L'objet dégoûtant von BabYstAr (Kapitel 37 Upload am 04.10.2010 um 21:15 Uhr) ================================================================================ Kapitel 32: Un-Gewissen ----------------------- -32- Un-Gewissen Wir hatten die Tür hinter uns geschlossen und die Türklinken abgewischt. Bis zum Abend hatten wir in Sagas Wohnung gewartet, bis wir irgendwann Polizeisirenen gehört hatten. Ich hatte bis jetzt einfach nur still auf dem Sofa gesessen und einen Schnaps nach dem anderen getrunken, um wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen. Reita und Saga hatten derweil überlegt, was man am besten tun konnte, waren jedoch zu keinem sinnvollen Schluss gekommen. „Abwarten“, lautete die simple, aber dennoch einzige Lösung, und Saga hatte sie ausgesprochen. Wir mussten einfach nur so tun, als wären wir nie dort gewesen. Die Last, es den Bullen zu gestehen, dass wir sie gefunden hatten, sollte uns erspart bleiben. Außerdem war es eh zu spät – nun hatte jemand anders sie sicherlich gefunden und die Polizei gerufen. Dass es aus einem anderen Grund war, war so gut wie ausgeschlossen, dafür hörte man die Sirenen hier einfach zu selten. Dennoch blieb die Angst, dass man Spuren von uns finden würde und uns verdächtigen würde, sie die Treppe hinuntergeschubst zu haben oder ähnliches. Die Angst davor, dass die Polizei anfangen würde, nach mir zu suchen, wenn sie von den Nachbarn meinen Namen hörten. Die Angst davor, ihnen zu sagen, wo meine paar Tanten und meine Großmutter lebten, dass sie die einzigen Verwandten waren, die ich hatte. Die Angst, ihnen zu sagen, dass mein Vater spurlos verschwunden war und keiner meiner Verwandten Kontakt zu ihm hatte. Es blieb die Ungewissheit, was nun mit mir geschehen würde. Würde ich in ein Heim kommen? Zu meinen grantigen Tanten ziehen? Zu meiner faltigen, todkranken Oma? „Du solltest aufhören“, sagte Reita leise, nahm mir das fünfte Glas Schnaps aus der Hand und stellte es beiseite, „das bringt dich auch nicht weiter.“ „Mich bringt gar nichts weiter“, nuschelte ich, spürte neue Tränen aufkommen, „ich will nur, dass die scheiß Angst aufhört…“ „Ich weiß doch…“ Sanft zog er mich in den Arm und wog mich leicht, streichelte mir über den Rücken, sodass ich die Tränen doch nicht länger aufhalten konnte. Erneut flossen sie heiß über meine Wangen… „Wo soll ich denn jetz’ hin?“, schluchzte ich, „Die werden nach mir fragen und mich suchen… und finden… und dann…?“ Keiner sagte etwas. Sie schienen angestrengt zu überlegen, doch wollte wohl auch ihnen keine Lösung einfallen. Reita stand schließlich auf, lief einmal quer durch den Raum und dann in die Küche, wo er aus dem Kühlschrank etwas heraus holte. Ich hörte, wie die Mikrowelle leise summte und als Reita zurückkam, hielt er einen Teller mit den Minipizzas von gestern in der Hand. „Du solltest was essen“, meinte er, „du hattest den ganzen Tag nichts…“ „Glaubst du, er kann jetzt essen?“, hörte ich Saga murmeln, „Ich könnte es nicht…“ „Iss wenigstens eins“, bat Reita, doch ich schüttelte den Kopf. Mir wurde allein vom Geruch schon schlecht. „Er kann nicht. Lass ihn…“ Reita nahm sich ein Stück und begann langsam es zu essen. Saga schaltete den Fernseher ein. Genau wie ich hasste er die Stille, und um uns herum war sie mit der Zeit nahezu unerträglich geworden. In den Nachrichten lief nichts Besonderes, nur das Wetter und irgendwelche Sportberichte. Vielleicht würde meine tote Mutter bald auch darin zu sehen sein. „Uruha?“, sagte Saga und verlangte nach meiner Aufmerksamkeit. Ich schaute auf und lehnte mich an die Schulter meines Freundes, der seine Pizza aufgegessen und mich wieder in den Arm genommen hatte. „Was?“ „Hast du wirklich niemanden, zu dem du hin kannst?