Wie aus dem Nichts von Pansy ================================================================================ Kapitel 2: Kapitel 2 -------------------- Mit dem Kopf schüttelnd schloss er die Tür und legte sich zurück aufs Bett. Er hätte sich zum Lernen gerne an den Schreibtisch gesetzt, doch momentan glich dieser eher einem Müllhaufen als einer Stätte zum Arbeiten. Aufräumen konnte er schließlich auch noch, wenn die Prüfungen überstanden waren. Bis dahin war er froh, sich einen Weg bis zum Bett frei gebahnt zu haben und das reichte immerhin aus, um nachts doch mal ein wenig zu schlafen und tagsüber zu lesen respektive zu lernen. Man musste sich eben mit Wenigem zufrieden geben können, aber seit ein paar Minuten schaffte er auch das nicht mehr. Anstatt sich wieder in die Gefilde der Numerik zu begeben, starrte er an die Decke und ignorierte gekonnt die Haufen an Bücher und Ordner, die das halbe Bett beanspruchten. Er sollte lernen, doch gerade ging das einfach nicht. Er hatte gerade den Menschen hinausgeworfen, der Verwirrung in ihm auslösen konnte. Und das hatte bisher erst eine Person vor ihm vermocht und das wollte was heißen. Obwohl sich die Augen des anderen in sein Gedächtnis zu brennen schienen, rief er sich immer wieder genau dort hinein, dass er etwas anderes zu tun hatte! Nämlich was? – Genau, lernen! Nachdem er sich mit einer Hand selbst eine Ohrfeige verpasst hatte, nahm er ein Buch von dem Stapel und blätterte darin ein wenig herum, bis er die Stelle gefunden hatte, an der er letztens stehen geblieben war. Und schon wieder blickte er auf Buchstaben, die für Mengen, Funktionen oder Parameter standen. Zu allem Überfluss stellte er fest, dass ein großes Fragezeichen am Rand geschrieben stand. Das hieß, dass er dieses Kapitel noch einmal von vorne durcharbeiten durfte, um das Kommende zu verstehen. Seine Freude darüber war unermesslich. Für einen Moment ließ er seinen Kopf zurück ins Kissen sinken, doch dann richtete er sich auf und begann, alle trüben Gedanken beiseite zu schieben und sich wieder aufs Wesentliche zu konzentrieren. Was konnte er schon mit den Gefühlen anfangen, die der andere in ihm auslöste? – Damit konnte er kein Geld verdienen, also her mit der Konzentration und der Muse! Und tatsächlich, es funktionierte. Er brütete die nächsten Stunden fieberhaft über seinem Lernstoff und schaffte sein Pensum für den Tag. Als er das Buch zuklappte, fragte er sich ernsthaft, wie er das hinbekommen hatte. Mit einem Schulterzucken tat er diese Frage aber sogleich ab. Warum nach Antworten suchen, wenn sie unwichtig waren? Es war mittlerweile kurz nach dreiundzwanzig Uhr und durch sein offenes Fenster strömte eine kühle Brise, die ihn zum Aufstehen verleitete. Und mit einem Mal fühlte er die fremden Lippen viel zu präsent, zum einen aus der Tatsache heraus, dass sie nur kurz auf den Seinigen verweilt hatten, zum anderen weil es absurd war, diesem Erlebnis nachzuhängen. Er hatte ihn schließlich hochkantig rausgeschmissen und seine liebenswürdigste Art an den Tag gelegt gehabt, die ihm innewohnte. Der würde sicher nie wieder kommen. Und nun fühlte sich Jim vollkommen mies. Juchu, genau das brauchte er jetzt. Schuldgefühle für seine schroffe Art. Als ob es nichts Schlimmeres auf der Welt gäbe. Und nun fragte er sich obendrein auch noch, ob er ihn wieder sah. Ob der Zufall es gut (?) mit ihm meinte und er ihm auf dem Campus über den Weg laufen würde. Er hatte in weniger als achtundvierzig Stunden Prüfung! Das war das einzige, was für ihn zählen sollte. Kein dahergelaufener junger Mann, der ihm nur die Sinne vernebelte. Darauf