Kurzgeschichten und Experimente von mizuchi_akkaku ================================================================================ Kapitel 1: Frei! ---------------- Ich sehe es, so wie ein Vogel in den Bäumen über uns es sehen muss. Das Gefühl nur Beobachter zu sein trifft mich hart, denn ich sehe uns. Ein ich, dass ich nicht bin, und du. Und dabei muss ich dir doch etwas sagen. Etwas Wichtiges. Doch das ich, das ich beobachte schweigt, während ihr Hand in Hand durch den Park spazieren geht. Ihr redet. Worüber verstehe ich nicht, doch dann lachst du. Und küsst mich. Das andere Ich. Mein Blick spricht Bände, doch du bemerkst ihn nicht, denn du hast nur Augen für sie. Ich rieche es, so wie es der Hund riechen muss, der weiter vorne auf dem Hügel seine Nase in den Wind hält. Ich freue mich über die neue Perspektive, denn nun kann ich näher zu euch. Hunde haben keine Angst vor Menschen. Und ich habe keine Angst mehr es dir zu sagen, denn dieses andere Ich will ich nicht mehr sein. Doch ich halte ein, denn Frühling liegt in der Luft. Blumenduft überall. Von überall weht er zu mir herüber und dabei streicht meinem anderen ich der Wind durch die offenen Haare. Oder war es deine Hand? Ich höre es, so wie andere Menschen es hören und ignorieren. Doch ich schließe die Augen und genieße es. Die Vögel zwitschern. Man glaubt kaum, dass es schon Abend ist, da ihre Melodien noch immer kraftvoll durch die Bäume hallen. Es hört sich an, als wollten sie mich ermutigen es dir endlich zu sagen und ich schöpfe Kraft. Ich öffne die Augen. Entschlossen gehe ich auf euch zu. Auf dich und dieses andere Ich, das du liebst. Doch plötzlich wird das Zwitschern zu einem Kreischen. Es schrillt laut. Und ich erwache. Ich sitze senkrecht im Bett und nehme meinen Wecker nur nebenbei wahr. Man hätte es einen Alptraum nennen können, aus dem ich gerade erwacht bin. Denn ich habe mein Ziel nicht erreichen können. Doch aus meiner Sicht ist es das genaue Gegenteil. Ich stelle meinen Wecker aus und stehe auf. Ein neuer Tag ist angebrochen. Es ist Samstag. Wochenende! Und ich habe so viel vor. Mit dir. Unter anderem. Zehn Uhr; Eisdiele. Ich bin pünktlich. Das erste Mal seit langem. Ich glaube sogar seit wir uns kennen. Du hast dich immer darüber aufgeregt. Irgendwann jedoch musste es dir doch genug gewesen sein, aber ich habe nie etwas dergleichen gehört. Deine Überraschte Miene, als du mich siehst ist berechtigt. Kurz nach zehn; Eisdiele. Ich gehe. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. Dein Gesichtsausdruck hat sich nicht geändert und du stehst da wie angewurzelt. Aber doch irgendwie erleichtert. Viertel nach zehn; Kegelbahn. Ich lache mit meinen Freundinnen denn ich habe es dir gesagt. Jetzt fühle ich mich endlich frei. Frei von meinen Gedanken. Frei von meinem Gewissen. Frei von meinen Schuldgefühlen. Doch am wichtigsten von allem ist, dass ich frei bin. Frei von DIR! Jetzt fliege ich wirklich. Dem Leben wieder entgegen. Ein neues Kapitel beginnt! Kapitel 2: Drachenfluch ----------------------- Blutig rot stieg die Sonne hinter den Bäumen auf und tauchte die Lichtung, in deren Mitte ein idyllisches Dorf stand, in unheimliche Schatten. Rotoranges Licht fiel auf die blutbeschmierte Wiese, die von den vielen Kämpfenden zertrampelt worden war. Lyra kämpfte mitten unter ihnen und durch ihr kurz geschnittenes Haar blieb sie von allen unbemerkt. Auch von ihrem Vater, neben dem sie kämpfte. Sie und ihr Vater versuchten verbissen sich nicht umbringen zu lassen und gaben sich zu diesem Zweck instinktiv gegenseitig Rückendeckung. Gerade als Lyras Kräfte zu versagen drohten hörte sie hinter sich einen dumpfen Aufprall und drehte sich überrascht um. Zu ihrem Entsetzen sah sie dort ihren Vater auf dem Rücken liegend mit einer Stichwunde im Bauch. Er war blutüberströmt und es war sein eigenes, denn die Monster, von denen sie angegriffen wurden, bluteten nicht. Mit schreckgeweiteten Augen stürmte sie zu ihrem Vater und fiel noch im laufen neben ihm auf die Knie. „Vater!“, schrie sie halb erstickt und begann zu schluchzen. Mit fliegenden Händen begann sie noch halbwegs saubere Stellen ihres weiten Hemdes in Streifen zu reißen, um die Blutung stillen zu können, doch ein röchelndes Husten ließ sie inne halten. Sie traute sich kaum aufzublicken, denn sie wusste, dass ihr Vater sie mittlerweile erkannt hatte. Dann blickte sie doch auf und ihr Herz zog sich zusammen, als er versuchte zu sprechen, aber stattdessen anfing Blut zu husten. Sie wandte den Blick von seinem Gesicht und versuchte wieder die Blutung zu stillen. Doch sie wurde erneut unterbrochen, denn ihr Vater ergriff ihr Handgelenk und hielt sie mit eisernem Griff davon ab. „Du kannst mir nicht mehr helfen, das weißt du doch.“, presste er in so sanftem Ton wie möglich hervor. Tränen stiegen ihr in die Augen und sie versuchte zu antworten, doch er kam ihr zuvor und sein Tonfall hatte sich plötzlich verändert. „Aber du!“ Seine Stimme klang besorgt und ärgerlich zugleich. „Warum bist du nicht mit den anderen Dorfbewohnern gegangen? Wir alten Leute sind doch nur zurück geblieben, um euch Zeit zu verschaffen und weil wir sowieso bald gestorben wären. Warum bist du noch hier?“ Lyra liefen Tränen über die Wangen und sie konnte nur mühselig antworten, denn in ihrem Hals hatte sich ein dicker Kloß gebildet. „Vater ich ... ich konnte nicht ... ich ... hab doch nur noch dich … und …“ Doch weiter kam sie nicht, denn ein plötzlicher Schmerz durchfuhr ihren Rücken. Sie spuckte Blut. Eine Schwertspitze ragte aus ihrer Brust und sie wusste, dass ein Schwert sie durchbohrt hatte. Noch lebte sie, denn der Angreifer hatte ihr Herz knapp verfehlt, doch sie spürte, wie langsam das Leben aus ihrem Körper wich. Als das Schwert mit einem Ruck entfernt wurde, sank sie Kraftlos vorne über, auf den Körper ihres Vaters. „Vater?! Wir sterben alle irgendwann, nicht wahr?“, flüsterte sie und ihre Stimme wurde immer leiser. „Wir werden alle zu solchen Monstern... Irgendwann.“ Ihre Stimme versagte. Überrascht hörte sie noch, wie ihr Vater ein leises ‚Nein’ röchelte, bevor alles um sie herum schwarz wurde. Dunkelheit umfing sie und unendliche Stille. Man konnte es geradezu totenstill nennen, denn kein Geräusch drang an ihre Ohren. Sie öffnete die Augen und sah nichts. Lyra war sich sicher, dass sie tot war, aber irgendetwas kam ihr seltsam vor. Sie versuchte eine Hand zu heben, doch ein plötzliches Ziehen in ihrer Brust ließ sie schmerzerfüllt aufstöhnen. Durch die Schmerzen wurde ihr klar, dass sie nicht tot sein konnte. Oder konnten Tote immer noch Schmerzen spüren? Ein Nebelstreifen huschte durch ihr Blickfeld und sie merkte, dass sie nicht nichts, sondern den tiefschwarzen, wolkenverhangenen Himmel gesehen hatte. Sie suchte den Mond, doch er war nicht da. Es musste Neumond sein. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie auf dem Rücken lag. Erschrocken wollte sie sich aufsetzen, um ihren Vater zu suchen. Doch wiederum spürte sie das Ziehen in ihrer Brust, das nun auch im Rücken zu spüren war, und sank mit einem unterdrücken Schmerzensschrei wieder zurück. Anstatt es noch einmal zu versuchen drehte sie nun vorsichtig den Kopf und versuchte ihren Vater so zu finden, doch die Lichtung war vollkommen leer. Nur die vielen Blutspuren im zertretenen Gras und das niedergebrannte Dorf zeugten noch vom vergangenen Kampf, an dem sie teilgenommen hatte. Sie fragte sich, warum sie noch lebte. Obwohl das Schwert ihr Herz knapp verfehlt hatte, dürfte sie nicht mehr am Leben sein. So viel Blut, wie sie verloren hatte. Außerdem waren die Wunden, die die Schwerter der Monster rissen unheilbar. Ruhelos versuchte sie nun doch, trotz der Schmerzen, aufzustehen. Als ihr das nach mehreren Anläufen immer noch nicht gelang, beschloss sie die restliche Nacht noch liegen zu bleiben, um sich zu erholen. Sie hätte in der Finsternis sowieso nicht erkennen können, was sie tat, also versuchte sie sich zu entspannen und Schlaf zu finden. Ein Schatten streift langsam durch die Wälder. Nur das Rascheln seiner Kleidung zeugt von seiner Anwesenheit. Und wenn jemand genau hinsähe, würden ihm sogar zwei leuchtende Schlitze auffallen, die in der Dunkelheit ein unheimliches rotes Licht verströmen. In der Ferne ist das leise Knistern eines Lagerfeuers zu hören, das vom Schatten unbemerkt zu bleiben scheint. Er geht weiterhin lautlos über den trockenen Waldboden und nähert sich dem Lager beständig in einer weiten Spirale. Schließlich steht er hinter einem Busch, der ihn als einziges noch vom Lager trennt, an dem zwei Gestalten sitzen. Eine große und eine kleine. Doch die Sonne beginnt rot über dem Wald aufzugehen und der Schatten ist wie vom Erdboden verschluckt. Lyra schlug die Augen auf und musste sie sofort wieder geblendet schließen, denn die Sonne stand schon hoch am Himmel. Also drehte sie ihren Kopf leicht zur Seite und öffnete die Augen erneut. Zu ihrer Überraschung sah sie jedoch nicht nur ihr niedergebranntes Dorf, sondern auch noch einen Jungen, der neben ihr in einiger Entfernung im Gras saß und die Umgebung beobachtete. Er schien ihre Bewegung gesehen zu haben, denn er ließ den Wald für einen Moment aus den Augen, und schaute sie grinsend an. „Na, aufgewacht?“, begrüßte er sie fröhlich und widmete sich wieder seiner Aufgabe. Sie war zu verwirrt, um zu antworten, denn sie wunderte sich, wo der Junge hergekommen sein mochte und warum er alleine war. Doch anstatt ihn zu fragen, versuchte sie wieder aufzustehen. Es gelang ihr erstaunlich gut und sie schaute überrascht auf ihre Brust herab. Sie hatte keine Schmerzen mehr und obwohl ihr Hemd blutverkrustet war, spürte sie, dass ihre Wunde schon wieder vollkommen verheilt war. Um sicher zu gehen, dass sie sich nicht täuschte, tastete sie nach der Stelle, an der das Schwert sie durchbohrt hatte. Sie spürte keine Kruste, sondern nur verheilte Haut. Aber Narben waren trotzdem zurück geblieben. Sie wollte etwas zu dem Jungen sagen, aber im selben Moment hörte sie ein Knacken hinter sich, das sie erschrocken zusammenfahren ließ. Sie drehte sich um und sah aus den Augenwinkeln ein Schemen vorbei huschen. Alarmiert sprang sie auf und stellte sich vor den Jungen, der immer noch ruhig am Boden saß und sie irritiert ansah. Sie tastete nach ihrem Schwert, doch ihre Schwertscheide war leer. Sie fluchte und der Fluch ging im Jubelgeschrei des Jungen unter, der hinter ihr aufgesprungen und losgelaufen war. Sie hörte, wie der Junge im Laufen ‚Onkel!’ rief und starrte ihm verwundert hinterher, wie dieser auf einen Mann mittleren Alters zu rannte, der auf einen Stock gestützt gerade zwischen den Bäumen hervor getreten war. Der Junge umarme den Mann stürmisch und fing an zu reden. Lyra verstand nicht, was er sagte und blickte sich derweil misstrauisch um. Nachdem sie sich einmal um die eigene Achse gedreht hatte und dabei jeden Zentimeter der Lichtung mit den Augen abgetastet hatte, ohne etwas Verdächtiges zu finden, sah sie sich plötzlich dem alten Mann gegenüber. Erstaunlicherweise war er mit ihr genau auf Augenhöhe, obwohl er leicht gebeugt ging. Ihre Blicke trafen sich. Sie fühlte sich plötzlich unbehaglich, denn bisher hatten nur ihre Eltern sie so intensiv angesehen. Sie wollte etwas sagen, doch ihr Kopf war wie leer gefegt. Es schien ihr, als würde er auf unheimliche Weise ihren Blick gefangen halten, denn sie konnte sich nicht abwenden. Es war ihr, als wolle er sie hypnotisieren und sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Auf seinem Gesicht breitete sich plötzlich ein breites Grinsen aus. „Ich glaube wir sollten uns setzten.“, sagte er freundlich, wobei er sich dem Jungen zugewandt hatte. „Holst du noch Holz, um ein Lagerfeuer in Gang zu bringen?“ Der Junge nickte eifrig und rannte sofort los. Lyra blickte ihm verdutzt nach und merkte nicht einmal, wie sich der Alte derweil an Ort und Stelle auf den Boden setzte. Als der Junge zwischen den Bäumen verschwunden war, blickte sie leicht verunsichert zwischen dem alten Mann und der Stelle, an der der Junge eben noch gewesen war, hin und her. Schließlich setzte sie sich dem Alten gegenüber ins blutige Gras. „Du dürftest eigentlich nicht mehr leben, Kind! Ist dir das bewusst?“, begann er. Sie merkte erst jetzt, dass sein Gesicht wieder ernst war. „Äh, ja.“, antwortete sie, nach einer kurzen Pause, zögernd. Er hob zweifelnd eine Augenbraue, beließ es aber dabei. Stattdessen streckte er ihr seine Hand entgegen. „Ich bin Owen und der Junge ist mein Neffe Fabian.“ Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er den Namen aussprach. Immer noch verunsichert, ergriff sie nur zögernd Owens Hand. „Mein Name ist Lyra.“ Sie deutete auf den Wald. „Ist das nicht gefährlich Ihren Neffen alleine in den Wald zu schicken?“, fragte sie ohne Umschweife, doch er machte nur eine wegwerfende Handbewegung und lächelte. „Nein. Erstens kann Fabian mit seinen zwölf Jahren schon sehr gut auf sich selbst aufpassen und zweitens kommen die sowieso nur nachts raus.“ Beim letzten Satz wurde sie hellhörig. „Sie meinen diese Monster, oder?“, hakte sie neugierig nach. „Woher wissen Sie das so genau?“ Doch Owen zuckte nur mit den Schultern. „Ich reise nun schon so lange umher, dass ich schon eine ganze Menge über diese Scheusale weiß. Teilweise sogar mehr, als mir lieb wäre.“ Seine Stimme nahm bei den letzten Worten einen rauen Unterton an, was sie jedoch nur nebenbei wahrnahm. Sie beugte sich überrascht vor. „Wissen Sie denn auch, wie man sie besiegen kann?“, sprudelte es aus ihr heraus, doch er schüttelte nur belustigt den Kopf. Ein Lachen unterdrückend, antwortete er: „Nein. Wenn ich das könnte, dann wären mittlerweile garantiert nicht mehr so viele von denen am Leben.“ Eine Stimme neben ihnen ließ sie zusammenzucken. „Natürlich weißt du, wie man sie umbringen kann.“ Lyra blickte alarmiert zur Seite, denn sie hatte niemanden kommen hören. Doch sie stellte erleichtert fest, dass es nur Fabian war, der gerade einen Arm voll trockener Zweige neben sich ablegte. „Du hast es mir doch selbst erzählt.“, plapperte er unermüdlich weiter. „Du solltest es ihr auch erzählen, denn sonst würdest du lügen und das ist schlecht. Sehr schlecht.“ Nun stütze Fabian mit ernster Miene seine Hände in die Hüften und bestand weiterhin darauf, dass Owen ihr die Geschichte erzählte. „Aber es ist doch nur eine Geschichte, mehr nicht.“, versuchte er sich heraus zu reden, doch mittlerweile war Lyras Interesse geweckt. Sie legte so viel Entschlossenheit in ihre Stimme, wie möglich. „Ich bitte Sie: erzählen Sie es mir! Auch, wenn es nur eine Geschichte ist, möchte ich sie hören. Es ist vielleicht die einzige Chance für mich, meinen Vater und all die anderen Dorfbewohner zu rächen, die hier gestorben sind.“ Sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt. „Warum willst du sie rächen?“, fragte Owen sanft. „Eigentlich hätte ich mit ihnen sterben sollen, aber ich lebe noch. Und weil ich eigentlich fest mit meinem Tod gerechnet habe, weiß ich nicht mehr, was ich machen soll. Die Dorfbewohner, die geflohen sind würden mich für einen Spion halten und mein Vater ist in diesem Kampf gestorben. Deshalb will ich sie rächen! Vor allem meinen Vater! Wenn ich wüsste, dass es einen Weg gibt, würde ich sogar versuchen, sie zu retten!“ war ihre prompte Antwort. Er schüttelte leicht den Kopf. „Das hört sich alles sehr schlüssig an, aber ich glaube eher, dass du den Tod suchst und keine Rache.“ Seine Stimme hörte sich traurig an und sie schwieg nachdenklich. Nach einer Weile brach er die schweigende Stille, die zwischen ihnen herrschte. „Dass jemand einen Kampf mit solch schweren Verletzungen überlebt hat, habe ich bis jetzt nur einmal erlebt.“, begann er langsam. „Das war vor etwa dreißig Jahren und diese Monster gab es da noch nicht. Es herrschte gerade Krieg mit einem der benachbarten Reiche und ich diente nun schon zwei Jahre als Lazarettarzt im zehnten Regiment.“ Ihr Vater hatte ihr einmal von dem Krieg erzählt, als sie noch klein gewesen war. Aber das Einzige, was er ihr dabei über sich erzählt hatte, war, dass er ebenfalls Arzt gewesen war und auch im zehnten Regiment gedient hatte. Aber sie unterbrach Owen deswegen nicht, sondern ließ ihn weiter reden. „Bis dahin bin ich der einzige Arzt dort gewesen, was sehr anstrengend war, obwohl viele Verwundete noch auf dem Weg zu mir starben. Aber dann wurde ein junger Mann in das zehnte Regiment versetzt, der sich als Liam vorstellte und als zweiter Arzt mit mir tätig sein sollte. Mein erster Eindruck von ihm war, dass er ein wirklich fähiger Arzt war, denn er ging immer mit vollem Einsatz an seine Arbeit. Er machte seine Sache gut, aber mir fiel auf, dass er fast nie etwas sagte. Ich hörte ihn nur reden, wenn es unbedingt nötig oder nichts zu tun war. Dann zog er sich fast immer in unser Schlafzelt zurück und experimentierte. Also arbeiteten wir Arbeitsteilig. Jeder hatte eine Hälfte des Lazarettzeltes in seinem Aufgabenbereich und die andere Hälfte war tabu. Weil wir uns aber ein Zelt teilten und ich neugierig war, sprach ich ihn des Öfteren auf seine Experimente an. Doch er gab mir nie eine klare Antwort und so gab ich irgendwann auf.“ Fabian ließ sich gebannt ins Gras fallen, um besser zuhören zu können. „Eines Nachts erzählte er mir schließlich von seinem kleinen Bruder, von dem er erfahren hatte, dass er kürzlich vom Militär eingezogen worden war. Er war auch in die zehnte Division gekommen und er hatte Liam auch schon besucht, wegen der Pflichtuntersuchung, der sich jeder Neue unterziehen musste. Aber er sagte mir auch, dass er es lieber gehabt hätte, wenn sein Bruder nicht zum Militär gegangen wäre. Zu dem Zeitpunkt wunderte ich mich über diese Aussage, da ich fest davon überzeugt war, dass es eine Ehre war, für das Land auf dem Schlachtfeld zu sterben. Obwohl ich Arzt war und es besser hätte wissen können.“ Owen raufte sich mit einer fahrigen Geste durch die Haare, was ihn zu beruhigen schien. „Danach war es wieder so wie vorher. Wir taten unsere Arbeit und er verhielt sich genauso, wie vor unserem Gespräch. Allerdings ging es mir nicht mehr aus dem Kopf und ich versuchte ihn unbemerkt zu beobachten und gleichzeitig weiterhin die Kompetenz zu zeigen, die man von mir erwartete. Ich wollte feststellen, ob er etwas vorhatte, was dem Königreich schaden konnte. Doch ich konnte nichts Außergewöhnliches feststellen. Bis er einmal krank wurde und arbeitsunfähig im Bett lag. Ich musste mich wieder um alle Patienten und auch um ihn kümmern. Dabei fielen mir einige seiner Patienten auf, die eigentlich nicht mehr leben durften. Fast alle hatten tödliche Wunden und bei einigen hatte sogar schon der Verwesungsprozess begonnen.“ Lyra lief es bei der Vorstellung eiskalt den Rücken runter und Fabian stieß einen angeekelten Laut aus. Lyra wollte fragen, warum die Patienten bei lebendigem Leib verwesten, aber Owen senkte seinen Kopf und fuhr fort zu erzählen. „Ich war schockiert und bin sofort in unser Zelt gegangen, in dem Liam lag, um ihn zur Rede zu stellen. Ich fuhr ihn an und verlangte zu erfahren, was er mit den verwundeten Soldaten angestellt hatte. Zuerst behauptete er nicht zu wissen, wovon ich redete und wich mir ständig aus. Eigentlich wollte ich ihn nicht in die Ecke drängen, weil er trotz seines seltsamen Verhaltens immer noch ein sehr guter Arzt war und meine Arbeit um einiges leichter machte, aber irgendwann habe ich ihm gedroht dem Kommandanten von seinen Experimenten und Patienten zu erzählen, was auf jeden Fall Konsequenzen getragen hätte.“ Er machte eine kurze Pause und Lyra merkte, wie er ein Zittern unterdrückte. „Was hat er daraufhin getan?“, fragte sie, mitgerissen von Owens Erzählung. Er blickte auf und seine Augen wirkten auf einmal hohl, als würde er den Tag wirklich noch einmal erleben. „Er hat mir alles erzählt.