“ Wieder schossen mir die Tränen in die Augen und ich schüttelte den Kopf leicht, biss mir hart auf die Unterlippe. Bis dass es fast schon blutete. Reita bemerkte es und tippte mir leicht gegen die Lippen, sodass ich den Mund öffnete und dann musste ich leise husten. Ich war heiser vom weinen. Ich war noch nie heiser vom weinen… Wohin war mein Vater wohl verschwunden? Ob er vom Tod meiner Mutter erfahren würde? Ob er dann zurückkommen und sich um mich kümmern würde? Wo war er bloß? Bedeutete ich ihm denn so wenig, dass er mich einfach hängen ließ? So ganz allein…? „Weißt du, ich bin volljährig…“, sprach Saga nach einiger Zeit weiter. Ich horchte auf und blinzelte eine kleine Träne aus dem Augenwinkel. „Ich bin zwar kein Verwandter von dir, aber ich hab eine Wohnung… Wenn wir zum Amt gehen, können wir dich als meinen Mitbewohner eintragen und ich kann dein Kindergeld vom Staat auf mein Konto einfordern, dann wäre die Miete und das Essen auch kein Problem, zumal meine Eltern sowieso einen Haufen dazulegen.“ Damit warf er mich völlig aus der Bahn. Ich setzte mich leicht auf und schaute ihn aus verheulten Augen an, und als ich zu sprechen begann, klang meine Stimmer heiser. „Aber deine Eltern müssen damit einverstanden sein und es unterschreiben, wenn deine Wohnung auf ihren Namen angemeldet ist… Was, wenn sie das nich’ wollen?“ „Sie ist auf meinen Namen angemeldet und sie überweisen mir jeden Monat Geld auf mein Konto. Ich bin schließlich volljährig, schon vergessen?“ „Aber was, wenn sie trotzdem uneinverstanden sind und nich’ mehr zahlen wollen…?“ Lächelnd schüttelte Saga den Kopf. Er lehnte sich vor und griff nach seinem Bier, trank einen großen Schluck. „Sie zahlen mir die Wohnung, weil sie mich nicht bei sich haben wollen. Es ist ihnen egal, wer hier ein und aus geht und ob noch jemand hier lebt, oder nicht. Solange dieser Jemand sein eigenes Geld mitbringt, ist es okay. Dein Kindergeld kann auf mein Konto übergehen und du hast jeden Monat was zu essen.“ Müde schüttelte ich den Kopf. „Ich würde, wenn es ginge“, nuschelte ich, „aber man wird mich woanders hin stecken, wetten? Die stecken mich bestimmt in irgendein Heim… oder gleich in die Klapse…“ „Jetzt red keinen Schwachsinn und nimm sein Angebot schon an“, fuhr Reita mich plötzlich an und stupste mir in die Seite, sodass ich beinahe das Gleichgewicht verlor und fast seitlich vom Sofa gekippt wäre. So sehr ich es auch wollte, momentan konnte ich einfach nicht positiv denken. Konnte man es mir denn verübeln? Ich rief mir immer wieder in Gedanken, dass ich meine Eltern verloren hatte, dass mir nun niemand mehr geblieben war, außer meinen Freunden und derjenige, der neben mir saß und mich nun wieder in seine Arme zog. Dankbar lehnte ich mich an ihn. Ein paar Minuten später klingelte es an der Tür. Als Saga aufstand, begrüßte er Sakito, doch dieser grüßte ihn nicht zurück, fragte stattdessen lediglich, ob ich da sei. „Ist gerade ungünstig, aber er ist da, ja“, antwortete Saga ihm und ließ ihn herein. Meine Wahrnehmung war mit der Zeit zunehmend schlechter geworden und so bemerkte ich erst gar nicht, dass er mich angesprochen hatte. Zu vertieft war ich in meine Gedanken daran, dass wir sie einfach hatten liegen lassen. Einfach so…! Ohne mit der Wimper zu zucken. Ich hatte meine eigene Mutter tot im Keller liegen lassen und deshalb war die Angst davor, dass man mir nachweisen könnte, dass ich an dem Abend da gewesen war, unbeschreiblich. Als Sakito mich zum zweiten Mal ansprach, schaute ich auf. „Was is’ los? Is’ jemand gestorben?“, fragte er. Vor lauter Ironie musste ich auflachen. Man konnte sie beinahe riechen, im Raum spüren und sie schnürte mir die Luft ab, sodass das Lachen ebenso schnell wieder verstummte, wie es begonnen hatte. „Ist nicht böse gemeint“, murmelte Reita ihm zu, „aber das war scheiß Timing.