Kurzgeschichten und Experimente von mizuchi_akkaku ================================================================================ Kapitel 4: Schwarzes Licht und Weißer Schatten ---------------------------------------------- Ein erschrockener, schriller Schrei, direkt gefolgt von einem Zweiten, gellte durch die Wälder, die ein Stück von Belaris entfernt lagen, einer kleinen Stadt, die inmitten der grasigen Hügellandschaften von Garatel lag. „Bruder!“, rief irgendwo die erste Stimme mit rauem Röcheln. „Bruder? Wo bist du?“, rief die zweite Stimme verzweifelt und bewegte sich dabei hecktisch vorwärts. Die Stimmen gehörten zwei kleinen Jungs, die etwa gleich alt waren. Dann hatte der Junge, dem die zweite Stimme gehörte, seinen Bruder entdeckt, der blutüberströmt neben einem Baumstumpf lag. „Bruder? Was ist mit dir?“, rief der Junge seinem Bruder ängstlich zu und rannte zu ihm hinauf. „Kavel.“ Er hustete Blut, als er seinen Bruder auf sich zukommen sah. Kavel fiel neben seinem sterbenden Bruder auf die Knie und kämpfte mit den Tränen. „Nenn mich nicht so. Das machst du doch sonst auch nur, wenn es wirklich ernst ist und das hier ist nicht so schlimm. Es wird alles wieder gut.“, schluchzte er und nun liefen doch die Tränen über seine Wangen. Ein Engel und ein Dämon beugten sich zu Kavel herab. „Er wird sterben.“, sagte der Engel sanft und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Woher wollt ihr das wissen?“, fragte Kavel böse und schniefte mit der Nase. „Er ist unser Schutzbefohlener. Wir wissen alles über ihn, weil er ein Teil von uns ist und wir ein Teil von ihm.“, versuchte der Dämon Kavel zu beruhigen. „Er hat recht, weißt du.“, sagte nun ein anderer Engel, der hinter Kavel kniete. Neben ihm stand noch ein weiterer Dämon. „Bei dir und uns ist es doch genau dasselbe. Wir wüssten es. Sie werden ihn jetzt begleiten, bis er wiedergeboren wird und wenn du stirbst, werden wir dich begleiten, bis du wiedergeboren wirst.“, sagte dieser betont ruhig und wuschelte dem kleinen Kavel durchs Haar. „Ich weiß.“, schrie Kavel traurig in den Wald hinein und wiederholte es dann noch einmal leiser für sich, als ob er wirklich sicher gehen wollte, dass er es wirklich wusste. „Ich weiß. Ich will aber nicht, dass er stirbt. Kann ich ihm denn gar nicht helfen?“, fragte er schniefend seinen Engel, seinen Dämonen und die seines Bruders. Sie schwiegen eine Weile und schienen über Blickkontakt miteinander darüber zu diskutieren. „Es wird alles wieder gut.“, flüsterte Kavel derweil seinem Bruder zu und ergriff dessen Hand. Abwesend streifte er sich die Tränen von den Wangen, aber es hatte keinen Sinn, denn sie wollten einfach nicht aufhören zu fließen. Wie sollte er denn so seinem Bruder Hoffnung geben, dachte er verzweifelt, was die Tränenflut nur noch verschlimmerte und sein Sichtfeld mit einem verschwommenen Schleier bedeckte. Der Atem seines Bruders wurde immer schwächer, als sich die Engel und Dämonen wieder an Kavel wandten. „Zu viert könnten wir ihn heilen.“, begann der Engel seines Bruders. „Worauf wartet ihr dann noch.“, war Kavels aufbrausende Antwort. „Wir müssten dafür von unserer und deiner Lebenskraft zehren, denn unsere Aufgabe besteht eigentlich darin unseren Schutzbefohlenen nur so gut es geht zu leiten und dadurch verlangt jeder direkte Eingriff einen bestimmten Preis. Da wir zu viert und mit dir sogar zu fünft sind, könnten wir den Preis für sein Leben aufbringen, aber niemand weiß, was ein direkter Eingriff dieses Ausmaßes zur Folge haben könnte.“, gab sein eigener Dämon zu bedenken. Ein Schwarm Vögel stieb kreischend in die Lüfte, als ein markerschütternder Schrei durch die Wälder hallte. Selbst in der weiter entfernten Stadt Belaris war er noch zu hören. Jahre später erblickte er endlich die Stadt, von der er sein ganzes Leben lang Geschichten gehört hatte, obwohl sie noch nicht einmal die Hauptstadt von Garatel war. Dicht an die felsigen Steilhänge gedrängt, lag sie am Fuße der Berge und war somit nur von einer Seite her zugänglich. Sie bestand fast ausschließlich aus Wohnhäusern und überall herrschte reges Treiben, soweit Kavel es von der Kante des Steilhangs auf dem er sich befand erkennen konnte. Trotzdem schien Pyotr sich nicht groß von seiner eigenen Stadt zu unterscheiden, dachte er enttäuscht. Wäre der riesige Glasturm in der Mitte der Stadt nicht gewesen, hätte er nie geglaubt, dass das da unten wirklich die Stadt war, von der er so viel gehört hatte. Seufzend ließ er sich auf den Boden plumpsen und nahm den schweren Rucksack von seinen Schultern. Unwillkürlich strich er sich ein paar Strähnen seines dunkelgrünen Haares aus dem Gesicht, die aus seinem geflochtenen Zopf gerutscht waren. Seine langen Ohrringe klingelten dabei leicht. Etwas flatterte heran und ließ sich erschöpft auf der so frei gewordenen Schulter nieder und ließ nacheinander zuerst sein weißes Feder- und dann sein schwarzes Fledermausflügelchen hängen. „Wo warst du denn? Hast du wieder die Eichhörnchen gejagt, Samuel?