es einfach, mit Joey zusammen zu sein und Dinge zu tun, die wir seit Jahren tun. Es ist eine Sache der Angewohnheit. Und darum bin ich so scheiße wütend geworden, als ihr mir immer wieder in diese Angewohnheiten reingefahren seid.“ Wenigstens kann ich diesen Abend sagen, dass ich heute etwas gelernt habe. Ja, die Lektion des Tages sozusagen. Es ist falsch, sich immer zu verstellen und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Der Mensch hat Mund, Zunge und Stimmbänder, also bediene er sich dieser Instrumente, wenn ihm etwas nicht passt. Leider scheinen wir Kerle das manchmal zu vergessen. Zurückblickend komme ich mir vor wie der letzte Idiot. „Es tut mir Leid, Yûgi, dass ich gestern so scheiße war.“, sage ich schließlich leise. „Ich hab dich wirklich gern. Wirklich. Wir müssen uns vielleicht noch ein bisschen auf eine Wellenlänge einüben...aber wenn du mir verzeihen magst...“ Yûgi hat seine Tasse zur Seite gestellt. „Das ist okay.“, sagt er lächelnd. Endlich. Endlich, endlich. Ich habe es kaum mitbekommen; aber mit einem Mal ist es, als habe jemand das Fenster aufgemacht und würde warme Luft zur Wohnung hereinlassen. Diese Eiseskälte, die mich die ganze Zeit fest im Griff hatte, beginnt sich zu lockern. Leichter zu werden. Und die Gänsehaut verschwindet endlich... „Aber du, Tristan...“ Yûgi setzt sich nachdenklich zurück, zieht langsam die Knie an seine Brust und starrt auf den ausgeschalteten Fernseher als würde er Geister darauf sehen. „Wenn ich das so sagen darf...“ Seine großen Augen treffen mich wie der Blick eines Weisen. Jetzt wirkt er beruhigend. Einfach wie ein Freund, der die Lage viel früher checkt als man selbst. Ja...ich begreife langsam wieder, warum Joey so an ihm hängt. „Aber ich glaube nicht, dass du Joey so sehr vermisst, weil das eine Angewohnheit ist. Ich glaube, bei dir geht es um etwas ganz anderes...“ To be continued... Kapitel 7: ----------- Titel: Clinging to habits Teil: 7/7 Autor: Tsutsumi Disclaimer: Alle Charaktere aus Yu-Gi-Oh!, die ich hier benutze, gehören nicht mir. Ich leihe sie mir nur aus und gebe sie hoffentlich unbeschädigt zurück. Ebensowenig verdiene ich Geld hierfür. Pairing: Tristan x Joey Kommentar: Diese FF hier ist die Antwort auf Rei17´s und Maddles Päckchenchallenge "7 Angewohnheiten" vom "Challenge"-Zirkel hier auf Animexx. Ich hoffe, ich kann sie gebührend beantworten^^ Warnung: sappy, Shounen Ai Der Kaugummi unter deiner Schuhsohle Manchmal tut man Dinge ganz schnell, weil sie einem auf der Seele lasten. Sie lassen dich in der Nacht nicht schlafen, weil sie unablässig neben dir liegen, sich mit dir unruhig im Bett wälzen und dir immer wieder ins Ohr flüstern `Das schaffst du nie, das schaffst du nie!´ wie kleine, bissige Dämonen. Ich schätze, ich sollte demnächst mal einen Exorzisten aufsuchen. Alles habe ich perfekt abgepasst. Die im Sekrätariat haben gesagt, die Klasse hat nachmittags um zwei Uhr Schluss. Die Mutter am Telefon hat gesagt, dass ihre Tochter das Handy sofort nach dem Unterricht anstellt. Und dabei geseufzt. Diese handysüchtigen Kinder heutzutage. Zum Frühstück habe ich einen Kaffee getrunken und ein Käsebrot gegessen, wie jeden Morgen. Dazu einen dieser abartig wohltuenden Gesundheitsdrinks, die Tea auch täglich konsumiert. Ich habe ein schrecklich schlechtes Gewissen meinem gepeinigten Körper gegenüber. Zehn Minuten stehe ich nach dem Duschen vor dem Spiegel im Bad und betrachte mich von den Schultern abwärts. Tatsächlich bin ich nicht mehr so blass wie gestern. Ich habe es sogar geschafft, schon wieder etwas brauner zu sein als Joey. Bauchmuskeln habe ich noch immer nicht. Aber dafür verspreche ich mir selbst, ab heute jegliche Himmelfahrtskommandos bleiben zu lassen. In frischen Shorts und mit einem dunkelblauen T-Shirt stehe ich im Sonnenschein auf dem Balkon und tippe mit fahrigen Fingern Serenitys Handynummer in mein Schnurloses ein. Überrascht habe ich festgestellt, dass ich einen Haufen Shirts habe, auf denen irgendwelche dämliche Sprüche aufgedruckt sind. Heute steht „Lucky Day“ drauf. Nicht dass ich mich danach richten würde; nicht dass ich abergläubisch wäre. Aber wenn ich heute versuche, meine Welt wieder in Ordnung zu bringen, kann so ein optimistisches Sprüchlein ja nicht schaden. Die Sonne lugt heute nur vorsichtig durch eine milchige, graue Wolkendecke. Irgendwo in der Ferne grollt es ganz leise und die Luft steht so still, dass in ihrer Feuchtigkeit nicht einmal Grillen zirpen. Am anderen Ende wird abgenommen. Es knackt kurz. „Hallo, ich bin´s, Tristan!“, krächze ich in den Hörer, viel, viel nervöser als vor unserem Pseudo-Date. „Tristan? Hallo, wie geht´s dir“ „Dank eurer Pflege wieder hervorragend.“ „Dann ist ja gut.“ Sie kichert leise. „Hast du dich daran gehalten, was mein Bruder gesagt hat?“ „Ja, allerdings. Habe keinen Fuß vor die Tür getan.“ Bis jetzt jedenfalls nicht. „Was anderes bleibt mir ja auch nicht übrig, Joey haut mich ja sonst.“ Ich verziehe mein Gesicht zu einem schelmischen Grinsen. Und trotzdem, es ist da- dieses verlegene Schweigen zwischen uns. Gestern waren wir ja nicht allein. Zwischen Tea, Yûgi und Joey haben wir das Problem wie ausgeklinkt. Wie eine Art Waffenstillstand beim Zwei-Fronten-Krieg. „Hör mal...“ Ich fummle mir mit der freien Hand nervös am Shirt herum. Hätte ich schon eine Jeans an, würde ich die Hand in die eine Hosentasche schieben, darin aufgeregt herumwühlen, Taschentuchreste zerpflücken... „Ich habe nicht vergessen, was da neulich im Zoo war.