Kurzgeschichten und Experimente von mizuchi_akkaku ================================================================================ Kapitel 3: Wie das Meer ----------------------- Wieder einmal saß ich frustriert im Café ‚West Coast’. Den Kopf auf meine verschränkten Hände gestützt schaute ich meinen Gegenüber an und beobachtete die Reaktionen, die sich auf seinem Gesicht abspielten. Zuerst hatte er verwirrt die Augenbrauen zusammen gezogen, was bei ihm erstaunlich komisch aussah. Zum Glück hatte ich nicht genügend Zeit, um in einen grausamen Lachanfall auszubrechen, denn kurz danach wirkte er erschrocken und leicht verstört. „Bitte wiederhol das noch mal!“, bat er mich schließlich mit schrägem Blick und diesem ganz markanten Unterton, den er immer benutzte, wenn ich ironische Bemerkungen machte. Aber was ich gesagt hatte war kein Scherz gewesen. Also hob ich meinen Kopf von den Händen und verschränkte die Arme auf dem Tisch. „Ich mache mit dir Schluss!“, wiederholte ich mit größtem Ernst. „Ich kann mir nicht länger eine Beziehung mit dir vorstellen. Wir sind zu unterschiedlich.“ Meine Tonlage änderte sich nicht im Geringsten. Auch nicht, als ich sah, wie er um seine Fassung rang. Seine Gefühle waren mir nicht wirklich wichtig, denn ich wollte das hier so schnell wie möglich hinter mich bringen. Für mich war er nur noch einer von vielen, mit dem ich zwar versucht habe, länger als ein viertel Jahr zusammen zu bleiben, es aber für mich einfach unmöglich war. Nach einiger Zeit des Schweigens, nahm ich schließlich meine Tasche und stand auf. In dem Versuch nicht ganz so herzlos zu erscheinen, blieb ich noch kurz stehen und murmelte ein einfühlsames „Tut mir Leid.“. Zumindest hoffte ich, dass es einfühlsam klang, denn ich war froh, endlich gehen zu können. Kurz darauf war ich auch schon durch die Tür. Im vorbei gehen, warf ich noch einen neugierigen Blick durch das Fenster zu dem Tisch, an dem ich eben noch gesessen hatte. Tatsächlich hatte sich eine Bedienung zu ihm gesellt und redete auf ihn ein. Es lief jedes Mal gleich ab. Mir war klar, dass sie über mich sprach. Schließlich war ich in diesem Café schon bekannt. Berüchtigt würde es wahrscheinlich eher treffen, denn schließlich war ich dort immer nur zu Gast, wenn ich mal wieder jemanden abservieren wollte. Was den Besitzer besonders geärgert haben dürfte war, dass ich zu allem Übel immer ging, bevor ich etwas bestellt hatte. Aber um ehrlich zu sein, bereitete es mir jedes Mal eine diebische Freude, dieses Café zu besuchen. Nicht, wegen eines armen Kerls, den ich dort jedes Mal mit mehr oder weniger gebrochenem Herzen zurück ließ. Oder um mich über die Bedienung lustig zu machen, die ihm erzählte, dass er nicht der erste war, den ich am Strand aufgegabelt habe, sondern einer von vielen. Bevor ich den Innenraum des Cafés nicht mehr sehen konnte, erhaschte ich noch einen flüchtigen Blick auf den Besitzer, der mir wie jedes Mal mit einem seltsamen Blick hinterher schaute. Er war einer der Gründe, weshalb ich ausgerechnet in diesem Café meine Beziehungen beendete. Ein anderer Grund ist eine besondere Erinnerung, die ich mit diesem Café verbinde. Bei meinem ersten Besuch im ‚West Coast’ war ich noch alleine gewesen und obwohl ich die Einrichtung und alles andere an diesem Café von Anfang an verachtet hatte, hatte ich mir einen Platz gesucht. Dabei war mein Blick fast augenblicklich auf