“ Wie erwartet schaute Sakito verwundert in die Runde, wurde scheinbar doch stutzig, als er die Tränen sah, die erneut meine Wange herabkullerten. Mit skeptischem Blick trat er zu mir heran, hockte sich vor mich und strich mir die Strähnen aus dem Gesicht, die meine Augen verdeckten, um mich ansehen zu können. „Was soll das heißen? Das sollte eben ein Scherz sein…“ „Es ist kein Scherz.“ Meine Antwort ließ seine Gesichtszüge entgleisen. „…wer?“ Ihr Name lag auf meiner Zunge, doch ich konnte ihn nicht aussprechen. Erneut überkam mich diese widerliche Welle der Angst, sodass ich leicht zu zittern begann und nach Sakitos Hand griff, die er auf mein Bein gelegt hatte. „Man, Uruha, hör auf mir so ne Angst zu machen“, murmelte Sakito unsicher, „ich bin eigentlich nur gekommen, um dir von Shou zu sagen, dass du die Reinigung für den Kimono bezahlen musst, er weiß deine Nummer ja nicht. Und jetzt sowas…!“ Bittend schaute ich Reita an und verbarg mein Gesicht schließlich wieder an seiner Schulter. Kein Wort kam über meine Lippen, obwohl ich Sakito lieber selbst erklärt hätte, was passiert war. Denn ich hasste es, wenn andere die Tatsachen verdrehten, schön redeten oder sonst was, obwohl Reita ja eigentlich das genaue Gegenteil von dem war. Er hatte verstanden und schaute Sakito ernst an. „Seine Mutter ist tot“, murmelte er, „wir haben sie im Keller gefunden und… na ja, einfach liegen lassen…“ „WAS?!“ Sakitos Schrei ließ mich zusammenzucken und ich biss mir fest auf die Lippe, konnte nicht ertragen, dieses Thema noch länger durchzukauen. Meine Gedanken kreisten genügend um das Problem, das wir uns damit auf den Hals gehetzt hatten, dass wir nicht einmal anständig die Spuren beseitigt, geschweige denn von Anfang an die Polizei gerufen hatten. Wir hatten uns so richtig schön in die Scheiße geritten…! „Scheiße, Uru, das tut mir Leid, das hab ich ja nicht ahnen können…! Ich… was hattet… ich meine, ihr habt sie einfach liegen lassen…?“ „Ja“, schluchzte ich auf. „Ihr hättet die Bullen rufen müssen!“ „Aber die hätten gedacht, einer von uns hat sie die Treppe runter geworfen oder sowas…!“ „Jetzt denken die aber erst recht, dass es Mord war, wenn sie Spuren im Haus finden und keiner ist mehr da, außer der Leiche im Keller!“ Sakito hatte Recht. Ich hörte, wie Saga ein Glas für ihn auf den Tisch stellte und was auch immer darin war, Sakito leerte es mit einem Zug und wischte sich über die Augen. „Wir müssen noch mal zurück und die Bullen rufen“, ließ Reita fallen und nun schauten ihn alle im Raum verständnislos an. „Was denn? Hat einer ne bessere Idee? Wir sollten noch mal hingehen, so tun, als wären alle Spuren, die wir hinterlassen haben, eben erst entstanden und als hätten wir sie eben erst gefunden. Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir nicht verdächtig werden…“ Noch einmal ließ ich mir seine Idee durch den Kopf gehen. Eigentlich gar keine schlechte Idee, aber es durfte niemand einen Fehler machen und sich verplappern, irgendwelche Vermutungen zum Todeszeitpunkt oder ähnliches machen. Es würde seltsam genug werden, dass sie den Todeszeitpunkt herausfinden würden und ich ihnen sagen müsste, dass ich seit fast einer ganzen Woche nicht daheim gewesen war. Sie würden mich sofort ins Heim stecken… „Was, wenn ich ins Heim muss?“ Die Gespräche verstummten und sowohl Reita, Saga, als auch Sakito sahen mich überrascht an. „Hatten wir das Thema nicht schon? Du ziehst zu mir“, sagte Saga, warf einen kurzen Blick zu Sakito, als würde er diesem damit beweisen wollen, was für ein toller Kerl er war. Es kotzte mich in diesem Moment mehr als an…! „Aber du bist nicht meine Familie…!