Die letzten zehn Tage von Karopapier ================================================================================ Kapitel 7: Tag 6 - Mittwoch --------------------------- Langsam schlenderte ich durch den Park. Es war verdammt heiß, die digitale Anzeige vor der Apotheke zeigte 27°C an. Im Schatten. Ich raffte meinen Rock vorne zusammen, damit man mir nicht bei jedem lauen Lüftchen drunter gucken konnte, und setzte mich auf die Parkbank, die neben mir stand. Ich war heute nicht in der Disko gewesen und hatte stattdessen aus reiner Langeweile den gesamten Tag auf dem Weg vom Haus zum Supermarkt und wieder zurück verbracht. Als mich die Verkäufer allerdings schon beim vierten Mal ziemlich sauer angeguckt hatten, weil ich schon wieder an ihnen vorbeigegangen war, ohne etwas zu kaufen, hatte ich mir beim fünften Mal schließlich eine Packung Gummibären genommen. Die hatte ich jetzt aufgemacht und schob sie mir nacheinander in den Mund, während ich nachdachte. Meine Mutter war wohl während einem meiner Spaziergänge zu meiner Oma gefahren und hatte in ihrer Geistesgegenwart einen Zettel an die Tür gehängt: "Bin bei Oma. Ich habe dir die Lasagne warm gemacht und dann in den Ofen gestellt, damit sie nicht so schnell auskühlt. Komme wahrscheinlich gegen vier wieder." Das Problem war weder die Lasagne gewesen noch der Umstand, dass sie im Ofen stand. Dass meine Mutter weg war, war auch nicht weiter schlimm. Das Problem war nur, dass sie die Tür abgeschlossen hatte. Und von daher durfte ich von jetzt, um halb eins, noch bis um mindestens vier Uhr im Park bleiben und mir die Zeit vertreiben. Wahrscheinlicher war, dass es noch länger dauern würde. Meine Mutter und meine Oma vergaßen schnell mal die Zeit. Ich seufzte und stand wieder auf. Mir taten die Füße weh, weil ich es nicht gewohnt war, in Schuhen mit Absatz zu laufen, aber sitzen bleiben konnte ich auch nicht. Zu schnell schweiften miene Gedanken auf gestern ab, und das musste ich mir nicht weiter antun. Ich war froh, dass ich überhaupt noch schlafen konnte ohne die ganze Zeit vor Schmerz wieder aufzuwachen. Warum die Klassenbeste sich auf das Niveau heruntergelassen hatte, war mir ehrlich gesagt schleierhaft. Was hatte sie vor zwei Wochen noch gesagt? "Ich lasse mich doch noch nicht mal dazu herab, mit der zu reden"? Ich schnaubte höhnisch. Sicher doch. Ich trat auf einen dickeren Ast, der auf dem Weg liegt, rutschte – oder rollte besser gesagt – auf ihm aus und hielt mich im Fallen automatisch an der nächstbesten Person fest. Gott sei Dank war der Park heute gut besucht. "Verdammte Scheiße", fluchte ich und ließ weitere nicht sehr damenhafte Verwünschungen los. Der Jemand, an dem ich mich festgehalten hatte, eindeutig jemand männliches, lachte. Was sollte das? Ich war ausgerutscht und der lachte sich kaputt? "Oh – wie – witzig!" Ich hoffte doch sehr für den Typ, dass er den Sarkasmus gehört und als solchen verstanden hatte, sonst hätte ich ihn zumindest nicht gerade als sehr intelligent eingestuft. "Du sahst eben sehr elegant aus", sagte er und hob mich wieder auf die Beine. Beim Klang seiner Stimme zuckte ich zusammen, drehte mich ruckartig zu ihm um und rutschte auf dem gleichen verwunschenen Ast wie davor auch schon gerade noch einmal aus. Als ich ungefähr drei Minuten später meinen Pseudohelden ansah, um ihn zusammenzustauchen, warum er mich eigentlich nicht aufgefangen hatte, zuckte ich zusammen. Vor mir saß Chris in der Hocke, sah mir interessiert zu und grinste breit. "Ist das dein Hobby?", fragte er mich, ohne mit der Grinserei aufzuhören. Ich wurde knallrot und funkelte ihn an, ohne ihn eines Kommentares zu würdigen. "Ich meine", fuhr er fort, als ich nichts mehr sagte, "rutschst du öfters