konnte er gut und gerne verzichten. Wenn er Befriedigung brauchte, konnte er sie sich anderweitig besorgen. Aber diese Lippen… Das machte ihn ganz verrückt! Stress und noch mal Stress! Zwar in anderer Form, aber Stress! Wie viel davon hielt ein Mensch eigentlich aus? Die Sterne funkelten hoch oben am Himmel, glänzten ebenso wie diese dunklen Iriden… Halt! Ja, vielleicht hatte er heute genug gelernt, zumindest quollen ihm die Formeln schon zu den Ohren heraus, aber das war noch lange kein Grund, sich nun irgendwelchen Szenen hinzugeben, die ab jetzt der Vergangenheit angehörten! Weder der Gegenwart noch der Zukunft; schlicht und einfach der Vergangenheit. Tief sog er die Nachtluft ein und stieß sie wieder aus. Morgen war ein neuer Tag, auch wenn er sich da weiterhin in seinen vier Wänden zu vergraben hatte. Zwei Wochen noch, dann war alles vorbei. Dann konnte er hier weg und endlich wieder etwas anderes sehen als die Universität oder… Nein, daran dachte er jetzt nicht. Dieser Kerl kam ihm jetzt nicht schon wieder in den Sinn und gut ist. Leichter gesagt als getan. Sein Kinn sank auf seine Brust. Wenn er noch halbwegs bei Verstand bleiben wollte, dann musste er sich ablenken und womit ginge das denn besser als mit Tekken? Da konnte er seine Gegner grün und blau schlagen und genau danach war ihm gerade zumute. Ja, das tat wahrlich gut. Er spielte so gut wie schon lange nicht mehr. Im Handumdrehen besiegte er einen Feind nach dem anderen. Und er steigerte sich immer mehr ins Spielen rein, bis er irgendwann alles um sich herum vergaß. Erst als bereits der dritte Obergegner die letzte Lebensenergie verloren hatte, legte er den Controller beiseite, tat dies aber mit einem leichten Lächeln im Gesicht. Das war vielleicht ein Weg zur Stressbewältigung. Man konnte jeden dumm und dusslig hauen, ohne dafür belangt werden zu können. Genial, oder nicht? Zumindest fühlte er sich von zentnerschwerer Last befreit und konnte mal wieder Luft atmen, die nicht schwer im Raum hing. Allmählich realisierte er die Müdigkeit in seinen Knochen, zumal das Adrenalin weitestgehend aus ihm gewichen war. Das würde am nächsten Morgen zweifelsohne wieder kommen… … und genau so kam es auch. Kaum war er aufgewacht, fühlte er schon, wie das Blut in ihm kochte. Die Gedanken an die Prüfung konnte man leider nicht einfach abstellen, denn das Unterbewusstsein hatte da immer ein Wörtchen mit zu reden. War das nicht immer so? Immer dann, wenn man sein tiefstes Inneres ausschalten wollte, mischte es sich in die Angelegenheiten ein und bereitete einem nur ungute Gefühle; wie in diesem Fall ein fast schon schlechtes Gewissen. Was heißt eigentlich fast!? Schon ein kleiner Blick auf das Chaos rundherum genügte. Die Lernerei konnte einen ganz kirre machen, aber der Umstand, dass bis zur Prüfung keine vierundzwanzig Stunden mehr vergehen würden, musste all die Abneigung und Lustlosigkeit verdrängen und er sorgte auch wirklich dafür. Jim pellte sich aus dem Bett und stellte sich unter die eiskalte Dusche. Das war DER Weg für ihn, wirklich wach zu werden und nicht beim ersten Satz, den er las, wieder einzuschlafen. Als das Wasser auf ihn hernieder rauschte, legte sich eine wohlige Gänsehaut über seinen Körper, die er groteskerweise auch noch genoss. Es war nicht ganz zehn Uhr und er war bereits wach. Allein dies hätte unter normalen Bedingungen schon ausgereicht, um miese Laune zu haben. Gut, irgendwie hatte er diese auch. Aber nicht wegen der Uhrzeit, auch nicht wegen der Lernerei, sondern wegen etwas ganz anderem. Er spürte eine gewisse Leere in sich. Und durch was