“, schluchzte ich. „Aber ein enger Freund und jemand, der dir nahe steht, oder nicht? Weder das Gesetz, noch irgendwer sonst verbietet es, zu nahe stehenden Personen zu gehen, wenn man niemanden mehr hat und ich zweifle nicht daran, dass du nicht lieber hier bei uns bleiben willst, als zu deiner Tante zu gehen, oder?“ „…stimmt.“ Somit schien das Thema wohl beendet. Nun saß ich da und hatte keine Ahnung, was ich als nächstes tun sollte. Ich konnte nicht noch einmal in dieses Haus zurück, wollte nicht noch einmal an dieser Tür vorbei. Was, wenn schon jemand vor uns sie entdeckt hatte und nun die Polizei rief? Was, wenn die Bullen, wie damals, schon vor der Haustür auf uns warteten, um unangenehme Fragen zu stellen…? „Wir sollten hingehen“, schlug Sakito vor, stand auf und schaute mich eindringlich an, „sonst sind wir hinterher zu spät. Also komm…“ Er zog mich auf die Beine, Reita stand sofort auf und legte einen Arm um meine Hüften, um mich zu stützen. Dankbar lehnte ich mich an ihn und spürte die Angst in mir hoch kriechen. Solche Situationen war ich schließlich nicht gewöhnt. Reita half mir in meine Jacke und auch Saga und Sakito zogen sich an, traten dann gemeinsam mit meinem Freund und mir in den dunklen Hausflur und liefen die Treppen herunter nach draußen. Es war kalt und es nieselte leicht, die Luft war stickig und es roch nach Regen. Genau das richtige Wetter, schoss es mir ironischerweise durch den Kopf und ich seufzte. Ich hasste Regenwetter. Nicht zuletzt, weil es mir meine Frisur immer ruinierte. Und bei eben dem Gedanken musste ich trocken auflachen, denn wer konnte in meiner jetzigen Situation schon an so etwas denken? Meine Mutter lag tot im Keller und ich verfluchte den Regen dafür, meine Visage ruiniert zu haben. Wie eigentümlich. Keiner von uns sprach ein Wort, während wir am Park vorbei liefen und in meine Heimatstraße einbogen. Alles war still, die Lichter waren ausgeschaltet und kein Mensch war mehr auf der Straße. Es schien wie ausgestorben, aber so war es hier schon immer gewesen abends. Immerhin war es ja auch schon halb elf und die meisten in dieser Straße waren alte Leute, die schon längst schliefen. Nur bei Aoi im Haus brannte noch Licht und ich hoffte bloß, dass uns niemand zufällig mit vier Mann auf der Straße erblicken würde. War es denn nicht eigentlich verdächtig, mit so vielen Leuten abends um halb elf durch die Straße zu laufen und dann die Bullen zu rufen? Plötzlich schlichen sich allerhand wirre Gedanken in meinen Kopf. Es war wirklich verdächtig, oder? Es war dunkel, kein Mensch war draußen und vier Mann riefen in einem unscheinbaren Mehrfamilienhaus die Bullen, weil eine betrunkene Mutter die Treppe runtergekullert war. Vier Mann! Und dann auch noch in zerfetzter Lederkleidung und mit Nietenjacke und Punkshirt. „Ich glaub das war keine gute Idee“, murmelte ich, woraufhin Sakito mich anschaute und fragend eine Augenbraue hob. „Wieso?“ „Vier Mann rufen die Bullen, weil eine Frau die Treppe runtergekullert ist und kein Mensch ist mehr auf der Straße, geschweige denn wach in diesem Viertel. Ist es da nicht offensichtlich…“ „Nein, gar nichts ist offensichtlich“, mischte sich Reita ein, „es war die beste Entscheidung, hierher zu kommen. Lass Sakito und mich nur reden, es ist ja nicht das erste Mal, dass wir mit den Bullen zu tun haben.“ „Das ist es ja“, entfuhr es mir etwas lauter als geplant, „die kennen euch und das bestimmt nicht gerade wegen irgendwelcher Lappalien!“ „Aber dich nicht“, zischte Sakito und deutete mir leiser zu sein, „und wenn sie einen verheulten, armen Kerl wie dich hier finden, der ihnen bestätigen wird, dass wir seine Freunde sind, denken die sicherlich nicht, dass wir was damit zu tun haben!