einen Tisch ganz hinten in einer Ecke gefallen. Er passte nicht in dieses Café, denn alles dort drinnen war braun und schwarz, was ich jedes Mal schrecklich deprimierend fand. Vor allem in Kombination mit den altertümlich anmutenden Holzmöbeln überall. Der Tisch jedoch, an den ich mich dann gesetzt hatte, war blau gewesen. Aber nicht einfach nur blau. Er war wie das Meer - hier türkis, dort tiefblau und an einigen Stellen sogar ein wenig grau. Er war wunderschön und als ich ihn länger betrachtete, hatte ich das Gefühl, dass die Farben sich im Takt von Wellen bewegten. Ich hörte das sanfte Rauschen des Meeres und spürte wie der salzige Meereswind sacht über mein Gesicht streifte. Ich hatte das Gefühl so lange wie möglich fest halten wollen, doch ich war unsanft von einer unbekannten Stimme unterbrochen worden. Leicht verstört und äußerst gereizt hatte ich den Eindringling angefunkelt, der sich seelenruhig als Besitzer des Lokals vorgestellt hatte. „Der Platz ist leider reserviert. Ich muss Sie bitten sich einen anderen Platz zu suchen.“, hatte er mir höflich erklärt und dabei auf ein Schild gedeutet. Schadenfroh hatten mir zehn Buchstaben entgegengelacht als ich in seine Richtung gesehen hatte. ‚Reserviert’. Mit einem resignierenden Seufzen hatte ich mich wieder erhoben aber ich war immer noch schrecklich wütend auf den Besitzer gewesen, der mich so abrupt in die Wirklichkeit zurückgeholt hatte. „Gut ich gehe wieder. Dieses Café ist sowieso schrecklich. Sie sollten was an ihrer Einrichtung ändern, sonst glaubt noch jemand, er habe eine Zeitreise gemacht.“ Mit dem Gefühl, dass diese Rache nicht ausreichend gewesen war, um seine Einmischung zu vergessen, hatte ich mich, ohne auf eine Antwort zu warten, abrupt umgedreht und mit energischen Schritten das Café verlassen. Ich blickte kurz auf und merkte überrascht, dass ich schon vor meiner Wohnungstür stand. Mit einer unwirschen Handbewegung versuchte ich die Erinnerungen fort zu wischen und ein lautes Klirren ließ mich verwirrt zum Boden zurück schauen. Mein Haustürschlüssel war mir bei meiner Bewegung offensichtlich aus der Hand gefallen. Ein wenig irritiert schaute ich die Treppen hinunter, die ich bis in den obersten Stock hoch gelaufen war, ohne es auch nur zu bemerken. Irgendwo dort unten lag auch die Eingangstür, die ich genauso abwesen aufgeschlossen hatte. Als ich die Dinge wieder wahrzunehmen begann, fiel mir wieder einmal auf, dass das Treppenhaus meines Häuserblocks in sterilem weiß gehalten war. Karg und Schmucklos. Ich konnte es gar nicht erwarten in meine gemütliche Wohnung zu kommen. Gerade, als ich meinen Schlüssel aufgehoben hatte, ließ mich ein Geräusch hinter mir erschrocken zusammen zucken. Die wohlbekannte Stimme aber, die kurz darauf durch das Treppenhaus hallte, zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. „Lily! Du bist ja schon wieder zu Hause!“ Die Überraschung in Roses Stimme war unüberhörbar, aber ich wusste, dass sie sich freute mich wieder zu sehen, bevor ich mich überhaupt zu ihr umgedreht hatte. Kaum hatte ich mich ihr zugewandt, da umarmte sie mich auch schon stürmisch. „Du musst unbedingt zu einem Tee rüber kommen! Und dann erzählst du mir alles, ja?“ Bevor ich etwas sagen konnte, hatte sie mich schon in ihren Flur gezogen und die Tür hinter mir geschlossen. „Und Molly?“, versuchte ich einzulenken, aber ich war froh, als sie abwinkte. „James holt sie heute aus dem Kindergarten ab, mach dir keine Sorgen.