“ Meine Zunge fühlt sich ganz dick an. Wie Brei, den ich mühselig im Mund hoch- und runterschlagen muss. Ich lasse den Kopf hängen und scheuere mit einer nackten Fußsohle über den Asphalt des alten Balkons bis es wehtut. „Ich weiß nicht, was mich da geritten hat...“ Ein Grollen hinter den Häusern. „Aber es war nicht okay. Weder dich stehen zu lassen noch... Es tut mir Leid.“ Sie schweigt noch immer. Und plötzlich erkenne ich, dass ich bei ihr viel mehr kaputtgemacht habe als bei Yûgi, obwohl ich das bis gestern Abend noch andersrum gesehen habe. Ich habe Serenity benutzt wie ein Ersatzspielzeug, habe genau dasselbe getan, was ich Joey insgeheim vorgeworfen habe. „Scheinbar bin ich weniger ein netter Typ als vielmehr ein...Mistkerl. Ich weiß nicht, wie ich das wiedergutmachen soll...“ Schwarze Wolken hängen im fernen Himmel, als ob die Welt untergehen wollte. Nein, denke ich mir. Wenn Gott so unfair ist, werde ich wirklich sauer. Er darf die Welt keinesfalls untergehen lassen, bevor ich alles erledigt habe. Das Wichtigste steht noch an! Ich werde nicht zulassen, dass ich mich mit Joey erst im Himmel ausspreche. So eine Engelsharfe tut sicher weh, wenn man sie im Zorn auf den Kopf geschlagen bekommt. „Tristan...“ Serenity klingt ernst. Sehr ernst. Und in ihrem Tonfall schwingt plötzlich so viel von Joey mit. „Ich hab niemandem weiter davon erzählt. Auch nicht meinem Bruder, weil der sicher wieder übertreiben würde. Aber...ich bin manchmal nicht ganz so zimperlich wie ihr vielleicht denkt.“ Mein Gott, was hab ich nur getan, dass plötzlich alle Leute über sich selbst rumreflektieren? Das ist mal wieder so typisch. Tristan, der Idiot, stürzt sie alle in Selbstzweifel, weil er mit sich nicht klar kommt! „Ich bin schon sauer auf dich deswegen.“ Wenn sie es mit ihrer süßen Stimme so sagt, könnte man das beinahe nicht glauben. „Aber ich weiß trotzdem, dass du mich magst. Und dass Menschen, wenn sie traurig und verwirrt sind, Fehler machen.“ Jetzt ist es, als ob sie lächelt. Ich kann das förmlich durch das Telefon hören. Sie strahlt wie Joey eine unheimlich beruhigende Energie aus, um die man nicht herum kommt. „Und darum mach dir darum keine Gedanken mehr.“ ~~~*~~~ Ich habe Menschenkenntnis genug um zu wissen, dass Serenity in Wahrheit doch noch traurig und enttäuscht ist. Jetzt, nach all dem Chaos erkenne ich plötzlich die vielen kleinen Gemeinsamkeiten zwischen ihr und ihrem Bruder. Beide schieben ihren Frust zur Seite, wenn es darum geht, einem Freund zu helfen. So wie ich. So wie Yûgi. Wir sollten uns gegenseitig sofort adoptieren um eine große, tolle Familie zu werden. Und dann gemeinsam zur Familientherapie gehen um mal die Klappe auf zu bekommen. Ich werde das mit Serenity wieder gerade biegen. Vielleicht ist sie jetzt nicht mehr so doll in mich verschossen. Das macht die Sache vielleicht einfacher. Dass ich höchstwahrscheinlich einen Komplex habe, was Joey angeht, macht sie allerdings schwieriger. Gemein wie Yûgi manchmal ist, hat er mich gestern Abend nach der Bemerkung mit den Angewohnheiten einfach zappeln lassen. Ich mag diese Spieler nicht! Sie setzen dir das Puzzle zusammen bis zum letzten Teil und lassen dich dann genüsslich danach suchen. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, meinen feuerroten Schirm unter den Arm geklemmt, lehne ich an der Mauer zu meinem Schulhof. Kann sein, dass hier Lehrer vorbeikommen und mich fragen, warum ich heute gefehlt habe. Aber zur Not lässt sich ja immer noch eine ärztliche Bescheinigung fälschen. Nun ja. Oder zum Arzt gehen. Wenn ich in den Himmel hochsehe, blicke ich der aktuellen Weltuntergangsprobe des Allmächtigen entgegen. Die schwarzen Wolken hängen jetzt über mir, über der Stadt, und in ein paar Kilometer Entfernung zucken schon Blitze. Ich zähle nach denen nach. Einundzwanzig...zweiundzwanzig...dreiundzwanzig. Bis der Donner die stehende Luft zerreißt. Seto Kaiba rauscht als erster durch das Schultor. Wie typisch für ihn. Und ich rätsele noch immer, wie er es schafft in der gleichen Schuluniform wie wir alle anderen, viel erwachsener, würdevoller und arroganter zu wirken. Das ist vielleicht so ein Geburtsfehler wie Yûgi meinte. Obwohl ich eher glaube, dass weder Kaiba von Anfang an arrogant war noch Yûgi seit Geburt Klugscheißer. Manchmal passieren einem Menschen schlechte Dinge, die einen so formen. Und womöglich will man gar nicht so sein. Er diskutiert gerade wieder belebt in sein Handy. Nicht laut, aber wieder genau so bedrohlich und gänsehautauslösend wie letztens. Ob Johnson schon gefeuert wurde? Mit einem düsteren Blick klappt Seto sein silbernes Prollhandy zu, stapft den Weg entlang, der an mir vorbeiführt. Seine hellen Augen sind unter diesem überlangen Pony schlecht zu sehen. Wahrscheinlich absichtlich. In ihnen flackert es auch nur kurz auf, als er mich da stehen sieht. Wahrscheinlich weil sein Großhirn ihm gerade meldet, dass ich heute nicht im Klassenraum saß, sondern jetzt hier bin. Ohne Uniform. Sollte das etwa bedeuten, dass er mich doch wahrnimmt? Ich meine, nicht wie man eine Schmeißfliege bemerkt oder eine Spinne, die einem gerade ins Ohr krabbeln will. Nein, wie einen wahrhaftigen Menschen. Unglaublich. „Hallo, Kaiba!“, lächle ich ihm zu und hebe kurz die rechte Hand zum Gruß. „Wie geht´s?