“, sagte er mit rauer Stimme, die fast nicht mehr, als ein Flüstern war. „Seine Experimente hat er durchgeführt, um selbst tödliche Wunden heilen zu können, was an sich sicher kein schlechter Vorsatz für einen Arzt ist, aber er hat seine Salben immer wieder an tödlich verwundeten Patienten ausprobiert. Zunächst halfen seine Salben nichts, aber irgendwann schaffte er es, dass die Patienten zwar weiter lebten, ihr Körper aber dennoch starb. Er hat sozusagen eine Art Magie entwickelt, die die Seele der Soldaten im sterbenden Körper gefangen hielt.“ Bei diesen Worten erschauerte Lyra und sie rutschte unwillkürlich ein Stück zurück. Auch Fabian rutschte unruhig hin und her. „Er versicherte mir zwar, dass es ihm bis jetzt nicht gelungen war die Seele länger als eine Woche im Körper zu halten und dass er kurz davor stünde den Zerfall des Körpers zu verhindern, doch das alles war für mich so ungeheuerlich, dass ich ihm Verbot mit seinen Experimenten fortzufahren. Ab da sollte er nur noch mein Gehilfe sein, damit er keine weiteren Versuche an Patienten unternehmen konnte. Aber damit gab er sich nicht zufrieden. Im Geheimen setzte er seine Forschungen fort. Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, aber ich merkte nichts davon und war mir sicher, dass der Spuk nun zu Ende wäre. Ein paar Wochen nach unserer Auseinandersetzung, wurde sein kleiner Bruder ins Lazarettzelt geliefert. Er lag im Sterben und niemand hätte ihm mehr helfen können. In der Nacht hatte ich ein ungutes Gefühl und als ich auch noch seltsame Geräusche hörte wollte ich der Sache nachgehen.“ Lyra holte entsetzt Luft und fiel fast nach hinten. „Er hat doch nicht etwa …?“, fragte sie schockiert und richtete sich wieder auf. Owen nickte. „Liams Bett war leer und ich ahnte schlimmes, aber ich konnte ihn nicht mehr aufhalten. Ich weiß noch genau, dass an dem Abend Neumond war, denn außer dem Flackern der Kerzen und deren düsterer Schein war keine Lichtquelle vorhanden. Er hatte seinen Bruder nach draußen getragen und einen Kreis aus Kerzen um ihn herum entzündet. Ich habe seinen Namen gerufen und bin zu ihm gerannt, aber er hat mich nicht gehört. Von weitem konnte ich erkennen, dass er eins seiner Gefäße in der Hand hielt, die ich von seinen Experimenten her kannte. Er schmierte den Inhalt der Schale auf die Wunden seines Bruders. Im Näher kommen sah ich nicht eine Träne in seinen Augen und er schien irgendetwas zu summen. Als ich schließlich den Kreis aus Kerzen erreicht hatte stoben die Flammen wie durch Geisterhand in die Höhe und hinderten mich daran, zu Liam zu gelangen.“ Owens Stimme war mittlerweile auf ein Flüstern zurück gesunken, als würde er ihnen etwas Verbotenes erzählen, und seine beiden Zuhörer beugten sich näher zu ihm, um ihn besser verstehen zu können. „Liams Bruder umgab auf einmal ein seltsames violettes Licht und ich hörte wieder Liams Summen. Zu Stein erstarrt konnte ich nichts anderes als zusehen und zuhören. Er summte ein Kinderlied, das ich sehr gut kannte und es schien sich auf seinen Bruder auszuwirken. Das violette Schimmern verlosch und Liams Bruder öffnete die Augen. Eigentlich hätte er Tod sein müssen, aber er lebte, obwohl er sich noch nicht bewegen konnte.“ „Es hat funktioniert?“, rief Lyra erstaunt aus. „Wie kann das sein?“ Owen zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass Liams Bruder überlebte, obwohl er so gut wie tot gewesen war. Genauso, wie du.“ Er blickte ihr offen in die Augen, als erwarte er, dass sie etwas sagte, doch Lyra schwieg und wich seinem Blick aus. „Ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun hat.“, sagte sie schließlich. „Das weiß ich auch noch nicht, aber irgendwie muss jemand, der dich damit retten wollte, an eine solche Salbe von ihm gekommen sein.“ Sie musste auf einmal gähnen und merkte jetzt erst, dass die Sonne bereits wieder hinter den Baumkronen zu verschwinden begann. Neben sich im Gras sah sie Fabian liegen, der bereits tief und fest zu schlafen schien. Sie sah wieder das blutverkrustete Gras und musste schmunzeln. „Ich habe den Eindruck, dass er überall schlafen kann.“, sagte sie und Owen lächelte leicht. „Ja. Das ist ein Vorteil der Jugend. Man macht sich noch nicht so viele Gedanken.“ Dabei wuschelte er Fabian liebevoll durch die Haare. „Du solltest dann auch bald schlafen. Keine Angst, ich werde Wache halten.“ Sie wollte widersprechen, doch er stand einfach auf und nahm ein paar von den Ästen, die Fabian geholt hatte. Nachdem er sie in einem Erdloch ein Stück entfernt aufgeschichtet hatte, entzündete er sie. Die Sonne warf derweil ihre letzten Strahlen auf die Lichtung, bevor sie verschwunden war. Lyra hatte ihm kopfschüttelnd hinterher geblickt, aber nichts gesagt. Wenn er es so wollte, dann würde sie ihn nicht aufhalten und sie konnte Schlaf tatsächlich gut gebrauchen. Sie rollte sich leicht zusammen und versuchte sich zu entspannen, was ihr nicht leicht fiel, da sie die ganze Zeit über die Geschichte nachdenken musste, die ihr Owen eben erzählt hatte, und darüber, was sie mit ihr zu tun haben könnte. Außerdem war es auf einmal kalt geworden. Als sie spürte, wie sie etwas antippte, sah sie überrascht auf. Fabian stand vor ihr und zitterte leicht. „Mir ist kalt.“, war alles, was ihm über die Lippen kam. Sie breitete wortlos die Arme aus und er kuschelte sich an sie, wodurch sie sich gegenseitig Wärme gaben. Das einzige Geräusch, das nun noch zu vernehmen war, war das leise Knistern des Feuers. Ein Schatten streift ruhigen Schrittes durch den Wald. Keine Schritte sind zu hören und wenn er stehen geblieben wäre, hätte man ihn in der Dunkelheit auch nicht mehr sehen können. Leise Stimmen hallen durch den Wald, auf deren Quelle der Schemen unaufhaltsamen Schrittes zu hält. Als er ihnen ganz nahe ist, verstummen die Stimmen plötzlich und alles ist wieder still, bis auf das leise Rascheln von Kleidung; das einzige Geräusch des Schattens. Aber auch dieses Geräusch ist bald verstummt und nach einer geraumen Weile entzündet jemand eine Fackel. Oranges Licht fällt auf die dunkle Gestalt des Schattens. Metall blitzt auf und der Wald ist auf einmal von unheimlichen Schreien durchdrungen. Die Fackel fällt zu Boden, erlischt und Dunkelheit verschluckt alles. Selbst vom Schatten ist nichts mehr zu sehen. Stille kehrt wieder in den Wald ein, nur dass sie auf einmal etwas Geisterhaftes an sich hat. Lyra erwachte mit den ersten wärmenden Strahlen der Sonne und stand auf. Sie blickte sich suchend um, denn Fabian war nicht mehr bei ihr gewesen, als sie die Augen auf gemacht hatte. Sie entdeckte ihn schließlich bei seinem Onkel, der ruhig und in eine Decke gehüllt etwas abseits saß und in dessen Arme Fabian sich schmiegte. Als sie näher kam drehte Owen sich zu ihr um. „Schon wach?“, fragte er mit leiser aber dennoch freundlicher Stimme, um seinen Neffen nicht zu wecken. Sie nickte nur lächelnd und blieb dicht neben ihm stehen. „Ich besorge uns etwas zu essen.“, bot sie an, doch er winkte ab. „Wir haben noch getrocknetes Fleisch und Brot in unseren Rucksäcken vorrätig. Davon kannst du dir etwas nehmen.“ Aber sie ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen und war auch schon auf dem Weg in den Wald. „Ich weiß ein paar Stellen, an denen wilde Beeren wachsen. Die können wir dazu essen.“, rief sie ihm im Gehen zu und verschwand schließlich zwischen den Bäumen. Sie fand den Beerenstrauch recht schnell, denn sie war als kleines Kind oft in den Wäldern umher gestreift. Allerdings war das noch vor der ersten Sichtung der Monster in ihrer Region gewesen. Der Busch war zwar an vielen Stellen rot, aber er war teilweise seltsam fleckig. Sie berührte ein Blatt und musste feststellen, dass darauf etwas klebriges, nur noch halb flüssiges war. Sie blickte sich erschrocken um, denn es handelte sich dabei offensichtlich um halb getrocknetes Blut. Fast sofort sah sie ähnliche Flecken im Gras und ging, nichts Gutes ahnend, um den Beerenstrauch herum. Sie sog entsetzt die Luft ein, denn hinter dem Strauch war überall Blut. Sie wollte umdrehen um die anderen beiden zu warnen, aber ein leises Stöhnen ließ sie aufhorchen. Sie blickte sich um und nach langem Suchen fand sie schließlich einen Überlebenden. Es war ein junger Mann und er blutete stark aus einer Wunde im Bein. Sie fragte sich, wie lange er hier schon lag, denn er war sehr blass und zitterte am ganzen Körper. Ohne lange zu überlegen, stoppte sie die Blutung notdürftig und hob ihn sich über die Schultern. Er war überraschend leicht, dachte sie und erreichte bald darauf die Lichtung, auf der ihr Dorf einst gestanden hatte. Doch jetzt war keine Zeit für Sentimentalitäten. Owen war schließlich Arzt und konnte dem Mann sicher helfen. Leicht außer Atem rief sie nach ihm. „Owen! Ich brauche deine Hilfe!“ Er kam ihr auf halbem Wege entgegen und nahm ihr den jungen Mann von der Schulter. Er trug ihn bis zum niedergebrannten Lagerfeuer des Vorabends und sah ihn sich unterwegs so gut es ging genauer an. „Wie es scheint hat er nur diese eine Wunde davon getragen, aber sie scheint sich entzündet zu haben. Fabian hat gestern zum Glück genug Holz gesammelt, um schnell ein neues Feuer machen zu können.“ Er wandte sich zu Fabian. „Hol den kleinen Kessel aus meinem Rucksack und lass dich von Lyra zu einem Fluss bringen. Holt sauberes Wasser, so schnell ihr könnt!“ Damit hatten sie den Hügel mit den Überresten des Dorfes erreicht und Owen legte den jungen Mann vorsichtig im Gras ab. Fabian lief pflichtbewusst los und holte den Kessel. Als er wieder zurück gestürmt kam, ergriff er Lyra kurzerhand am Handgelenk und zog sie mit sich. „Wo lang?“, fragte er leicht panisch. „Da lang.“, war Lyras ebenso knappe, aber selbstbewusste Antwort. Als sie mit dem vollen Wasserkessel wieder zurück kamen, hatte Owen bereits ein Feuer entfacht und Stöcke so darüber gebaut, dass sie den Kessel direkt über das Feuer hängen konnten. Auch hatte er sich schon Stoffstreifen bereit gelegt und war gerade dabei die Wunde des Mannes von Lyras provisorischem Verband zu befreien. Lyra half Owen so gut sie konnte und befolgte jede seiner Anweisungen, genau wie Fabian. Nach einer halben Ewigkeit, wie es ihr schien, hörte Owen auf Befehle zu erteilen und ließ die Hände sinken. Er seufzte tief und wischte sich das Blut von den Händen. Er überprüfte noch einmal kritisch seinen Verband und hob schließlich den Kopf. „Er hat noch einmal Glück gehabt. Die Entzündung seiner Wunde war noch nicht so weit fortgeschritten, dass es tödlich für ihn gewesen wäre. Hättest du ihn nicht gefunden, wäre er bestimmt gestorben. Ich bin zuversichtlich, dass er es schaffen wird.“ Lyra atmete erleichtert auf. „Es waren sicherlich noch andere bei ihm, denn dort, wo ich ihn gefunden habe, war so viel Blut.“, begann Lyra und ihr wurde schlecht, als sie sich an den Anblick erinnerte. „Sie sind sicherlich alle zu solchen Monstern geworden.“, vermutete sie. Owen nickte nachdenklich. „Dann hat er umso mehr Glück gehabt. Und wir auch.“, fügte er hinzu. Sein Gesicht war ernst. „Denn das können nur Monster gewesen sein, da sich in der jetzigen Zeit selbst gemeine Diebe davor hüten, eines ihrer Opfer umzubringen. Wenn die in unsere Richtung gekommen wären, dann wäre es auch mit uns aus gewesen.“ Alle schwiegen betroffen. „Vielleicht sollten wir von hier weg gehen.“, schlug sie vor, doch Owen schüttelte den Kopf. „Das wäre nicht gut für ihn.“ Dabei deutete er auf den jungen Mann. „Er braucht jetzt erst mal absolute Ruhe und er sollte sich so wenig wie möglich bewegen. Lyra sah auf das mittlerweile ruhige Gesicht des Schlafenden herab und dachte nach. Owen hatte sicherlich Recht, denn er war schließlich Arzt. Er musste wissen, wovon er sprach, doch ihr war nicht ganz wohl dabei, noch länger hier zu bleiben. „Aber heute Nacht halte ich Wache.“, sagte sie bestimmt und damit war es beschlossen. Fabian und Owen kümmerten sich um den Patienten, während Lyra über die Lichtung streifte und nach ihrem Schwert Ausschau hielt, dass sie fallen gelassen hatte, als sie zu ihrem Vater geeilt war. Sie versuchte sich zu erinnern, wo es gewesen war, aber sie hatte zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr gewusst, wo sie eigentlich kämpfte. Sie hatte nur noch versucht so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Schließlich sah sie etwas in der Nachmittagssonne aufblitzen und rannte darauf zu. Es war tatsächlich ein Schwert, doch sie war sich zuerst nicht sicher, ob es ihr eigenes war, da es von oben bis unten mit getrocknetem Blut übersäht war. Es konnte jedoch nur ihres sein, da sie nirgendwo sonst ein Schwert gefunden hatte. Sie nahm es mit zum Fluss, aus dem sie am Morgen Wasser für den jungen Mann geholt hatten und legte es hinein. Bis zur Abenddämmerung brauchte sie, um es wieder sauber zu bekommen. Währenddessen stellte sie fest, dass es tatsächlich ihr Schwert war. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, bemerkte sie, wie Owen und Fabian sie anstarrten. „Was ist?“, fragte sie irritiert. Fabian deutete auf ihr Schwert. „Ist das etwa deins?“, wollte er wissen. Lyra nickte. „Unser Dorfschmied hat es mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt. Es ist wendiger, als alle anderen Schwerter, und vor allem leichter, weil ich nie so stark wie die Jungs aus meinem Dorf war.“ Seine Augen wurden groß. „Und kannst du denn auch damit umgehen?“, bohrte er weiter. Wieder nickte Lyra, aber dieses Mal blitzte Stolz in ihren Augen auf. Beim Schwertkampf war sie schon immer begabt gewesen. „Ich habe alle Jungs aus meinem Dorf besiegt.“ An ihrer Stimme und ihrer ganzen Haltung wurde klar, wie stolz sie auf diese Leistung von sich war, aber nur Sekunden später sackte sie wieder in sich zusammen. „Mein Vater hat es mir bei gebracht. Eigentlich sollte ich die Dorfbewohner beschützen, aber ich bin stattdessen bei ihm geblieben.“ Sie schwiegen. Als Owen und Fabian sich sicher waren, dass Lyra ihnen nichts weiter erzählen würde, erklärte Owen ihr noch, was sie tun sollte, wenn der Zustand des Mannes sich wieder verschlechtern sollte. Danach wünschten sie eine ruhige Nacht und legten sich etwas abseits zum Schlafen ins Gras. Es wurde wieder langsam kalt und sie wickelte sich die Decke, die Owen ihr da gelassen hatte, um die Schultern und begann ihre Wache. Bevor die Sonne ganz verschwunden war, warf sie einen flüchtigen Blick auf den Mann, den sie am Morgen gefunden hatte. Er musste etwa so alt sein, wie sie, vielleicht ein bisschen jünger. Zumindest ließ seine schlanke, fast schlaksig wirkende Figur darauf schließen. Seine braunen, halblangen Haare lagen wirr um seinen Kopf und warfen durch das letzte Licht der Sonne harte Schatten auf sein Gesicht. Dann war die Sonne verschwunden und die Schatten wurden wieder weicher. Sie wandte den Blick ab und widmete sich ihrer Aufgabe. Sie saß schon lange auf ihrem Posten, als ihre Beine zu kribbeln begannen und sie beschloss, sich ein wenig die Beine zu vertreten. Eigentlich war es nicht unbedingt nötig, da Lyra keine Müdigkeit verspürte, aber bevor sie nachher nicht mehr gehen konnte, weil ihre Beine eingeschlafen waren, wollte sie sich lieber ein wenig bewegen. Ein Geräusch in der Nähe ließ sie jedoch verharren. Zuerst war es nur ein rascheln, wie von Stoff, aber dann kam noch ein leises Stöhnen dazu und Lyra realisierte, dass der junge Mann entweder unruhig schlafen musste, oder aufgewacht war. Sie erhob sich auf die Knie und krabbelte näher zu ihm. Obwohl sich ihre Augen schon an die Dunkelheit gewöhnt hatten, streifte sie dabei leicht seine Wunde und sie hörte, wie er zischend die Luft ein sog. „Oh nein. Tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass deine Wunde noch so empfindlich ist.“, flüsterte sie erschrocken. Eine Hand ertastete ihre und sie zuckte überrascht zusammen, als sie spürte, wie kalt diese war. Kurzerhand streifte sie ihre Decke von den Schultern und breitete sie über dem Mann aus. „Wer ist das?“, fragte er in rauem Flüsterton. „Mein Name ist Lyra.“ Sie hörte, wie er vor Kälte leise mit seinen Zähnen klapperte. „Wo ist der Schatten?“ Seine Stimme Zitterte und sie vermutete, dass es nicht von der Kälte herrührte. „Was für ein Schatten?“ Sie war verwirrt, weil sie nicht wusste, wovon er sprach. „Der Schatten, der uns angegriffen hat.“ Sie versuchte sich ihre Verwirrung nicht anmerken zu lassen und ihn stattdessen zu beruhigen. „Hier ist nirgendwo ein Schatten und ich passe auf, dass euch nichts passiert. Owen ist Arzt. Er …“ Er umkrampfte ihr Handgelenk, aber er war noch zu schwach, um ihr wirklich weh zu tun. „Owen ist hier?“ Sie nickte. Als ihr einfiel, dass er sie womöglich nicht gesehen hatte, sprach er schon weiter. „Gehörst du etwa zu ihm?“ In seiner Stimme schwang ein lauernder Unterton mit. „Wir sind uns vor zwei Tagen begegnet, aber ich verstehe nicht …“ Er ließ ihr Handgelenk wieder los, entspannte sich aber noch nicht vollständig. „Er ist hier in der Nähe, oder?“ Seine Fragen verwirrten sie immer mehr. „Ja, aber ich verstehe immer noch nicht, warum das wichtig wäre. Er ist Arzt und hat dir das Leben gerettet. Außerdem ist er ein guter Mensch. Ich weiß gar nicht, warum du so entsetzt bist ihn zu treffen und woher du ihn eigentlich kennst.“, flüsterte sie aufgebracht und versuchte dabei nicht zu laut zu werden, um Fabian und seinen Onkel nicht zu wecken. Als er antwortete klang er überrascht. „Sag nicht, du weißt nicht, wer Owen Sky ist?“ Das machte sie endgültig wütend. Woher wollte er wissen, dass es sich um genau diesen Owen handelte. „Owen Sky ist zwar ein Spitzenarzt, aber leider dient er dem Befehlshaber der Monster, die unser Land überfluten. Wir haben ihn verfolgt, um den Aufenthaltsort des Befehlshabers heraus zu finden.“ Er ballte eine Hand zur Faust. „Aber warum hätte er dir denn das Leben retten sollen?“, fragte sie, immer noch aufgebracht. „Außerdem kann er es auch nicht gewesen sein, der euch angegriffen hat, weil er die ganze Nacht hier war und auf seinen Neffen und mich aufgepasst hat.“ Er schüttelte leicht den Kopf und sie beruhigte sich etwas, weil sie glaubte die Anschuldigungen gegen Owen entkräftet zu haben. Aber er hatte etwas anderes gemeint. „Ich habe auch nie behauptet, dass er es war. Tatsache ist jedoch, dass er theoretisch nicht mehr am Leben sein dürfte, wenn man bedenkt, wie viele von den Monstern in letzter zeit durch diese Gegend streifen.“ „Aber die kommen doch nur nachts …“ Er lachte heiser. „Hat er dir das erzählt? Als ob diese Monster nur nachtaktiv wären.“ Das gab ihr zu denken. „Nein, nein! Er hat einen Packt mit dem obersten Befehlshaber, dass er unbehelligt bleibt und er dafür seine Monster wieder zusammenflickt, wenn ihnen etwas abgetrennt worden ist.“ Ihr fiel plötzlich wieder ein, dass ihr Dorf auch bei Tageslicht angegriffen worden war. Es war zwar Abend gewesen, aber immer noch hell genug um sagen zu können, dass es noch nicht Nacht war. Langsam begann sie zu glauben, was der Mann ihr erzählte, denn es würde auch erklären, warum er Fabian alleine lassen konnte, ohne sich Sorgen zu machen. „Wenn das wahr ist, dann sind wir sicher, solange wir in seiner Nähe sind.“ Doch er unterband diesen Gedanken mit einem Kopfschütteln. „Sobald wir auch nur einem dieser Monster begegnen, wären wir auch mit ihm so gut wie tot, weil nur er und sein Enkel unter dem Schutz des Oberbefehlshabers stehen. Wir müssen hier weg. Am besten so schnell wie möglich, bevor eines der Monster merkt, dass wir hier sind, oder Owen uns verrät.“ „Er würde nie …“, setzte Lyra zu widersprechen an, aber er unterbrach sie wieder. „Wieso bist du dir da so sicher. Du hast gesagt, dass du ihn erst zwei Tage kennst.