“ Mir fiel sofort auf, dass ihr Ton dabei viel ernster war, als noch im Treppenhaus. Das war ungewöhnlich und ich hatte das ungute Gefühl, dass während meiner Abwesenheit etwas passiert war. „Fand heute nicht das wöchentliche Teekränzchen der Nachbarinnen statt?“, fragte ich von einer leisen Ahnung geleitet. Ihr Blick verriet, dass ich damit genau ins Schwarze getroffen hatte. Sie schäumte gerade zu über. „Nie wieder gehe zu einem von diesen Treffen unter Nachbarn.“ Innerlich kochend führte sie mich ins Wohnzimmer und verschwand kurz darauf in der Küche, aber sie hörte dabei nicht auf zu reden. „Sei froh, dass du arbeitest. Die Frauen hier sind alle solche Klatschweiber. Nachdem es ihnen zu langweilig wurde über die arme verwitwete Frau von gegenüber zu tratschen, haben sie jetzt sogar angefangen über dich her zu ziehen.“ Mit einem Tablett, das mit Teekanne, zwei Tassen und passenden Untersetzern beladen war, kam sie zurück ins Wohnzimmer - immer noch wütend. „Und das nur, weil du alle vier Wochen mit einem neuen Mann hier aufkreuzt.“ Sie stellte einen Untersetzer mit Tasse vor mir auf den Tisch und goss mir Tee ein, wobei sie fast die Tasse verfehlte, so energiegeladen war sie. „Sie haben versucht jedes noch so intime Detail über dich und dein Treiben aus mir raus zu quetschen. Jetzt vielleicht nicht so drastisch, aber sie haben noch nicht mal versucht es zu verheimlichen!“ Mit einem wütenden Schnauben ließ sie sich auf das Sofa mir gegenüber fallen und goss sich nach kurzem Schweigen selbst auch Tee ein. „Deswegen bist du also im Treppenhaus so seltsam gewesen.“, sagte ich lächelnd und nippte an meinem Tee. Sie lächelte. „Ich bin mir sicher, dass sie alle gesehen haben, dass du wieder da bist und obwohl ich ihnen beim letzten Treffen schon die Meinung gegeigt habe, wollte ich ihnen zeigen, dass ich absolut zu dir halte.“ Wir schauten uns an und ich war mir sicher, dass wir gerade dasselbe dachten, denn wir brachen zeitgleich in schallendes Gelächter aus. „Ich stelle mir gerade vor, wie du vor verdutzt drein blickenden, Tee trinkenden Hausfrauen stehst und ihnen gehörig die Meinung sagst.“, prustete ich und setzte vorsichtig meine Tasse wieder ab, um keinen Tee zu verschütten. Sie hielt sich den Bauch vor lachen. „Genauso müssen die jetzt auch geguckt haben. Ich wette mit dir, dass ein Jede hinter der Tür stand und gelauscht hat.“ Wir schnitten uns gegenseitig Grimassen in dem Versuch die verdutzten Gesichter nach zu ahmen und lachten lange und ausgiebig. Genau das, was ich jetzt gebraucht hatte und als wir uns wieder beruhigt hatten, griff auch Rose endlich nach ihrer Teetasse. Sie trank schnell einen Schluck und schaute mich dann erwartungsvoll an. „So.“, begann sie und wurde ernst. „Jetzt musst du mir aber erzählen, warum du schon wieder hier bist und warum Matt nicht bei dir ist.“ Anstatt ihr direkt zu antworten, griff auch ich wieder nach meiner Teetasse. Ich muss traurig ausgesehen haben, denn sie verstand sofort. „Matt war auch nicht der Richtige, hm?“ Ihre Stimme war sanft und klang auch leicht traurig. Ich nickte nur. „Und ich dachte wirklich, dass er dich verstehen könnte. Schließlich liebt er das Meer genauso, wie du, oder?“ Mein Kopfschütteln überraschte sie. „Er hat dich angelogen?