“ Es ist nicht so, dass ich eine Antwort erwarte. Ich bin es gewohnt, ihn zu grüßen und keine Antwort zu erhalten. Einig und allein auf die Reaktion tief in seinen Bewegungen warte ich. Sie sind das einzige an ihm, was zeigt, wie der Kerl wahrnimmt. Das Handy liegt in seiner Hand eingeschlossen, als er an mir vorbeistiefelt, mit langen, eleganten, aber trotzdem irgendwie steifen Schritten. Und auf einmal nehme ich den Anhänger daran wahr, der aus der Hand baumelt. Ein dünner Faden an dem ein kleiner, blauer Stein ganz unauffällig hängt. Eine so vorsichtige Zierde, die so tut, als wäre sie gar nicht da. Und trotzdem sagt sie genug aus über den Eisklotz Seto Kaiba. Mehr als ihm wahrscheinlich lieb ist. Ich lächle ihm hinterher. So honigsüß, dass er das einfach im Nacken spüren muss. Irgendwann- vielleicht- werden wir miteinander reden wie ganz normale Menschen. ~~~*~~~ Joey kommt spät. Yûgi und Tea im Schlepptau, schlendert er durch das Tor, mit hängenden Schultern und einem Blick, der irgendwie müde aussieht. Irgendwie habe ich die unbestimmte Ahnung, dass es nicht am Unterricht liegt, dass er so fertig ist. Und beiße mir mental mal wieder in den Arsch. Davon dürfte ja genau genommen nicht mehr sehr viel übrig sein. „Hey, was machst du hier?!“ , zetert er gleich los, als er mich sieht. „Ich hab gesagt, du sollst heute nicht kommen!“ „Falsch!“, korrigiere ich ihn. „Du hast gesagt, ich soll nicht in der Schule erscheinen. Ich bin nicht in der Schule, sondern davor!“ Ich hebe den rechten Zeigefinger wie ein altkluger Lehrer. Yûgi kichert. „Na schön!“ Joey zuckt grinsend gespielt hilflos mit den Schultern. „Wenn du schon wieder so schön klugscheißen kannst, kann es dir ja nur besser gehen.“ Und ich spüre eine Erleichterung in ihm. Wie ein Verspannung, die sich löst und ihn wieder locker werden lässt. „Ja.“, sage ich ganz ruhig und lächle den dreien aufmunternd zu. „Es geht mir gut. Dank euch!“ Im Hintergrund grollt ein Donner. Es klingt wie eine überdimensionaler LKW, der die Straße hinunterpoltert. „Na, na, jetzt werd mal nicht so melodramatisch hier!“, versucht Joey, die Situation vor dem Ernst zu retten. Doch die anderen beiden lächeln still zurück. Schnell setzen sie sich ab. Unter dem äußerst unoriginellen Vorwand, dass es da für Yûgi noch eine ganz wichtige Besorgung gibt, die er für seinen Opa machen muss, und dass Tea heute ohnehin zum Aerobic geht. So sportlich wie sie ist, könnte das jedoch glatt stimmen. Sie hat garantiert mehr Muskeln als ich und könnte mich glatt stemmen. Das müsste man mal ausprobieren. Doch nicht jetzt, wo Joey und ich allein sind. Wortlos angestrengt die Straße analysieren. So viele Schlaglöcher hier... Ich bin es tatsächlich nicht mehr gewohnt, ihm so nahe zu sein. Es irritiert mich scheinbar. Plötzlich sind meine Handflächen schweißnass und meine Knie fühlen sich gefährlich weich an. Die Schritte seiner Turnschuhe, die schon fast auseinanderfallen, hallen irgendwie in meinen Ohren nach. „Wegen gestern...“, fange ich das wohl schwerste Gespräch meines Lebens an. „...danke!“ Ich hebe den Blick sanft von der Straße auf und sehe meinen Freund vorsichtig von der Seite an. Joey nickt gedankenverloren. Mit seinem rechten Fuß kickt er kraftvoll Kieselsteinchen zur Seite, die auf dem Gehweg herumliegen. Wie Geschosse prallen sie am Asphaltrand ab, an Autotüren und Schutzblechen von Fahrrädern. „Kein Ding.“ , entgegnet er leicht lächelnd und zerrt umständlich an seinem Schulrucksack herum. Anschauen mag er mich aber trotzdem nicht. Das ist einfach scheiße hier. Alles. Wir umschleichen uns vorsichtig in der Schwüle der stehenden Luft und überlegen fieberhaft, was jetzt zu sagen ist. Was zu tun ist. „Und es tut mir Leid.“, schiebe ich leise hinterher. „Ich habe mich wie der letzte Idiot benommen.“ Der Gang nach Canossa ist steinig und schmerzhaft. Das musste ja schon damals dieser Adlige einsehen, als der Papst ihn von der Kirche ausschloss. Nun gut, ich krieche nicht auf nackten Knien vor Joey herum. Vielleicht wäre das aber besser so, rein aus metaphorischen Gründen. Es würde ihm ein wenig mehr symbolisieren, dass ich mir wirklich ganz furchtbar stark in den Arsch treten will. „Ich meine nicht nur das mit den blöden Pillen.“ Meine Stimme ist plötzlich heiser, ohne dass ich geschrien oder einen Frosch im Hals habe. Irgendwo habe ich mal gehört, dass das psychosomatische Gründe hat. Weil man Angst vorm Reden hat, setzt die Stimme aus oder so etwas. Ich bleibe stehen und räuspere mich umständlich. „Ich meine auch, weil ich in letzter Zeit so ein dummer Arsch war.“ In meinen Ohren rauscht das Blut im Takt meines völlig übertriebenen Pulses. Mein Herz pumpt wie eine durchgegangene Furie, als würde ich einen Sprint hinlegen oder Bergsteigen. Das hat alles überhaupt kein Verhältnis. Ich verstehe es nicht. „Warst du?“ Joeys braune, helle Augen sind jetzt etwas erstaunt auf mich gerichtet. Seine Hände im blauen Blazer der Schuluniform vergraben, steht er da, ein bisschen wie bestellt und nicht abgeholt. Es wirkt, als würden wir gar nicht mehr zusammengehören. Ich nicke langsam; „Ja, glaub mir. Das war ich.“ Über uns blitzt es. „Warum?“ Er fährt sich, amüsiert lächelnd durch die zerzausten Haare als würde er glauben, sie hätten sich angesichts des Gewitters aufgeladen. „Erklär mal!“ Sein Grinsen wird breiter. „Hast du was ohne mich ausgefressen?