ausgelöst? Durch diesen verdammten Kuss, der doch eigentlich gar kein richtiger gewesen war. Gott, langsam hatte er wirklich die Nase voll. Anscheinend meinte es sein Schicksal wirklich nur böse mit ihm. Er hatte genügend Sorgen, da konnte er wirklich nichts mit Schmetterlingen im Bauch oder dergleichen anfangen. War doch eh nur dummes Gerede! So etwas verspürte er nicht mehr und wollte es auch nicht mehr. Gefühle brachten einem lediglich Schwierigkeiten und darauf konnte er gut und gerne verzichten. Aus. Ende. Dieser Kerl konnte ihm gestohlen bleiben! Wenn das nun auch noch sein Körper wüsste, wäre alles bestens. Nein, der musste sich dazu entschließen, allein auf die Gedanken an das gestrige Erlebnis Regung zu zeigen. Hieß es nicht, kaltes Wasser würde Abhilfe schaffen? Vielleicht sollte er den Hebel demontieren, denn der ließ sich partout nicht weiter nach rechts drehen. Kalt war einfach noch nicht kalt genug. Der Tag fing schon perfekt an, so richtig klasse und überaus hervorragend. Ein Morgenständer, ausgelöst durch eine lächerliche, nicht ernst zu nehmende Erinnerung. Okay, was hieß schon ernst zunehmend? Konnte man den Vorfall nicht eher als Spaß bezeichnen, der mit ihm gemacht wurde? Er schüttelte sein Haupt. Wie kam er denn jetzt auf solch absurde Ideen? Nach Spaß hatte sich das rein gar nicht angefühlt. Aber wäre doch eine perfekte Ausrede, um endlich wieder runterzukommen. Klar, warum auch nicht. Es brachte wenigstens etwas Kompensation in seinem Körper mit sich. Er sah das einfach alles als Scherz an und die Welt konnte sich wieder drehen. Nachdem er das mit sich und dem Rest der Welt geklärt hatte, konnte er getrost das Wasser abstellen und zum zweiten wesentlichen Morgenritual übergehen: Frühstück! Irgendwoher musste er schließlich die Energie schöpfen, die er benötigte. Und dazu brauchte er zwei Brötchen und eine große Tasse Kaffee, die ihn von innen heraus aufmöbelte. Während er die braune Flüssigkeit zu sich nahm, zappte er durchs Fernsehprogramm, das wie üblich nichts zu bieten hatte. Als er bei der vierten Talkshow angekommen war, die auch immer früher ausgestrahlt wurden, schnaufte er ein wenig deprimiert und schaltete den Fernseher wieder ab. Die Programmauswahl hatte gewonnen! Aufgrund der Nichtexistenz auch nur eines guten Senders griff er nach dem erstbesten Buch von einem der Stapel, neben, vor und hinter ihm. Zugegeben, ganz so viele waren es auch wieder nicht, kam aber dem Empfinden gleich, das man hegte, wenn man seit Wochen nichts anderes mehr sah. Der gelegentliche Gang zum Supermarkt war auch eher dem Zweck, nicht verhungern zu müssen, entsprungen und keiner noblen Einstellung, sich an der Natur zu erfreuen. Irgendwie war seine Stimmung doch wieder am Tiefpunkt angelangt. Die perfekte Voraussetzung, um geistig wirkungsvoll aktiv zu sein! Metaphorische Luftsprünge vor Begeisterung waren die unabdingbare Folge. In Gedanken vollführte er die wagemutigsten Stunts, die nicht zur Nachahmung geeignet waren. So konnte der Tag beginnen! Gereiztheit en masse. Naja, es half nichts. Er musste sich noch den Rest ins Hirn meißeln, um nicht einen völligen Nervenzusammenbruch kurz vor Prüfungsbeginn zu erleiden. Gut, den hatte er eigentlich schon jetzt, aber das tat ja nichts zur Sache. Der dunkelhaarige Jüngling war aus seinem Gedächtnis gestrichen und selbst die kompliziertesten, mathematischen Ausdrücke würde er auch noch erfolgreich bezwingen. Also auf in den Kampf, hieß seine Devise. Oder anders ausgedrückt: Augen zu und durch! Voller Inbrunst ließ er sich aufs Bett fallen und begann laut vor sich hinredend