“ Sie fragte sich auch, woher sie die Sicherheit nahm, aber bis jetzt hatte sie sich noch nie geirrt, wenn es hieß jemanden einzuschätzen. Bei Owen und Fabian war sie sich ganz sicher gewesen, dass sie ihr nichts Böses wollten. Und dem jungen Mann auch nicht. Da war sie sich ebenfalls sicher gewesen. Wieso hätte er ihn sonst retten sollen? Und dennoch. In Zeiten, wie diesen konnte niemand ohne Furcht vor diesen Monstern durch das Land ziehen, es sei denn er stand mit ihnen im Bunde. Sie traf eine Entscheidung, die ihr nicht leicht fiel, die sie aber als einzige Möglichkeit erachtete. Sie hatte den Kopf gesenkt. „Gut. Lass uns von hier verschwinden.“ Er atmete auf, aber sie bemerkte es kaum. „Aber vorher muss ich noch etwas erledigen. Du bleibst so lange hier.“ Obwohl sie immer noch flüsterte, war ihr Tonfall so entschieden, dass er ohne Widerworte liegen blieb, bis sie wieder da war. „Was ...?“, wollte er fragen, aber sie kam ihm zuvor. „Ich habe ihnen ein paar Beeren gepflückt und gewaschen. Wenn ich schon einfach verschwinde, dann möchte ich mich wenigstens für alles bedanken, was sie für mich getan haben. Er schwieg. Als sie wieder zurück kam half sie ihm aufstehen, denn er konnte sein Bein noch nicht belasten. „Ach übrigens.“, flüsterte der junge Mann etwas verlegen. „Mein Name ist Jens.“ Sie lächelte, sagte aber nichts. Auf sie gestützt, verließ er mit ihr die Lichtung. Lyra traute sich jedoch nicht, noch einmal zurück zu blicken. Sie redeten kein Wort, während sie langsam, aber beständig immer weiter in den Wald eindrangen. „Ich brauche eine Pause.“, keuchte Jens schließlich erschöpft. „Ist gut. Lass uns hier bleiben.“ Sie wäre sicherlich noch bis in den Morgen hinein so weiter gegangen, da sie sich nicht im Geringsten erschöpft fühlte. Auch müde war sie nicht, aber von beidem ließ sie sich nichts anmerken, weil sie es selbst nicht verstand und Jens nicht unnötig beunruhigen wollte. Sie ließ ihn sanft auf den Boden gleiten und als er sie schließlich los lassen konnte, schlief er fast augenblicklich ein. Direkt neben ihm ließ sie sich auf den Boden sinken und beobachtete die Umgebung. Sie hielt Wache, bis es im Wald langsam hell wurde. Auch als schon fast Mittag war, saß sie immer noch am selben Ort und passte auf. Die ganze Zeit über, war nichts vorgefallen und als Jens sich langsam regte, lächelte sie. „na, aufgewacht?“, begrüßte sie ihn fröhlich und fühlte sich kurz darauf schmerzhaft an ihre erste Begegnung mit Fabian erinnert. Ihr Lächeln offenbarte nichts darüber und er antwortete mit einem leisen grummeln. Dann war er plötzlich hellwach und setzte sich ruckartig senkrecht auf. „Es ist ja sicher schon fast Mittag. Warum hast du mich denn nicht geweckt?“ Er drehte sich zu ihr um und sah sie fast entsetzt an. Lyra zuckte aber nur ruhig mit den Schultern. „Es ist nichts Besonderes vorgefallen und du hattest Schlaf dringend nötig. Also habe ich dich schlafen lassen.“ Er deutete plötzlich hinter sie. „Was ist das?“, fragte er sie mit ehrfürchtig klingender Stimme. Irritiert blickte sie hinter sich und erstarrte ebenfalls vor Ehrfurcht. Staunend blickte sie auf ein grün und blau schimmerndes Gebäude, das sie mit seinen Säulen und der riesigen glänzenden Eingangstür stark an einen Tempel erinnerte. „Ich weiß es auch nicht.“, antwortete sie endlich und erhob sich langsam. Dann half sie ihm auf und wollte auf die Torflügel zu gehen. Doch Jens blieb stehen, wo er war. „Wir sollten vielleicht nicht hinein gehen.“ Sie schaute ihn zweifelnd an. „Wieso denn nicht?“ Leichte Röte war in seinem Gesicht zu sehen. „Ich hab da mal ein Gerücht gehört, dass tief in diesen Wäldern ein Ungeheuer in einem schillernden Palast hausen soll.“ Ihr Gesichtsausdruck war nach wie vor unbeeindruckt. „Und was soll an diesem Ungeheuer so furchtbar sein?“ Er schien ehrlich überrascht, dass sie diese Informationen so kalt ließen, aber er musste zugeben, dass er nicht mehr, als das wusste, was er ihr eben erzählt hatte. „Was sollte außerdem schlimmer sein, als diese Monster, denen wir hier draußen womöglich begegnen?“, fügte sie mit Blick in den Wald hinzu. Daraufhin lenkte er schließlich ein und gemeinsam gingen sie auf die riesigen Torflügel zu. Da sie ihn immer noch stützte hatte sie keine Hand frei und so versuchte Jens einen Torflügel zu öffnen. Als er es alleine nicht schaffte, stemmte auch Lyra sich mit einer Hand dagegen. Erst, als sie beide ihr komplettes Gewicht gegen die Tür stemmten, bewegte sich diese. Aber sie tat es so ruckartig, dass beide von dem glatten Glas, aus dem die Torflügel zu bestehen schienen, abrutschten und überrascht ins innere fielen. Als Lyra sich aufrappelte, fiel ihr sofort auf, dass es im Inneren des nun offensichtlich kreisrunden Gebäudes erstaunlich hell war. Von überall kam blaugrünes Licht, da die Wände auch aus glasähnlichem Material zu bestehen schienen. Schnell half sie Jens auf und deutete in der Mitte des ansonsten leeren Raumes, auf einen Altar der dort stand. Ein Stück über dem Altar, in eine violette Aura gehüllt, schwebte ein blau glänzendes Schild. Auf dessen Vorderseite waren kunstvolle Verziehrungen zu sehen und wenn man genau hinsah, konnte man darin einen kleinen, schlangenähnlichen Drachen erkennen. „Da hast du dein Monster.“, sagte sie belustigt, aber er schien den Drachen nicht zu sehen, denn er fragte sie, was sie meinte und drehte sich dabei um die eigene Achse, um das vermeintliche Ungeheuer zu finden. Kurz entschlossen ging sie auf den Altar zu und versuchte das Schild zu erreichen. „Was tust du da?“, fragte Jens sie erschrocken und wollte zu ihr hin, doch seine Wunde ließ es nicht zu. „Ich zeige dir dein Ungeheuer von Nahem, wenn du es von Ferne schon nicht siehst.“ Sie lachte fröhlich. Als sie das Schild berührte fühlte sie ein Kribbeln in den Fingern, die wahrscheinlich von der Aura herrührte, die das Schild magisch in der Luft zu halten schien. Sie bekam es jedoch nicht zu fassen. Erst als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie den Rand des Schildes umfassen. Vom Altar ausgehend, durchfuhr plötzlich eine Druckwelle den Raum. Beide wurden zurück auf den Boden geworfen und Wind stieg auf einmal auf, der sich genauso schnell wieder legte, wie er entstanden war. Leicht irritiert stellte Lyra fest, dass das Schild nicht mehr da war und ging wieder ins Zentrum des Raumes, um nachzusehen, wo es geblieben war. Bein Alter angelangt, atmete sie erleichtert auf, denn es lag unversehrt und immer noch glänzend auf dem Altartisch. Sie hob es auf und war überrascht und auch ein wenig enttäuscht, als es plötzlich wie ein gewöhnliches Holzschild aussah. Sogar die Verziehrungen waren verschwunden. Sie drehte sich um und ihr fiel jetzt erst auf, dass Jens bewusstlos auf dem Boden lag. Er musste bei der Druckwelle unglücklich gefallen oder gegen die Wand hinter ihm gestoßen sein. Sie lief zu ihm, das Schild immer noch in ihrer Hand und kniete neben ihm nieder. Ihre Versuche ihn wieder aufzuwecken schlugen fehl und so beließ sie es dabei neben ihm zu sitzen und wieder auf ihn aufzupassen. Nach einer Weile beschloss sie etwas zu essen zu organisieren, denn sie spürte auf einmal, was für einen unglaublichen Hunger sie hatte. Vor dem Tempel blieb sie noch einmal stehen und drehte sich zu diesem um. Von hier sah der Tempel sehr eckig aus, bemerkte sie irritiert. Rechts und links gab es jedoch keinerlei durch kommen, um das überprüfen zu können. ‚Was suchst du eigentlich?’, ertönte es auf einmal in ihrem Kopf und sie blickte sich verwirrt um. ‚Ich sitze auf deiner Schulter.’ Ihr war das Ganze auf einmal unheimlich, aber sie drehte trotzdem neugierig den Kopf. Völlig unerwartet sah sie sich einem bläulich schimmernden Drachenkopf gegenüber und stolperte erschrocken ein Stück rückwärts. Bis jetzt hatte sie das sanfte Gewicht auf ihrer Schulter noch nicht bemerkt. Sie blickten sich direkt in die Augen. Seine waren klar, wie Kristall und so blau wie der wolkenlose Himmel über ihnen. Fasziniert hob sie die Hand, um ihn von ihrer Schulter zu holen und ihn besser betrachten zu können. Aber bevor es dazu kam, wechselte er die Seite und krabbelte an ihrem Arm entlang, den sie fast automatisch anhob, sodass er nicht hinunter fallen konnte. ‚Ich lasse mich nicht gerne berühren, selbst von meinem Seelenverwandten nicht. Nur sehen. Nicht anfassen.’, ertönte es wieder in ihrem Kopf. Obwohl er relativ klein war, sah er doch sehr elegant aus, mit seinem schlanken Körper und den feinen, blaugrün schillernden Schuppen. Er erinnerte sie stark an den Drachen, den sie auf dem Schild gesehen hatte. Sie wunderte sich darüber, wie er das machte, dass sie seine Worte hören konnte ohne dass er das Maul dazu bewegte. ‚Das nennt man Telepathie.’, klärte er sie auf. ‚Wir stehen in besonders engem Kontakt zueinander.’ Bevor sie ihre Frage aussprechen konnte, hatte er sie schon in ihren Gedanken gehört. ‚Ich bin dein Seelenverwandter und nur durch diese Tatsache konntest du mich aus meinem Gefängnis befreien; das Schild, das du berührt hast.’ Lyra verstand immer weniger. ‚Vor langer Zeit, als die Menschen sich noch nicht gegenseitig zu bekriegen versucht haben, hatte jeder von ihnen einen Seelenverwandten in Tiergestalt. Es war üblich, dass man mit achtzehn Jahren, wenn die eigene Seele ausgeprägt genug war, um den eigenen Seelenverwandten finden zu können, in die Welt hinaus zog, um nach diesem zu suchen. Wer da schon besonders ausgeprägte Fähigkeiten besaß, hatte auch einen besonderen Seelenverwandten, der diese Fähigkeit unterstützte und ihn unter Umständen auch befähigte, Wunder zu vollbringen.’ Bilder tauchten vor ihren Augen auf. Es waren die Bilder, die sie sich vorgestellt hatte, als Owen ihr die Geschichte über den todgeweihten Überlebenden erzählt hatte und ihre Kehle schnürte sich schmerzhaft zusammen. ‚Was ist passiert, dass es das nicht mehr gibt?’, dachte sie erschüttert. ‚Es tauchte jemand auf, dessen besondere Fähigkeit darin bestand perfekt und unglaublich vielfältig töten zu können und sein Seelenverwandter war seiner besonderen Fähigkeit entsprechend abgrundtief böse. Doch er war leider auch nicht besonders intelligent, sodass es seinem tierischen Seelenverwandten gelang die Kontrolle über ihn zu übernehmen. Er wollte die ganze Welt vernichten. Finsternis überzog daraufhin das Land und niemand konnte ihm Einhalt gebieten. Er setzte sogar ein Gift frei, das jeden tierischen Seelenverwandten genauso böse werden ließ, wie ihn selbst. Es hätte sicherlich in einer Katastrophe geendet, wenn es meinem Seelenverwandten nicht gelungen wäre, mich wieder zum Guten zu bekehren. Er war ein wirklich großartiger Magier. Er war als einziger dazu in der Lage, dem Verbrecher den Seelenverwandten weg zu nehmen, doch der Preis dafür war unglaublich hoch. Noch im sterben wirkte der purpurschwarze Drache einen Zauber, der alle Seelenverwandte, die unter seinem Einfluss standen, tötete und mich in dieses Gefängnis sperrte. Der Magier kam dabei ums Leben und die Menschen verstanden nicht, was passiert war. Daraufhin gaben sie sich gegenseitig die Schuld, spalteten sich auf und bekämpften sich gegenseitig.’ „Woher weißt du das alles, wenn du die ganze Zeit eingesperrt warst?“, fragte sie ihn verwundert. Er zuckte auf ihrer Hand zusammen. ‚Sprich bitte nicht, wenn du mit mir redest ... das hinterlässt immer so ein unangenehmes Echo. Schließlich höre ich schon deine Gedanken, was vollkommen ausreicht, damit wir uns unterhalten können.’ Sie nickte. ‚Tut mir Leid.’, dachte sie und wiederholte ihre Frage. ‚Mich haben selbst in meinem Gefängnis genug Gedanken erreicht, um das zu wissen.’ Er krabbelte wieder auf ihre Schulter zurück. ‚Du solltest jetzt wirklich langsam was zu essen besorgen, denn dein Begleiter wird bald aufwachen und Hunger haben.’, wies er sie fröhlich an. ‚Von den Tieren weiß ich ein paar gute Stellen, an denen du suchen kannst.’ Also machte sie sich auf die Suche und als sie wieder zurückkehrte, wachte Jens gerade wieder auf. Ihr halb zerrissenes Hemd hatte Lyra neben ihm ausgebreitet und alle Beeren und Pilze drauf gelegt, die sie gefunden hatte und von denen sie wusste, dass sie essbar waren. Zum Glück hatte sie noch ein altes Oberteil ihrer Mutter drunter gehabt, denn sonst hätte sie nicht gewusst, wie sie alles her transportieren sollte. Als Jens sich stöhnend zu ihr umdrehte, errötete er leicht, als er sie so sah. Das verschwand aber sehr schnell wieder, als er sah, was sie mitgebracht hatte. Schnell setzte er sich auf und begann zu essen. „Willst du nichts essen?“, fragte er sie zwischen zwei Bissen und schaute sie dabei an. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich habe genug gegessen, während ich gesucht habe.“ ‚Ich glaube er will mich hypnotisieren.’, hörte sie die belustigte Stimme des Drachen in ihrem Kopf und sie sah, dass Jens den Drachen auf ihrer Schulter bemerkt hatte. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Da hast du dein Ungeheuer.“, lachte sie, doch er sah sie nur verwirrt an. „Das ist …“ Sie stockte, doch der Drache kam ihr sofort zu Hilfe. ‚Karion!’, ließ er sie wissen. „Das ist Karion.“, wiederholte sie und deutete dabei auf ihn. Sie erklärte ihm, was Karion ihr zuvor erzählt hatte und er hörte ihr zu. Doch er schien ihr nicht komplett zu glauben, bis der Drache ihm seine telepathischen Fähigkeiten demonstrierte. Beeindruckt fragte er: „Wenn du weißt, was in der Zeit deiner Gefangenschaft alles passiert ist, dann weißt du sicherlich auch, was es mit den Monstern auf sich hat, oder?“ Genau das interessierte Lyra auch und sie sah Karion erwartungsvoll an. ‚Ich weiß leider auch nicht mehr, als ihr beide, da sie keine Gedanken besitzen, die mir etwas über sie erzählen könnten. Sie denken nur ans töten und daran, dass sie die Befehle ihres Oberbefehlshabers ausführen müssen. Deswegen gehen Gestorbene zuerst zum Oberbefehlshaber, um ihre Befehle zu bekommen und streifen nicht direkt mordend durch die Gegend oder töten überlebende, die es hin und wieder tatsächlich gibt. Ihr beide seid da die besten Beispiele.’ Jens sah sie überrascht an und sie erzählte ihm von ihrem Dorf. Allerdings verschwieg sie ihm, dass sie im Gegensatz zu ihm eigentlich hätte sterben müssen. Nachdem sie geendet hatte, schwiegen sie. „Weißt du, was ich mich schon seit langem frage?“, wandte sie sich an Jens, der sie nur verständnislos ansah. „Warum uns kein einziges dieser Monster begegnet ist, seit wir Owen und Fabian verlassen haben.“ Er zuckte die Schultern, denn er schien auch keine Antwort darauf zu haben. Als Lyra ihren Kopf wieder zu Karion drehte, um ihn zu fragen, ob er etwas wusste, sah sie, wie er sich auf ihrer Schulter zusammen gerollt hatte und schlief. Sie lächelte liebevoll und schlug dann vor, dass sie sich auch schlafen legen sollten. Da es im Tempel erstaunlich angenehm warm war, blieben sie hier und Jens bestand darauf dieses Mal Wache zu halten. Für den Fall, dass diese Nacht doch ein paar von den Monstern auftauchten, legten sie sich hinter den Altar. Dort waren sie nicht sofort sichtbar und vielleicht hatten sie dadurch eine größere Chance zu entkommen. Mit wirren Gedanken versuchte Lyra zu schlafen. In ihrem Leben hatte sich auf einen Schlag so viel verändert. Sie hoffte nur, dass es damit bald vorbei war, denn eigentlich hatte sie durch ihren Tod vor dem Leben fliehen wollen. Obwohl sie dadurch zu einem Monster geworden wäre. Mit diesem Gedanken schlief sie letztendlich ein. Ein Schatten bewegt sich durch den Wald, in dem schon seit dreißig Jahren eine gespenstische Stille herrscht. Ihn umgibt eine purpurne Aura und der rauschende Wind verschluckt das leise Rascheln von Stoff, das von dem Schatten ausgeht. Als er aus den Bäumen hervor tritt eilt er zielstrebig auf das Zentrum der Lichtung zu, wo ein einsames Zelt steht. Dort angekommen schlägt er den Stoff beiseite, der den Eingang verschließt und tritt ins Halbdunkel des Zeltinneren. Ein Mann steht, über einen Stapel Karten gebeugt, an einem Tisch am Ende des Raumes und blickt überrascht und zornig auf, als der Stoff wieder vor den Eingang fällt. Ein schlangenähnlicher Drache sitzt auf seiner Schulter, der in der Dunkelheit durch seine fast schwarze Violettfärbung kaum zu sehen ist. Nach einem langen Schweigen, weicht der Zorn plötzlich aus seinen Zügen und er wird nachdenklich. „Also hat mein Plan trotz Hindernisse funktioniert.“ Seine Stimmen ist rau. Er klingt schwermütig und der Schatten antwortet. „Ja.“ Es ist die Stimme einer jungen Frau. „Und du bist …?“, will er wissen. „Sie.“, ist ihre einzige Antwort, doch offensichtlich versteht er, was sie meint. Sie wirft dem Drachen einen letzten Blick zu. „Du hast jetzt alle Informationen, die du brauchst. Beeil dich.“ Der Drache fauchte leise. Wind wehte durch den Stoff an der Tür herein, der Schatten hingegen war verschwunden. Lyra wurde abrupt aus dem Schlaf gerissen, als sie plötzlich spürte, wie sich Krallen schmerzhaft in ihre Schulter bohrten. Erschrocken verkrampfte sie sich und sog zischend Luft zwischen den Zähnen ein. Sofort saß sie senkrecht auf dem Boden. „Was …?“, begann Jens, dem die plötzliche Veränderung nicht entgangen war. Aber Lyra hielt ihm die Hand über den Mund und brachte ihn damit zum Schweigen. ‚Jemand kommt.’, sagte Karion zu ihr mit zitternder Stimme. Auch sein Körper zitterte und Lyra wurde unruhig. Eigentlich hatte sie gedacht, dass sie hier sicher wären. „Jemand kommt.“, flüsterte sie Jens zu und seine Augen weiteten sich vor Schrecken. Ihr blieb auf einmal die Luft weg. „Es ist der Oberbefehlshaber.“; flüsterte sie entsetzt und deutete auf Karion, als Jens wissen wollte woher sie das wusste. Ab da benutzte Karion seine telepathischen Fähigkeiten wieder bei beiden. ‚Er weiß, dass ihr hier seid. Verstecken nützt nichts, denn er weiß genau, wo ihr seid!’ In Lyra verkrampfte sich alles. Kurz darauf flogen die Torflügel krachend auf und zerbarsten in tausend Splitter. Hinter dem Altar waren sie zwar davor geschützt, aber da Verstecken eh nichts nutze, sprangen sie auf beiden Seiten des Altars hervor, sobald die Splitter ruhig verharrten. Beide hatten ihr Schwert gezückt und starrten auf das entstandene Loch, in dem ein einzelner schlanker Mann stand. Zuerst war nur seine Silhouette zu sehen, aber als er mit knirschenden Schritten in den Tempelraum trat, konnte Lyra ihn deutlich erkennen. Er hatte sie seltsamerweise noch nicht bemerkt und sie setzte an, auf ihn los zu stürmen, doch sie stockte. Der Mann, der die Halle betreten hatte, sah ihrem Vater unglaublich ähnlich. Er war zwar schlanker, aber er hatte fast die gleichen Gesichtszüge. Auch die Haare unterstrichen seine Ähnlichkeit. Er war nur etwas jünger, als ihr Vater. Im selben Moment, in dem er sie bemerkte, sah sie den Drachen, der auf seiner Schulter saß und ihr lief es kalt den Rücken runter. „Wer bist du?“, platzte sie heraus und aus den Augenwinkeln sah sie, wie Jens erschrocken zusammen zuckte. „Ich bin wie du.“, sagte er mit fast trauriger Stimme. „Ich verstehe nicht.“, fragte sie verstört. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber das war es in keinem Fall gewesen. „Ich hätte eigentlich sterben müssen, aber mein Bruder hat mich vor dreißig Jahren mit seiner Wissenschaft und Magie gerettet. Allerdings hat er nicht bedacht, dass ich ab da nur noch zur Hälfte ein Mensch sein würde. Nachts, wenn ich schlief, wurde ich zu einem blutdurstigen Dämon. Es hatte zwar den Vorteil, dass ich nach einem nächtlichen Gemetzel tagelang ohne Schlaf auskommen konnte und keine Erschöpfung zeigte, aber in meiner Division lebte bald fast niemand mehr und ich wusste nicht, dass ich die Ursache dafür war. Mein Bruder hat es geahnt und floh aus der Armee. Ich wurde kurz darauf unehrenhaft aus dem Dienst entlassen und zog Ziellos durch die Gegend. Immer wieder fragte ich mich, warum immer nur in meiner Umgebung blutige und sinnlose Morde geschahen, aber ich fand einfach keine Antwort. Irgendwann fand ich dann einen Tempel, wie diesen. Nur war er aus violettem Kristall und nicht aus blaugrünem, so wie hier. Dort fand ich Saromé.