“ Wieder schüttelte ich den Kopf und fing endlich an zu reden. „Nein, das ist es nicht. Er liebt es, am Meer zu sein, aber er versteht nicht, wie ich mich dabei fühle, wenn ich es sehe, oder auch nur daran denke. Außerdem konnte ich noch nicht mal die leichte Brise auf unserem Balkon genießen, denn er hat sich andauernd beschwert, dass der Wind seine Haare zerzaust.“ Ein frustriertes Seufzen entrang sich meiner Kehle. Rose stellte ihre Tasse ab, um sich neben mich zu setzen. „Herr im Himmel, gibt es denn Nirgendwo einen Mann, der fühlt, wie ich fühle? Liebt wie ich liebe?“, stieß ich deprimiert aus. Als ich versuchte die Tränen nieder zu kämpfen, umarmte mich Rose einfühlsam und ich ließ meinen Gefühlen freien Lauf. „Es gibt bestimmt jemanden. Du bist nur leider eine der Frauen, die einfach kein Glück mit Männern haben.“, sagte sie sanft und strich mir über den Rücken. Als ich mich beruhigt hatte, richtete ich mich wieder auf und lächelte dankbar. Sie lächelte fröhlich zurück. Sie beugte sich nach den Teetassen und drückte mir meine wieder in die Hand. Immer noch dankbar trank ich einen großen wohltuenden Schluck und sah sie dann wieder an. Sie starrte mich an, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen. „Was ist los?“, fragte ich leicht besorgt. Daraufhin stellte sie ihre Teetasse wieder ab und drehte sich mit einem Bein auf dem Sofa zu mir. „Ich habe letztens mehr über diesen seltsamen Tisch herausgefunden, von dem du mir erzählt hast!“, rief sie aufgeregt. Ich steckte mich sofort bei ihr an. „Wirklich?“, fragte ich begeistert und auch ein wenig ungläubig. „Erzähl!“, forderte ich sie auf, obwohl es gar nicht nötig gewesen wäre. „Es sind allerdings keine Fakten. Nur Gerüchte, die ich von meinem Cousin gehört habe. Der, der mir und James die Wohnung hier überlassen hat.“, versuchte sie auszuholen, aber ich nickte nur ungeduldig und sie beugte sich näher zu mir, als wolle sie mir ein Geheimnis anvertrauen. „Es heißt, der Tisch hätte die Macht die Gottheit der Meere wieder auferstehen zu lassen, die vor Jahrhunderten durch die Macht unglaublich vieler Magier in viele einzelne Seelen zersplittert wurde, um die Menschheit vor dieser grausamen Gottheit zu schützen. Auf seiner Tischplatte klebt das Blut vieler Unschuldiger, die durch seltsame Vorfälle auf ihm starben. Und alle haben zu ihren Lebzeiten behauptet, das Meer rauschen zu hören, wenn sie nur lange genug auf das Muster gestarrt hätten.“ Ihre Stimme war auf ein dramatisches Flüstern herabgesunken und ließ es mir eiskalt den Rücken runter laufen. „Außerdem soll immer der letzte Verflossene des Opfers an diesen Vorfällen beteiligt gewesen sein.“ Sie legte eine kurze Pause ein, bevor sie sich mit gesenktem Kopf wieder gerade hinsetzte. Ich konnte mich nicht regen, so sehr gruselte mich ihre Geschichte. Ohne Vorwarnung schoss ihr Oberkörper mit erhobenen Armen und verkrampft gespreizten Fingern, die beängstigend verkrümmt waren, auf mich zu. Ein entsetzter und erschrockener Schrei entrang sich meiner Kehle und sie schrie ebenfalls. Nur war es bei ihr ein seltsam grotesk klingendes, tiefes Wehklagen. Wäre ich nicht so verängstigt gewesen, wäre es fast lächerlich gewesen. Ich setzte mich ruckartig auf und versuchte gleichzeitig nach hinten auszuweichen, wobei ich ungeschickt über die Lehne des Sofas fiel und mit einem dumpfen Plumpsen auf dem Boden aufkam. Während ich ungelenk versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, kugelte sich Rose vor Lachen auf dem Sofa. Das ließ mich böse dreinblickend mitten in der Bewegung inne halten. Sie merkte es sofort und half mir auf, wobei sie meinen bösen Blick gekonnt ignorierte. „Es tut mir Leid.