all das zu wiederholen, an das er sich noch erinnern konnte. Da sein Fenster gekippt war, konnten seine Nachbarn garantiert mithören, was er da von sich gab, doch das juckte ihn nicht. Schließlich trug er damit lediglich zur Weiterbildung auf breiter Ebene bei. Er wusste, dass keiner von ihnen etwas mit Mathematik zu tun haben wollte, aber ein wenig mehr darüber zu wissen, konnte ja nicht schaden. Als er nach einer ganzen Weile bei attrahierenden Mengen angelangt war, betete er auch hierzu die Definition herunter. Attrahierend stand für anziehend und jede Lösung aus einem gewissen Bereich konvergierte gegen diese Menge… Anziehend! Nein, nein, nein, das konnte doch nicht wahr sein! Solche Worte gehörten in der Mathematik, die doch rein aus Logik und rationalem Denken bestand, definitiv verboten! Anziehend gehörte gewiss nicht in das Vokabular einer formalen Sprache! Und formal hatte nichts mit irgendwelchen Adjektiven wie anziehend zu tun! Tja, schön, dass ER diese Erkenntnis hatte, doch leider waren ihre Erfinder nicht so schlau gewesen. Sie hatten wohl nie bedacht, dass man dann an gewisse Menschen denken könnte, die man eigentlich bereits aus seinem Leben gestrichen hatte… Er hätte ihn ja einfach an sich ziehen und ihm seine Zunge aufdrängen können. Wild und hemmungslos und rücksichtslos. Er war ja schließlich auch vollkommen überrumpelt worden und das wäre doch DIE Rache gewesen und eine süße noch dazu. Stopp! Konnte er nicht einfach wieder dazu übergehen und sich auf die Realität beschränken? Gestern war gestern und damit vergangen. Die Historie – übertrieben gesprochen – sollte nicht wieder aufgerollt und mit Leben bestückt werden. Ein Kuss war gar nichts! Und er würde sich auch nicht wiederholen. Ende der Diskussion. Plötzlich begann er zu lachen. Er focht einen Kampf in seinem Inneren aus, der eigentlich gar nicht zu gewinnen war. Gut, dann sollten eben unliebsame Emotionen in ihm wallen, aber sie hatten sich gefälligst soweit zurückzuhalten, dass er vernünftig sein Diplom abschließen konnte. Gefühle kamen und gingen und so würde das auch dieses Mal sein. So schnell, wie sie gekommen waren, würden sie im Endeffekt auch wieder verschwinden. Sollten sie doch Purzelbäume schlagen. Wenn man sie nur lange genug ignorierte, würden sie schon von allein damit wieder aufhören. Da sich sein Magen regte, stand er auf und lief die drei Schritte zum Kühlschrank. Toll, der war natürlich leer, wie sollte es auch anders sein. Wenn das Leben einmal grausam war, dann immer. Genervt zog er sich Schuhe und Jacke an und verließ seine Wohnung. Dass er wie der letzte Penner herumlief, war ihm ebenso gleichgültig wie die Tatsache, dass in China gerade ein Reissack umfiel. Er erwartete nichts von der Menschheit, also sollte sie nichts von ihm erwarten. Erwartungen brachten lediglich Enttäuschungen mit sich und von denen konnte er bereits genug für den Rest seines Lebens verzeichnen. Mit einer Einkaufstüte in der Hand, peilte er den Heimweg an. Er hatte nicht einmal zehn Minuten zu laufen und doch musste er seinen Hunger bereits jetzt stillen, weshalb er sich beim Bäcker noch schnell etwas mitgenommen hatte. Genüsslich kauend setzte er einen Fuß vor den anderen, atmete dabei tief durch, denn die frische Luft und die Natur waren vielleicht doch ein wenig wohltuender als angenommen. Zumindest vermochte sie es, einen halbwegs freien Kopf zu bekommen, und das war genau das, was er brauchte. Einen klaren Verstand. Wenn da ihm sein Schicksal nicht mal wieder einen Strich durch die Rechnung machte… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)