“ Er blickte kurz zu dem Drachen auf seiner Schulter und Lyra wurde schlagartig klar, dass ihm etwas ähnliches, wie ihr mit Karion passiert sein musste. „Durch sie habe ich alles über mich erfahren und ab da war ich auch in der Lage meinen Dämonen zu kontrollieren und gutes tun zu lassen. Sie erzählte mir auch von vergangenen Zeiten und dass ihr Seelenverwandter sie mit letzter Kraft ebenfalls eingesperrt hatte, um sie zu schützen, nachdem der verdorbene Seelenverwandte eines perfekten Mörders alle Seelenverwandte zum Tode verurteilt hat, als ihm klar wurde, dass er seinem Gefängnis nicht entrinnen konnte. Wir haben dich gesucht, Karion, um dich endlich zu vernichten und deinen Fluch zu brechen!“ Die letzten Worte schrie er fast und er griff unvermittelt an. Lyra parierte reflexartig den Hieb, der auf ihre Schulter und damit auch auf Karion zu raste. Er war unerwartet stark und Lyra fiel unter der Wuchte des Hiebes auf ein Knie. „Er ist nicht bösartig!“, rief sie wütend und verwirrt. „Und ich weiß nichts von einem Dämon in mir!“, fügte sie mit zusammengebissenen Zähnen hinzu. „Doch! Du hast einen Dämon in dir.“ Das war nicht ihr Gegenüber gewesen, sondern Jens. Sie blickte überrascht zur Seite. „Was?“ Ihre Stimme erstickte fast bei den Worten. Er hatte sein Schwert und seinen Blick gesenkt. „Wenn ich mit meinen Leuten nicht in der Umgebung gewesen wäre, dann hättest du Owen und seinen Neffen umgebracht, ohne mit der Wimper zu zucken. Du hättest Karion so zwar sicher auch gefunden, aber das wollten wir um jeden Preis verhindern. Vor allem, weil es ihm nicht gelingen wollte, deinen Dämonen zu kontrollieren.“ Er machte eine Kopfbewegung in die Richtung des Fremden. „Das hat er erst letzte Nacht geschafft. Als mir dann bewusst wurde, dass ich wie durch ein Wunder überlebt habe, wollte ich dich von ihnen weg locken. Eigentlich sollten sie dich zum Tempel führen, aber da ich auch wusste, wo er ist, habe ich nicht lange gezögert.“ Er unterbrach sich kurz und schaute sie unsicher an. „Es … es tut mir Leid, aber ich konnte dir nicht die Wahrheit sagen, sonst wäre sein Plan fehlgeschlagen.“ Er blickte sie entschuldigend an und spielte unruhig mit seinem Schwertgriff. Sie sah ihn entsetz an. „Du hast die ganze Zeit über für ihn gearbeitet?“, fragte sie ungläubig. „Aber … „ Und damit wandte sie sich wieder ihrem Gegenüber zu. „Du bist doch der Oberbefehlshaber der Monster, die die Gegend unsicher machen!“ Daraufhin begann er schallend zu lachen, was sie noch mehr verwirrte. Er trat einen Schritt zurück und ging so weit in die Knie, dass sie auf Augenhöhe waren. „Das war alles nur, um meinen Bruder zu verunsichern und in die Ecke zu drängen. Es hat lange gedauert, bis ich meinen Bruder endlich aufgespürt hatte. Als es dann aber soweit war, habe ich alle Dorfbewohner, außer euch beide, wissen lassen, was ich vor habe und da sie schon immer Angst vor deinem Vater hatten, musste dieser Teil meines Plans einfach funktionieren. Mit Saromés Hilfe habe ich schließlich ein paar Untote herauf beschworen, die euer Dorf angegriffen haben. Die Männer und Alten des Dorfes sind, bis auf deinen Vater, nicht wirklich gestorben. Ich habe mit Saromé eine Halluzinationskuppel um euch beide gebildet. Eigentlich hätte ich erwartet, dass mein Bruder den Trick durchschaut. Vielleicht hat er das sogar. Aber das er seiner Tochter tatsächlich dasselbe antun würde, wie seinem kleinen Bruder, habe ich dann doch bezweifelt.“, sagte er mit sanfter, fast trauriger Stimme. Während ihr Onkel, denn sie wusste nun, dass er ihr Onkel sein musste, erzählt hatte, war in ihrem Hals ein harter Kloß entstanden. „Das ist nicht wahr.“, flüsterte sie verzweifelt. Er wischte ihr sanft eine Träne von der Wange. „Doch, leider. Es ist wahr. Es musste sein, denn nur halbtote Wesen wie wir beide konnten Saromé und Karion finden, da sie wie wir eigentlich tot sein müssten, da ihre Seelenverwandten beide gestorben sind. Durch den Zauber des Magiers, der sie in Gefangenschaft setzte, konnten sie aber nicht sterben. Erst jemand wie sie, also auch wie wir, konnte sie befreien.“ „Aber warum glaubst du, dass Karion damals der Seelenverwandte des Mörders war? Nur, weil Saromé es ihnen erzählt hat?“ Sie hatte noch mehr sagen wollen, doch er schüttelte traurig den Kopf. „Nein. Ich habe ihr zuerst nicht geglaubt, weil sie mir so unheimlich erschien, aber sie hat mich zu den alten Höhlen tief im Westen geführt, in denen ihr Seelenverwandter gelebt hatte. Dort habe ich schier unendlich viele Schriften gefunden, auch von fremden Autoren, die ihre Geschichte bestätigt haben.“ Lyra sank in sich zusammen. ‚Glaub ihm nicht!’, meldete sich Karion schließlich zu Wort. ‚Er hat doch keinerlei Beweise, außer seinem Wort. Außerdem kennst du ihn nicht einmal. Glaub ihm nicht!’, wiederholte er. Sie hörte die Angst in seiner Stimme, glaubte aber auch einen leicht geheuchelten Ton darin zu hören. Sie versuchte das erste Mal Telepathie selbst anzuwenden und versuchte Karions Gedanken zu hören. Immerhin verband sie eine enge Verbundenheit. Zuerst hörte sie nichts. Als sie dann eine Hand nach ihm ausstreckte und ihn in einem unaufmerksamen Moment berührte hörte sie es plötzlich. Gedanken. Karions Gedanken. Da war sie sich ganz sicher und was sie hörte erschütterte sie so heftig, dass sie aufsprang und rückwärts taumelte. Karion fiel dabei von ihrer Schulter. „Du hast mich belogen!“, fuhr sie ihn an. ‚Ja!’, fauchte er in ihrem Kopf. Ihr war auf einmal schwindelig. „Verschwinde aus meinem Kopf!“, schrie sie, bevor sie bewusstlos auf den Boden fiel. Was kurz darauf wieder aufstand, war der Dämon in ihrem Körper und sie war von einer blaugrünen Aura umgeben. Lyra selbst fand sich über den Köpfen der anderen schwebend wieder und musste mit ansehen, wie sie mit einem Satz bei ihrem Onkel war und sie kämpften. Karion musste die Kontrolle über ihren Körper übernommen haben. Dadurch waren seine Gedanken für sie plötzlich klar und deutlich zu hören und sie erfuhr, dass sie ihn töten konnte, solange er in ihrem Körper war. Doch so würde sie als Geist weiter leben müssen. Deswegen versuchte sie noch eine andere Möglichkeit in Erfahrung zu bringen und drang tiefer in seine Gedanken. Sie erfuhr schließlich, wie sie Karion auch indirekt töten konnte. Ihr Onkel hatte es sogar schon selbst gesagt. Sie versuchte wieder in ihren Körper zurück zu kehren, indem sie versuchte Karion zu irritieren, indem sie viele Verwirrende und nur scheinbar zusammenhängende Gedanken dachte, die sie gezielt in seine Richtung zu schicken versuchte. Zu ihrer Überraschung funktionierte es tatsächlich und er verlor für Sekunden die Konzentration. Genau in dem Moment, in dem sie gerade in ihren Körper zurückkehrte, durchbohrte das Schwert ihres Gegners ihre vernarbte Wunde. Die Schmerzen ließen sie aufwachen und wieder die Kontrolle über ihren Körper erlangen. Nun war sie in ihrer menschlichen Form. Kraftlos sank sie auf die Knie und fiel schließlich hinten über. Jemand fing sie auf, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Es war Jens, denn ihr Onkel hatte den Griff des Schwertes in ihrer Brust noch immer schockiert umklammert. Er machte Anstalten es heraus zu ziehen, doch sie hielt ihn davon ab. „Wenn du es entfernst werde ich doch überleben, denn ich bin genau wie du halb tot. Die Wunde würde sich wieder von selbst heilen.“, sagte sie mit leiser Stimme. „Das ist der Einzige Weg, den Fluch zu brechen.“ Sie spürte, wie etwas Nasses auf ihr Gesicht fiel und merkte, dass es Tränen waren, die Jens in die Augen gestiegen waren. ‚Woher wusstest du das?’, fragte Karions ebenfalls schwache Stimme sie in ihrem Kopf. ‚Im bewusstlosen Zustand ist es gefährlich, den Dämon zu kontrollieren, nicht wahr? Dadurch hatte ich die Chance einzugreifen. Besonders in deinem eigenen Gefängnis. Ich bin mir sicher, dass das eine Schutzmaßnahme des Zauberers war.’, antwortete sie ruhig. Sie war überrascht, woher sie das wusste, aber sie war sich dessen ganz sicher. „Der Fluch ist gebrochen.“, flüsterte sie und schloss die Augen. Kapitel 3: Wie das Meer ----------------------- Wieder einmal saß ich frustriert im Café ‚West Coast’. Den Kopf auf meine verschränkten Hände gestützt schaute ich meinen Gegenüber an und beobachtete die Reaktionen, die sich auf seinem Gesicht abspielten. Zuerst hatte er verwirrt die Augenbrauen zusammen gezogen, was bei ihm erstaunlich komisch aussah. Zum Glück hatte ich nicht genügend Zeit, um in einen grausamen Lachanfall auszubrechen, denn kurz danach wirkte er erschrocken und leicht verstört. „Bitte wiederhol das noch mal!“, bat er mich schließlich mit schrägem Blick und diesem ganz markanten Unterton, den er immer benutzte, wenn ich ironische Bemerkungen machte. Aber was ich gesagt hatte war kein Scherz gewesen. Also hob ich meinen Kopf von den Händen und verschränkte die Arme auf dem Tisch. „Ich mache mit dir Schluss!“, wiederholte ich mit größtem Ernst. „Ich kann mir nicht länger eine Beziehung mit dir vorstellen. Wir sind zu unterschiedlich.“ Meine Tonlage änderte sich nicht im Geringsten. Auch nicht, als ich sah, wie er um seine Fassung rang. Seine Gefühle waren mir nicht wirklich wichtig, denn ich wollte das hier so schnell wie möglich hinter mich bringen. Für mich war er nur noch einer von vielen, mit dem ich zwar versucht habe, länger als ein viertel Jahr zusammen zu bleiben, es aber für mich einfach unmöglich war. Nach einiger Zeit des Schweigens, nahm ich schließlich meine Tasche und stand auf. In dem Versuch nicht ganz so herzlos zu erscheinen, blieb ich noch kurz stehen und murmelte ein einfühlsames „Tut mir Leid.“. Zumindest hoffte ich, dass es einfühlsam klang, denn ich war froh, endlich gehen zu können. Kurz darauf war ich auch schon durch die Tür. Im vorbei gehen, warf ich noch einen neugierigen Blick durch das Fenster zu dem Tisch, an dem ich eben noch gesessen hatte. Tatsächlich hatte sich eine Bedienung zu ihm gesellt und redete auf ihn ein. Es lief jedes Mal gleich ab. Mir war klar, dass sie über mich sprach. Schließlich war ich in diesem Café schon bekannt. Berüchtigt würde es wahrscheinlich eher treffen, denn schließlich war ich dort immer nur zu Gast, wenn ich mal wieder jemanden abservieren wollte. Was den Besitzer besonders geärgert haben dürfte war, dass ich zu allem Übel immer ging, bevor ich etwas bestellt hatte. Aber um ehrlich zu sein, bereitete es mir jedes Mal eine diebische Freude, dieses Café zu besuchen. Nicht, wegen eines armen Kerls, den ich dort jedes Mal mit mehr oder weniger gebrochenem Herzen zurück ließ. Oder um mich über die Bedienung lustig zu machen, die ihm erzählte, dass er nicht der erste war, den ich am Strand aufgegabelt habe, sondern einer von vielen. Bevor ich den Innenraum des Cafés nicht mehr sehen konnte, erhaschte ich noch einen flüchtigen Blick auf den Besitzer, der mir wie jedes Mal mit einem seltsamen Blick hinterher schaute. Er war einer der Gründe, weshalb ich ausgerechnet in diesem Café meine Beziehungen beendete. Ein anderer Grund ist eine besondere Erinnerung, die ich mit diesem Café verbinde. Bei meinem ersten Besuch im ‚West Coast’ war ich noch alleine gewesen und obwohl ich die Einrichtung und alles andere an diesem Café von Anfang an verachtet hatte, hatte ich mir einen Platz gesucht. Dabei war mein Blick fast augenblicklich auf einen Tisch ganz hinten in einer Ecke gefallen. Er passte nicht in dieses Café, denn alles dort drinnen war braun und schwarz, was ich jedes Mal schrecklich deprimierend fand. Vor allem in Kombination mit den altertümlich anmutenden Holzmöbeln überall. Der Tisch jedoch, an den ich mich dann gesetzt hatte, war blau gewesen. Aber nicht einfach nur blau. Er war wie das Meer - hier türkis, dort tiefblau und an einigen Stellen sogar ein wenig grau. Er war wunderschön und als ich ihn länger betrachtete, hatte ich das Gefühl, dass die Farben sich im Takt von Wellen bewegten. Ich hörte das sanfte Rauschen des Meeres und spürte wie der salzige Meereswind sacht über mein Gesicht streifte. Ich hatte das Gefühl so lange wie möglich fest halten wollen, doch ich war unsanft von einer unbekannten Stimme unterbrochen worden. Leicht verstört und äußerst gereizt hatte ich den Eindringling angefunkelt, der sich seelenruhig als Besitzer des Lokals vorgestellt hatte. „Der Platz ist leider reserviert. Ich muss Sie bitten sich einen anderen Platz zu suchen.“, hatte er mir höflich erklärt und dabei auf ein Schild gedeutet. Schadenfroh hatten mir zehn Buchstaben entgegengelacht als ich in seine Richtung gesehen hatte. ‚Reserviert’. Mit einem resignierenden Seufzen hatte ich mich wieder erhoben aber ich war immer noch schrecklich wütend auf den Besitzer gewesen, der mich so abrupt in die Wirklichkeit zurückgeholt hatte. „Gut ich gehe wieder. Dieses Café ist sowieso schrecklich. Sie sollten was an ihrer Einrichtung ändern, sonst glaubt noch jemand, er habe eine Zeitreise gemacht.“ Mit dem Gefühl, dass diese Rache nicht ausreichend gewesen war, um seine Einmischung zu vergessen, hatte ich mich, ohne auf eine Antwort zu warten, abrupt umgedreht und mit energischen Schritten das Café verlassen. Ich blickte kurz auf und merkte überrascht, dass ich schon vor meiner Wohnungstür stand. Mit einer unwirschen Handbewegung versuchte ich die Erinnerungen fort zu wischen und ein lautes Klirren ließ mich verwirrt zum Boden zurück schauen. Mein Haustürschlüssel war mir bei meiner Bewegung offensichtlich aus der Hand gefallen. Ein wenig irritiert schaute ich die Treppen hinunter, die ich bis in den obersten Stock hoch gelaufen war, ohne es auch nur zu bemerken. Irgendwo dort unten lag auch die Eingangstür, die ich genauso abwesen aufgeschlossen hatte. Als ich die Dinge wieder wahrzunehmen begann, fiel mir wieder einmal auf, dass das Treppenhaus meines Häuserblocks in sterilem weiß gehalten war. Karg und Schmucklos. Ich konnte es gar nicht erwarten in meine gemütliche Wohnung zu kommen. Gerade, als ich meinen Schlüssel aufgehoben hatte, ließ mich ein Geräusch hinter mir erschrocken zusammen zucken. Die wohlbekannte Stimme aber, die kurz darauf durch das Treppenhaus hallte, zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. „Lily! Du bist ja schon wieder zu Hause!“ Die Überraschung in Roses Stimme war unüberhörbar, aber ich wusste, dass sie sich freute mich wieder zu sehen, bevor ich mich überhaupt zu ihr umgedreht hatte. Kaum hatte ich mich ihr zugewandt, da umarmte sie mich auch schon stürmisch. „Du musst unbedingt zu einem Tee rüber kommen! Und dann erzählst du mir alles, ja?“ Bevor ich etwas sagen konnte, hatte sie mich schon in ihren Flur gezogen und die Tür hinter mir geschlossen. „Und Molly?“, versuchte ich einzulenken, aber ich war froh, als sie abwinkte. „James holt sie heute aus dem Kindergarten ab, mach dir keine Sorgen.“ Mir fiel sofort auf, dass ihr Ton dabei viel ernster war, als noch im Treppenhaus. Das war ungewöhnlich und ich hatte das ungute Gefühl, dass während meiner Abwesenheit etwas passiert war. „Fand heute nicht das wöchentliche Teekränzchen der Nachbarinnen statt?“, fragte ich von einer leisen Ahnung geleitet. Ihr Blick verriet, dass ich damit genau ins Schwarze getroffen hatte. Sie schäumte gerade zu über. „Nie wieder gehe zu einem von diesen Treffen unter Nachbarn.“ Innerlich kochend führte sie mich ins Wohnzimmer und verschwand kurz darauf in der Küche, aber sie hörte dabei nicht auf zu reden. „Sei froh, dass du arbeitest. Die Frauen hier sind alle solche Klatschweiber. Nachdem es ihnen zu langweilig wurde über die arme verwitwete Frau von gegenüber zu tratschen, haben sie jetzt sogar angefangen über dich her zu ziehen.“ Mit einem Tablett, das mit Teekanne, zwei Tassen und passenden Untersetzern beladen war, kam sie zurück ins Wohnzimmer - immer noch wütend. „Und das nur, weil du alle vier Wochen mit einem neuen Mann hier aufkreuzt.“ Sie stellte einen Untersetzer mit Tasse vor mir auf den Tisch und goss mir Tee ein, wobei sie fast die Tasse verfehlte, so energiegeladen war sie. „Sie haben versucht jedes noch so intime Detail über dich und dein Treiben aus mir raus zu quetschen. Jetzt vielleicht nicht so drastisch, aber sie haben noch nicht mal versucht es zu verheimlichen!“ Mit einem wütenden Schnauben ließ sie sich auf das Sofa mir gegenüber fallen und goss sich nach kurzem Schweigen selbst auch Tee ein. „Deswegen bist du also im Treppenhaus so seltsam gewesen.“, sagte ich lächelnd und nippte an meinem Tee. Sie lächelte. „Ich bin mir sicher, dass sie alle gesehen haben, dass du wieder da bist und obwohl ich ihnen beim letzten Treffen schon die Meinung gegeigt habe, wollte ich ihnen zeigen, dass ich absolut zu dir halte.“ Wir schauten uns an und ich war mir sicher, dass wir gerade dasselbe dachten, denn wir brachen zeitgleich in schallendes Gelächter aus. „Ich stelle mir gerade vor, wie du vor verdutzt drein blickenden, Tee trinkenden Hausfrauen stehst und ihnen gehörig die Meinung sagst.“, prustete ich und setzte vorsichtig meine Tasse wieder ab, um keinen Tee zu verschütten. Sie hielt sich den Bauch vor lachen. „Genauso müssen die jetzt auch geguckt haben. Ich wette mit dir, dass ein Jede hinter der Tür stand und gelauscht hat.“ Wir schnitten uns gegenseitig Grimassen in dem Versuch die verdutzten Gesichter nach zu ahmen und lachten lange und ausgiebig. Genau das, was ich jetzt gebraucht hatte und als wir uns wieder beruhigt hatten, griff auch Rose endlich nach ihrer Teetasse. Sie trank schnell einen Schluck und schaute mich dann erwartungsvoll an. „So.“, begann sie und wurde ernst. „Jetzt musst du mir aber erzählen, warum du schon wieder hier bist und warum Matt nicht bei dir ist.“ Anstatt ihr direkt zu antworten, griff auch ich wieder nach meiner Teetasse. Ich muss traurig ausgesehen haben, denn sie verstand sofort. „Matt war auch nicht der Richtige, hm?“ Ihre Stimme war sanft und klang auch leicht traurig. Ich nickte nur. „Und ich dachte wirklich, dass er dich verstehen könnte. Schließlich liebt er das Meer genauso, wie du, oder?“ Mein Kopfschütteln überraschte sie. „Er hat dich angelogen?“ Wieder schüttelte ich den Kopf und fing endlich an zu reden. „Nein, das ist es nicht. Er liebt es, am Meer zu sein, aber er versteht nicht, wie ich mich dabei fühle, wenn ich es sehe, oder auch nur daran denke. Außerdem konnte ich noch nicht mal die leichte Brise auf unserem Balkon genießen, denn er hat sich andauernd beschwert, dass der Wind seine Haare zerzaust.“ Ein frustriertes Seufzen entrang sich meiner Kehle. Rose stellte ihre Tasse ab, um sich neben mich zu setzen. „Herr im Himmel, gibt es denn Nirgendwo einen Mann, der fühlt, wie ich fühle? Liebt wie ich liebe?“, stieß ich deprimiert aus. Als ich versuchte die Tränen nieder zu kämpfen, umarmte mich Rose einfühlsam und ich ließ meinen Gefühlen freien Lauf. „Es gibt bestimmt jemanden. Du bist nur leider eine der Frauen, die einfach kein Glück mit Männern haben.“, sagte sie sanft und strich mir über den Rücken. Als ich mich beruhigt hatte, richtete ich mich wieder auf und lächelte dankbar. Sie lächelte fröhlich zurück. Sie beugte sich nach den Teetassen und drückte mir meine wieder in die Hand. Immer noch dankbar trank ich einen großen wohltuenden Schluck und sah sie dann wieder an. Sie starrte mich an, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen. „Was ist los?“, fragte ich leicht besorgt. Daraufhin stellte sie ihre Teetasse wieder ab und drehte sich mit einem Bein auf dem Sofa zu mir. „Ich habe letztens mehr über diesen seltsamen Tisch herausgefunden, von dem du mir erzählt hast!“, rief sie aufgeregt. Ich steckte mich sofort bei ihr an. „Wirklich?