“, sagte sie ernst, aber das Grinsen vermochte sie nicht aus ihrem Gesicht zu verbannen. „Schon klar.“, murmelte ich böse, wobei ich ebenfalls zu Grinsen anfangen musste. „Aber du schaffst es auch wirklich immer wieder, mich zu verwirren. Du hättest doch Schauspielerin werden sollen.“ Mit einem Lachen schüttelte sie den Kopf. „Das mag stimmen, aber da ich hätte dann doch lieber unsere Sekte auf der ganzen Welt verbreitet. Du als Expertin für alles Übersinnliche und ich als diejenige, die es den Leuten glaubwürdig verkauft.“ Sie zwinkerte mir verschmitzt zu und ich schaute sie zunächst etwas verdutzt an. Als wir noch Kinder waren, hatten wir uns zu zweit überlegt eine Sekte zu gründen und darüber fantasiert, wie es wohl wäre damit in Zukunft Geld zu verdienen. Sie war damals schon talentiert darin gewesen zu schauspielern. Und ich war schon immer fasziniert gewesen von allem Übersinnlichen und dadurch auch sehr abergläubisch. Durch die Erinnerungen an vergangene Kindereien musste ich lachen und ihr schien es nicht anders zu gehen. Schließlich wurden wir wieder ernst. „Das, was ich dir über den Tisch erzählt habe, sind aber wirklich nur Gerüchte. Ich glaube nicht, dass da irgendetwas Wahres dran ist, also lass dich bitte nicht davon verunsichern, ja?“, sagte sie freundlich und ich glaubte einen leicht besorgten Unterton mitschwingen zu hören. „Nein, ganz sicher nicht. Es macht den Tisch nur noch interessanter und ich glaube, ich gehe ihn mir gleich noch mal etwas genauer ansehen. Vielleicht erzählt mir der Besitzer ja jetzt etwas mehr darüber.“ Wir lächelten uns an und sie brachte mich noch zur Tür, bevor wir uns mit einer herzlichen Umarmung voneinander verabschiedeten. Ich machte mich sofort auf den Weg. So lange schon hatte ich versucht mehr über diesen ungewöhnlichen Tisch herauszufinden, der mich fasziniert hatte, seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Ich war so aufgeregt, dass ich sogar anfing zu rennen, aber zwei Blocks vor dem Café hielt ich inne. Schließlich wollte ich überlegen auf den Cafébesitzer zugehen. Da wäre es nur hinderlich so völlig außer Atem anzukommen. Als meine Atmung wieder ruhig und kontrolliert war, ging ich mit entschlossenen Schritten an den beiden verbliebenen Häuserblocks vorbei und zum Eingang des Cafés. Der übliche Geruch von Kaffee, Kuchen und alten Möbeln schlug mir entgegen, als ich die Tür öffnete und eintrat. Zielstrebig ging ich auf den hinteren Teil des Raumes zu, in dem mein Ziel stand. Der blaue Tisch. Er sah immer noch so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Selbst das ‚Reserviert’-Schild stand immer noch an derselben Stelle. Dieser Tisch sah jedes Mal gleich aus, egal wann ich her gekommen war und ich begann mich zu fragen, warum mir das noch nicht früher aufgefallen war. Ich zuckte kurz mit den Schultern. Wahrscheinlich änderte der Besitzer wirklich nie etwas an seiner Einrichtung. Dann ging es mir auf, wie ein Licht in der Dunkelheit. Er hatte selbst das ‚Reserviert’-Schild nie umgestellt, weil er nicht wollte, dass jemand an diesem Tisch saß und etwas bestellte. Als ich jetzt so darüber nachdachte, fiel mir auf, dass ich noch nie jemanden gesehen hatte, der an diesem Tisch etwas gegessen oder getrunken hatte. Außerdem war er damals persönlich gekommen, um mich auf das Schild hin zu weisen. Dass der Besitzer sich die Mühe macht, Gäste auf ein simples Schild hinzuweisen, konnte nur daher kommen, dass er seinen Bediensteten nicht erzählen wollte, warum es ihm so wichtig war, dass sich wirklich niemand an diesen Tisch dauerhaft niederlassen durfte. Und das bedeutete, dass er doch mehr über diesen Tisch wusste, als er mir erzählen wollte. „Ich wusste es.