zweimal auf dem gleichen Ast aus und fluchst dir die Seele hinterher aus dem Leib?" Statt meinen warnenden Blick zu beachten, redete er einfach weiter. "Dein Wortschatz ist wirklich beachtlich. Schreibst du mir die Flüche mal auf? Die könnten mal nützlich werden. Ich hab öfter mal an so was Bedarf, aber dann fällt mir nichts Passendes ein. Du hast das aber echt gut drauf. Nur gehört sich so was für eine Lady nicht ganz..." Ich rappelte mich mühsam auf und ignorierte seine ausgestreckte Hand. "Ich bin keine Lady", zischte ich und klopfte mir den Schmutz vom Rock, "und ich habe auch nicht vor, eine zu werden." Als ich vorsichtig den Knöchel belastete, landete ich wieder im Dreck. "Warte, ich helfe dir", sagte er und hob mich kurzerhand hoch. Meinen Protest beachtete er erst gar nicht, stattdessen setzte er mich erst an der Bank wieder ab, auf der ich vorhin gesessen hatte und setzte sich anschließend neben mich. Wir schwiegen uns an. Schließlich, als das Schweigen unerträglich wurde, räusperte er sich. "Sag mal", fragte er, "was meintest du eigentlich vorgestern, als deine Mutter mir ausgerichtet hat, ich könne dich mal am Arsch lecken?" Ich fuhr zusammen. Mist. Ich hatte schon gehofft, er hätte es vergessen. "Ach, das..." fing ich ausweichend an. "Na ja, das ... war eigentlich eher ein Versehen. Also, das Ganze fing so an:" Dann erzählte ich ihm die ganze Geschichte: Wie ich nach Hause gekommen war und was ich vorgefunden hatte, was meine Mutter mir hatte antun wollen und wie es anschließend zu dem "sie sagte, du könntest sie am Arsch lecken" gekommen war. Als ich schließlich fertig war, lag er am Boden und rollte sich vor Lachen im Staub. "Ist das dein Ernst?", fragte er schließlich, als er meinen pikierten Blick bemerkt und sich wieder halbwegs beruhigt hatte. Als ich ihn wütend anfunkelte und zu einem 'was soll das heißen, ist das dein Ernst' ansetzen wollte, hob er beschwichtigend die Hände. "Schon gut, ich glaube dir ja schon." Er grinste. "Aber es klingt irgendwie trotzdem einfach nur genial." Widerwillig lächelte jetzt auch ich. "Na ja", gab ich zu, "ganz alltäglich ist das nicht. Es sei denn, man wohnt mit meiner Mutter zusammen." Wir schwiegen uns eine Weile an und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Schließlich sah er auf seine Uhr und seufzte. "Ich muss nach Hause", sagte er. "Meine Mutter wartet bestimmt schon." Ich verzog das Gesicht. "Du hast's gut", sagte ich, bei dir ist wenigstens jemand zu Hause." Er sah mich verständnislos an. "Bei dir etwa nicht? Und da hast du keinen Schlüssel oder so?" ich versuchte es mit einem erneuten Grinsen, das aber zu einer ziemlich lächerlichen Grimasse ausartete. "Normaler Weise säße ich jetzt zu Hause", erklärte ich ihm, "aber meine Mutter hat Lasagne gemacht, sie in den Ofen gestellt, damit sie nicht auskühlt, mir einen Zettel geschrieben, sie wäre bei meiner Oma und ich solle mir die Lasagne aus dem Ofen holen und dann hat sie die Tür abgeschlossen." Christian sah mich an, als hätte ich gerade vor seinen Augen eine Raupe gefressen. "Und du hast keinen Schlüssel?" "Keinen Schlüssel", bestätigte ich. "Kannst du irgendjemanden aus eurer Nachbarschaft fragen, ob sie dich mal reinlassen können?" "Unsere Nachbarn haben etwas gegen meine Mutter und ihre Dekorationen im Treppenhaus bei Festen und feierlichen Angelegenheiten und die einzige Familie, die mich mag, ist auf Teneriffa." Er überlegte. "Das sieht übel aus", bemerkte er dann scharfsinnig. "Stimmt", antwortete ich. Er überlegte wieder. "Dann stand er auf und zog mich auf die Beine. "Dann kommst du halt mit mir mit." Ich rutschte auf einem Ast aus, hielt mich an ihm fest und landete trotzdem auf dem Hosenboden. "Machst du das