“, fragte ich begeistert und auch ein wenig ungläubig. „Erzähl!“, forderte ich sie auf, obwohl es gar nicht nötig gewesen wäre. „Es sind allerdings keine Fakten. Nur Gerüchte, die ich von meinem Cousin gehört habe. Der, der mir und James die Wohnung hier überlassen hat.“, versuchte sie auszuholen, aber ich nickte nur ungeduldig und sie beugte sich näher zu mir, als wolle sie mir ein Geheimnis anvertrauen. „Es heißt, der Tisch hätte die Macht die Gottheit der Meere wieder auferstehen zu lassen, die vor Jahrhunderten durch die Macht unglaublich vieler Magier in viele einzelne Seelen zersplittert wurde, um die Menschheit vor dieser grausamen Gottheit zu schützen. Auf seiner Tischplatte klebt das Blut vieler Unschuldiger, die durch seltsame Vorfälle auf ihm starben. Und alle haben zu ihren Lebzeiten behauptet, das Meer rauschen zu hören, wenn sie nur lange genug auf das Muster gestarrt hätten.“ Ihre Stimme war auf ein dramatisches Flüstern herabgesunken und ließ es mir eiskalt den Rücken runter laufen. „Außerdem soll immer der letzte Verflossene des Opfers an diesen Vorfällen beteiligt gewesen sein.“ Sie legte eine kurze Pause ein, bevor sie sich mit gesenktem Kopf wieder gerade hinsetzte. Ich konnte mich nicht regen, so sehr gruselte mich ihre Geschichte. Ohne Vorwarnung schoss ihr Oberkörper mit erhobenen Armen und verkrampft gespreizten Fingern, die beängstigend verkrümmt waren, auf mich zu. Ein entsetzter und erschrockener Schrei entrang sich meiner Kehle und sie schrie ebenfalls. Nur war es bei ihr ein seltsam grotesk klingendes, tiefes Wehklagen. Wäre ich nicht so verängstigt gewesen, wäre es fast lächerlich gewesen. Ich setzte mich ruckartig auf und versuchte gleichzeitig nach hinten auszuweichen, wobei ich ungeschickt über die Lehne des Sofas fiel und mit einem dumpfen Plumpsen auf dem Boden aufkam. Während ich ungelenk versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, kugelte sich Rose vor Lachen auf dem Sofa. Das ließ mich böse dreinblickend mitten in der Bewegung inne halten. Sie merkte es sofort und half mir auf, wobei sie meinen bösen Blick gekonnt ignorierte. „Es tut mir Leid.“, sagte sie ernst, aber das Grinsen vermochte sie nicht aus ihrem Gesicht zu verbannen. „Schon klar.“, murmelte ich böse, wobei ich ebenfalls zu Grinsen anfangen musste. „Aber du schaffst es auch wirklich immer wieder, mich zu verwirren. Du hättest doch Schauspielerin werden sollen.“ Mit einem Lachen schüttelte sie den Kopf. „Das mag stimmen, aber da ich hätte dann doch lieber unsere Sekte auf der ganzen Welt verbreitet. Du als Expertin für alles Übersinnliche und ich als diejenige, die es den Leuten glaubwürdig verkauft.“ Sie zwinkerte mir verschmitzt zu und ich schaute sie zunächst etwas verdutzt an. Als wir noch Kinder waren, hatten wir uns zu zweit überlegt eine Sekte zu gründen und darüber fantasiert, wie es wohl wäre damit in Zukunft Geld zu verdienen. Sie war damals schon talentiert darin gewesen zu schauspielern. Und ich war schon immer fasziniert gewesen von allem Übersinnlichen und dadurch auch sehr abergläubisch. Durch die Erinnerungen an vergangene Kindereien musste ich lachen und ihr schien es nicht anders zu gehen. Schließlich wurden wir wieder ernst. „Das, was ich dir über den Tisch erzählt habe, sind aber wirklich nur Gerüchte. Ich glaube nicht, dass da irgendetwas Wahres dran ist, also lass dich bitte nicht davon verunsichern, ja?“, sagte sie freundlich und ich glaubte einen leicht besorgten Unterton mitschwingen zu hören. „Nein, ganz sicher nicht. Es macht den Tisch nur noch interessanter und ich glaube, ich gehe ihn mir gleich noch mal etwas genauer ansehen. Vielleicht erzählt mir der Besitzer ja jetzt etwas mehr darüber.“ Wir lächelten uns an und sie brachte mich noch zur Tür, bevor wir uns mit einer herzlichen Umarmung voneinander verabschiedeten. Ich machte mich sofort auf den Weg. So lange schon hatte ich versucht mehr über diesen ungewöhnlichen Tisch herauszufinden, der mich fasziniert hatte, seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Ich war so aufgeregt, dass ich sogar anfing zu rennen, aber zwei Blocks vor dem Café hielt ich inne. Schließlich wollte ich überlegen auf den Cafébesitzer zugehen. Da wäre es nur hinderlich so völlig außer Atem anzukommen. Als meine Atmung wieder ruhig und kontrolliert war, ging ich mit entschlossenen Schritten an den beiden verbliebenen Häuserblocks vorbei und zum Eingang des Cafés. Der übliche Geruch von Kaffee, Kuchen und alten Möbeln schlug mir entgegen, als ich die Tür öffnete und eintrat. Zielstrebig ging ich auf den hinteren Teil des Raumes zu, in dem mein Ziel stand. Der blaue Tisch. Er sah immer noch so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Selbst das ‚Reserviert’-Schild stand immer noch an derselben Stelle. Dieser Tisch sah jedes Mal gleich aus, egal wann ich her gekommen war und ich begann mich zu fragen, warum mir das noch nicht früher aufgefallen war. Ich zuckte kurz mit den Schultern. Wahrscheinlich änderte der Besitzer wirklich nie etwas an seiner Einrichtung. Dann ging es mir auf, wie ein Licht in der Dunkelheit. Er hatte selbst das ‚Reserviert’-Schild nie umgestellt, weil er nicht wollte, dass jemand an diesem Tisch saß und etwas bestellte. Als ich jetzt so darüber nachdachte, fiel mir auf, dass ich noch nie jemanden gesehen hatte, der an diesem Tisch etwas gegessen oder getrunken hatte. Außerdem war er damals persönlich gekommen, um mich auf das Schild hin zu weisen. Dass der Besitzer sich die Mühe macht, Gäste auf ein simples Schild hinzuweisen, konnte nur daher kommen, dass er seinen Bediensteten nicht erzählen wollte, warum es ihm so wichtig war, dass sich wirklich niemand an diesen Tisch dauerhaft niederlassen durfte. Und das bedeutete, dass er doch mehr über diesen Tisch wusste, als er mir erzählen wollte. „Ich wusste es.“, flüsterte ich triumphierend und zuckte zusammen, als eine bekannte Stimme hinter mir fragte: „Was wussten Sie?“ Erschrocken fuhr ich herum und ärgerte mich, dass ich mich so hatte erschrecken lassen, noch bevor ich mich vollständig umgedreht hatte. Die Stimme gehörte dem Cafébesitzer und er schaute mich wieder mit diesem undefinierbaren Blick an. Schnell verscheuchte ich den Schrecken aus meinen Gedanken und versuchte selbstsicher zu wirken, obwohl mir bewusst war, dass es bei einem Versuch bleiben würde. Schließlich hatte er meine Reaktion nur allzu deutlich sehen können. „Sie wissen doch mehr über diesen Tisch, als Sie mir bis jetzt sagen wollten.“, sagte ich mit einem siegessicheren Lächeln. „Na und?“, war alles, was er erwiderte und es klang so beiläufig, dass es mich völlig unvorbereitet traf. „Was soll das heißen?“, hakte ich nach einer kurzen Pause nach, doch er machte keine Anstalten irgendetwas zu sagen. Also versuchte ich es weiter. „Was ist an der Sache dran, dass ungewöhnlich viele Leute auf diesem Tisch gestorben sind?“, versuchte ich sachlich zu fragen, konnte aber meine aufkeimende Wut, die durch sein beharrliches Schweigen immer weiter wuchs, nicht unterdrücken. „Oder, dass immer eine vergangene Beziehung im Spiel war?“, fragte ich weiter. Doch er zuckte nur mit den Schultern, was mich geradezu zur Weißglut trieb. „Nun reden Sie schon endlich. Ihnen gehört der Tisch, verdammt noch mal, also müssen Sie auch etwas über seine Geschichte wissen. Warum erzählen Sie es mir nicht einfach?“ Die letzten Worte hatte ich fast geschrieen, aber das fiel mir auch erst kurz danach auf. Mit einem kurzen, unsicheren Blick durch das Café wiederholte ich meine Frage in einem gemäßigten Ton. „Wieso erzählen Sie es mir nicht?“ Wieder bestand seine Antwort nur aus Schweigen und ich begann schon fast wieder ungehalten zu werden, als er sich endlich dazu entschloss zu reden. „Wissen Sie …“, begann er mit ernster Stimme. „… dieser Tisch ist schon seit Generationen in unserer Familie.“ Ich konnte nicht umhin frustriert zu seufzen. „Es ist also ein Familiengeheimnis.“ Ich wollte mich resigniert wieder dem Ausgang zuwenden, als er den Kopf schüttelte. „Eigentlich nicht …“ „Warum sagen Sie mir dann nicht endlich, was ich wissen will?“, unterbrach ich ihn ungehalten. Er lächelte geheimnisvoll, was mir einen eisigen Schauer über den Rücken jagte, und antwortete mit einem wissenden Unterton: „So, wie Sie den Tisch das erste Mal angestarrt haben, werden Sie das noch früh genug herausfinden.“ Er legte eine kurze Pause ein. „Auch wenn ich wünschte, dass es nicht so wäre.“, murmelte er. Mehr zu sich, aber ich stand ihm ja direkt gegenüber, weswegen ich es ebenfalls hörte. Ich schwieg betreten. Irgendwo im Café schabte ein Stuhl über den Boden und ich schaute neugierig in die Richtung. Vor allem auch, weil ich froh war, nichts erwidern zu müssen. Aber das hätte ich lieber auch nicht getan, denn mein Blick fiel auf Matt. Er stand an dem Platz, an dem ich ihn verlassen hatte, die Hände auf den Tisch gestützt und den Blick auf meine Gestalt gerichtet, die halb vom Cafébesitzer verdeckt war. Ich wusste nicht wessen Überraschung in dem Moment größer war, aber meine wuchs, als er sich gerade aufrichtete und mit entschlossenem Schritt auf mich zukam. Innerlich wappnete ich mich für das Wortgefecht, das auf jeden Fall kommen würde, wenn er mich erst erreicht hätte. Eine Bewegung neben mir erregte kurz meine Aufmerksamkeit. Der Besitzer war meinem Blick gefolgt und sah recht alarmiert aus, was mich zwar verwirrte, aber im Moment nicht weiter interessierte. Matt war wichtiger und er hatte mich inzwischen erreicht. „Wieso bist du noch hier?“, kam ich einer unerwarteten Frage zuvor, wobei meine Stimme zwar überrascht klang, aber nicht im positiven Sinne. „Ich hatte gehofft, du würdest wieder kommen und deine Worte zurück nehmen.“, sagte er seltsam ruhig. „Das hätte ich nie getan und das weißt du auch.“, antwortete ich abweisend. Er nickte stumm und blickte zu Boden. „Die Bedienung wollte mich nicht gehen lassen …“ „Du hättest einfach aufstehen und verschwinden können“, unterbrach ich ihn unsanft, doch er ließ sich dadurch nicht irritieren und fuhr mit beängstigend ruhiger Stimme fort. „… und ich hatte gehofft, sie würde mir verraten, wo du wohnst, da du schon verschwunden warst, als ich dir folgen wollte, und du mich noch nie zu dir mitgenommen hast.“ Ich schüttelte verwirrt den Kopf. „Wozu? Ich meinte alles genau so, wie ich es gesagt habe und jetzt kannst du getrost gehen. Ich komme nicht zu dir zurück und ich will dich nicht zurück, also verschwinde!“ Ich bot mein ganzes Selbstbewusstsein auf, um ihm allein damit deutlich zu machen, dass er gehen sollte, wenn er meine Worte schon nicht zu verstehen schien. Aber es schien nicht zu wirken. Er stand immer noch reglos da. Die einzige Bewegung, war seine rechte Hand, die er in der Hosentasche verschwinden ließ. Er blickte auf und sah mir ins Gesicht, sodass ich seine Augen sehen konnte. Sie schienen Schmerzen auszustrahlen, die er offensichtlich in seinem Verhalten nicht widerspiegeln konnte. „Ich liebe dich!“, sagte er plötzlich und es hätte fast sanft geklungen, wenn er die Gleichgültigkeit daraus zu verbannen vermocht hätte. „Ich dich aber nicht! Würdest du jetzt bitte gehen?“, versuchte ich ihn erneut zum Gehen zu bewegen, aber auf seinem Gesicht breitete sich auf einmal ein gruseliges Grinsen aus. Wieder fiel mir eine Bewegung seiner Hand auf, doch ich wollte ihn mit meinem Blick dazu zwingen zuerst weg zu sehen, in der Hoffnung, er würde dann endlich gehen. Erst das kurze Aufblitzen, das ich am Rande meines Sichtfeldes gewahrte, brachte mich dazu den Blick abzuwenden. „Ich wusste zwar, dass du das sagen würdest, aber du hättest es lieber nicht getan.“, sagte er bedrückt. Erschrocken wollte ich einen Schritt zurückweichen, aber ich prallte hart mit dem Oberschenkel gegen die Tischkante. Schmerzen durchzuckten mich, aber ich ließ das Klappmesser nicht aus den Augen, das er in der Hand hielt. „Woher hast du das?“, keuchte ich immer noch verängstigt, obwohl ich die Antwort schon wusste. Er machte ein tadelndes Geräusch und kam gleichzeitig ganz nah an mich ran. Unsere Gesichter berührten sich fast. „Du weißt doch, dass ich extrem paranoid bin. Ich würde ja eine Schusswaffe tragen, aber das kann ich nicht mehr, nachdem mich die Polizei zu oft damit erwischt hat. Ein Messer ist so viel unauffälliger.“, flüsterte er bedrohlich und hob seine freie Hand an mein Gesicht. Hilfe suchend wandte ich meinen Blick dem Cafébesitzer zu, doch der schüttelte nur bedauernd den Kopf. Die restlichen Gäste und die Bedienungen schienen nichts von ihrem Problem mitbekommen zu haben. Wahrscheinlich dachten sie, dass hier eine sehr romantische Versöhnung stattfände. Ich musste also alleine damit fertig werden. Sanft strich er mir eine Haarsträne aus dem Gesicht und kam weiter näher. „Aber noch ist es nicht zu spät für dich. Sag, dass du mich liebst und dass du zu mir zurückkommst!“, flüsterte er fast liebevoll, wobei unsere Lippen nicht mehr viel voneinander trennte. „Dann würde unsere Beziehung auf einer Lüge basieren und so etwas kann nicht funktionieren. Vor allem aber müsstest du mit dem Wissen leben, dass ich nicht mit dir zusammen bin, weil ich dich liebe, sondern weil ich Angst vor dir habe.“, versuchte ich ihn ruhig zu überzeugen, wobei meine Knie und mein gesamter Körper weiter vor Angst zitterten. „Das ist mir egal!“, zischte er und unsere Lippen berührten sich fast. „Mir aber nicht.“, flüsterte ich zurück, wobei ein entsetzter Unterton in meiner Stimme mitschwang. Sein sanftes streicheln an meinem Gesicht wurde plötzlich zu einem harten Griff um mein Kinn und er zwang mir einen Kuss auf. Dann ließ er von mir ab und trat einen halben Schritt zurück. Ich wollte verstört an ihm vorbei rennen, aber sein wutverzerrtes Gesicht ließ mich erstarren, bevor ich auch nur eine Bewegung gemacht hatte. Drohend hob er das Messer. „Wenn ich dich nicht haben kann, dann soll dich keiner bekommen!“, schrie er wütend, wobei er das Messer herabsausen ließ. Mit einem Mal hörte ich nur noch Schreie. Ich wusste nicht, ob ich ebenfalls schrie, ich spürte nur die Schmerzen, die mich plötzlich in einen Schleier hüllten, die alles andere nur gedämpft an mein Bewusstsein ließ. Nur der Cafébesitzer war für mich seltsam klar erkennbar. „Warum?“, formte ich mit meinen Lippen, denn meine Stimme versagte mir den Dienst. „Es muss so sein. Du wirst dich gleich erinnern, warum.“, sagte er genauso Lautlos und obwohl ich schon begann in die unendliche Dunkelheit abzudriften, verstand ich trotzdem, was er mir sagen wollte. Die Welt wurde auf einmal zu einem Rauschen von Farben, als ich hinten über kippte. Erst als sie wieder still stand und ich die Decke über mir erkannte, ergab ich mich der dunklen Gewissheit, das ich sterben würde. Ein eisiger Schauer durchfuhr mich, als ich die kalte Tischplatte an meinem Rücken spürte. Langsam wich alles Leben aus mir. Ich hörte wieder das Meer rauschen und als ich einen sanften Wind über mein Gesicht streifen spürte, fühlte ich mich plötzlich ganz leicht. Vorsichtig wagte ich es die Augen zu öffnen und sah mich von vielen Menschen umringt, die mich glücklich anstrahlten. „Endlich bist auch du zurück.“ Nein, es waren keine Menschen. Ich hatte es im Grunde meines Herzens gewusst, seit ich den Tisch das erste Mal gesehen hatte. Es waren Seelen wie ich und ich war ein Teil von ihnen. Wir waren alle ein Teil voneinander und ich war das Letzte fehlende Stück. Endlich, endlich waren wir wieder vereint. Die Meeresgottheit konnte wieder auferstehen! Kapitel 4: Schwarzes Licht und Weißer Schatten ---------------------------------------------- Ein erschrockener, schriller Schrei, direkt gefolgt von einem Zweiten, gellte durch die Wälder, die ein Stück von Belaris entfernt lagen, einer kleinen Stadt, die inmitten der grasigen Hügellandschaften von Garatel lag. „Bruder!“, rief irgendwo die erste Stimme mit rauem Röcheln. „Bruder? Wo bist du?“, rief die zweite Stimme verzweifelt und bewegte sich dabei hecktisch vorwärts. Die Stimmen gehörten zwei kleinen Jungs, die etwa gleich alt waren. Dann hatte der Junge, dem die zweite Stimme gehörte, seinen Bruder entdeckt, der blutüberströmt neben einem Baumstumpf lag. „Bruder? Was ist mit dir?“, rief der Junge seinem Bruder ängstlich zu und rannte zu ihm hinauf. „Kavel.“ Er hustete Blut, als er seinen Bruder auf sich zukommen sah. Kavel fiel neben seinem sterbenden Bruder auf die Knie und kämpfte mit den Tränen. „Nenn mich nicht so. Das machst du doch sonst auch nur, wenn es wirklich ernst ist und das hier ist nicht so schlimm. Es wird alles wieder gut.“, schluchzte er und nun liefen doch die Tränen über seine Wangen. Ein Engel und ein Dämon beugten sich zu Kavel herab. „Er wird sterben.“, sagte der Engel sanft und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Woher wollt ihr das wissen?“, fragte Kavel böse und schniefte mit der Nase. „Er ist unser Schutzbefohlener. Wir wissen alles über ihn, weil er ein Teil von uns ist und wir ein Teil von ihm.“, versuchte der Dämon Kavel zu beruhigen. „Er hat recht, weißt du.“, sagte nun ein anderer Engel, der hinter Kavel kniete. Neben ihm stand noch ein weiterer Dämon. „Bei dir und uns ist es doch genau dasselbe. Wir wüssten es. Sie werden ihn jetzt begleiten, bis er wiedergeboren wird und wenn du stirbst, werden wir dich begleiten, bis du wiedergeboren wirst.“, sagte dieser betont ruhig und wuschelte dem kleinen Kavel durchs Haar. „Ich weiß.“, schrie Kavel traurig in den Wald hinein und wiederholte es dann noch einmal leiser für sich, als ob er wirklich sicher gehen wollte, dass er es wirklich wusste. „Ich weiß. Ich will aber nicht, dass er stirbt. Kann ich ihm denn gar nicht helfen?“, fragte er schniefend seinen Engel, seinen Dämonen und die seines Bruders. Sie schwiegen eine Weile und schienen über Blickkontakt miteinander darüber zu diskutieren. „Es wird alles wieder gut.“, flüsterte Kavel derweil seinem Bruder zu und ergriff dessen Hand. Abwesend streifte er sich die Tränen von den Wangen, aber es hatte keinen Sinn, denn sie wollten einfach nicht aufhören zu fließen. Wie sollte er denn so seinem Bruder Hoffnung geben, dachte er verzweifelt, was die Tränenflut nur noch verschlimmerte und sein Sichtfeld mit einem verschwommenen Schleier bedeckte. Der Atem seines Bruders wurde immer schwächer, als sich die Engel und Dämonen wieder an Kavel wandten. „Zu viert könnten wir ihn heilen.“, begann der Engel seines Bruders. „Worauf wartet ihr dann noch.“, war Kavels aufbrausende Antwort. „Wir müssten dafür von unserer und deiner Lebenskraft zehren, denn unsere Aufgabe besteht eigentlich darin unseren Schutzbefohlenen nur so gut es geht zu leiten und dadurch verlangt jeder direkte Eingriff einen bestimmten Preis. Da wir zu viert und mit dir sogar zu fünft sind, könnten wir den Preis für sein Leben aufbringen, aber niemand weiß, was ein direkter Eingriff dieses Ausmaßes zur Folge haben könnte.“, gab sein eigener Dämon zu bedenken. Ein Schwarm Vögel stieb kreischend in die Lüfte, als ein markerschütternder Schrei durch die Wälder hallte. Selbst in der weiter entfernten Stadt Belaris war er noch zu hören. Jahre später erblickte er endlich die Stadt, von der er sein ganzes Leben lang Geschichten gehört hatte, obwohl sie noch nicht einmal die Hauptstadt von Garatel war. Dicht an die felsigen Steilhänge gedrängt, lag sie am Fuße der Berge und war somit nur von einer Seite her zugänglich. Sie bestand fast ausschließlich aus Wohnhäusern und überall herrschte reges Treiben, soweit Kavel es von der Kante des Steilhangs auf dem er sich befand erkennen konnte. Trotzdem schien Pyotr sich nicht groß von seiner eigenen Stadt zu unterscheiden, dachte er enttäuscht. Wäre der riesige Glasturm in der Mitte der Stadt nicht gewesen, hätte er nie geglaubt, dass das da unten wirklich die Stadt war, von der er so viel gehört hatte. Seufzend ließ er sich auf den Boden plumpsen und nahm den schweren Rucksack von seinen Schultern. Unwillkürlich strich er sich ein paar Strähnen seines dunkelgrünen Haares aus dem Gesicht, die aus seinem geflochtenen Zopf gerutscht waren. Seine langen Ohrringe klingelten dabei leicht. Etwas flatterte heran und ließ sich erschöpft auf der so frei gewordenen Schulter nieder und ließ nacheinander zuerst sein weißes Feder- und dann sein schwarzes Fledermausflügelchen hängen. „Wo warst du denn? Hast du wieder die Eichhörnchen gejagt, Samuel?