“ Ja, das ist Joey, durch und durch. Er wirft sich gern mit Schmackes wie ein waschechter Held vor seine Freunde um sie vor Energiestrahlen oder sonst was zu retten. Aber mit seinem abtrünnigen besten Freund ein klärendes Gespräch mit dem nötigen Ernst führen, das kann er nicht. Kleine Momente wie gestern Abend, das ist wiederum in Ordnung. Aber bei Joey darf es in nichts Melodramatisches ausarten, nicht wenn es von ihm ausgehen soll. Doch den Gefallen kann ich ihm gerade nicht so tun. Ich wühle mit den Händen in meinen eigenen Taschen herum, nicke noch mal beschämt und betrachte kurz den Himmel über mir in all seiner apokalyptischen Schwärze. „Das hab ich wirklich!“, sage ich in die stehende Luft hinein. „`Ne ganze Menge. Glaub mir, ich hätte echt Prügel verdient!“ „Ach komm schon!“ , knufft er mich kurz in die Seite und lacht nervös. „Ich weiß ja, dass du manchmal komisch bist , aber dass du auf SM stehst, ist jetzt was Neues!“ Da schüttele ich den Kopf leicht; „Nein, Joey. Ich habe lieben Menschen weh getan.“ Was auch immer für einen Witz er sich gerade zurechtlegen wollte, er vergisst ihn gerade ganz schnell. Das Geständnis wegen Serenity und Yûgi habe ich nicht eingeplant. Nicht von Vornherein. „Echt?“, fragt er ungläubig. „Ja.“ Und wieder ein Blitz. Diesmal zähle ich nicht. Aber der Donner folgt beinahe sofort. Eigentlich wäre es jetzt das Beste, irgendeinen trockenen Unterstand zu suchen. Aus den Querstraßen und verwinkelten Gassen kommt in wilden, mitreißenden Böen der Gewitterwind. Von einer Sekunde auf die andere ist er plötzlich da, reißt an Joeys Haaren, an seinem Blazer, an meinem T-Shirt. Es ist einerseits erleichternd, weil man endlich wieder das Gefühl hat, atmen zu können. Und zum anderen drückt der Wind gegen die Brust, dass man erschrocken nach Luft schnappt. „Ich war ein hundsgemeiner Widerling.“, fahre ich fort. „Ich habe mich...“ Meine Stimme quietscht fast. „Ich hab mich zwar entschuldigt bei Yûgi und deiner Schwester...“ Seine Augen werden ganz kurz schmaler. „Aber da ist einiges kaputtgegangen.“ Joey schaut in den Himmel, wie ich gerade. Dann streckt er kurz den Arm aus, mit der Handfläche nach oben um zu prüfen, ob es schon regnet. „Okay...“ , murmelt er mit ungewohnt tiefer Stimme. „Es wird zu prüfen sein, ob ich dir für Serenity in den Hintern trete. Dass ich sie deswegen ausfragen werde, ist dir ja wohl klar?“ Schuldbewusst nicke ich. Von mir aus kann er mir einen Arm brechen oder so etwas. Das wäre mir eigentlich sogar lieber als wenn er mir alles nachsehen würde. Ich fühle mich schon schrecklich genug, weil gestern alle so scheißfreundlich zu mir waren. Aber vielleicht ist das die Art meiner Freunde, mich dafür zu bestrafen. Schlechtes Gewissen tut nämlich ganz schön weh. „Ich erzähl dir auch so was passiert ist.“, biete ich mich unterwürfig an. „Jedoch alles, was ich dir von vornherein versichern kann, ist dass ich sie weder verprügelt noch beschimpft habe. Wenn dich das etwas beruhigt.“ „Ich glaube, das wäre für deine Verhältnisse auch viel zu steinzeitmäßig.“ Er ruckelt an Riemen seines Rucksackes herum. „Was mit Yûgi war, ist nicht meine Sache. Allerdings...“ Er schaut mich wieder an und zieht leicht den rechten Mundwinkel hoch; „...find ich´s erst mal gut, dass du mir das überhaupt gebeichtet hast.“ Das stimmt wahrscheinlich. Vertrauen ist jetzt am angebrachtesten. Es hilft jetzt vielleicht auch etwas, da wir uns, einander fremd geworden, wie blinde Mäuse durch ein kompliziertes Labyrinth zueinander tasten. Ich hätte ihm das eben ohnehin nicht verschweigen können. Wir setzen unseren Weg hastig fort. Der Wind ist kalt geworden und jagt Gänsehaut über meine nackten Unterarme. „Was mich aber mal interessieren würde,“ redet er gegen das laute Rauschen an, als wir die nächste Straße abbiegen. „...wie es dazu kam, dass du die beiden geärgert hast. Du bist doch sonst nicht so drauf, dass du Leute einfach beleidigst oder kränkst.“ Jetzt fängt der Teil der Unterhaltung an, den ich am allerwenigsten mögen werde. Ich weiß es jetzt schon. Mein Herz hämmert so hart gegen meinen Brustkorb, dass die metaphorisch eiternde Stelle schmerzt. Ich weiß doch noch immer nicht wirklich, was mit mir los ist. Wie soll ich Joey denn da aufklären? „Naja...“ Ich fummle umständlich am Regenschirm herum. Gleich werden hier Hunde und Katzen runterkommen. Die Wolken haben das Sonnenlicht abgedeckt und die Stadt in einen schwarzbestrahlten Mantel gehüllt. Der Sturm reißt mit einer Wahnsinnskraft an allem, was nicht niet- und nagelfest ist. Papierfetzen fliegen durch die Straßen, weggeworfene Plastiktüten...habe ich da grade eines dieser Miniaturhündchen vorbeifliegen sehen? „Wie soll ich das sagen ohne dass es bescheuert klingt...?“ , sage ich mehr zu mir selbst als zu Joey. „Ich...“ Zaghaft schaue ich zur Seite, schaue in sein offenes helles Gesicht. Und ich friere entsetzlich. Obwohl ich genau wusste, dass es gewittern wird, habe ich nicht mal einen Pullover mitgenommen, gedankenlos wie ich war. Ich wünsche mir mit einem Mal, dass ich es einfach so machen könnte wie die Kerle in diesen Schmalzfilmen. Dass ich einfach Joeys Hand nehmen und auf meinen beinahe zerspringenden Brustkorb legen kann. Dann würde er vielleicht begreifen- was auch immer es da zu begreifen gibt- und ich müsste ihm jetzt keinen Vortrag halten. Aber wir sind in keinem Schmalzfilm. Die Realität verdirbt einem alles. „Tris´!“, sagte er sanft und eindringlich. „Erinnerst du dich, wie ich dir vor Jahren erzählt habe, wie mitten im Sportunterricht meine Hose gerissen ist und alle das darunter sehen konnten? Viel schlimmer kann das jetzt doch gar nicht sein!