“ Oh, wir standen ja wohl auf superdünnem Eis bei der ganzen Sache, oder?! Mich innerlich verfluchend, dass ich überhaupt jemals wieder zurück nach Hause gegangen war, folgte ich den anderen und unterdrückte diese furchtbare Übelkeit der Angst in mir. Mein Bauch zog sich schmerzhaft zusammen, als ich auf Sagas Frage hin den Schlüssel aus meiner Hosentasche kramte und die Tür aufschloss. Es stank noch immer nach Bier und Zigaretten, als ich sie langsam aufzog und als wir in den Flur traten, kam noch ein ganz anderer Geruch dazu. Würgend hielt ich mir die Nase zu und klammerte mich an Reitas Hand, die meine fest umschlossen hielt. „Wenn es schon nach Leiche stinkt, glauben die uns hundertprozentig, dass wir nichts damit zu tun haben. Das muss ja ewig her sein, dass die da runter gefallen ist…“, murmelte Saga, erhielt von Sakito gleich ohne viele Worte einen Schlag in die Seite für seine Unsensibilität und Taktlosigkeit. „Du bist ein Arschloch“, erwiderte Reita nüchtern, während er langsam ein paar Schritte vorwärts machte und dann vorsichtig in den Keller lugte. „Ich kann nichts sehen“, murmelte er, deutete auf den Lichtschalter im Flur neben mir, „mach das Licht an…!“ Ich tat, wie er es mir befohlen hatte und schaltete nach kurzem Zögern das Licht an, während Saga die Tür hinter uns schloss und im nächsten Moment sah ich, wie Reita angewidert das Gesicht verzog, sich eine Hand auf den Mund legte und zurücktaumelte. „Was ist…?“, fragte ich unsicher und spürte, wie mir wieder Tränen in die Augen stiegen. „Guck besser nicht“, nuschelte er in seine Hand und wandte sich ab, „sie hat Leichenflecken und die Platzwunde am Kopf fault…“ „Bah, Reita…!“, fluchte Sakito und schlang die Arme um mich, da ich nun doch wieder zu weinen angefangen hatte und gleichzeitig verfluchte ich mich dafür. „Wir sollten die Bullen rufen“, machte uns Saga auf unser eigentliches Vorhaben aufmerksam und deutete auf das Telefon, das auf dem Schrank neben der Küchentür stand. Ich nickte, schaute dann fragend in die Gesichter der anderen, denn ich konnte das ganz sicher nicht erledigen. Dafür war ich viel zu durcheinander und ich würde ihnen bestimmt nicht mal richtig erklären können, was passiert war. „Ich mach’s“, meldete sich Reita zu meiner Erleichterung zu Wort, bewegte sich von der Kellertür weg und nahm das Telefon an sich. Er wählte ohne zu zögern die Notrufnummer und sorgte dafür, dass meine Nervosität ins Unermessliche anstieg. Halt suchend klammerte ich mich an Sakito, der mich noch immer in seinem Arm hielt und zitterte etwas. „Schon gut“, beruhigte er mich, setzte sich mit mir auf den Boden und streichelte mir sachte über den Rücken. Reita hatte den Hörer bereits am Ohr und wartete nun einige Sekunden. Saga stand währenddessen neben ihm, schaute ab und zu etwas zögerlich zur Kellertür und schluckte, als Reita die Stimme erhob. „Guten Abend, Suzuki Reita hier. Hören Sie, ich bin hier bei einem Freund zu Hause, weil wir zusammen ein paar Sachen fürs Übernachten abholen wollten und dann haben wir seine Mutter tot im Keller gefunden… ja… was? Nein, wir wissen nicht, wie das passiert ist, aber sie ist vermutlich die Treppe runter gefallen… ja, sie liegt genau vor den Stufen…“ Während er das so sagte, klang er richtig überzeugend. Als hätten wir sie gerade eben erst gefunden. Dass wir gerade die Polizei anlogen, danach machte es gar keinen Anschein. Er klang schockiert, ja beinahe schon völlig fertig mit den Nerven. Saga neben ihm schaute ihn interessiert an und schon ruhte sein Blick wieder auf der Kellertür, während Reita weiter sprach. „Wissen wir nicht, ich bin ja schließlich kein Gerichtsmediziner! Können Sie nicht einfach herkommen? Mein Freund ist total am Ende… gut, wir warten.“ Er legte auf. „Du solltest Schauspieler werden“, murmelte Saga und ließ sich bei der Haustür nieder, kramte in seiner Tasche und holte eine Schachtel Zigaretten raus. „Musst du jetzt rauchen?