“, fragte Kavel spöttisch und das Wesen flog, plötzlich wieder voller Energie, erbost auf und schwirrte um Kavels Kopf herum. Es piekste ihn immer wieder mit seinem Schwanz, an dessen Ende eine pfeilförmige Spitze war. Das Leuchten seines Heiligenscheins wurde dabei von Kavels Ohrringen reflektiert und ließ diese sanft schimmern, obwohl sich Kavel auf der Schattenseite des Berges befand. Lachend hob Kavel die Arme vors Gesicht und versuchte sich damit zu schützen. Er wusste genau, dass sein Begleiter es nicht leiden konnte, wenn er ihn mit anderen Namen ansprach, aber Kavel fand seinen richtigen Namen nicht besonders einfallsreich. „Ist ja gut Puschel.“, lachte er und das Tierchen ließ sich zufrieden wieder auf seiner Schulter nieder. „Warum kann ich dir keinen richtigen Namen geben?“, fragte Kavel mit schmollendem Unterton mindestens zum hundertsten Mal, seit sie sich auf den Weg gemacht hatten und wie jedes Mal bekam er ein entrüstetes und glockenhelles 'Pu!' als Antwort. Puschel beherrschte zwar nur diese eine Silbe, aber dafür in sämtlichen Tonfällen und unwillkürlich fragte sich Kavel, ob er überhaupt einen Mund hatte, um allein diese eine Silbe zu sprechen. Denn Puschel war ein einziges Fellknäuel ohne Abstufungen wie Kopf und Körper. Wenn er flog, konnte man noch nicht einmal mehr seine kleinen Beinchen sehen, weil er sie dann immer in seinem dichten Fell versteckte. Nur die großen, treuen Knubbelaugen waren immer unbedeckt. Ein schreiender Schwarm Zugvögel riss ihn aus seinen Gedanken. Er seufzte noch einmal resignierend und stand dann mit einem entschlossenen Ruck wieder auf, wodurch Puschel erschrocken von seiner Schulter flatterte. Als Kavel seinen Rucksack wieder geschultert hatte, machte Puschel es sich stattdessen auf seinem Kopf gemütlich. „Dann wollen wir doch mal sehen, ob ich ihn in Pyotr endlich finde. Wenn nicht, dann haben wir wirklich ein Problem, nicht wahr Puschel?“, lachte er nicht sehr überzeugt und zog seinen langen, braunen Mantel noch etwas enger um die Schultern. Im auffrischenden Wind raschelte das Laub in den Bäumen und herbstlich bunte Blätter wirbelten rasch über das Tal hinweg aufs offene Land zu. Dass dort nicht auch schon längst die Natur blühte und gedieh, wie an den Hängen dieser Berge, konnte sich Kavel nicht erklären, aber das war für ihn im Moment auch nicht so wichtig. Zwischen dem Blätterrauschen glaubte er Schritte gehört zu haben. Unsicher, ob er es sich vielleicht nur eingebildet hatte, drehte er sich um und da er niemanden sehen konnte, zuckte er nur mit den Schultern und machte sich an den Abstieg. Schließlich war von seinem Kopf ein regelmäßiges, leises 'Pu!' zu hören, was darauf hindeutete, dass Puschel friedlich schlief. Wenn Gefahr gedroht hätte, dann wäre er schon längst aufgeregt um ihn herum geschwirrt und hätte Geräusche gemacht, die einer Alarmanlage zum verwechseln ähnlich klangen. Der perfekte Gefahrendetektor, also. Vielleicht nicht ganz so perfekt, gestand sich Kavel in der nächsten Sekunde ein, da er sich plötzlich mit einem Messer an der Kehle wiederfand. Zu allem Übel konnte er seinen Angreifer noch nicht einmal sehen, da er hinter ihm stand und ihn so bedrohte. Er war es zwar gewöhnt unbeliebt zu sein, aber dass es für den Angreifer so einfach gewesen war ihn zu überraschen, kratzte doch schon gehörig an seinem Ego. „Elender Feigling.“, konnte sich Kavel ein gemurmeltes Kommentar nicht verkneifen, das allerdings einzig und allein seiner Frustration entsprang, dass er sich so leicht hatte übertölpeln lassen. „Was willst du hier, Fremder?“, fragte eine hohe Männerstimme grob. „Hier will ich nichts, aber in Pyotr habe ich durchaus geschäftliche Dinge zu regeln.“, war Kavels spitzfindige Bemerkung dazu. Nur weil er einmal nicht aufgepasst hatte, hieß das nicht gleich, dass er jedem, der ihn bedrohte, gleich sein Herz ausschüttete. Eine Pause in Puschels regelmäßigen Atemzügen und ein langgezogenes 'Pu!', ließen Kavel darauf hoffen, dass er aufgewacht war und ihm aus der Patsche helfen könnte, aber Puschel kuschelte sich noch ein bisschen mehr in seine Haare und schlief seelenruhig weiter. Indirekt hatte er Kavel aber doch zumindest eine Chance verschafft, denn das Messer, das Millimeter von seiner Kehle entfernt gewesen war, rutschte ein paar Zentimeter weg. Er packte mit beiden Händen zu und entriss es seinem Angreifer. Mit blutigen Händen, denn er hatte natürlich nur Klinge zu fassen bekommen, warf er es in Richtung Wald und drehte sich auf einen Angriff gefasst um. Aber es kam kein Angriff. Wie auch, denn hinter ihm stand ein Junge, der höchstens 15 Jahre alt war und ihn erschrocken anstarrte. Der Kratzer in seinem Ego wurde unwillkürlich zu einem feinen Riss und Kavel richtete sich mit wütend funkelnden Augen aus seiner Hab-Acht-Stellung wieder gerade auf. Er kam sich reichlich dämlich vor. Nur wegen einem Bengel der nicht wusste, dass man Männer, die mindestens zehnmal älter waren als er, mit Respekt zu behandeln hatte, anstatt sie hinterrücks anzugreifen. Er wollte gerade zu einer Standpauke anheben, als hecktisches Flügelschlagen und wiederholte ärgerliche 'Pu!'-Rufe davon zeugten, dass Puschel endlich aufgewacht war. „Ein bisschen spät, um mich zu warnen, meinst du nicht auch?“, fragte Kavel ziemlich angesäuert. Ein entrüstetes 'Pu!' war zu hören und er piekste Kavel mit seinem spitzen Schwanz direkt in die Mitte seiner Stirn. „Is ja schon gut. Ich weiß jetzt, dass er an sich nicht gefährlich ist, aber Dummheit kann auch ganz schön tödlich sein.“, war Kavels schmollende Antwort. „Wenn ich nur ein bisschen aufmerksamer gewesen wäre, dann hätte ich für nichts garantieren können.“, brummte er weiter, aber Puschel ließ nur ein zuckersüßes 'Pu!' verlauten und sah so aus, als würde er bis über beide Ohren Grinsen, obwohl Kavel weder Mund noch Ohren sehen konnte. „Ich lass mich viel zu sehr von dir beeinflussen.“, stellte er fest und musste unwillkürlich auch Grinsen. Als er sich wieder dem Jungen zu wandte, war sein Ärger verflogen, dafür musste er nun aber ein Lachen unterdrücken, als er dessen überraschtes Gesicht sah. „Ja, ich führe hin und wieder Selbstgespräche.“, lachte Kavel aufmunternd. Er vergaß manchmal, dass er der Einizge war, der Puschel sehen konnte und normalerweise entspannten sich die Leute sofort, wenn er seine Gespräche mit seinem Begleiter so zu erklären versuchte. Der Junge aber schien dadurch jedoch nur noch verwirrter zu sein. Ist wahrscheinlich die Pubertät, dachte Kavel bei sich und machte auf dem Absatz kehrt. „Ich muss jetzt langsam mal los, sonst erreiche ich Pyotr heute doch erst, wenn die Tore schon geschlossen sind.“, erklärte er und hob zum Abschied die Hand. Puschel flog eilig hinter ihm her. Er war gerade mal ein paar Schritte gegangen, als er hinter sich den Jungen rufen hörte. „Ich hoffe er will nichts wichtiges.“, seufzte Kavel und Puschel quittierte das mit einem aufmunternden 'Pu!'. „Ist gut ... ich werde mir anhören, was er zu sagen hat.“, antwortete Kavel gutmütig und zerzauste Puschel sein Fell. Der Junge hatte derweil zu ihnen aufgeschlossen. „Sie führen keine Selbstgespräche.“, begann der Junge nach einer Weile mit völliger Überzeugung. „Woher willst du das wissen?“, fragte Kavel, als der Junge beharrlich schwieg und weil er sich nicht sicher war, was er davon halten sollte. „Wie heißt es?“, kam die prompte Frage des Jungen, ohne auch nur auf Kavel einzugehen. Ohne nachzudenken sagte Kavel es ihm sogar und der Junge lachte. „Passt irgendwie, weil er eine ziemliche Fellkugel ist. Aber bei einem so erwachsenen Mann hätte ich nicht erwartet, dass es so einen ...“ Er stockte kurz, denn er schien nach dem richtigen Wort zu suchen, dass ihm aber offenbar nicht einfallen wollte. „ ... Namen hat.“, vollendete er stattdessen den Satz. Puschel stieß ein leicht beleidigtes 'Pu!' aus und flog demonstrativ auf Kavels andere Seite, die weiter von dem Jungen entfernt war. Das brachte ihn dazu noch mehr zu lachen und Kavel musste lächeln. „Es ist unmöglich ihn anders zu nennen, denn er heißt schon so, seit wir uns getroffen haben. Ich hab ihn ihm gegeben als ich fünf war, daher ist es nicht groß verwunderlich, dass er diesen Namen behalten möchte.“ Plötzlich stockte Kavel mitten im Schritt. „Wieso erzähle ich dir das eigentlich alles?“, fragte er misstrauisch und für Sekundenbruchteile sah der Junge so aus, als wäre er beim stehlen erwischt worden. „Wer bist du überhaupt?“, machte Kavel seinem Unmut luft. „Ich bin Simon und lebe allein in diesen Wäldern.“, war die prompte Antwort des Jungen, als hätte er darauf gewartet, dass Kavel das fragte. Dabei machte er ein Gesicht, als wäre er die Unschuld in Person. Kavel sah ihn ein wenig schief an und auch Puschel ließ ein skeptisches 'Pu!' verlauten. „Das ist vollkommen an den Haaren herbeigezogen.“, sagte Kavel entschieden und als der Junge seine Behauptung bekräftigen wollte, fuhr er unbeeindruckt fort: „Außerdem wird dein Engel rot, wenn du lügst, hat dir deine Mutter das nicht beigebracht?“ Erschrocken biss er sich auf die Unterlippe und schritt ein wenig schneller aus. Wieso zum Geier erzählte er dem Jungen das alles? Vielleicht waren die Geschichten über Pyotr doch wahr, überlegte er und wurde wieder etwas langsamer. Dann bemerkte er, dass der Junge ihn mit begeistert leuchtenden Augen ansah. „Was ist?“, fragte Kavel daher verwirrt. „Du kannst ihn wirklich sehen?“ Der Junge tanzte fast vor Begeisterung. „Wen?“, versuchte Kavel sich zu retten. Wie oft hatte er als kleines Kind versucht zu erklären, dass die Legenden über die Engel und Dämonen wahr waren. Mittlerweile hatte er seine Lektion zur Genüge gelernt, aber der Junge ließ nicht locker. „Na meinen Engel! Dann kannst du meinen Dämonen doch sicher auch sehen, oder?“, fragte er aufgeregt. Kavel seufzte ergeben und wenn er so darüber nachdachte, dann konnte es nicht schaden mal mit jemandem über diese Dinge zu sprechen, die ihm unter anderem seine einsame Wanderung eingebrockt hatten. „Ja ich kann sie sehen. Den Engel und den Dämonen, die bei deiner Geburt mit auf die Erde geschickt wurden, um auf dich aufzupassen.“, sagte er deshalb mit leicht spöttischem Unterton und zerzauste dem Jungen sein kurzes braunes Haar. Er hoffte inständig, dass dieser dadurch endlich von diesem Thema ablassen würde. Aber da hatte er sich getäuscht. Mit Bewunderung über sein gesamtes Gesicht geschrieben fragte der Junge munter weiter. „Kannst du deine eigenen Beschützer auch sehen?“ Kavel zuckte kurz zusammen und blieb dann stehen. Der Junge konnte es nicht wissen, aber damit hatte er einen wunden Punkt getroffen. Genau ins Schwarze. „Was ist?“, fragte der Junge und blieb verwirrt ebenfalls stehen. „Das ist ... eine komplizierte Geschichte.“, versuchte Kavel auszuweichen und schaute stur ins Tal hinab, weil er sich nicht daran erinnern wollte. Zu verwirrt, um etwas zu sagen, schwieg der Junge und als das Schweigen richtig unangenehm zu werden drohte, setzte sich Puschel auf Kavels Schulter und stupste ihn leicht an. Kavel seufzte resignierend und ließ sich auf den Boden Plumpsen. Dabei nahm er den Blick jedoch nicht eine Sekunde von der Stadt, die zum greifen nah zu sein schien. „Puschel ist zum Teil mein Engel und mein Dämon.“, begann er schließlich mit fester Stimme zu erzählen. Der Junge sah ihn verständnislos an und machte den Mund zu einer Bemerkung auf, aber Kavel ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Sei still und setz dich hin. Das hier kann ziemlich dauern.“, wies er den Jungen etwas grob an. „Es war nicht immer so. Am Anfang war ich ein ganz normales Baby mit einem Engel und einem Dämon als Beschützer, wie jeder andere Mensch auch. Mich unterschied nichts von anderen Neugeborenen. Dazu sollte ich dir vielleicht sagen, dass jedes Baby seine Patronen sehen kann, bis es anfängt sprechen zu lernen. Bei uns hat es nie wirklich aufgehört ...“ Irritiert hakte der Junge noch einmal nach, obwohl Kavel ihm gesagt hatte, dass er still sein solle. „Uns? Wer war denn noch betroffen?“ Ein Schauder durchlief Kavel. Er hatte schon wieder etwas gesagt, was er eigentlich niemandem hatte erzählen wollen. Ob es an diesem Jungen lag, überlegte er. Er verwarf die Idee sofort wieder, denn sowas war schließlich ziemlich unmöglich. Da er es aber nun schon einmal erwähnt hatte, war es sowieso egal. „Ich habe einen Zwillingsbruder, musst du wissen.“, erklärte er und lächelte sanft. Dann wurde er wieder ernst. „Wir erzählten sogar immer von ihnen und am Anfang war das auch noch nicht weiter schlimm. Unsere Eltern taten es immer als Überschuss an Fantasie ab, die ihre Kinder besaßen. Besonders, weil wir die Legende bis dahin jeden Abend zum Einschlafen gehört hatten.“ Er verzog das Gesicht zu einem bitteren Lächeln. „Die Probleme fingen an, als wir Fünf wurden. Wahrscheinlich schon vorher, aber ich weiß noch, wie wir am Tag nach unserem Geburtstag im Wald gespielt haben. Die Nachbarskinder kamen angelaufen und haben uns nach den Engeln und Dämonen gefragt. Wir haben ihnen natürlich auch erzählt, dass wir sie sehen können, aber sie haben uns ausgelacht. Ich war schon immer etwas aufbrausender, als mein Bruder und habe die Kinder beschimpft, weil sie sich über mich und meinen Bruder lustig machten.“ „Was passierte dann?“, fragte der Junge neugierig. Er hatte sich mittlerweile neben Kavel gesetzt und beobachtete ihn von der Seite. „Ich habe mich mit ihnen geprügelt. Wie das kleine Jungs nun mal so machen.“, antwortete er, aber das bittere Lächeln war immer noch nicht aus seinem Gesicht verschwunden. Trotzdem wagte der Junge einen Aufmunterungsversuch. „Das hab ich auch immer gemacht, als ich noch klein war.“, sagte er und lachte verlegen. „Nur dass bei deinen Prügeleien wahrscheinlich nie jemand ernsthaft verletzt wurde, oder?“, fragte Kavel gutmütig, aber trotzdem mit einem Unterton, der dem Jungen eine Gänsehaut über den Körper jagte. „Die Nachbarskinder haben meinen Bruder eine steile Böschung hinab geschubst, weil er sich nicht wehren wollte. Im Gegensatz zu mir, hat er anderen nicht gerne weh getan. Es war zwar ein Versehen, aber als ich meinen Bruder gefunden habe, lag er im Sterben.“ „Das konnte ich nicht zulassen, denn schließlich war er der Einzige, der mir etwas bedeutete und der mich verstand. Natürlich habe ich meine Eltern auch geliebt und sie mich, aber das war nicht dasselbe. Er ist wie mein zweites Ich.“ „Das bedeutet er lebt noch?“, unterbrach der Junge ihn aufgeregt und Kavel nickte. „Ein Glück.“, seufzte er, was Kavel ein wenig verwirrte. Bis jetzt hatte ihm noch nie jemand so intensiv zugehört, wenn er über sich gesprochen hatte. Aber bei dem Jungen hatte er das Gefühl, dass er ihm vertrauen konnte und das dieser ihn ernst nahm, obwohl er wesentlich jünger war, als Kavel. Vielleicht sogar gerade deswegen. „Ja er ist noch am Leben, aber das war gar nicht so einfach, wie du es dir jetzt vielleicht vorstellst, denn mitten im Wald gab es niemanden, der ihm hätte helfen können und ich war genau wie er erst fünf Jahre alt. Unsere Engel und Dämonen haben ihn gerettet, aber dafür haben sie sämtliche ihrer Fähigkeiten eingebüßt und dadurch konnten sie noch nicht einmal ihre eigenen Astralkörper aufrecht erhalten.“ Kavel lächelte leicht amüsiert. „Deswegen haben sie sich zu diesem Wollknäuel zusammengetan.“, setzte er hinzu und deutete auf Puschel. Dieser piekste ihn beleidigt mit seinem Dämonenflügelchen, sparte es sich aber, seinen Schwanz einzusetzen. Kavel lehnte sich ein Stück zurück und stützte sich mit den Händen auf dem erdigen Boden ab. „So.“, begann er. „Ich habe dir so viel über mich und meine Vergangenheit erzählt, dass du jetzt an der Reihe bist.“, fuhr er fort und sah den Jungen direkt an. Der machte nur ein enttäuschtes Gesicht. „Aber die Geschichte ist doch noch gar nicht richtig zu Ende.“, protestierte er, aber Kavel schüttelte mit dem Kopf. „Fangen wir am besten mit deinem richtigen Namen an. Ich bin Kavel. Und denk dran, dass ich es deinem Engel ansehen kann, wenn du lügst.“, ergänzte er mit erhobenem Zeigefinger, aber gutmütigem Gesichtsausdruck. „Also gut.“, gab sich der Junge geschlagen. „Mein richtiger Name ist Varitaä. Ganz früher hieß ich zwar Damareth, aber jeder der nach Pyotr kommt und anfängt dort zu leben, bekommt einen neuen Namen, der besser zu ihm passt. Ich wurde Varitaä genannt, weil ich dazu in der Lage bin, Menschen dazu zu bringen nur noch auf ihren Engel zu hören. Da der natürlich niemals lügen würde, bedeutet das, dass mir immer die Wahrheit erzählt wird.“, erklärte er und hatte damit die Frage beantwortet, mit der Kavel ihn hatte unterbrechen wollen. Deswegen hatte er diesem kleinen Bengel also alles erzählt, dachte Kavel bei sich und knirschte mit den Zähnen. Zumindest hatte er seine eigenen Methoden, um zu erkennen, ob Varitaä log oder nicht, sonst hätte er sich jetzt ernsthaft gefragt, ob es richtig gewesen war, dem Jungen zu vertrauen. Aber schließlich hatte Puschel ihn auch für ungefährlich befunden, weswegen er sich nicht weiter mit dieser Frage beschäftigte. „Warum hast du mich dann angegriffen, wenn du die Wahrheit so oder so erfahren hättest?“, fragte er dann, als ihm diese scheinbare Unstimmigkeit auffiel. Varitaä sah traurig auf die Stadt hinab. „Ich habe schon ein paar Menschen erlebt, die ihren Engel gar nicht mehr gehört haben, deswegen musste ich erst überprüfen, ob du auch so geworden bist oder nicht.“, sagte er dann. „Deswegen hast du dein Leben riskiert?“, stieß Kavel überrascht aus und Varitaä nickte. „Sonst kann ich meinen Job nicht erfüllen. Ich bin dafür zuständig die Wanderer in den Bergen auf ihre Vertrauenswürdigkeit und eventuelle Fähigkeiten zu überprüfen. Pyotr ist die Stadt der Außenseiter, aber wir sind trotzdem vorsichtig.“ „Das bedeutet, du arbeitest in so jungen Jahren schon für die Stadt?“, fragte Kavel noch einmal nach. „Nicht für die Stadt.“, antwortete er mit einem Kopfschütteln. Dann deutete er auf den riesigen, gläsernen, ovalen Turm in der Mitte der Stadt. „Ich arbeite für die LL-Corp., so wie jeder, der in Pyotr leben möchte. Die LiveLife-Corporation nimmt zwar nur Menschen mit besonderen Fähigkeiten auf, aber das dürfte für dich sicher kein Problem darstellen.“, versuchte er die ernste Stimmung aufzulockern und lachte. „Also ist das tatsächlich die LL-Corp.?“, fragte Kavel überrascht und starrte auf den Turm. Tatsächlich ware ganz oben an dem Gebäude eine riesige Leuchtschrift zu sehen, die in großen, leuchtenden Lettern 'LIVE LIFE LL-Corp.' verkündete. Warum hatte er das nicht schon früher gesehen, fragte er sich verblüfft, ehe ihm auffiel, dass es bereits zum Abend dämmerte und deswegen die Leuchtreklame schon angeschaltet worden war. „Verdammt.“, fluchte er und sprang hastig auf. Er wollte eigentlich sofort los, aber er wollte den Jungen nicht einfach so alleine lassen. „Musst du hinunter in die Stadt?“, fragte er also und Varitaä nickte überrascht. „Ich muss Bericht erstatten, aber bis die Tore schließen schaffen wir es wahrscheinlich sowieso nicht bis ganz nach unten.“ Kavel tat das mit einer wegwerfenden Bewegung ab, schnallte sich den Rucksack auf den Bauch und bedeutete dem Jungen auf seinen Rücken zu klettern. „So geht es schneller.