“ In diesem Moment fängt es endlich an zu regnen. Wie aus einer Gießkanne kommen die Wassermassen geschossen, harte, große Tropfen, die einem ins Gesicht peitschen, einem das Shirt gleich an den Rücken kleben und die gesamte Haut mit einer klammen Kälte überziehen, von der man Grippe bekommt. Und dieser Scheiß-Schirm geht nicht schnell genug auf. Sekundenlang klamüsere ich daran herum bis ich ihn endlich aufgespannt bekomme, ihn über unsere Köpfe halte. Und schließlich feststelle, dass der Regen durch den starken Wind von der Seite kommt. „Vielleicht nicht.“, sage ich leise und klammere mich an dem feuchten Plastikgriff des Schirms fest. „Aber es ist genauso exhibitionistisch.“ Es geht einfach nicht. Nach dem zweiten Windstoß ist der Schirm total verdreht, dass ich damit das Wasser eher auffange als uns davor zu schützen. Mit klatschnassen Haaren und durchgeweichten Klamotten zwängen wir uns schließlich wortlos in einen recht breiten Unterstand an einem Hauseingang. Unser Atem dampft. „Ich...ich hab dich einfach so vermisst.“ , sage ich auf einmal polternd, mit heiserer Stimme. Meine Hände und Arme zittern. Der Sturm treibt es scheinbar raus, als würden seine elektrischen Impulse direkt in mein Gehirn übergehen, in meine Seele, als würde er die Worte aus mir rauspressen. Alles, alles geht in mir mit einem Mal hoch und runter; Magensäure verknotet sich mit Galle, die Niere wickelt sich ein zwischen Lunge, Herz und Dünndarm. Ich bin ein einziges, zitterndes Riesenbaby mit einem viel zu schnellen Herzschlag. Und ich versteh das nicht. Joey war mein bester Freund. Bin ich ihn einfach nicht mehr gewohnt? Joey hat seinen Rucksack abgesetzt. Sein Gesicht ist vom Regenwasser ganz feucht, Tröpfchen rinnen seinen Nasenrücken herunter. Und obwohl es jetzt so stockduster ist, wirken seine Augen ganz hell, wie aufgeladen. Als würden sie Elektronen nähren. Und sie schauen mich so klar und unverwandt an, dass ich Angst bekomme, Joey sieht durch mich hindurch. „Du...warst plötzlich so weit weg.“, sage ich mit wehleidigem Ton. „All diese Spiele und Karten...und Würfel...und Dukes und Yûgis... waren dir soviel wichtiger.“ Es hat zwei gute Beziehungen ausgetestet, mir Kopfschmerzen bereitet, schlaflose Nächte, einen Drogenschock...bis ich es endlich mal geschafft habe, das zu sagen. Weil ich einfach zu feige war. Es stimmt schon. Ich bin ein nicht besonders anpassungsfähiges Subjekt der Evolution. Wie ein Dinosaurier ecke ich an allen möglichen Stellen an und stoße verzweifelt Urzeitgeräusche aus. Tristanus idiotensis. Joey steht ganz starr und gerade vor mir, mit halb geöffnetem Mund. Ich hoffe er sieht nicht wie sehr mich das mitnimmt, ihm sozusagen alles vor die Füße zu kotzen. Doch sein Blick ist hängengeblieben zwischen dem Leuchten eines verständigen Zuhörers und eines Kindes, welches sich über jedes gesprochene Wort wundert. „Ich weiß nicht...“, fahre ich zitternd fort und verschränke fröstelnd die Arme vor meiner Brust, starre in den Regen, der wie eine Wand auf die Straße donnert. Wassertropfen hängen an meiner Nasenspitze, meinem Kinn und meinen Haaren, zerstören meine Frisur. „Es tut mir Leid, ich werde mich wohl nie für die Sachen so begeistern, wie du vielleicht versucht hast, sie mir nahe zu bringen. Nach einer Runde Duel Monsters habe halt schon genug. Es tut mir echt Leid, dass ich dich damit in Schwierigkeiten gebracht habe, dass du nicht wusstest, was du mit mir anfangen solltest...“ Ein beinahe erschrecktes Flackern huscht über sein Gesicht. Wie ich es doch vermisst habe...ihn einfach anzuschauen, in seinem Ausdruck zu lesen. „Lass mich raten...“, nuschelt er leise. „Ein kleiner gemeinsamer Freund hat dir das verraten.“ „Er musste.“, versuche ich, Yûgi sofort zu schützen. „Weil ich nie was von allein gecheckt habe.“ Eilig hetzen Leute an uns vorbei die stillgelegene Straße hinunter. Mit Schirm, ohne Schirm, sich Zeitung über den Kopf haltend, mit großen Schritten. Alle haben dunkle Wasserflecken an ihren Klamotten. Jeder versucht sich vor dem Gewitter zu retten. En schiefes Licht fällt vom Himmel, so abgedunkelt. Und doch taghell. „Und ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.“ , fahre ich fort. „Beschweren wollte ich mich auch nicht.“ Jetzt muss ich zynisch lächeln. „Naja, worüber auch? Nur weil man früher gewohnt war zusammen zu sein, muss das ja nicht so für die Ewigkeit sein.“ Mehr als ein hilfloses Schulternzucken bekomme ich nicht hin. „Du hast dich weiter entwickelt, Joey. Darauf bin ich echt stolz, weißt du das eigentlich? Du bist jetzt voller Kraft und Tatendrang. Und jetzt brauchst du auch keinen Tristan mehr, der dich freiboxt. Das kannst du alles selbst...“ Lächelnd schaue ich ihn von der Seite an; meinen nassgeregneten besten Freund, von dem ich manchmal träume. „Vielleicht behindere ich dich einfach nur.“, sinniere ich in den nächsten krachenden Donner hinein. „Ich bin einfach nur der beste Freund von damals. Der Kaugummi unter deiner Schuhsohle sozusagen, den man sich am besten abkratzen sollte.“ Ich sehe, wie sich Joeys Augenbrauen senken. Ja, vielleicht ist es das einfach die ganze Zeit gewesen. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein für Joey. Ihn nicht mehr zu verdienen. Ein Gefühl, welches nach einem Ausdruck suchte und nur durchbrechen konnte, als ich high war und keine Kontrolle mehr über mich hatte. „Du frierst.“ Joey deutet sanft auf meine meterdicke Gänsehaut auf den Armen. „Zieh mal meine Jacke an.