“, flüsterte ich triumphierend und zuckte zusammen, als eine bekannte Stimme hinter mir fragte: „Was wussten Sie?“ Erschrocken fuhr ich herum und ärgerte mich, dass ich mich so hatte erschrecken lassen, noch bevor ich mich vollständig umgedreht hatte. Die Stimme gehörte dem Cafébesitzer und er schaute mich wieder mit diesem undefinierbaren Blick an. Schnell verscheuchte ich den Schrecken aus meinen Gedanken und versuchte selbstsicher zu wirken, obwohl mir bewusst war, dass es bei einem Versuch bleiben würde. Schließlich hatte er meine Reaktion nur allzu deutlich sehen können. „Sie wissen doch mehr über diesen Tisch, als Sie mir bis jetzt sagen wollten.“, sagte ich mit einem siegessicheren Lächeln. „Na und?“, war alles, was er erwiderte und es klang so beiläufig, dass es mich völlig unvorbereitet traf. „Was soll das heißen?“, hakte ich nach einer kurzen Pause nach, doch er machte keine Anstalten irgendetwas zu sagen. Also versuchte ich es weiter. „Was ist an der Sache dran, dass ungewöhnlich viele Leute auf diesem Tisch gestorben sind?“, versuchte ich sachlich zu fragen, konnte aber meine aufkeimende Wut, die durch sein beharrliches Schweigen immer weiter wuchs, nicht unterdrücken. „Oder, dass immer eine vergangene Beziehung im Spiel war?“, fragte ich weiter. Doch er zuckte nur mit den Schultern, was mich geradezu zur Weißglut trieb. „Nun reden Sie schon endlich. Ihnen gehört der Tisch, verdammt noch mal, also müssen Sie auch etwas über seine Geschichte wissen. Warum erzählen Sie es mir nicht einfach?“ Die letzten Worte hatte ich fast geschrieen, aber das fiel mir auch erst kurz danach auf. Mit einem kurzen, unsicheren Blick durch das Café wiederholte ich meine Frage in einem gemäßigten Ton. „Wieso erzählen Sie es mir nicht?“ Wieder bestand seine Antwort nur aus Schweigen und ich begann schon fast wieder ungehalten zu werden, als er sich endlich dazu entschloss zu reden. „Wissen Sie …“, begann er mit ernster Stimme. „… dieser Tisch ist schon seit Generationen in unserer Familie.“ Ich konnte nicht umhin frustriert zu seufzen. „Es ist also ein Familiengeheimnis.“ Ich wollte mich resigniert wieder dem Ausgang zuwenden, als er den Kopf schüttelte. „Eigentlich nicht …“ „Warum sagen Sie mir dann nicht endlich, was ich wissen will?“, unterbrach ich ihn ungehalten. Er lächelte geheimnisvoll, was mir einen eisigen Schauer über den Rücken jagte, und antwortete mit einem wissenden Unterton: „So, wie Sie den Tisch das erste Mal angestarrt haben, werden Sie das noch früh genug herausfinden.“ Er legte eine kurze Pause ein. „Auch wenn ich wünschte, dass es nicht so wäre.