“, erklärte er und der Junge tat wie geheißen. „Mach dich auf einen schnellen Flug gefasst. Du auch Puschel.“, rief Kavel noch, bevor er sich von der Kante des Steilhangs abstieß und in die Tiefe stürzte. Vor Schreck klammerte sich Varitaä noch etwas fester an Kavel und die Tränen traten ihm in die Augen. Dann war ein leises Ratschen zu hören und durch das Leder von Kavels braunem Mantel kamen zwei schneeweiße Flügel hervor. Es schien nicht das erste Mal zu sein, dass er so etwas tat, denn der Mantel ließ um die Flügel herum nur saubere Einschnitte und sorgfältig gemachte Nähte erkennen. Das ratschende Geräusch war von den dünnen Fäden gekommen, die die Schlitze im Mantel zusammen gehalten hatten. Der Wind rauschte in Kavels Ohren und Puschel hielt mühelos mit ihm mit. Es war jedes Mal ein unglaubliches Gefühl so durch die Luft zu fliegen, aber jetzt war keine Zeit das zu genießen. Er musste sich beeilen. Trotzdem landete er so weit von den Toren entfernt, wie er verantworten konnte. Er musste ihn unbedingt überraschen. „Wow.“, staunte Varitaä und zeigte begeistert auf die weißen Dämonenschwingen auf Kavels Rücken, die dieser schnell wieder verschwinden ließ. „Das ist ja total abgefahren.“, staunte er weiter und schien eine Erklärung zu erwarten. Erschöpft strich sich Kavel ein paar widerspenstige Haarsträhnen aus dem Gesicht und legte den Kopf in den Nacken. „Das ist auch passiert, als wir versucht haben Inomar zu retten.“, sagte er gerade so laut, dass der Junge ihn noch hören musste. „Ihm wurden dabei ein Teil meiner Lebenskraft und der größte Teil der Astralkräfte meiner Begleiter übertragen. Eigentlich hätte er noch den größten Teil der Astralkräfte seiner eigenen Begleiter übertragen bekommen sollen, aber irgendwie sind diese auf mich übergegangen, anstatt auf ihn. Deswegen kann ich diese Flügel materialisieren.“ Varitaä schnappte entgeistert nach Luft. „Dein Zwillingsbruder hieß früher Inomar?“ Kavel sah den Jungen erstaunt an. Er hätte erwartet, dass er ihn nach weiteren Fähigkeiten fragte oder sogar ob sonst noch irgendwelche Nebenwirkungen bei dieser Rettungsaktion aufgetreten waren, aber nicht, dass er seinen Bruder sogar zu kennen schien. „Du hast schon mal von meinem Bruder gehört?“, hakte er deshalb überrascht nach. „Von ihm gehört ist untertrieben.“, ereiferte sich der Junge mit entgeistertem Gesichtsausdruck und leuchtenden Augen. Fast als könne er es nicht glauben, dass Kavel noch nichts davon wusste, begann er zu erklären: „Er hat den Namen Printzeps angenommen und ist innerhalb kürzester Zeit der Chef der LL-Corp. geworden. Ich war damals auch der Wächter dieser Straße, als Inomer hierher gekommen ist, weshalb ich auch noch seinen richtigen Namen kenne. Aber ich hab nie gesehen, wie er aussieht, deswegen wäre mir nie aufgefallen, dass ihr Zwillingsbrüder seid. Vor allem, weil er damals einen Kopf kürzer war als ich.“ Er machte eine Pause und starrte plötzlich mit aufgerissenen Augen auf Puschel, als wäre ihm gerade etwas Wichtiges wieder eingefallen. „Er hatte auch so ein Flattertier wie Puschel dabei.“, rief er aufgeregt. „Daran hätte ich es erkennen müssen. Aber es hatte die Flügel anders herum angeordnet und das Fell war nicht braun wie bei Puschel, sondern gelb.“, erzählte er eifrig weiter. „Kann er auch Flügel materialisieren?“, kam prompt noch eine unverhohlen neugierige Frage hinterher. Kavel musste unwillkürlich lachen. „Du machst deinem Namen alle Ehre mit deiner ungezügelten Neugier. Aber ich erzähle es dir trotzdem.“, lenkte er grinsend ein. „Zuerst einmal ist aber die Fellfarbe von den Jahreszeiten abhängig. Zu jeder Jahreszeit ist die Astralenergie ein bisschen anders. Der Fellfarbe nach zu urteilen ist Inomar also im Frühling angekommen.“ Varitaä nickte eifrig mit dem Kopf. „Er ist vor anderthalb Jahren hierher gekommen.“ „Und was ist jetzt mit den Flügeln?“, wollte der Junge beharrlich wissen, obwohl Kavel gehofft hatte um eine Antwort herum zu kommen. „Er kann tatsächlich auch Flügel materialisieren.“, antwortete er deshalb. „Aber im Gegensatz zu meinen bestehen seine Flügel aus Federn ...“ Er unterbrach sich überrascht, denn als wären seine Worte ein geheimes Zeichen gewesen, wirbelten ein knappes Dutzend pechschwarzer Federn über sie hinweg. Der Nacht entgegen. Er blickte in die Richtung aus der sie heran geweht worden waren und tatsächlich war hoch oben in einem hell erleuchteten Fenster der LL-Corp. die Silhouette eines schwarzen Engels zu erkennen, um dessen Kopf aufgeregt ein kleines Wesen flatterte. „Bruder!“, entfuhr es Kavel zwischen zusammengebissenen Zähnen. Wie zur Antwort barst das Glas des beleuchteten Zimmers in tausend Splitter, die glitzernd auf die Erde zu rasten. Fluchend materialisierte Kavel seine weißen Dämonenflügel, ging in die Hocke und stieß sich mit einem kraftvollen Flügelschlag vom Boden ab. Inomars Anblick hatte ihn alles um sich herum vergessen lassen, sodass sich Varitaä mit einem Hechtsprung in Sicherheit bringen musste, um nicht durch die Flügel davon geschleudert zu werden. Der schwarze Engel breitete derweil seelenruhig seine Schwingen zu voller Größe aus, als wolle er seine Übermacht demonstrieren. Die Aufwinde um den Turm herum nutzend ließ sich Kavel erst dicht an der Glasfront nach oben tragen. Als er den schimmernden Scherbenregen auf sich zurasen sah, hob er schützend eine Hand vor die erwartungsvoll geschlossenen Augen. Schmerzhaft rissen viele Splitter blutige Spuren in seine Haut, aber jeder Splitter, der ihn oder seine Flügel berührte, wurde zu einer Distelblüte. Der Raum in dem der schwarze Engel stand war nun nicht mehr weit. Wie in Zeitlupe, sah Kavel seinen Bruder in einem langen Kapuzenumhang langsam und mit voll ausgebreiteten Flügeln nach vorne kippen. Kurz bevor er ihm entgegenstürzte, konnte Kavel für Augenblicke sein Gesicht erkennen. Es war eine furchtbare Fratze aus Verachtung und Vorfreude. Kavels Augen fingen an zu Tränen. Ob wegen des Anblicks oder des Flugwinds, der auch an seinen Kleidern zerrte, wusste er nicht. Dann prallten sie mit ungeheurer Kraft aufeinander. Die Hände ineinander verkrallt, versuchten beide den anderen mit sich zu reißen, aber keinem gelang es die Oberhand zu gewinnen. Eine Schockwelle jagte durch das Tal und ließ überall Blätter wild durch die Luft wirbeln. „Du hast es doch tatsächlich geschafft deine Astralmagie zu verbessern, Brüderchen. Meinen Glückwunsch.“, höhnte der schwarze Engel mit einem bösen Lächeln. „Vergiss nicht, dass ich der Ältere bin, Inomar! Irgendwer muss schließlich auf dich aufpassen.“, gab der weiße Dämon sarkastisch zurück und grinste ein wenig schief. Inomars Lächeln verschwand abrupt. „Du hast auf mich aufgepasst? Dass ich nicht lache. Wem habe ich es denn zu verdanken, dass ich jetzt so bin? Meine Seele konntest du zwar retten, aber bei meinem Körper ist ja wohl einiges schief gegangen!“, schrie er seinem Bruder mit einer Stimme entgegen, die sich anhörte wie ätzende Säure. Um die beiden Brüder wirbelte ein heftiger Wind und ließ ihre Kleidung wild hin und her flattern. Im letzten Licht der Sonne reflektierten sich weiße Knochen in der Glasfront der LL-Corp.. Plötzlich riss der Wind die Kapuze von Inomars braunem Umhang zurück und ein Totenschädel kam zum Vorschein, der Kavel mit seinen blauen Augen vorwurfsvoll anstarrte. Er trug genau die gleichen Ohrringe, wie sein Bruder, denn schließlich hatten sie diese Ohrringe damals zusammen ausgesucht und sich gegenseitig geschenkt. Kavels Herz zog sich schmerzhaft zusammen und er verlor für Sekunden seine Konzentration. Sein Sichtfeld begann vor ihm zu verschwimmen, als Inomar seine Hände mit einem triumphierenden Schrei in seine Schultern bohrte und ihn mit sich in die Tiefe zerrte. „Wenn ich gewusst hätte, dass das passieren würde, hätte ich es trotzdem getan.“, flüsterte Kavel mit belegter Stimme. „Du bist der Einzige für den ich sogar mein Leben geben würde.“ Seine Worte wurden unbarmherzig durch den vorbei brausenden Flugwind von seinen Lippen gerissen und lösten sich auf, bevor sie Inomar erreichen konnten. Durch ein leichtes Zupfen an seinem Zopf merkte Kavel, dass Puschel und sogar Inomars Begleiter Flesch bei ihnen war. Obwohl die Brüder rasant dem Boden entgegen stürzten, hielten sie mühelos mit ihnen mit. Sie sahen ihn erwartungsvoll an und er lächelte gutmütig zurück. Kavel nickte und die beiden ergriffen Inomars Handgelenke, während er ihm ein letztes Mal in die Augen sah, bevor er seine schloss. Inomar schien verwirrt zu sein, aber jetzt war es an der Zeit, dass er seinen Fehler wieder gut machte, das wusste Kavel. Sie wurden langsamer, als Puschel und Flesch begannen sie wieder nach oben zu ziehen. Inomar konnte nichts dagegen tun, denn schließlich waren sie ihre Beschützer. Gute fünf Stockwerke über dem Boden löste Kavel seine Flügel auf, was ihn mit einem Ruck aus dem Griff seines Bruders befreite. Er hätte mit Leichtigkeit seine Flügel wieder materialisieren können, aber das war nicht im Plan inbegriffen. Mit einem traurigen Lächeln formte er Worte des Abschieds, als er unaufhaltsam weiter in die Tiefe stürzte. Das Letzte, was er sah, bevor er auf dem Boden aufschlagen konnte, war ein gleißendes Licht, das ihn umhüllte und mit seinem Bruder verband. „Nur einen kleinen Finger will ich behalten. Dieser eine egoistische Wunsch ist mein letzter. Versprochen.“, flüsterte er, bevor ihn endgültige Finsternis umgab. Ein sanfter Wind wehte den Weg entlang, über den er vor langer Zeit gekommen war. Oben auf der Kante der Steilhänge angekommen blickte er noch einmal auf seine LL-Corp. zurück. Sie war in guten Händen, das wusste er. Die langen, dunkelgrünen Haare wehten ihm ins Gesicht, als eine frische Brise aus dem Tal zu ihm herauf wehte und seine langen Ohrringe begannen leise zu klingeln. „Na sowas! Gehst du etwa schon wieder?“, fragte eine helle Männerstimme hinter ihm und er drehte sich verwundert um. „Kennen wir uns?“, fragte er den Jungen unsicher. „Ich bin's, Varitaä! Schon vergessen?“, begann der Junge und stemmte die Hände in die Hüften. „Dass du mich gestern vor den verschlossenen Toren der Stadt zurückgelassen hast, wollte ich dir ja verzeihen. Aber wenn du so ein schlechtes Gedächtnis hast, dann brauche ich mir ja keine Mühe zu geben.“, sagte er mit schmollendem Unterton. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Das war der Junge, der den Bergpass überprüfte. Er lächelte etwas unbeholfen. „Ja ich gehe. Tut mir Leid, aber ich werde hier nicht länger gebraucht.“, versuchte er auszuweichen und wandte sich zum Gehen. „Wo hast du Puschel gelassen?“, versuchte der Junge ihn noch überrascht zurück zu halten, aber er ging einfach seelenruhig weiter. „Kavel? ... Kavel!“, rief der Junge hinter ihm her, aber er hörte nicht, denn sein Name war nicht Kavel. „Ich bin sein Zwillingsbruder.“, flüsterte er stolz, als er zwischen seinem Engel und seinem Dämon, die nur er sehen konnte, auf die Bäume zuschritt. Dabei drückte er seine rechte Hand fest an seine Brust. An sich war daran nichts besonderes, außer, dass der kleine Finger ab dem obersten Gelenk abwärts nur Knochen war. Kapitel 5: Die mitternachtsblaue 'SternAdler' --------------------------------------------- Da stand sie nun auf der Brücke und konnte ihr Glück immer noch nicht wirklich fassen. Sie hatte es tatsächlich geschafft zur Mannschaft des berühmtesten Sternenkreuzers der Galaxien zu gehören; der stolzen 'SternAdler', die gemeinhin als mitternachtsblaue 'SternAdler' bekannt war. Aber nicht nur das tiefe Blau der Außenhülle war beeindruckend, sondern auch die Wendigkeit, die sie trotz ihrer Größe immernoch besaß, erstaunte Laura jedes mal von neuem. Ganze 500 Passagiere passten in die Unterkünfte in ihrem -bauch und darin waren die der Mannschaft noch nicht einmal mit eingerechnet. „Irgendetwas außergewöhnliches zu berichten?“, forderte der Kapitän die Verantwortlichen seiner Crew auf, die vor ihm aufgereiht auf der Brücke standen. Auch Laura war eine davon und sie machte sich vor Stolz noch ein bisschen größer, als sie eigentlich war, was ihr als erste Copilotin niemand wirklich übel nahm, da dies der dritt-höchste Rang auf der 'SternAdler' war. Über ihr standen nur noch der Pilot selbst und Kapitän Mirano. Kapitän Mirano sah Laura fragend an und als sie mit einem bestimmten, aber ruhigen „Nein, Kapitän.“ antwortete, nickte er zufrieden. „Schön, dass Sie sich schon so gut eingearbeitet haben.“, fügte er noch an und schritt ein Stück zur Tür. „Dieser Herr hier wird für diesen Flug unser Pilot sein.“, stellte er einen Mann vor, den Laura bis dahin noch gar nicht bemerkt hatte. Als sie ihn betrachtete, fragte sie sich unwillkürlich, wie dieser Mensch Pilot hatte werden können, da er mit seiner leicht gebeugten Haltung keinerlei Selbstbewusstsein ausstrahlte. Außerdem fielen ihm seine braunen, leicht gewellten Haare in dichten Strähnen über die Augen, sodass er sicher kaum etwas sehen konnte. Aber zur Frage um den Piloten hatte sie nichts zu sagen. Das war allein die Entscheidung des Kapitäns und der Flugverwaltung. Also hörte sie dem Kapitän weiter aufmerksam zu. „Er ist das erste mal auf der 'SternAdler', aber ich bin sicher, dass er sich schnell eingewöhnen wird, auch wenn dieses Schiff etwas besonderer ist, als alle anderen Sternenkreutzer.“ Bei diesen Worten musste Laura zustimmend lächeln, denn die 'SternAdler' hatte als einziges Passagierschiff eine eigene Intelligenz, die eigenhändig von Kapitän Mirano kalibriert worden war. Dadurch war die 'SternAdler' einem Menschen durchaus ebenbürtig(, was ihre Spannweite an emotionalem Verständnis anbelangte). Das alles war nur möglich, da der Kapitän eines Schiffes so gut wie nie ausgetauscht wurde und sein gesamtes Schiff in und auswendig kennen musste, im Gegensatz zur restlichen Crew. Insbesondere aber die Piloten waren selten zweimal hintereinander mit demselben Sternenschiff unterwegs, da sie flexibel bleiben mussten, was Laura nur hoffen ließ, dass dieser Flug wohl ihr einziger mit diesem Piloten blieb. Beschämt fiel ihr auf, dass sie seinen Namen verpasst hatte und stupste Manuela, die zweite Copilotin die neben ihr stand, leicht an. „Was?“, flüsterte sie ein wenig verärgert. „Wie hieß unser Pilot?“, flüsterte Laura schuldbewusst zurück, woraufhin ihr Manuela einen verärgerten Blick zuwarf. „Paul heißt er.“, antwortete sie sofort, da sie Lauras Schwäche, sich Namen merken zu können, schon kannte. Genauso wie Laura wusste, dass Manuela niemals 'Nein' zu Schokolade sagen konnte, was sich auch dezent an ihrer Figur äußerte. Aber hauptsächlich lag es daran, dass sie schon mehrere Male zusammen auf einem Schiff gearbeitet hatten. Manuela wandte ihren Blick wieder dem Kapitän zu. „Paul also.“, flüsterte Laura zu sich selbst und musste sich ein Lachen verkneifen, da sie so einen altertümlichen Namen schon lange nicht mehr gehört hatte. Aber als erste Copilotin grinste sie nur in sich hinein und lächelte Kapitän Mirano und den Piloten Paul freundlich an. „Da nun alle Formalitäten geklärt sind, können wir endlich ablegen und Kurs auf Tisiphonia nehmen. Sobald wir auf Kurs sind, sehe ich Sie alle bei der üblichen Passagieransprache der 'SternAdler'. Und nun auf Ihre Plätze, damit wir heute noch ankommen.“, endete er und lachte über seinen Witz, den alle mit einem Grinsen würdigten und sich dann an die Arbeit machten. Als das Schiff ruhig dahin glitt, wurden die Passagiere benachrichtigt, dass nun die Ansprache des Kapitäns statt finden würde und alle versammelten sich in der riesigen Haupthalle im Bug des Schiffes, über deren hinteren Teil sich die Brücke spannte. Durch ein deckenhohes Fenster konnte man entfernte Planeten und Sterne inmitten der unendlichen Finsternis erkennen und direkt davor befand sich im Boden eine Erhebung, zu der sich Laura und Manuela, Kapitän Mirano und Paul voran, zu bewegten. Rechts und links davon blieben sie stehen und der Kapitän stieg hinauf auf das Podest, wobei Paul zunächst unten stehen blieb. „Meine Damen und Herren. Es freut mich, dass Sie sich heute dazu entschlossen haben mit der mitternachtsblauen 'SternAdler' zu fliegen.“ Tosender Applaus brandete auf und Laura ließ ihren Blick über die Menge schweifen. Wie es aussah, waren tatsächlich sämtliche Passagiere anwesend, was sie nur zu gut nachvollziehen konnte, denn sie wartete auch schon aufgeregt auf den Höhepunkt der Rede. „Zunächst möchte ich Ihnen Ihren heutigen Piloten vorstellen; Paul Paulsen wird Sie heute nach Tisiphonia fliegen.“, verkündete der Kapitän und im allgemeinen Gemurmel musste Laura sich abermals ein Lachen verkneifen. Die Paulsens waren eine sehr einflussreiche Famile, das musste sie zugeben, aber sie hatte sie noch nie um ihren so altertümlichen Nachnamen beneidet. Dass sie ihr Kind dann auch noch Paul genannt hatten, war wirklich zu komisch und sie merkte, dass es Manuela da nicht anders ging, als sich ihre Blicke kurz trafen. Dann endlich war Kapitän Mirano beim Höhepunkt der Rede angelangt: „Und nun möchte ich Ihnen 'SternAdler' vorstellen, meine Damen und Herren.“, kündigte er an und hob theatralisch die Hände. Laura und Manuela hatten sich neugierig umgedreht, denn so ein Spektakel wollen sie nicht verpassen. Blaue Linien begannen sich durch das Fenster zu ziehen und ein paar Augen zu bilden. Sekunden später war ein hübsches Gesicht aus blauen Linien zu erkennen, das von langem welligen und ebenfalls blauem Haar umgeben war. „Sind sie das, Mirano?“, fragte eine helle und unverkennbar weibliche Stimme von überall her. Laura verstand die Frage nicht ganz, aber sie wunderte sich nicht darüber, da die blaue Erscheinung in diesem riesigen Fenster einfach unglaublich war. „Ja das sind sie.“, verkündete der Kapitän mit einem seltsamen Unterton in der Stimme und brach plötzlich in höhnisches Gelächter aus, wobei er dir Arme immernoch theatralisch in die Höhe hielt. Das Lachen des Kapitäns jagte Laura eine Gänsehaut über den Rücken und sie schaute verunsichert zu Manuela hinüber. „Gehört das mit dazu?“, fragte sie, aber Manuela war auch noch nie auf der 'SternAdler' gewesen und zuckte nur die Achseln. Dann begann der Boden zu Beben und allgemeine Unruhe machte sich breit. Hinter dem Kapitän loderten auf einmal Flammen aus dem Boden und Laura war sich mit einem Blick auf den völlig verstörten Piloten und den mittlerweile hysterisch lachenden Kapitän sicher, dass dies nicht mehr zur Demonstration dazu gehörte, sondern bitterer Ernst war. „Manuela!“, rief sie entsetzt. „Versuch die Passagiere in den hinteren Teil der Halle unter der Brücke zu bringen, bevor die Schutzbarriere aktiviert wird.“ Manuela nickte und rannte los, während Laura auf das Podest hastete und den Kapitän am Kragen ergriff. „Was tun Sie da?“, verlangte sie entrüstet von ihm zu erfahren, doch er kicherte nur und hauchte ihr mit einem fast irren Blitzen in den Augen zu: „Ich bringe alle Zeugen um und fliehe mit meiner Kleinen ans Ende der Galaxie. Dort wird sie mir keiner wegnehmen.“ Dann kicherte er noch einmal und wandte sich zur 'SternAdler'. Die Flammen loderten heller und breiteten sich langsam aus. Entsetzt stand Laura noch eine Weile neben ihm, unfähig sich zu bewegen, aber in ihrem Kopf arbeitete es bereits. Solange der Kapitän auf dem Schiff war, würde es das tun, was der Kapitän verlangte, es sei denn der Pilot äußerte Zweifel. Ruckartig drehte sie sich Paul zu. „Unternehmen Sie etwas.“, schrie sie ihn über die mittlerweile ausgebrochene Panik hinweg an, doch er sackte nur etwas weiter in sich zusammen. Mit einem ungläubigen Schnauben blickte sie diesen unfähigen Piloten noch einmal in die Augen und sprang dann abrupt vom Podest. Sollten die Zwei doch zusehen, wo sie blieben, denn so viel Güte für einen wahnsinnig gewordenen und einen Feigling hatte sie dann doch nicht mehr übrig. Sie fand Manuela, wie sie mit vier uniformierten Männern versuchte die Passagiere zum hinteren Teil der Halle zu bewegen. „Die Schutzbarriere ist schon oben.