“, fragte Kavel spöttisch und das Wesen flog, plötzlich wieder voller Energie, erbost auf und schwirrte um Kavels Kopf herum. Es piekste ihn immer wieder mit seinem Schwanz, an dessen Ende eine pfeilförmige Spitze war. Das Leuchten seines Heiligenscheins wurde dabei von Kavels Ohrringen reflektiert und ließ diese sanft schimmern, obwohl sich Kavel auf der Schattenseite des Berges befand. Lachend hob Kavel die Arme vors Gesicht und versuchte sich damit zu schützen. Er wusste genau, dass sein Begleiter es nicht leiden konnte, wenn er ihn mit anderen Namen ansprach, aber Kavel fand seinen richtigen Namen nicht besonders einfallsreich. „Ist ja gut Puschel.“, lachte er und das Tierchen ließ sich zufrieden wieder auf seiner Schulter nieder. „Warum kann ich dir keinen richtigen Namen geben?“, fragte Kavel mit schmollendem Unterton mindestens zum hundertsten Mal, seit sie sich auf den Weg gemacht hatten und wie jedes Mal bekam er ein entrüstetes und glockenhelles 'Pu!' als Antwort. Puschel beherrschte zwar nur diese eine Silbe, aber dafür in sämtlichen Tonfällen und unwillkürlich fragte sich Kavel, ob er überhaupt einen Mund hatte, um allein diese eine Silbe zu sprechen. Denn Puschel war ein einziges Fellknäuel ohne Abstufungen wie Kopf und Körper. Wenn er flog, konnte man noch nicht einmal mehr seine kleinen Beinchen sehen, weil er sie dann immer in seinem dichten Fell versteckte. Nur die großen, treuen Knubbelaugen waren immer unbedeckt. Ein schreiender Schwarm Zugvögel riss ihn aus seinen Gedanken. Er seufzte noch einmal resignierend und stand dann mit einem entschlossenen Ruck wieder auf, wodurch Puschel erschrocken von seiner Schulter flatterte. Als Kavel seinen Rucksack wieder geschultert hatte, machte Puschel es sich stattdessen auf seinem Kopf gemütlich. „Dann wollen wir doch mal sehen, ob ich ihn in Pyotr endlich finde. Wenn nicht, dann haben wir wirklich ein Problem, nicht wahr Puschel?“, lachte er nicht sehr überzeugt und zog seinen langen, braunen Mantel noch etwas enger um die Schultern. Im auffrischenden Wind raschelte das Laub in den Bäumen und herbstlich bunte Blätter wirbelten rasch über das Tal hinweg aufs offene Land zu. Dass dort nicht auch schon längst die Natur blühte und gedieh, wie an den Hängen dieser Berge, konnte sich Kavel nicht erklären, aber das war für ihn im Moment auch nicht so wichtig. Zwischen dem Blätterrauschen glaubte er Schritte gehört zu haben. Unsicher, ob er es sich vielleicht nur eingebildet hatte, drehte er sich um und da er niemanden sehen konnte, zuckte er nur mit den Schultern und machte sich an den Abstieg. Schließlich war von seinem Kopf ein regelmäßiges, leises 'Pu!' zu hören, was darauf hindeutete, dass Puschel friedlich schlief. Wenn Gefahr gedroht hätte, dann wäre er schon längst aufgeregt um ihn herum geschwirrt und hätte Geräusche gemacht, die einer Alarmanlage zum verwechseln ähnlich klangen. Der perfekte Gefahrendetektor, also. Vielleicht nicht ganz so perfekt, gestand sich Kavel in der nächsten Sekunde ein, da er sich plötzlich mit einem Messer an der Kehle wiederfand. Zu allem Übel konnte er seinen Angreifer noch nicht einmal sehen, da er hinter ihm stand und ihn so bedrohte. Er war es zwar gewöhnt unbeliebt zu sein, aber dass es für den Angreifer so einfach gewesen war ihn zu überraschen, kratzte doch schon gehörig an seinem Ego. „Elender Feigling.“, konnte sich Kavel ein gemurmeltes Kommentar nicht verkneifen, das allerdings einzig und allein seiner Frustration entsprang, dass er sich so leicht hatte übertölpeln lassen. „Was willst du hier, Fremder?“, fragte eine hohe Männerstimme grob. „Hier will ich nichts, aber in Pyotr habe ich durchaus geschäftliche Dinge zu regeln.