absichtlich? Diesmal trage ich dich aber nicht." Er hatte die Stirn gerunzelt und sah mich kritisch an. Dann ging er los. Ich fiel natürlich, weil ich mich in meiner Dummheit immer noch an ihm festhielt, direkt auf die Nase. Hatte ich gesagt, dass ich Montage hasste? Für Mittwoche galt das mal mindestens genauso. "Da sind wir", sagte er und öffnete die Tür zu einer kleinen, gemütlich eingerichteten Wohnung. Ich trat ein und betrachtete neugierig das Bild an der Wand. Es zeigte eine Frau von ungefähr vierzig Jahren, die lachend durch ein Blumenfeld rannte und unzählige Schmetterlinge aufscheuchte. "Wer ist das?", fragte ich Chris. Er lächelte und trat neben mich. "Das ist meine Mutter. Gefällt es dir?" Gefallen ist gar kein Ausdruck, dachte ich und nickte überwältigt. "Wer hat das gemacht?" Christian wurde rot. "Das ... das ist von mir", sagte er langsam und sah zu Boden. "Ein Hobby von mir. Ich weiß, schrecklich langweilig." Ich sah ihn an, als wäre er von allen guten Geistern verlassen. "Langweilig???" Er wurde noch röter als er es ohnehin schon war. Ich hingegen war kurz davor, ihm an die Kehle zu springen, ihn zu schütteln, zu ohrfeigen oder gleich in die Psychiatrie einzuweisen. Wenn er jetzt noch röter würde, müsste ich mir wohl ernsthaft Sorgen um ihn machen. "Sag mal, bist du noch ganz bei Trost? Ich finde das einfach nur geil!" Er schwieg. Er schwieg weiter. Er schwieg noch länger. Und noch länger. Und er hörte gar nicht mehr auf zu schweigen. Stattdessen scharrte er peinlich berührt mit den Füßen, soweit das auf dem Teppichboden überhaupt möglich war. Schließlich seufzte ich und redete weiter, um der Situation die Peinlichkeit zumindest einmal einzuschränken. Ich hätte es eigentlich besser wissen müssen, aber blöd wie ih bin sagte ich natürlich in dem Moment das erste, was mir einfiel. "Hast du noch mehr Fotos? Kann ich mir die mal anschauen?" Der Farbton, den sein Gesicht annahm, wurde immer schlimmer. Schließlich zuckte er mit den Schultern: "Wenn du willst." Natürlich wollte ich und kurze Zeit später saß ich auf seinem Bett, während um mich herum Hunderte Fotos ausgebreitet lagen. "Warum sortierst du sie denn nicht einfach mal alle in ein Album ein?", fragte ich Christian. Er hatte in der Zwischenzeit seine Selbstsicherheit wiedergefunden und seine Augen hatten angefangen zu strahlen, als er die ersten Fotos ausgepackt hatte. "Weiß nicht", sagte er und reichte mir die nächste Tüte. "Ich hatte nie einen Grund dazu. Ich weiß ja, wo welche Bilder sind und so kann ich sie ganz einfach aus den Tüten nehmen und jedes Mal wieder zurückstecken. Für mich wäre es nur eine Zusatzgeldausgabe, Alben anzulegen. Immerhin komme ich perfekt zurecht." Ich sah mich zweifelnd um. "In dem Chaos?" Er lächelte. "Normaler Weise ist es ordentlicher." Ich konnte nichts anderes mehr tun als einfach zu nicken. Er musste meinen Zweifel gesehen haben, denn kurz darauf lächelte er noch breiter. Dann fing er an, die Fotos nach und nach wegzuräumen. "Kann ich vielleicht das Foto hier haben?", fragte ich ihn und zeigte auf ein Foto, auf dem ein kleiner schlafender Junge zwischen den Pfoten eines sehr großen Hundes lag, der seinen Kopf schützend auf den Körper des Kindes gelegt hatte. Er sah es sich kurz an und nickte dann. "Klar", sagte er, als wäre es das Natürlichste der Welt, und schob es mir zu. "Das ist mein kleiner Cousin, als meine Tante und mein Onkel in einem Gehege mit Irischen Wolfshunden waren. Der Kleine ist einfach eingepennt. Und der Hund hat dann keinen mehr an ihn rangelassen, auch meinen Onkel und meine Tante nicht. Das hat sie dann nicht so sehr gefreut und am Ende mussten sie auf dem Hof übernachten, weil sonst entweder der Hund oder sie nicht mehr lange