“ Einzelne, feine Strähnchen seines hellen Haares kleben ihm an den Schläfen und an der Stirn fest. Das sehe ich erst jetzt, als er sich aus seinem Blazer schält, sich zu mir vorbeugt. Dieser Rosenduft seines Shampoos...ich sauge ihn unwillkürlich sofort ein. Jetzt, wo seine Haare nass sind, kann man das viel mehr wahrnehmen. „Dann frierst du doch aber!“ , protestiere ich. „Ach quatsch nicht!“ Er winkt ab und drängt mich förmlich in die Jacke, wartet bis ich mit den Armen hineingeschlüpft bin und zieht sie am Kragen an mir hoch. „Wer ist denn hier immer die Frostbeule gewesen?“ Seine Hände bleiben am Kragen haften. Klamme Wärme schlägt mir entgegen, wohlig, beruhigend, gemischt mit Joeys Körpergeruch. Sanft und irgendwie obstig. Plötzlich sind seine Augen ganz nahe. Sein Gesicht verharrt ruhig vor mir, verstrahlt die Energie eines zweiten Gewitters, so umwerfend, dass ich am liebsten einen Schritt zurück gehen will. Doch direkt hinter mir ist die Wand des Hauseinganges. „Jetzt hör mal zu, Tris´!“ Ganz ernst klingt er. So ähnlich wie Serenity vorhin am Telefon. Und ich habe das Gefühl, kurz vor einem Kreislaufkollaps zu stehen. Ich bin es nicht gewohnt, ihn so nahe zu haben! Das bringt mich durcheinander, ohne Ende. „Wenn du noch mal soviel Blech auf einmal redest, hau ich dir höchstpersönlich eine runter.“ Seine schmalen Augenbrauen. Die von der Gewitterkälte geröteten Wangen. Sein halbgeöffneter, feuchter Mund. Und über allem die nassen, zerzausten Haare. Seine Hände am Kragen des Blazers. Als würde er mich festhalten. Ich spüre Joeys ganzes, kraftvolles Wesen. Es ist, als ob mich seine Energie beinahe zerreißen würde. Mich, den Ballast, den Kerl, der ihm eigentlich nur Ärger gemacht hat. „Du bist kein Kaugummi unter irgendeiner Sohle! Merk dir das! Und genauso wenig bist du auf einen Nutzen herunter zu reduzieren, ohne den du nicht mehr existieren darfst. Von wegen ich bräuchte dich nicht mehr und all der Quatsch!“ Mein bester Freund bekommt beim Reden noch heißere Wangen. Irgendwo zwischen seinem süßen Atem, der mir warm entgegenschlägt und seinen Worten im Wind versuche ich mich zu erinnern, wann wir das letzte Mal so nahe beieinander waren. „Du bist mein Freund!“ , redet Joey sich mit erregtem Tonfall in Rage. Seine Hände krallen sich in den Kragen, zerknittern ihn. „Mein bester Freund. Und nur weil wir Mist gebaut haben und nicht fähig waren, miteinander zu reden, werde ich dich ganz bestimmt nicht einfach so abhauen lassen! Da hast du dich geschnitten!“ Perplex gucke ich ihn an. Irgendwie sind meine Hände hochgewandert, liegen plötzlich auf seinen nackten Unterarmen. Vielleicht um ihn daran zu hindern, allzu fest an seinem Blazer herumzuknittern. Joey kann doch nicht bügeln, er würde sich wieder furchtbar aufregen, wenn er wegen mir das Bügeleisen einmal zuviel raussuchen müsste. „Und wie kommst du eigentlich dazu, unsere Freundschaft als bloße Angewohnheit zu bezeichnen?“ , ereifert er sich. Seine Stimme ist laut geworden. Zum einen, weil der Regen noch stärker geworden ist und jetzt mit lautem, rauschendem Knallen auf das Überdach hämmert, unter dem wir stehen. Zum anderen....ja, warum..? „Das macht mich richtig sauer, Tris´! Man kauft sich aus Angewohnheit jeden Tag eine Zeitung oder man gewöhnt sich an, Sport zu treiben. Man gewöhnt sich, wenn man gut ist, das Rauchen ab. Aber das, was wir hier haben...wie kannst du dazu `Angewohnheit´ sagen!?“ Ich weiß nicht, was genau es ist, was da mit einem Mal in meinen Augen brennt. Ob es Tränen der Rührung sind oder ob ich Regentropfen ins Auge bekommen habe. Oder weil ich allergisch gegen irgendwas reagiere. Alles, was ich weiß, ist, dass in mir so etwas wie ein Widerstand zerbricht. Joeys Leuchten steckt mich an. Und als ich ihn einfach, um ihn zu beruhigen, in meine Arme ziehe, habe ich eine Sekunde lang die Empfindung an seiner Kraft zu zerbrechen. Bis ich merke, wie sie in mich übergeht und mich von innen zu wärmen beginnt. Dieser Moment ist so surreal, dass ich insgeheim auf fliegende Schweine warte, auf das berühmt-berüchtigte Kaninchen, welches keine Zeit hat und im nächsten Gully verschwindet. Doch nichts dergleichen passiert. „Tut mir Leid...“, flüstere ich ganz leise in das Ohr meines besten Freundes. „Du weißt doch...ich war noch nie so gut mit Worten.“ All das hier...Dieses theatralische Gespräch bei Sommergewitter, mein wild schlagendes Herz, meine endlose Verwirrung... das hat alles scheinbar doch nichts mit puren Gewohnheiten zu tun. Ich halte Joey fest in den Armen und spüre mich in ihm reflektieren, fast als hätte ich einen Spiegel wiedergefunden, den ich lange vermisste. Die Nervosität ist verflogen. Ich ruhe wieder ganz in mir. Als ob jemand meine Gefühle schärfer gestellt hätte. Jetzt fehlt eigentlich nur noch dass der Himmel sich auftut und Engel singen; „Na endlich, der Trottel hat´s geschafft!“ So warm ist Joeys weiche Wange, als ich ganz vorsichtig einen Kuss der Versöhnlichkeit darauf setze. Nicht so rüpelhaft, nicht so feucht, nicht so unbewusst wie vorgestern Nacht. Sondern vielmehr mit der Kraft aller meiner Nervenenden. „Es tut mir Leid, Joey“, murmele ich gedankenversunken und spüre seinen auf meinem Brustkorb abgelegten Kopf. Mit den Haarsträhnchen, die mich kalt und nass kitzeln. „Es tut mir alles echt furchtbar Leid...“ Nein. Mit Angewohnheiten hat das alles nichts zu tun. „Hör endlich auf damit, du Idiot.