“, war Kavels spitzfindige Bemerkung dazu. Nur weil er einmal nicht aufgepasst hatte, hieß das nicht gleich, dass er jedem, der ihn bedrohte, gleich sein Herz ausschüttete. Eine Pause in Puschels regelmäßigen Atemzügen und ein langgezogenes 'Pu!', ließen Kavel darauf hoffen, dass er aufgewacht war und ihm aus der Patsche helfen könnte, aber Puschel kuschelte sich noch ein bisschen mehr in seine Haare und schlief seelenruhig weiter. Indirekt hatte er Kavel aber doch zumindest eine Chance verschafft, denn das Messer, das Millimeter von seiner Kehle entfernt gewesen war, rutschte ein paar Zentimeter weg. Er packte mit beiden Händen zu und entriss es seinem Angreifer. Mit blutigen Händen, denn er hatte natürlich nur Klinge zu fassen bekommen, warf er es in Richtung Wald und drehte sich auf einen Angriff gefasst um. Aber es kam kein Angriff. Wie auch, denn hinter ihm stand ein Junge, der höchstens 15 Jahre alt war und ihn erschrocken anstarrte. Der Kratzer in seinem Ego wurde unwillkürlich zu einem feinen Riss und Kavel richtete sich mit wütend funkelnden Augen aus seiner Hab-Acht-Stellung wieder gerade auf. Er kam sich reichlich dämlich vor. Nur wegen einem Bengel der nicht wusste, dass man Männer, die mindestens zehnmal älter waren als er, mit Respekt zu behandeln hatte, anstatt sie hinterrücks anzugreifen. Er wollte gerade zu einer Standpauke anheben, als hecktisches Flügelschlagen und wiederholte ärgerliche 'Pu!'-Rufe davon zeugten, dass Puschel endlich aufgewacht war. „Ein bisschen spät, um mich zu warnen, meinst du nicht auch?“, fragte Kavel ziemlich angesäuert. Ein entrüstetes 'Pu!' war zu hören und er piekste Kavel mit seinem spitzen Schwanz direkt in die Mitte seiner Stirn. „Is ja schon gut. Ich weiß jetzt, dass er an sich nicht gefährlich ist, aber Dummheit kann auch ganz schön tödlich sein.“, war Kavels schmollende Antwort. „Wenn ich nur ein bisschen aufmerksamer gewesen wäre, dann hätte ich für nichts garantieren können.“, brummte er weiter, aber Puschel ließ nur ein zuckersüßes 'Pu!' verlauten und sah so aus, als würde er bis über beide Ohren Grinsen, obwohl Kavel weder Mund noch Ohren sehen konnte. „Ich lass mich viel zu sehr von dir beeinflussen.“, stellte er fest und musste unwillkürlich auch Grinsen. Als er sich wieder dem Jungen zu wandte, war sein Ärger verflogen, dafür musste er nun aber ein Lachen unterdrücken, als er dessen überraschtes Gesicht sah. „Ja, ich führe hin und wieder Selbstgespräche.“, lachte Kavel aufmunternd. Er vergaß manchmal, dass er der Einizge war, der Puschel sehen konnte und normalerweise entspannten sich die Leute sofort, wenn er seine Gespräche mit seinem Begleiter so zu erklären versuchte. Der Junge aber schien dadurch jedoch nur noch verwirrter zu sein. Ist wahrscheinlich die Pubertät, dachte Kavel bei sich und machte auf dem Absatz kehrt. „Ich muss jetzt langsam mal los, sonst erreiche ich Pyotr heute doch erst, wenn die Tore schon geschlossen sind.“, erklärte er und hob zum Abschied die Hand. Puschel flog eilig hinter ihm her. Er war gerade mal ein paar Schritte gegangen, als er hinter sich den Jungen rufen hörte. „Ich hoffe er will nichts wichtiges.“, seufzte Kavel und Puschel quittierte das mit einem aufmunternden 'Pu!'. „Ist gut ... ich werde mir anhören, was er zu sagen hat.“, antwortete Kavel gutmütig und zerzauste Puschel sein Fell. Der Junge hatte derweil zu ihnen aufgeschlossen. „Sie führen keine Selbstgespräche.“, begann der Junge nach einer Weile mit völliger Überzeugung. „Woher willst du das wissen?“, fragte Kavel, als der Junge beharrlich schwieg und weil er sich nicht sicher war, was er davon halten sollte. „Wie heißt es?“, kam die prompte Frage des Jungen, ohne auch nur auf Kavel einzugehen. Ohne nachzudenken sagte Kavel es ihm sogar und der Junge lachte. „Passt irgendwie, weil er eine ziemliche Fellkugel ist. Aber bei einem so erwachsenen Mann hätte ich nicht erwartet, dass es so einen ...“ Er stockte kurz, denn er schien nach dem richtigen Wort zu suchen, dass ihm aber offenbar nicht einfallen wollte. „ ... Namen hat.“, vollendete er stattdessen den Satz. Puschel stieß ein leicht beleidigtes 'Pu!' aus und flog demonstrativ auf Kavels andere Seite, die weiter von dem Jungen entfernt war. Das brachte ihn dazu noch mehr zu lachen und Kavel musste lächeln. „Es ist unmöglich ihn anders zu nennen, denn er heißt schon so, seit wir uns getroffen haben. Ich hab ihn ihm gegeben als ich fünf war, daher ist es nicht groß verwunderlich, dass er diesen Namen behalten möchte.“ Plötzlich stockte Kavel mitten im Schritt. „Wieso erzähle ich dir das eigentlich alles?