“, murmelte er. Mehr zu sich, aber ich stand ihm ja direkt gegenüber, weswegen ich es ebenfalls hörte. Ich schwieg betreten. Irgendwo im Café schabte ein Stuhl über den Boden und ich schaute neugierig in die Richtung. Vor allem auch, weil ich froh war, nichts erwidern zu müssen. Aber das hätte ich lieber auch nicht getan, denn mein Blick fiel auf Matt. Er stand an dem Platz, an dem ich ihn verlassen hatte, die Hände auf den Tisch gestützt und den Blick auf meine Gestalt gerichtet, die halb vom Cafébesitzer verdeckt war. Ich wusste nicht wessen Überraschung in dem Moment größer war, aber meine wuchs, als er sich gerade aufrichtete und mit entschlossenem Schritt auf mich zukam. Innerlich wappnete ich mich für das Wortgefecht, das auf jeden Fall kommen würde, wenn er mich erst erreicht hätte. Eine Bewegung neben mir erregte kurz meine Aufmerksamkeit. Der Besitzer war meinem Blick gefolgt und sah recht alarmiert aus, was mich zwar verwirrte, aber im Moment nicht weiter interessierte. Matt war wichtiger und er hatte mich inzwischen erreicht. „Wieso bist du noch hier?“, kam ich einer unerwarteten Frage zuvor, wobei meine Stimme zwar überrascht klang, aber nicht im positiven Sinne. „Ich hatte gehofft, du würdest wieder kommen und deine Worte zurück nehmen.“, sagte er seltsam ruhig. „Das hätte ich nie getan und das weißt du auch.“, antwortete ich abweisend. Er nickte stumm und blickte zu Boden. „Die Bedienung wollte mich nicht gehen lassen …“ „Du hättest einfach aufstehen und verschwinden können“, unterbrach ich ihn unsanft, doch er ließ sich dadurch nicht irritieren und fuhr mit beängstigend ruhiger Stimme fort. „… und ich hatte gehofft, sie würde mir verraten, wo du wohnst, da du schon verschwunden warst, als ich dir folgen wollte, und du mich noch nie zu dir mitgenommen hast.“ Ich schüttelte verwirrt den Kopf. „Wozu? Ich meinte alles genau so, wie ich es gesagt habe und jetzt kannst du getrost gehen. Ich komme nicht zu dir zurück und ich will dich nicht zurück, also verschwinde!“ Ich bot mein ganzes Selbstbewusstsein auf, um ihm allein damit deutlich zu machen, dass er gehen sollte, wenn er meine Worte schon nicht zu verstehen schien. Aber es schien nicht zu wirken. Er stand immer noch reglos da. Die einzige Bewegung, war seine rechte Hand, die er in der Hosentasche verschwinden ließ. Er blickte auf und sah mir ins Gesicht, sodass ich seine Augen sehen konnte. Sie schienen Schmerzen auszustrahlen, die er offensichtlich in seinem Verhalten nicht widerspiegeln konnte. „Ich liebe dich!“, sagte er plötzlich und es hätte fast sanft geklungen, wenn er die Gleichgültigkeit daraus zu verbannen vermocht hätte. „Ich dich aber nicht! Würdest du jetzt bitte gehen?“, versuchte ich ihn erneut zum Gehen zu bewegen, aber auf seinem Gesicht breitete sich auf einmal ein gruseliges Grinsen aus. Wieder fiel mir eine Bewegung seiner Hand auf, doch ich wollte ihn mit meinem Blick dazu zwingen zuerst weg zu sehen, in der Hoffnung, er würde dann endlich gehen. Erst das kurze Aufblitzen, das ich am Rande meines Sichtfeldes gewahrte, brachte mich dazu den Blick abzuwenden. „Ich wusste zwar, dass du das sagen würdest, aber du hättest es lieber nicht getan.“, sagte er bedrückt. Erschrocken wollte ich einen Schritt zurückweichen, aber ich prallte hart mit dem Oberschenkel gegen die Tischkante. Schmerzen durchzuckten mich, aber ich ließ das Klappmesser nicht aus den Augen, das er in der Hand hielt. „Woher hast du das?“, keuchte ich immer noch verängstigt, obwohl ich die Antwort schon wusste. Er machte ein tadelndes Geräusch und kam gleichzeitig ganz nah an mich ran. Unsere Gesichter berührten sich fast. „Du weißt doch, dass ich extrem paranoid bin. Ich würde ja eine Schusswaffe tragen, aber das kann ich nicht mehr, nachdem mich die Polizei zu oft damit erwischt hat. Ein Messer ist so viel unauffälliger.