“, rief sie Laura zu und sie blickte erschrocken in die Richtung, in die Manuelas Arm wies. Laura hätte nie gedacht, dass sie die rötlich schimmernde Materialisierung der Barriere einmal so erschrecken würde, denn eigentlich war sie, wie der Name schon andeutete, zum Schutz der darin befindlichen gedacht. In ihrem Inneren konnte die künstliche Intelligenz jegliche Transformation vornehmen, solange es sich dabei um keinen lebenden Organismus handelte, was den vorderen Teil der Halle absolut sicher machte. Es sei denn die KI selbst wollte seine Passagiere liquidieren. Sie zwang sich wieder Problemorientiert zu denken. „Wie lange schon?“, fragte sie mit bebender Stimme. „Eine Minute vielleicht.“, antwortete Manuela gefasst und Laura wurde ein wenig ruhiger. „Gut, dann bleiben uns noch vier Minuten, um zu den Türen zu gelangen. Du nimmst die linke Tür und ihr zwei ...“ Damit wandte sie sich an zwei der vier Männer, die Manuela zu helfen versucht hatten. „... bahnt ihr so schnell wie möglich einen Weg dorthin.“, wies sie sie in Befehlston an, doch sie schienen widersprechen zu wollen. „Der Kapitän ist gerade unpässlich und unser Pilot leider ebenso.“, kam sie ihnen zuvor. „Dementsprechend habe ich momentan die Verantwortung für diese Passagiere, also geht endlich, bevor die Türen verschlossen sind.“, fügte sie ungeduldig hinzu und winkte die übrigen zwei Männer zu sich, die augenblicklich begannen ihr einen Weg zu der anderen Tür zu bahnen. Hastig sah sie auf ihre Armbanduhr und sie hoffte, dass die KI nicht zu schnell merkte, was sie vor hatten, denn die Schutzbarriere war nicht direkt bei ihrer Aktivierung komplett geschlossen. Am Boden waren zwei Schiebetüren eingerichtet, die sich automatisch innerhalb von fünf Minuten schlossen, damit die Barriere aktiviert und noch in den gesicherten Bereich geflohen werden konnte. Jemand im Rang eines Copiloten oder höher konnte den Mechanismus dazu veranlassen sich schneller oder langsamer zu schließen, was zum Glück manuell geschehen musste und im Notfall war es sowieso die Aufgabe der zwei Copiloten diese Türen zu überwachen. Allerdings wusste Laura nicht, ob die KI nicht doch direkten Zugriff darauf hatte. Nach einer schieren Endlosigkeit erreichten sie endlich die rechte Tür und Laura bemerkte erleichtert, dass sie noch nicht komplett geschlossen war. Allerdings war der Spalt gerade noch so breit wie ihr Handteller und panische Menschen pressten sich in purer Verzweiflung dagegen. Es kostete die zwei Männer sichtlich Kraft, Platz für sie zu schaffen und der Spalt war bereits zur Hälfte weg geschrumpft, bis sie endlich ihre Hand an die knisternde Materialisierung legen konnte. Zum Glück hatte die KI keinen direkten Zugriff auf die Türen, dachte sie und machte sich daran, selbige wieder zu öffnen, damit die Masse hinter ihr zu den vereinzelten Gestalten auf der anderen Seite gelangen konnten. „Tür öffnen.“, befahl sie. „Zugangscode“, knisterte es Sekundenbruchteile später neutral zurück. „Erste Copilotin, Laura Lyncis aus der Lynx-Galaxie.“, antwortete sie erstaunlich ruhig und sie vermutete, dass es daran lag, dass sie sich diesen Satz so oft selbst vorgesagt hatte, nachdem sie erfahren hatte, dass sie hier erste Copilotin sein würde. Wie lange war das schon wieder her. Ein paar schreckliche Sekunden passierte nichts und der Spalt schrumpfte immer mehr zusammen. Als er schließlich nur noch Daumennagel groß war, knisterte die Stimme wieder. „Code angenommen. Tür wird geöffnet.“ Erleichtert sah sie, wie die Tür sich langsam auf schob und schaute über die Masse hinweg hastig in Manuelas Richtung. Sie schien die linke Tür schon eine Weile vor ihr erreicht zu haben, denn die Menschen begannen gerade durch diese hinaus zu strömen. Der Druck hinter Laura wurde beständig stärker, aber der Öffnungsprozess durfte nicht unterbrochen werden. „Sie müssen noch eine Weile zurück bleiben.“, schrie sie deshalb der schreienden Masse im umdrehen entgegen. Das, was sie dann erblickte, lies sie unwillkürlich schaudern und die Menschen direkt vor ihr wurden still, als sie sie sahen und drehten sich ebenfalls um. Wie eine Welle setzte sich dieses Phänomen fort und für Sekunden herrschte vollkommene Stille, wenn man vom Beben des Bodens und dem Rauschen der Flammen einmal absah. Der Boden hatte begonnen sich senkrecht in die Höhe zu rollen. Dass die Intelligenz der 'SternAdler' den Boden manipulieren würde, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Schon ein Viertel des blauen Gesichtes, das sich im Fenster materialisiert hatte, war von dem senkrecht stehenden Boden verdeckt, der beständig in die Höhe wuchs und damit immer näher kam. Er wollte sie sicher zwischen sich und der undurchdringlichen Schutzbarriere zerquetschen, fürchtete Laura. Sie, verbesserte sie sich in Gedanken, denn nicht der Boden wollte sie töten, sondern die KI der 'SternAdler'. Sie drehte sich um und sah mit Erleichterung, dass die Tür vollständig geöffnet war. „Tür offen halten.“, befahl sie deshalb und Sekunden später wurde sie von panischen Menschen hindurch geschoben. Sie hatte Glück, dass sie nicht stürzte und sich noch am Türrahmen festhalten konnte, sonst wäre sie sicherlich von den Massen nieder gerannt oder weit von der Tür weg geschoben worden. Sie überwachte im toten Winkel der Tür den Fluss der Menschen und versuchte beruhigend zu klingen, was ihr im allgemeinen Tumult nicht besonders gut gelang. Dafür schien Manuela die Geistesgegenwärtigkeit besessen zu haben, die Männer anzuweisen sich um die Passagiere zu kümmern und da sie mehr Stimmvolumen als Laura oder Manuela besaßen, wurde die Menge im hinteren Bereich der Halle langsam ruhiger. Für die Menschen, die noch im vorderen Teil waren, wurde es allerdings langsam brenzlig. Feuer und Holzboden walzten sich unaufhaltsam vorwärts, aber mehr Türen gab es in der Schutzbarriere nicht und würde es auch nie geben. Laura überlegte fieberhaft, was als nächstes zu tun war. Einer der Männer kam zu ihr und fragte nach neuen Anweisungen und sie blickte entschlossen auf. „Bleib du hier und überwache die Flucht der Menschen durch diese Tür.“, sagte sie und nachdem er genickt hatte, nahm er ihren Platz ein und sie machte sich auf den Weg zu Manuela. Davor rannte sie noch zu den restlichen drei Männern, die sich noch um die Passagiere kümmerten. „Ihr zwei macht hier weiter.“, rief sie und befahl dem dritten mit ihr mit zu kommen, der sie wortlos begleitete. „Manuela, du hast doch die Fortbildung zur 'Prävention der Übernahme einer KI durch Fremde' gemacht, oder?“, fragte Laura aufgeregt, nachdem sie den Mann angewiesen hatte, Manuelas Aufgabe weiter zu führen. Manuela nickte und Laura fragte sachlich weiter: „Weißt du, wie man eine KI übernehmen kann?“ In ihrem Kopf arbeitete es sichtlich und sie nickte vorsichtig. „Die Theorie dazu haben wir auf jeden Fall besprochen, damit wir wissen, auf was wir vorbereitet sein müssen.“, erklärte sie. „Das ist allerdings höchst riskant, da auch Mechanismen der KI selbst umgangen werden müssen und diese KI ist etwas besonderes, also müssen wir auf einiges gefasst sein.“ Sie unterbrach sich kurz und Laura merkte, dass da noch etwas war. „Was muss ich tun?“, fragte Laura ungeduldig, als Manuela nicht weiter sprach. „Wir haben nicht viel Zeit.“ Manuela biss sich auf die Unterlippe, wie sie es immer tat, wenn sie unter Stress nachdachte. „Also gut.“, lenkte Manuela schließlich ein. „Auf der linken Seite des Schiffes, in der Nähe deiner Tür muss sich eine Treppe befinden. Sie führt auf Höhe der Brücke zu einer Nische, in der sich ein kleiner Bildschirm und ein Scangerät befinden müssten.“, erklärte sie und nachdem sie hastig zu ende erklärt hatte, was getan werden musste, trennten sie sich und Laura lief in Richtung der Treppe, die zu der Nische führte und Manuela in die entgegen gesetzte Richtung, hinauf zur Brücke. Sie würde alles in die Wege leiten, damit Laura die KI übernehmen konnte und sobald sie oben angelangt war, flogen ihre Finger nur so über die verschiedenen Tasten. Mit wachsender Besorgnis warf sie hin und wieder einen Blick auf das sich schnell ausbreitende Feuer und die wachsende Holzwand. Laura unterdessen erreichte leicht außer Atem den oberen Treppenabsatz. Manuelas Stimme ertönte aus der Nische. Genauer gesagt aus dem kleinen Monitor, der dort neben einer fast geschlossenen Röhre stand, die sich wiederum auf Schulterhöhe befand. „Laura? Ich bin soweit. Leg jetzt deinen Kopf in den Scanner und ich initialisiere die KIMI-Verschmelzung.“ KIMI, so hatte ihr es Manuela erklärt, stand für 'Künstliche Intelligenz Menschliche Intelligenz' und der Prozess selbst ermöglichte es einem seine eigenen Hirnwellen mit den Strömen der Intelligenz des Computers in Einklang zu bringen. Laura tat wie ihr geheißen und ein mulmiges Gefühl begann sich in ihr auszubreiten, denn die Übernahme einer KI wurde im Regelfall nur von Verbrechern ausgeübt und außerdem nur mit Intelligenzen, die noch nicht kalibriert worden waren und somit noch keine Individualität besaßen. Außerdem konnte der Scan nicht gestoppt oder angehalten werden, wenn er erfolgreich sein sollte, denn jede Pause führte zum Zurücksetzen des Scanners. Allerdings befanden sich die Daten eines misslungenen Scans immernoch im Speicher der KI, wodurch sie sofort erkennen würde, wenn es jemand zwei Mal versuchen würde. Das würde ein hartes Stück Arbeit werden, dachte Laura bei sich und seufzte leise. „Konzentrier dich.“, rief Manuelas Stimme besorgt aus dem Monitor, der Lauras Hirnwellenscan anzeigte, und prompt zwang ein heftiger elektrischer Schlag sie dazu den Kopf abrupt aus dem Scanner zu ziehen. „Das war ein Abwehrmechanismus! Ich glaube er hat deine Körperstrukturen analysiert. Ist alles in Ordnung?“, hörte sie Manuelas besorgte Stimme. „Alles in Ordnung antwortete sie und spürte immer noch ein leises knistern in ihrem Kopf. „Zwei Drittel, Laura. Leg den Kopf sofort wieder rein, sonst verpasst du zu viel vom Scan.“, vernahm sie Manuelas angespannte Stimme aus dem Monitor und steckte den Kopf sofort wieder in den Scanner. „Konzentrier dich.“, wiederholte Manuela noch einmal eindringlich. „Ich versuch was gegen die Abwehrmechanismen zu tun, aber alle kann ich nicht erwischen.“, redete Manuela weiter, ohne Luft zu holen. Dann verschwand plötzlich alles um Laura herum. Erschrocken wollte sie sich aufrichten, aber Manuelas Stimme hielt sie davon ab. „Wir sind bei 99 Prozent stehen geblieben. So ein Mist.“, fluchte sie. „Irgendwo muss ich noch einen Abwehrmechanismus übersehen haben.“, hörte Laura sie noch sagen und dann war es still. Alles wurde mit einem Mal weiß um Laura herum und sie fühlte sich schwerelos, bis ein blaues Knistern von ihren Füßen sprang und sich unter ihr ausbreitete. Das sanfte Blau bildete ein Netz, das sie an feine Linien in Marmor erinnerte und ihre Füße hatten auf einmal wieder festen Untergrund. Ihr fiel auf, dass es dieselben blauen Linien waren, die sie auch im Fenster der Haupthalle gesehen hatte und prompt erschien das Gesicht vor ihr. Zuerst mit einem freundlichen Ausdruck, der sich immer mehr zu einer Fratze wandelte. Laura erinnerte sich erschrocken, was Manuela noch zu ihr gesagt hatte, bevor sie sich unten getrennt hatten. So eine Verschmelzung konnte fürchterlich schief gehen, wenn der Mensch der KI unterlegen war, weshalb auch hauptsächlich unkalibrierte KIs übernommen wurden. Das Gesicht lachte ihr höhnisch ins Gesicht und wurde noch ein wenig größer. „Du wolltest mich zurück setzen, aber das wird dir nicht gelingen, denn ich werde dich zurück setzen.“, lachte die Fratze ihr entgegen, aber Laura beeindruckte das nicht besonders. Hauptsächlich weil sie nicht verstand, wie die Intelligenz der 'SternAdler' auf die Idee kam, dass sie sie zurück setzen wolle. Eine KIMI-Verschmelzung beinhaltete ihres Wissens nach nur eine Anpassung der KI an die Intelligenz des jeweiligen Menschen. Zumindest im Idealfall. Es konnte auch genausogut umgekehrt sein, aber eine komplette Auslöschung des jeweils anderen Selbst passierte so gut wie nie. Das Gesicht sah für kurze Zeit verwirrt aus. „Du willst mich nicht auslöschen?“, fragte die helle Stimme und Laura war Überrascht, dass die KI ihre Gedanken wusste. Sofort breitete sich ein böses Grinsen in dem Gesicht aus. „Aber ich werde dich auslöschen. Stück für Stück für Stück, du Störenfried.“, kicherte die helle Stimme der 'SternAdler'. Da wurde Laura klar, dass das der letzte Abwehrmechanismus sein musste. Solange sie ihn nicht überwand, würde sie in dieser weißen Einöde mit diesem Gesicht gefangen sein, überlegte sie und wie aus dem Nichts formten sich Steinhaufen aus blauen Linien, die alles wie eine Einöde aussehen ließen. Laura stutzte. Hatte sie etwa Einfluss auf diese Umgebung? Sie runzelte die Stirn und überlegte fieberhaft, was ihr das nützen könnte. Da fiel ihr wieder ein, dass die Verschmelzung schon zu fast hundert Prozent abgeschlossen gewesen war, als dieser Abwehrmechanismus eintrat, was wiederum bedeutete, dass sie auf jeden Fall Kontrolle über die Intelligenz der 'SternAdler' besaß. Wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad. Das Wichtigste allerdings war, dass sie diese Intelligenz nicht durch Worte steuern konnte, sondern ihre Gedanken benutzen musste, denn schließlich waren ihre Gehirnwellen mit der Computerintelligenz verschmolzen worden und nicht ihr ganzer Körper. Sie stellte sich also vor, wie sie draußen in der Halle auf einem normalen geraden Parkettboden stand, der frei von Flammen war. Das Gesicht plusterte sich auf und bleckte spitze Zähne, aber Laura ließ sich davon nicht beeindrucken und schloss die Augen, damit sie sich die Haupthalle in ihrem normalen Zustand besser vorstellen konnte. Der hintere Bereich mit der Brücke darüber, auf der immer noch Manuela stand und emsig die Tasten malträtierte. Ein Keuchen erklang vor Laura und sie glaubte, dass es von dem Gesicht kam, aber sie durfte sich nicht ablenken lassen. Die Schutzbarriere mit den mittlerweile geschlossenen Türen. Die Türen, fuhr es ihr durch den Kopf, waren immer noch offen, da sie Befehl gegeben hatte, dass sie offen blieben und die Männer konnten sie nicht schließen, da sie nicht dazu autorisiert waren. Entsetzt öffnete sie die Augen und sah ein Gesicht vor sich, das halb menschlich, halb Tiergestalt war. Es bleckte die spitzen Zähne und fauchte wütend. „Ich habe keine Zeit mich mit dir zu beschäftigen.“, rief Laura den blauen Linien entgegen und rannte auf das seltsame Gesicht zu, das sich weiter veränderte, je näher sie ihm kam. Als sie es erreicht hatte, schwang sie sich in den Nacken des Luchses und die Haupthalle erschien wieder unter ihr. Auf dem kleinen Bildschirm blinkte ihr ein '100%' entgegen. Laura zog ihren Kopf aus dem Scanner, der daraufhin von blauen Blitzen durchzogen wurde und auseinander sprang. Manuela, die ihr bis dahin vor Erleichterung zugejubelt hatte schrie kurz erschrocken auf. Laura wurde von den blauen Blitzen ergriffen und bevor sie merkte was geschah, hatte sich die Intelligenz der 'SternAdler' materialisiert und sie auf ihren breiten Rücken gehoben. Ein Zittern ging durch die blauen Linien und wurden abrupt mitternachtsblau. Die aufgeregten und teils verängstigten Rufe der Menschen unter Laura holten sie zurück aus ihren Beobachtungen und sie wandte sich dem vorderen Teil der Haupthalle zu. Er war mittlerweile vollkommen in Flammen aufgegangen und der Boden war nicht mehr weit von der Schutzbarriere entfernt. Immerhin war es allen Passagieren gelungen sich in den hinteren Teil der Halle zu retten und Laura beschloss sich zunächst dem Boden zu widmen. Sie überlegte, dass der Boden so viel schöner war, wenn er flach auf dem Boden lag und matt im Sternenlicht schimmerte und der mitternachtsblaue Luchs unter ihr sprang in einem eleganten Bogen in den vorderen Teil der Halle und drückte den Boden dabei wieder gerade. Als sie so mitten im Raum standen, dachte sie sich, dass Löschschaum wohl ganz praktisch wäre, um Feuer zu löschen, auch, wenn danach alles in schaumigem Weiß ertrank und der mitternachtsblaue Luchs öffnete sein Maul und spie weißen Schaum, mit dem er das Feuer löschte. Nach einer Weile rutschte sie von dem Luchs herunter und realisierte, dass alle gerettet waren und brach in plötzliche Euphorie aus. Übermütig drehte sie sich einmal im Kreis und küsste den übergroßen Luchs dann auf die Nase, der es lächelnd mit sich geschehen ließ. Doch dann hob er misstrauisch den Blick. „Ist das da hinten der Pilot?“, fragte seine tiefe Stimme knisternd und Laura blickte fröhlich in dieselbe Richtung. Ein Nasser Mann mit braunem Haar, das ihm über die Augen hing kam langsam in unsere Richtung und als er nahe genug war, zog ihn Laura ganz nah zu sich heran, um ihn besser erkennen zu können. Mit einem Lachen fiel ihr ein, dass sie nur einen Menschen kannte, der sich so hinter seinen Haaren versteckte und das war Paul Paulsen der Pilot. Sie hielt kurz inne, denn über altehrwürdige Familien lachte man nicht, aber dann brach es wieder aus ihr heraus und indem sie den Piloten wieder etwas von sich weg schubste, bestätigte sie seine Vermutung. Überraschenderweise hatte der Pilot den bewusstlosen Kapitän auf seinem Rücken und wahrscheinlich auch die ganze Zeit auf ihn Acht gegeben, denn Kapitän Mirano war nicht verletzt. Laura war erleichtert, aber den ganzen Löschschaum wollte sie dann doch gerne wieder von dem schönen Parkett entfernen. Also drehte sie sich übermütig zu ihrem Luchs zurück und stellte sich vor, dass aus dem Löschschaum leckere Pizza mit Schinken und Käse wurde. „Molekulare Umwandlung ist zwar möglich, aber Temperaturunterschiede kann ich leider nicht erwirken.“, knisterte 'SternAdlers' Intelligenz in ihrer tiefen Stimme, aber Laura reichte auch kalte Pizza, solange sie etwas essen konnte, nach der ganzen Aufregung. Den Passagieren schien es ganz genauso zu gehen, denn sie strömten langsam wieder in den vorderen Bereich und fingen an zu essen. Gerade, als sie herzhaft in ihr erstes Stück biss, erkannte sie Manuela, die sich durch das Gewühl von Menschen zu ihr durch kämpfte. Fröhlich winkte sie ihr zu und las noch ein paar kalte Pizzastücke auf, die sie Manuela in die Hände drückte, als sie bei ihr anlangte. „Laura ...“, begann sie besorgt, aber Laura lächelte sie nur überglücklich an. Mit deutlicher Erleichterung lächelte sie zurück und biss zurückhaltend in ihr kaltes Stück Pizza. Selbst Paul legte den Kapitän vorsichtig zu Boden und begann zu essen. Während alle so friedlich beieinander saßen, dachte Laura ernsthaft nach, warum sie bei dem Sprung in den vorderen Teil der Halle ohne Probleme die Barriere hatte durchdringen können und kam zu dem Ergebnis, dass die KI bei dem Stromschlag gewisse Freiheiten über den Aufbau ihres Körpers erlangt haben musste, die es ihr ermöglichten sie durch die Barriere zu transportieren. Hoffentlich brachte ihr das nicht noch irgendwelche Schwierigkeiten ein, denn mit der Verschmelzung stand fest, dass sie nie wieder allzu weit weg vom Schiff gehen konnte. Die Intelligenz war ans Schiff gebunden und sie damit von jetzt an auch. Allerdings war es schon spannend zu sehen, welche Materialisierungen sich durch Kalibrierung oder Verschmelzung einer künstlichen Intelligenz zeigten und Laura war der Meinung, dass der mitternachtsblaue Luchs wesentlich besser zur 'SternAdler' passte als das blaue Frauengesicht. Sie zuckte mit den Schultern. Darüber würde sie nachdenken, wenn sie im Hafen von Tisiphonia lagen, und in ihren Gedanken hörte sie ein leises knistern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)