“, fragte er misstrauisch und für Sekundenbruchteile sah der Junge so aus, als wäre er beim stehlen erwischt worden. „Wer bist du überhaupt?“, machte Kavel seinem Unmut luft. „Ich bin Simon und lebe allein in diesen Wäldern.“, war die prompte Antwort des Jungen, als hätte er darauf gewartet, dass Kavel das fragte. Dabei machte er ein Gesicht, als wäre er die Unschuld in Person. Kavel sah ihn ein wenig schief an und auch Puschel ließ ein skeptisches 'Pu!' verlauten. „Das ist vollkommen an den Haaren herbeigezogen.“, sagte Kavel entschieden und als der Junge seine Behauptung bekräftigen wollte, fuhr er unbeeindruckt fort: „Außerdem wird dein Engel rot, wenn du lügst, hat dir deine Mutter das nicht beigebracht?“ Erschrocken biss er sich auf die Unterlippe und schritt ein wenig schneller aus. Wieso zum Geier erzählte er dem Jungen das alles? Vielleicht waren die Geschichten über Pyotr doch wahr, überlegte er und wurde wieder etwas langsamer. Dann bemerkte er, dass der Junge ihn mit begeistert leuchtenden Augen ansah. „Was ist?“, fragte Kavel daher verwirrt. „Du kannst ihn wirklich sehen?“ Der Junge tanzte fast vor Begeisterung. „Wen?“, versuchte Kavel sich zu retten. Wie oft hatte er als kleines Kind versucht zu erklären, dass die Legenden über die Engel und Dämonen wahr waren. Mittlerweile hatte er seine Lektion zur Genüge gelernt, aber der Junge ließ nicht locker. „Na meinen Engel! Dann kannst du meinen Dämonen doch sicher auch sehen, oder?“, fragte er aufgeregt. Kavel seufzte ergeben und wenn er so darüber nachdachte, dann konnte es nicht schaden mal mit jemandem über diese Dinge zu sprechen, die ihm unter anderem seine einsame Wanderung eingebrockt hatten. „Ja ich kann sie sehen. Den Engel und den Dämonen, die bei deiner Geburt mit auf die Erde geschickt wurden, um auf dich aufzupassen.“, sagte er deshalb mit leicht spöttischem Unterton und zerzauste dem Jungen sein kurzes braunes Haar. Er hoffte inständig, dass dieser dadurch endlich von diesem Thema ablassen würde. Aber da hatte er sich getäuscht. Mit Bewunderung über sein gesamtes Gesicht geschrieben fragte der Junge munter weiter. „Kannst du deine eigenen Beschützer auch sehen?“ Kavel zuckte kurz zusammen und blieb dann stehen. Der Junge konnte es nicht wissen, aber damit hatte er einen wunden Punkt getroffen. Genau ins Schwarze. „Was ist?“, fragte der Junge und blieb verwirrt ebenfalls stehen. „Das ist ... eine komplizierte Geschichte.“, versuchte Kavel auszuweichen und schaute stur ins Tal hinab, weil er sich nicht daran erinnern wollte. Zu verwirrt, um etwas zu sagen, schwieg der Junge und als das Schweigen richtig unangenehm zu werden drohte, setzte sich Puschel auf Kavels Schulter und stupste ihn leicht an. Kavel seufzte resignierend und ließ sich auf den Boden Plumpsen. Dabei nahm er den Blick jedoch nicht eine Sekunde von der Stadt, die zum greifen nah zu sein schien. „Puschel ist zum Teil mein Engel und mein Dämon.“, begann er schließlich mit fester Stimme zu erzählen. Der Junge sah ihn verständnislos an und machte den Mund zu einer Bemerkung auf, aber Kavel ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Sei still und setz dich hin. Das hier kann ziemlich dauern.“, wies er den Jungen etwas grob an. „Es war nicht immer so. Am Anfang war ich ein ganz normales Baby mit einem Engel und einem Dämon als Beschützer, wie jeder andere Mensch auch. Mich unterschied nichts von anderen Neugeborenen. Dazu sollte ich dir vielleicht sagen, dass jedes Baby seine Patronen sehen kann, bis es anfängt sprechen zu lernen. Bei uns hat es nie wirklich aufgehört ...“ Irritiert hakte der Junge noch einmal nach, obwohl Kavel ihm gesagt hatte, dass er still sein solle. „Uns? Wer war denn noch betroffen?“ Ein Schauder durchlief Kavel. Er hatte schon wieder etwas gesagt, was er eigentlich niemandem hatte erzählen wollen. Ob es an diesem Jungen lag, überlegte er. Er verwarf die Idee sofort wieder, denn sowas war schließlich ziemlich unmöglich. Da er es aber nun schon einmal erwähnt hatte, war es sowieso egal. „Ich habe einen Zwillingsbruder, musst du wissen.“, erklärte er und lächelte sanft. Dann wurde er wieder ernst. „Wir erzählten sogar immer von ihnen und am Anfang war das auch noch nicht weiter schlimm. Unsere Eltern taten es immer als Überschuss an Fantasie ab, die ihre Kinder besaßen. Besonders, weil wir die Legende bis dahin jeden Abend zum Einschlafen gehört hatten.