“ Und Joey schiebt seine Hände unter den Blazer. Unter mein T-Shirt, über meinen nackten Rücken. Ganz langsam, in einer allessagenden Geste. Seine kalten Fingerspitzen jagen mir Schauer durch den ganzen Körper. „Steck deine Energie lieber in die Aktion, mich zu wärmen.“ Seine helle Stimme klingt rauh und wohlig. „Mir ist scheiße kalt.“ Da muss ich lächeln. „Wer, sagtest du, ist von uns beiden die Frostbeule?“ Und ich ziehe ihn noch näher an mich heran, bedecke ihn mit beiden offenen Enden des Blazers so gut es geht. Schließe ihn förmlich in mir ein. Es war vielmehr Sehnsucht. ~~~*~~~ „Igitt, sag bloß, du lässt die Cola immer noch abstehen, bevor du sie trinkst!“ Joey hebt ein Bein übertrieben hoch an, steigt über einen Kabelwust, der vom Fernseher bis zur Couch führt und stellt eine Schüssel mit Chips auf den kleinen, dreckigen Tisch vor uns. Mit angewidert verzogenem Gesicht verfolgt er mit den Augen die Neigung der Flasche, die immer größer wird. Bis er in ein glucksendes Lachen ausbricht; „Tris´, du bist echt der ekligste Kerl auf der ganzen Welt!“ „Bloß, weil ich einen eigenen Geschmack entwickelt habe?“, keuche ich, nach Luft schnappend, als ich die Cola absetze. „Ja, genau!“ Mein bester Freund hebt einen Zeigefinger, steigt über den Kabeldschungel zurück und wendet sich der Tür zu, von der es schon zum dritten Mal schellt. Seine nackten Füße tapsen samtig über meinen Teppich. „Cola ist nur gut, wenn sie dir beim Schlucken den Rachen wegätzt! Denn dann ist die Mischung aus Kohlensäure, Koffein und Zucker perfekt!“, skandiert er. Es tut gut, mich zur Abwechslung mal wieder in Situationen wieder zu finden, die mir bekannt sind. Joeys Colaspruch kann ich ja beinahe mitsprechen. Er beruhigt mich, weil er zeigt, dass zwischen meinem besten Freund und mir trotz der letzten, kurzen Zeit des Schweigens noch immer diese Nähe besteht. Oder schon wieder. Dieser Tag letztens im Gewitter war zurückblickend einfach nur ätzend. Nicht wegen Joey, nein. Sondern weil wir, wie es mir vorkam, stundenlang in diesem versifften Hauseingang standen, einander immer wieder irgendwie beteuert haben, wie Leid es uns doch tut. Und das nachdem Joey zu mir sagte, ich solle damit aufhören, selber aber wieder damit anfing. Wir haben uns so weit hochgeschaukelt mit unseren wehleidigen `Sorry`s, bis ich irgendwann im Eifer des Gefechts wirklich Tränen in den Augen hatte (ich gebe zu, die Situation war weit weniger herzergreifend als es den Anschein hat, aber ich habe weiß Gott auch schon bei `Susi und Strolch´ geheult. Allerdings war ich da jünger) und Joey, um mich aufzumuntern, einen den Mond anheulenden Hund nachahmte. Wir haben noch einmal darüber gesprochen. Über sein Ausweichen. Über mein Schöngrinsen. Darüber, dass ich mich von ihm ziemlich in der Klemme gelassen fühlte. Serenity war auch ein Thema. Jetzt weiß ich, dass Joeys Faust im Magen nicht gerade gut tut. Ich bin allerdings selbst Schuld, nachdem ich so lange darum gebettelt habe, dass er sich seiner Wut über meinen Verschiss bei seiner Schwester doch endlich mal Luft machen soll. Zwar hätte ich beinahe gekotzt, aber seltsamerweise fühlte ich mich zu Joey danach wieder ein Stück versöhnter. Was soll ich sagen; wir regeln die Dinge eben so. Wir sind Typen. Worüber wir, um beim Thema zu bleiben, nicht reden, ist das Küssen. Naja, küssen ist zuviel gesagt. Einmal ein Bussi hier und ein Knutscher da. Obwohl ich das Wort `Bussi´ hasse. Manchmal stehen wir einfach nur in der Gegend rum, weil wir auf den Bus warten oder uns grade das Gesprächsthema ausgegangen ist. Und ganz manchmal geschieht es dann eben. Wenn wir so ganz allein sind. Wer uns gut genug kennt, weiß also, dass das Küssen nicht oft passiert. Das würde mir auch ernsthaft Sorgen machen. Sollte es. Es ist ein ganz neuer Aspekt in unserer Freundschaft. Freundschaft? „Tea und Yûgi sind da!“, hallt Joeys Stimme aus dem Eingangsbereich. „Und sie haben was mitgebracht!“ Mit diesem wissenden Grinsen bugsiert er drei Gestalten in mein Wohnzimmer, die sich alsbald ebenfalls nach und nach im Kabelsalat verfangen. Zum ersten Yûgi, zum zweiten Tea mit neuem rosa Pullover, der gewisse Stellen besonders betont. „Ich hab mich verstrickt!“, ermahnt sich mich denn auch sofort, als sie bemerkt, wie mein Blick ganz schnell von ihrem Gesicht in Richtung Brustbein gleitet. „Starr da nicht so drauf!“ Serenity ist nicht gekommen. Man muss dazu wissen, dass ich sie eingeladen habe. Heute Früh kam eine Email von ihr. Es sei nicht so leicht, hat sie gesagt. Sie könne einfach nicht vergessen, was war. Über allem throne eine Sehnsucht, die sie nicht erklären könne. Es ist erstaunlich, dass sie, obwohl sie ein paar Jahre jünger ist als ich, die Dinger scheinbar viel schneller begreift als ich. Ich kann nichts weiter tun als ihr Zeit zu geben. Und zu hoffen, dass es vielleicht doch wieder so wie vorher wird. Wenigstens ein bisschen. Die dritte Gestalt ist der Pizzajunge. Wie immer zu spät- die Pizzen werden bereits lauwarm sein- wie immer mit rotem Basecap, die er nur ganz vorsichtig auf den Kopf gelegt hat, um sein eingegeltes, blondes Haar, welches in Igelstacheln absteht, nicht zu ruinieren. Gepaart mit den weiten Jeans, deren Hosenenden er sich in die Socken gesteckt hat, wirkt das mehr als proletenhaft. Ich rümpfe demonstrativ mein zartes Näschen. „Drei Käsepizza mit Peperoni und Anchovis.