“, flüsterte er bedrohlich und hob seine freie Hand an mein Gesicht. Hilfe suchend wandte ich meinen Blick dem Cafébesitzer zu, doch der schüttelte nur bedauernd den Kopf. Die restlichen Gäste und die Bedienungen schienen nichts von ihrem Problem mitbekommen zu haben. Wahrscheinlich dachten sie, dass hier eine sehr romantische Versöhnung stattfände. Ich musste also alleine damit fertig werden. Sanft strich er mir eine Haarsträne aus dem Gesicht und kam weiter näher. „Aber noch ist es nicht zu spät für dich. Sag, dass du mich liebst und dass du zu mir zurückkommst!“, flüsterte er fast liebevoll, wobei unsere Lippen nicht mehr viel voneinander trennte. „Dann würde unsere Beziehung auf einer Lüge basieren und so etwas kann nicht funktionieren. Vor allem aber müsstest du mit dem Wissen leben, dass ich nicht mit dir zusammen bin, weil ich dich liebe, sondern weil ich Angst vor dir habe.“, versuchte ich ihn ruhig zu überzeugen, wobei meine Knie und mein gesamter Körper weiter vor Angst zitterten. „Das ist mir egal!“, zischte er und unsere Lippen berührten sich fast. „Mir aber nicht.“, flüsterte ich zurück, wobei ein entsetzter Unterton in meiner Stimme mitschwang. Sein sanftes streicheln an meinem Gesicht wurde plötzlich zu einem harten Griff um mein Kinn und er zwang mir einen Kuss auf. Dann ließ er von mir ab und trat einen halben Schritt zurück. Ich wollte verstört an ihm vorbei rennen, aber sein wutverzerrtes Gesicht ließ mich erstarren, bevor ich auch nur eine Bewegung gemacht hatte. Drohend hob er das Messer. „Wenn ich dich nicht haben kann, dann soll dich keiner bekommen!“, schrie er wütend, wobei er das Messer herabsausen ließ. Mit einem Mal hörte ich nur noch Schreie. Ich wusste nicht, ob ich ebenfalls schrie, ich spürte nur die Schmerzen, die mich plötzlich in einen Schleier hüllten, die alles andere nur gedämpft an mein Bewusstsein ließ. Nur der Cafébesitzer war für mich seltsam klar erkennbar. „Warum?“, formte ich mit meinen Lippen, denn meine Stimme versagte mir den Dienst. „Es muss so sein. Du wirst dich gleich erinnern, warum.“, sagte er genauso Lautlos und obwohl ich schon begann in die unendliche Dunkelheit abzudriften, verstand ich trotzdem, was er mir sagen wollte. Die Welt wurde auf einmal zu einem Rauschen von Farben, als ich hinten über kippte. Erst als sie wieder still stand und ich die Decke über mir erkannte, ergab ich mich der dunklen Gewissheit, das ich sterben würde. Ein eisiger Schauer durchfuhr mich, als ich die kalte Tischplatte an meinem Rücken spürte. Langsam wich alles Leben aus mir. Ich hörte wieder das Meer rauschen und als ich einen sanften Wind über mein Gesicht streifen spürte, fühlte ich mich plötzlich ganz leicht. Vorsichtig wagte ich es die Augen zu öffnen und sah mich von vielen Menschen umringt, die mich glücklich anstrahlten. „Endlich bist auch du zurück.“ Nein, es waren keine Menschen. Ich hatte es im Grunde meines Herzens gewusst, seit ich den Tisch das erste Mal gesehen hatte. Es waren Seelen wie ich und ich war ein Teil von ihnen. Wir waren alle ein Teil voneinander und ich war das Letzte fehlende Stück. Endlich, endlich waren wir wieder vereint. Die Meeresgottheit konnte wieder auferstehen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)