“ Er verzog das Gesicht zu einem bitteren Lächeln. „Die Probleme fingen an, als wir Fünf wurden. Wahrscheinlich schon vorher, aber ich weiß noch, wie wir am Tag nach unserem Geburtstag im Wald gespielt haben. Die Nachbarskinder kamen angelaufen und haben uns nach den Engeln und Dämonen gefragt. Wir haben ihnen natürlich auch erzählt, dass wir sie sehen können, aber sie haben uns ausgelacht. Ich war schon immer etwas aufbrausender, als mein Bruder und habe die Kinder beschimpft, weil sie sich über mich und meinen Bruder lustig machten.“ „Was passierte dann?“, fragte der Junge neugierig. Er hatte sich mittlerweile neben Kavel gesetzt und beobachtete ihn von der Seite. „Ich habe mich mit ihnen geprügelt. Wie das kleine Jungs nun mal so machen.“, antwortete er, aber das bittere Lächeln war immer noch nicht aus seinem Gesicht verschwunden. Trotzdem wagte der Junge einen Aufmunterungsversuch. „Das hab ich auch immer gemacht, als ich noch klein war.“, sagte er und lachte verlegen. „Nur dass bei deinen Prügeleien wahrscheinlich nie jemand ernsthaft verletzt wurde, oder?“, fragte Kavel gutmütig, aber trotzdem mit einem Unterton, der dem Jungen eine Gänsehaut über den Körper jagte. „Die Nachbarskinder haben meinen Bruder eine steile Böschung hinab geschubst, weil er sich nicht wehren wollte. Im Gegensatz zu mir, hat er anderen nicht gerne weh getan. Es war zwar ein Versehen, aber als ich meinen Bruder gefunden habe, lag er im Sterben.“ „Das konnte ich nicht zulassen, denn schließlich war er der Einzige, der mir etwas bedeutete und der mich verstand. Natürlich habe ich meine Eltern auch geliebt und sie mich, aber das war nicht dasselbe. Er ist wie mein zweites Ich.“ „Das bedeutet er lebt noch?“, unterbrach der Junge ihn aufgeregt und Kavel nickte. „Ein Glück.“, seufzte er, was Kavel ein wenig verwirrte. Bis jetzt hatte ihm noch nie jemand so intensiv zugehört, wenn er über sich gesprochen hatte. Aber bei dem Jungen hatte er das Gefühl, dass er ihm vertrauen konnte und das dieser ihn ernst nahm, obwohl er wesentlich jünger war, als Kavel. Vielleicht sogar gerade deswegen. „Ja er ist noch am Leben, aber das war gar nicht so einfach, wie du es dir jetzt vielleicht vorstellst, denn mitten im Wald gab es niemanden, der ihm hätte helfen können und ich war genau wie er erst fünf Jahre alt. Unsere Engel und Dämonen haben ihn gerettet, aber dafür haben sie sämtliche ihrer Fähigkeiten eingebüßt und dadurch konnten sie noch nicht einmal ihre eigenen Astralkörper aufrecht erhalten.“ Kavel lächelte leicht amüsiert. „Deswegen haben sie sich zu diesem Wollknäuel zusammengetan.“, setzte er hinzu und deutete auf Puschel. Dieser piekste ihn beleidigt mit seinem Dämonenflügelchen, sparte es sich aber, seinen Schwanz einzusetzen. Kavel lehnte sich ein Stück zurück und stützte sich mit den Händen auf dem erdigen Boden ab. „So.“, begann er. „Ich habe dir so viel über mich und meine Vergangenheit erzählt, dass du jetzt an der Reihe bist.“, fuhr er fort und sah den Jungen direkt an. Der machte nur ein enttäuschtes Gesicht. „Aber die Geschichte ist doch noch gar nicht richtig zu Ende.“, protestierte er, aber Kavel schüttelte mit dem Kopf. „Fangen wir am besten mit deinem richtigen Namen an. Ich bin Kavel. Und denk dran, dass ich es deinem Engel ansehen kann, wenn du lügst.“, ergänzte er mit erhobenem Zeigefinger, aber gutmütigem Gesichtsausdruck. „Also gut.“, gab sich der Junge geschlagen. „Mein richtiger Name ist Varitaä. Ganz früher hieß ich zwar Damareth, aber jeder der nach Pyotr kommt und anfängt dort zu leben, bekommt einen neuen Namen, der besser zu ihm passt. Ich wurde Varitaä genannt, weil ich dazu in der Lage bin, Menschen dazu zu bringen nur noch auf ihren Engel zu hören. Da der natürlich niemals lügen würde, bedeutet das, dass mir immer die Wahrheit erzählt wird.“, erklärte er und hatte damit die Frage beantwortet, mit der Kavel ihn hatte unterbrechen wollen. Deswegen hatte er diesem kleinen Bengel also alles erzählt, dachte Kavel bei sich und knirschte mit den Zähnen. Zumindest hatte er seine eigenen Methoden, um zu erkennen, ob Varitaä log oder nicht, sonst hätte er sich jetzt ernsthaft gefragt, ob es richtig gewesen war, dem Jungen zu vertrauen. Aber schließlich hatte Puschel ihn auch für ungefährlich befunden, weswegen er sich nicht weiter mit dieser Frage beschäftigte. „Warum hast du mich dann angegriffen, wenn du die Wahrheit so oder so erfahren hättest?