“, nuschelt er mich mühselig an. Nimmt Schwung und... Peng, da knallen die Schachteln so gekonnt auf meine Tischplatte, dass ich den Käse wahrscheinlich nachher wieder neu rauflegen darf. „Macht 3590 Yen dann!“ Er rückt an seiner doofen Kappe herum, mit der er sich wohl ganz cool vorkommt. “Und vergiss das Trinkgeld nicht, Kumpel!“ Joey kichert bereits. Und auch ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen, als ich ihm genau 3590 Yen in kleinen Scheinchen rüberreiche. „Nachdem ich mir meine Pizza wieder neu zusammenbauen darf?“, brumme ich amüsiert. „Nee, vergiss es, Alter!“ Sein Gesicht zerknautscht sich wie bei diesen Kinderspielzeugen, die im Prinzip nur Luftballons gefüllt mit Sand sind. Wenn man mit den Fingern daran herummodelliert, bekommt man wahre Frankenstein-Monster heraus. „Ey komm, ich war diesmal richtig schnell!“ , fordert er. „Stimmt.“, gebe ich zurück und rieche an einer Schachtel. „Diesmal sind die Pizzen noch nicht ganz kalt. Du solltest mal wieder an deinem Timing arbeiten!“ „Tze!“, macht er, zerrt an seiner Strampelhose herum, macht eine Kehrtwende auf dem Hacken und trampelt übertrieben aus meinem Wohnzimmer. „Du Geizarsch!“ Unter Joeys lautem Beifall verlässt er ein weiteres Mal ohne Trinkgeld meine Wohnung. Wahrscheinlich wird er noch fluchen bis zum Auto unten. Und das muss schon was heißen, denn ich lebe schließlich im elften Stock. Aber ich weiß genau, eigentlich mögen wir uns. Angewohnheiten braucht man manchmal. Um den Überblick nicht zu verlieren. Es bringt Ordnung in das Leben, sodass es einem nicht so verdammt groß erscheint. Man braucht Angewohnheiten um die meiste Zeit zu verdrängen, dass man nichts anderes ist als eine Nadel in einem Heuhaufen, nach der allerdings niemand sucht. Warum ich die Macht der Gewohnheit mit purer Sehnsucht verwechselt habe, wundert mich jetzt nicht mehr. Ich habe das eben wahrscheinlich nie anders gelernt. Was Sehnsucht bedeutet mit all ihren Facetten muss ein Mensch wahrscheinlich lernen; so wie er lesen lernen muss. Wenn man das Gefühl hat und nicht weiß, was man damit anfangen soll, ist man ganz schön angeschissen. „Hey, dann können wir ja anfangen!“ Joey macht es sich neben mir auf der Couch bequem. Es ist so eng, dass ich ab und an das Gefühl habe, unsere Hüften kleben aneinander. Aber das macht nichts. Zum Glück braucht er mich doch noch, denke ich erleichtert, als mein bester Freund die erste Pizzaschachtel aufstößt, gierig erste Happen nimmt und dann mit käsefettigen Fingern sein Colaglas nimmt. Zum Glück sind wir noch immer beieinander. Gewissermaßen bin ich doch so etwas wie der Kaugummi unter seiner Schuhsohle. Irgendwann hat er mich mal eingetreten. Damals merkte er das vielleicht nicht unbedingt. Aber seitdem klebe ich an ihm wie alter Kautschuk und werde ihn auch nicht einfach loslassen. Nicht mal, wenn ich´s wollte. Der Mensch, den ich früher aus Bewunderung nachahmen wollte, ist mir jetzt so nahe wie ein Freund nur sein kann. Und das hat etwas, wie Yûgi sagen würde, Wunderbares. „Joey, mach dein Glas doch nicht schmutzig!“, rufe ich und knuffe ihn an; was nicht schwer ist, weil ich ihm ja praktisch schon fast auf dem Schoß sitze. „Du schmierst deine Fettgrabschen noch an mein Mobiliar!“ Seine Augen sind so groß und hell, dass ich mich in ihnen glatt verliere, anstatt auf den Bildschirm zu schauen. Yûgi traktiert meine Elfenkämpferin gerade schonungslos. „Pass du mal lieber auf, dass du nicht verlierst!“ , entgegnet er, ohne den Blick von mir zu nehmen. „Liebe Tea, gib mir doch bitte mal eine Serviette!“ Nachmittage wie dieser sind so abartig banal, dass mich einer wie zum Beispiel Seto Kaiba dafür auslachen würde, dass ich das hier als wertvolles Gut bezeichne. Aber ich kann nichts dafür. Ich bin froh über jede dieser Sekunden. Der springende Punkt ist vielleicht auch, sich gerade nicht daran zu gewöhnen. Was man als Gewohnheit sieht, wird manchmal farblos und tot. „Mensch, Tris´, was ist denn mit dir los?!“ Joey schmiegt sich noch näher an mich um das Videospiel auf dem Fernseher besser verfolgen zu können. „Du lässt dich von Yûgi einfach so kalt machen?“ Seine Augen fixieren die jämmerliche Gestalt meiner Kampfelfe, der gerade von Yûgis Steinkrieger die Flügel ausgerissen werden. Siehe da- hat unser kleiner Engel Yûgi am Ende doch eine Art dunkle Seite, die er in Spielen auslebt? „Warte, lass mich dir mal helfen!“ Er schiebt meine eine Hand von der linken Seite der Kontrollknöpfe und ersetzt sie durch seine. Und sanft legt er den rechten Arm um mich, als wollte er mich festhalten, als ob ich sonst wegwehen würde. Ich spüre die Wärme, die von ihm in mich übergeht wie durch ein Heizkissen. Gemeinsam spielen wir gegen Yûgi. Hibbelnd, kreischend, johlend, jauchzend. Koordinieren können wir unsere Bewegungen zwar überhaupt nicht. Doch es ist ein komisches Gefühl, mit Joey sozusagen eins zu sein. Wenn ich springe, attackiert er. Wenn ich zurückweiche, geht er in den Abwehrmodus und blockt die Schläge und Tritte unseres Gegners. Ja, das ist es. Genau so muss es sein. Da ist plötzlich nichts mehr, was uns auseinanderreißen kann. Zumindest scheint es so. Während draußen eine weitere laue Sommernacht anbricht, die Pizza ganz kalt wird und Tea uns ermahnt, die Nachtruhe doch bitte einzuhalten, indem wir nicht so laut schreien mögen; verlieren wir haushoch gegen Yûgi. Aber das macht rein gar nichts. Es könnte immer so sein. Wenn ich mich nicht allzu sehr daran gewöhne. ENDE ...und Anfang.. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)