gelebt hätten." Ich musste grinsen bei dieser Vorstellung. Dann versuchte ich, mir vorzustellen, meine Mutter würde von solch einer treudoofen Töle im Schach gehalten. Ein Traum. "Meinst du, die haben noch so einen Hund?", Chris grinste breit über seine Schulter hinweg und streckte sich nach oben, um die letzte Kiste in sein Regal zu stellen. "Vielleicht. Aber ich glaube es nicht, sie wollten damals schon nicht züchten. Das war eher ein Unfall gewesen." Mit diesen Worten setzte er sich wieder neben mich. Wir schwiegen, während jeder seinen Gedanken nachhing. Als es langweilig wurde, piekste ich ihn auffordernd in die Seite. "Dreh dich mal um", forderte ich ihn auf und wartete, bis er mir den Rücken zugedreht hatte, was er nicht ohne einen schiefen Blick in meine Richtung tat. Ich überlegte kurz und malte ihm dann mit dem Finger eine Blume auf den Rücken. "Du musst erraten, was das war." Er dachte kurz nach. "Keine Ahnung", sagte er dann. "Ehrlich gesagt, ich habe gar nicht drauf geachtet. Eine Sonne?" "Eine Blume", informierte ich ihn. "Jetzt bist du dran." Ich drehte mich um und wartete darauf, dass er anfing. Als ich schließlich seine Berührung auf meinem Rücken spürte, war alle Konzentration hin. Ich erschauerte. Ich kam mir vor wie unter Strom gesetzt und während er mir irgend etwas auf den Rücken malte, was ich unter normalen Umständen problemlos hätte erkennen können, wusste ich nicht einmal, wie es angefangen hatte. Als er fertig war, bat ich ihn, es mir noch einmal auf den Rücken zu zeichnen. "Komm schon, das war doch jetzt einfach", sagte er und grinste mir erstaunlich frech über die Schulter, dafür, dass er vor zwanzig Minuten noch nicht einmal im Stande gewesen war, mir ins Gesicht zu sehen. Ich wurde rot. "Tut mir Leid", sagte ich, "ich hab irgendwie gar nix erkennen können." Er lachte. Dann malte er mir das Bild ein zweites Mal auf den Rücken. Warum war es nur so schwer, mich auf das Bild zu konzentrieren? Verflucht, ich hatte das Spiel schon so oft gespielt, mit meiner Cousine, meinem Cousin, meinem Bruder, meiner Mutter, als sie noch normal war, unserer damaligen Nachbarin ... und jetzt? Ich merkte, dass Chris fertig war. Schon wieder. Und ich hatte noch nicht mal den Anfang mitbekommen. Ich wurde knallrot und ignorierte die Tatsache, dass er mir über meine Schulter hinweg ins Gesicht sah. "Und?", fragte er entspannter, als ich es unter diesen Umständen wohl jemals sein würde. Ich merkte, wie mir heiß und kalt gleichzeitig wurde, und zuckte verzweifelt mit den Schultern. "Ich kann mich einfach nicht konzentrieren! Ich meine..." Mir wurde erst jetzt klar, was ich da gerade gesagt hatte. Warum konnte es in meinem Leben nicht einfach mal einen Tag geben, an dem alles glatt lief? Falls ich es bis dahin noch nicht gewesen war, wurde ich schlagartig rot wie eine Tomate. Dann warf ich mich auf den Bauch, vergrub das Gesicht in der Decke, machte rundherum dicht und murmelte: "Scheiße." Aus vollstem Herzen. Es vergingen einige Sekunden, die eine Ewigkeit zu dauern schienen. Dann fühlte ich, wie seine Hand mir über den Rücken strich, erst zögernd, dann, als ich nichts dagegen tat, zunehmend selbstbewusster. Sie malte mir Muster auf den Rücken, massierte mir den Nacken und strich mir die Wirbelsäule entlang. Ich merkte, wie sich mir die Härchen auf den Armen aufstellten. "Magst du das?", fragte er mich unsicher. Ich nickte. Zu mehr war ich meiner momentanen Situation nicht fähig. Warum hatte ich ihn eigentlich nicht schon viel früher als erst am Samstag angesprochen? Abends, in meinem Zimmer, lag ich noch lange wach und dachte an den Nachmittag. Vielleicht war mein Leben doch nicht so schlecht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)