“, fragte er dann, als ihm diese scheinbare Unstimmigkeit auffiel. Varitaä sah traurig auf die Stadt hinab. „Ich habe schon ein paar Menschen erlebt, die ihren Engel gar nicht mehr gehört haben, deswegen musste ich erst überprüfen, ob du auch so geworden bist oder nicht.“, sagte er dann. „Deswegen hast du dein Leben riskiert?“, stieß Kavel überrascht aus und Varitaä nickte. „Sonst kann ich meinen Job nicht erfüllen. Ich bin dafür zuständig die Wanderer in den Bergen auf ihre Vertrauenswürdigkeit und eventuelle Fähigkeiten zu überprüfen. Pyotr ist die Stadt der Außenseiter, aber wir sind trotzdem vorsichtig.“ „Das bedeutet, du arbeitest in so jungen Jahren schon für die Stadt?“, fragte Kavel noch einmal nach. „Nicht für die Stadt.“, antwortete er mit einem Kopfschütteln. Dann deutete er auf den riesigen, gläsernen, ovalen Turm in der Mitte der Stadt. „Ich arbeite für die LL-Corp., so wie jeder, der in Pyotr leben möchte. Die LiveLife-Corporation nimmt zwar nur Menschen mit besonderen Fähigkeiten auf, aber das dürfte für dich sicher kein Problem darstellen.“, versuchte er die ernste Stimmung aufzulockern und lachte. „Also ist das tatsächlich die LL-Corp.?“, fragte Kavel überrascht und starrte auf den Turm. Tatsächlich ware ganz oben an dem Gebäude eine riesige Leuchtschrift zu sehen, die in großen, leuchtenden Lettern 'LIVE LIFE LL-Corp.' verkündete. Warum hatte er das nicht schon früher gesehen, fragte er sich verblüfft, ehe ihm auffiel, dass es bereits zum Abend dämmerte und deswegen die Leuchtreklame schon angeschaltet worden war. „Verdammt.“, fluchte er und sprang hastig auf. Er wollte eigentlich sofort los, aber er wollte den Jungen nicht einfach so alleine lassen. „Musst du hinunter in die Stadt?“, fragte er also und Varitaä nickte überrascht. „Ich muss Bericht erstatten, aber bis die Tore schließen schaffen wir es wahrscheinlich sowieso nicht bis ganz nach unten.“ Kavel tat das mit einer wegwerfenden Bewegung ab, schnallte sich den Rucksack auf den Bauch und bedeutete dem Jungen auf seinen Rücken zu klettern. „So geht es schneller.“, erklärte er und der Junge tat wie geheißen. „Mach dich auf einen schnellen Flug gefasst. Du auch Puschel.“, rief Kavel noch, bevor er sich von der Kante des Steilhangs abstieß und in die Tiefe stürzte. Vor Schreck klammerte sich Varitaä noch etwas fester an Kavel und die Tränen traten ihm in die Augen. Dann war ein leises Ratschen zu hören und durch das Leder von Kavels braunem Mantel kamen zwei schneeweiße Flügel hervor. Es schien nicht das erste Mal zu sein, dass er so etwas tat, denn der Mantel ließ um die Flügel herum nur saubere Einschnitte und sorgfältig gemachte Nähte erkennen. Das ratschende Geräusch war von den dünnen Fäden gekommen, die die Schlitze im Mantel zusammen gehalten hatten. Der Wind rauschte in Kavels Ohren und Puschel hielt mühelos mit ihm mit. Es war jedes Mal ein unglaubliches Gefühl so durch die Luft zu fliegen, aber jetzt war keine Zeit das zu genießen. Er musste sich beeilen. Trotzdem landete er so weit von den Toren entfernt, wie er verantworten konnte. Er musste ihn unbedingt überraschen. „Wow.“, staunte Varitaä und zeigte begeistert auf die weißen Dämonenschwingen auf Kavels Rücken, die dieser schnell wieder verschwinden ließ. „Das ist ja total abgefahren.“, staunte er weiter und schien eine Erklärung zu erwarten. Erschöpft strich sich Kavel ein paar widerspenstige Haarsträhnen aus dem Gesicht und legte den Kopf in den Nacken. „Das ist auch passiert, als wir versucht haben Inomar zu retten.“, sagte er gerade so laut, dass der Junge ihn noch hören musste. „Ihm wurden dabei ein Teil meiner Lebenskraft und der größte Teil der Astralkräfte meiner Begleiter übertragen. Eigentlich hätte er noch den größten Teil der Astralkräfte seiner eigenen Begleiter übertragen bekommen sollen, aber irgendwie sind diese auf mich übergegangen, anstatt auf ihn. Deswegen kann ich diese Flügel materialisieren.“ Varitaä schnappte entgeistert nach Luft. „Dein Zwillingsbruder hieß früher Inomar?“ Kavel sah den Jungen erstaunt an. Er hätte erwartet, dass er ihn nach weiteren Fähigkeiten fragte oder sogar ob sonst noch irgendwelche Nebenwirkungen bei dieser Rettungsaktion aufgetreten waren, aber nicht, dass er seinen Bruder sogar zu kennen schien. „Du hast schon mal von meinem Bruder gehört?“, hakte er deshalb überrascht nach. „Von ihm gehört ist untertrieben.“, ereiferte sich der Junge mit entgeistertem Gesichtsausdruck und leuchtenden Augen. Fast als könne er es nicht glauben, dass Kavel noch nichts davon wusste, begann er zu erklären: „Er hat den Namen Printzeps angenommen und ist innerhalb kürzester Zeit der Chef der LL-Corp. geworden. Ich war damals auch der Wächter dieser Straße, als Inomer hierher gekommen ist, weshalb ich auch noch seinen richtigen Namen kenne. Aber ich hab nie gesehen, wie er aussieht, deswegen wäre mir nie aufgefallen, dass ihr Zwillingsbrüder seid. Vor allem, weil er damals einen Kopf kürzer war als ich.“ Er machte eine Pause und starrte plötzlich mit aufgerissenen Augen auf Puschel, als wäre ihm gerade etwas Wichtiges wieder eingefallen. „Er hatte auch so ein Flattertier wie Puschel dabei.“, rief er aufgeregt. „Daran hätte ich es erkennen müssen. Aber es hatte die Flügel anders herum angeordnet und das Fell war nicht braun wie bei Puschel, sondern gelb.“, erzählte er eifrig weiter. „Kann er auch Flügel materialisieren?“, kam prompt noch eine unverhohlen neugierige Frage hinterher. Kavel musste unwillkürlich lachen. „Du machst deinem Namen alle Ehre mit deiner ungezügelten Neugier. Aber ich erzähle es dir trotzdem.“, lenkte er grinsend ein. „Zuerst einmal ist aber die Fellfarbe von den Jahreszeiten abhängig. Zu jeder Jahreszeit ist die Astralenergie ein bisschen anders. Der Fellfarbe nach zu urteilen ist Inomar also im Frühling angekommen.“ Varitaä nickte eifrig mit dem Kopf. „Er ist vor anderthalb Jahren hierher gekommen.“ „Und was ist jetzt mit den Flügeln?“, wollte der Junge beharrlich wissen, obwohl Kavel gehofft hatte um eine Antwort herum zu kommen. „Er kann tatsächlich auch Flügel materialisieren.“, antwortete er deshalb. „Aber im Gegensatz zu meinen bestehen seine Flügel aus Federn ...“ Er unterbrach sich überrascht, denn als wären seine Worte ein geheimes Zeichen gewesen, wirbelten ein knappes Dutzend pechschwarzer Federn über sie hinweg. Der Nacht entgegen. Er blickte in die Richtung aus der sie heran geweht worden waren und tatsächlich war hoch oben in einem hell erleuchteten Fenster der LL-Corp. die Silhouette eines schwarzen Engels zu erkennen, um dessen Kopf aufgeregt ein kleines Wesen flatterte. „Bruder!“, entfuhr es Kavel zwischen zusammengebissenen Zähnen. Wie zur Antwort barst das Glas des beleuchteten Zimmers in tausend Splitter, die glitzernd auf die Erde zu rasten. Fluchend materialisierte Kavel seine weißen Dämonenflügel, ging in die Hocke und stieß sich mit einem kraftvollen Flügelschlag vom Boden ab. Inomars Anblick hatte ihn alles um sich herum vergessen lassen, sodass sich Varitaä mit einem Hechtsprung in Sicherheit bringen musste, um nicht durch die Flügel davon geschleudert zu werden. Der schwarze Engel breitete derweil seelenruhig seine Schwingen zu voller Größe aus, als wolle er seine Übermacht demonstrieren. Die Aufwinde um den Turm herum nutzend ließ sich Kavel erst dicht an der Glasfront nach oben tragen. Als er den schimmernden Scherbenregen auf sich zurasen sah, hob er schützend eine Hand vor die erwartungsvoll geschlossenen Augen. Schmerzhaft rissen viele Splitter blutige Spuren in seine Haut, aber jeder Splitter, der ihn oder seine Flügel berührte, wurde zu einer Distelblüte. Der Raum in dem der schwarze Engel stand war nun nicht mehr weit. Wie in Zeitlupe, sah Kavel seinen Bruder in einem langen Kapuzenumhang langsam und mit voll ausgebreiteten Flügeln nach vorne kippen. Kurz bevor er ihm entgegenstürzte, konnte Kavel für Augenblicke sein Gesicht erkennen. Es war eine furchtbare Fratze aus Verachtung und Vorfreude. Kavels Augen fingen an zu Tränen. Ob wegen des Anblicks oder des Flugwinds, der auch an seinen Kleidern zerrte, wusste er nicht. Dann prallten sie mit ungeheurer Kraft aufeinander. Die Hände ineinander verkrallt, versuchten beide den anderen mit sich zu reißen, aber keinem gelang es die Oberhand zu gewinnen. Eine Schockwelle jagte durch das Tal und ließ überall Blätter wild durch die Luft wirbeln. „Du hast es doch tatsächlich geschafft deine Astralmagie zu verbessern, Brüderchen. Meinen Glückwunsch.“, höhnte der schwarze Engel mit einem bösen Lächeln. „Vergiss nicht, dass ich der Ältere bin, Inomar! Irgendwer muss schließlich auf dich aufpassen.“, gab der weiße Dämon sarkastisch zurück und grinste ein wenig schief. Inomars Lächeln verschwand abrupt. „Du hast auf mich aufgepasst? Dass ich nicht lache. Wem habe ich es denn zu verdanken, dass ich jetzt so bin? Meine Seele konntest du zwar retten, aber bei meinem Körper ist ja wohl einiges schief gegangen!“, schrie er seinem Bruder mit einer Stimme entgegen, die sich anhörte wie ätzende Säure. Um die beiden Brüder wirbelte ein heftiger Wind und ließ ihre Kleidung wild hin und her flattern. Im letzten Licht der Sonne reflektierten sich weiße Knochen in der Glasfront der LL-Corp.. Plötzlich riss der Wind die Kapuze von Inomars braunem Umhang zurück und ein Totenschädel kam zum Vorschein, der Kavel mit seinen blauen Augen vorwurfsvoll anstarrte. Er trug genau die gleichen Ohrringe, wie sein Bruder, denn schließlich hatten sie diese Ohrringe damals zusammen ausgesucht und sich gegenseitig geschenkt. Kavels Herz zog sich schmerzhaft zusammen und er verlor für Sekunden seine Konzentration. Sein Sichtfeld begann vor ihm zu verschwimmen, als Inomar seine Hände mit einem triumphierenden Schrei in seine Schultern bohrte und ihn mit sich in die Tiefe zerrte. „Wenn ich gewusst hätte, dass das passieren würde, hätte ich es trotzdem getan.“, flüsterte Kavel mit belegter Stimme. „Du bist der Einzige für den ich sogar mein Leben geben würde.“ Seine Worte wurden unbarmherzig durch den vorbei brausenden Flugwind von seinen Lippen gerissen und lösten sich auf, bevor sie Inomar erreichen konnten. Durch ein leichtes Zupfen an seinem Zopf merkte Kavel, dass Puschel und sogar Inomars Begleiter Flesch bei ihnen war. Obwohl die Brüder rasant dem Boden entgegen stürzten, hielten sie mühelos mit ihnen mit. Sie sahen ihn erwartungsvoll an und er lächelte gutmütig zurück. Kavel nickte und die beiden ergriffen Inomars Handgelenke, während er ihm ein letztes Mal in die Augen sah, bevor er seine schloss. Inomar schien verwirrt zu sein, aber jetzt war es an der Zeit, dass er seinen Fehler wieder gut machte, das wusste Kavel. Sie wurden langsamer, als Puschel und Flesch begannen sie wieder nach oben zu ziehen. Inomar konnte nichts dagegen tun, denn schließlich waren sie ihre Beschützer. Gute fünf Stockwerke über dem Boden löste Kavel seine Flügel auf, was ihn mit einem Ruck aus dem Griff seines Bruders befreite. Er hätte mit Leichtigkeit seine Flügel wieder materialisieren können, aber das war nicht im Plan inbegriffen. Mit einem traurigen Lächeln formte er Worte des Abschieds, als er unaufhaltsam weiter in die Tiefe stürzte. Das Letzte, was er sah, bevor er auf dem Boden aufschlagen konnte, war ein gleißendes Licht, das ihn umhüllte und mit seinem Bruder verband. „Nur einen kleinen Finger will ich behalten. Dieser eine egoistische Wunsch ist mein letzter. Versprochen.“, flüsterte er, bevor ihn endgültige Finsternis umgab. Ein sanfter Wind wehte den Weg entlang, über den er vor langer Zeit gekommen war. Oben auf der Kante der Steilhänge angekommen blickte er noch einmal auf seine LL-Corp. zurück. Sie war in guten Händen, das wusste er. Die langen, dunkelgrünen Haare wehten ihm ins Gesicht, als eine frische Brise aus dem Tal zu ihm herauf wehte und seine langen Ohrringe begannen leise zu klingeln. „Na sowas! Gehst du etwa schon wieder?“, fragte eine helle Männerstimme hinter ihm und er drehte sich verwundert um. „Kennen wir uns?“, fragte er den Jungen unsicher. „Ich bin's, Varitaä! Schon vergessen?“, begann der Junge und stemmte die Hände in die Hüften. „Dass du mich gestern vor den verschlossenen Toren der Stadt zurückgelassen hast, wollte ich dir ja verzeihen. Aber wenn du so ein schlechtes Gedächtnis hast, dann brauche ich mir ja keine Mühe zu geben.“, sagte er mit schmollendem Unterton. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Das war der Junge, der den Bergpass überprüfte. Er lächelte etwas unbeholfen. „Ja ich gehe. Tut mir Leid, aber ich werde hier nicht länger gebraucht.“, versuchte er auszuweichen und wandte sich zum Gehen. „Wo hast du Puschel gelassen?“, versuchte der Junge ihn noch überrascht zurück zu halten, aber er ging einfach seelenruhig weiter. „Kavel? ... Kavel!“, rief der Junge hinter ihm her, aber er hörte nicht, denn sein Name war nicht Kavel. „Ich bin sein Zwillingsbruder.“, flüsterte er stolz, als er zwischen seinem Engel und seinem Dämon, die nur er sehen konnte, auf die Bäume zuschritt. Dabei drückte er seine rechte Hand fest an seine Brust. An sich war daran nichts besonderes, außer, dass der kleine Finger ab dem obersten Gelenk abwärts nur Knochen war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)