“, fragte Reita überraschenderweise als erster und deutete auf mich, da ich noch immer wie ein Schluck Wasser in der Kurve neben Sakito hing und mir sowieso schon schlecht war vom Gesamtgeruch dieser Bude. Grummelnd steckte Saga seine Kippen wieder weg, woraufhin Reita zufrieden nickte, sich Sakito und mir gegenüber hinsetzte und abwechselnd uns und die Kellertür anschaute. Er war scheinbar genauso nervös wie ich, da er auf seiner Unterlippe herumkaute und mit seinen Fingernägeln spielte. Wir warteten eine ganze Weile. Und obwohl ich vor fünf Minuten erst auf meine Uhr geschaut hatte, kam es mir wie Stunden vor, bis wir endlich die Sirenen der Polizei hörten und das Blaulicht um die Ecke sahen. Natürlich gingen sofort einige Lichter der Häuser an und ich hörte Stimmen auf der Straße, weil die Haustür noch immer offen stand. Einige Schaulustige standen in ihren eigenen Haustüren und lugten herüber. Die Polizisten, sowie einige Gerichtsmediziner aus einem größeren Wagen stiegen aus und liefen auf uns zu. „Guten Abend“, begrüßte uns einer von den Männern, „wer von Ihnen wohnt hier?“ Mit noch immer geröteten Augen und tränennassem Gesicht hob ich die Hand, versuchte dann mit wackeligen Beinen aufzustehen, wobei Sakito mir glücklicherweise behilflich war. „Ihr Name?“, wurde ich gefragt. „Takashima… Uruha…“, brachte ich stotternd hervor, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und schaute Hilfe suchend zu Reita. Er würde die Situation erklären müssen, definitiv, denn dazu war ich längst noch nicht wirklich in der Lage. „Gut, können Sie mir sagen, wo die Leiche liegt und dann ein paar Fragen dazu beantworten?“ „Kann ich ihm dabei helfen?“, fragte mein Freund glücklicherweise, „Ich glaub nicht, dass er das in seinem Schockzustand alleine hinbekommt.“ „Haben Sie uns angerufen?“, fragte der Mann und schaute Reita kurz abschätzend an. Kannte er ihn schon? „Ja“, bestätigte mein Freund die Vermutung, „weil er hier nicht einmal mehr die Nummer für den Notruf wusste, als er seine Mutter so gefunden hat…“ Wie gut er doch im Lügen war. Mein Herz schlug mir gerade bis zum Hals aus Angst, dass die Polizei misstrauisch werden könnte, doch ich ließ mir nichts anmerken und schaute deshalb lieber wieder genauso schockiert und neben der Spur zu dem Geschehen im Keller, wo gerade einige Männer hinein verschwanden, mit mehreren Taschenlampen bewaffnet und mit Mundschutz. „Also gut“, sagte der Wachmann vor uns, „wann haben Sie die Leiche hier gefunden?“ „Als wir hergekommen sind, um ein paar Sachen zu holen. Das war vor etwa… zwanzig Minuten, also zehn Minuten, bevor Sie gekommen sind“, erklärte Reita ihnen und sah mich an, woraufhin ich nur kurz nickte und schniefte, den erneut aufkommenden Tränen freien Lauf ließ. „Ihre Mutter?“, fragte mich der Polizist, woraufhin ich mir fest auf die Unterlippe biss und erneut nickte. „Das tut mir sehr Leid. Ich hab sie noch vom letzten Mal in Erinnerung…“ Und da fiel es mir auch auf. Es war derselbe Typ, der mich zurück zu Sagas Wohnung gefahren hatte, als irgendwer die Fenster zum Schlafzimmer meiner Mutter eingeworfen hatte. „Und sie lag schon so an der Treppe, als Sie sie gefunden haben?“, fragte er noch einmal, woraufhin ich wieder nur nickte. Schließlich kam einer der Männer aus dem Keller zu uns herauf und zog sich seinen Mundschutz herab. „Der Todeszeitpunkt liegt schon etwa zwei bis drei Tage zurück. Genaueres können wir noch nicht sagen, außer, dass sie sich das Genick gebrochen hat beim Sturz und dass das Kellerlicht nicht funktioniert. Wahrscheinlich hat sie deshalb eine Stufe übersehen und ist gestürzt oder jemand hat sie geschubst.“ Eine Sekunde lang herrschte Stille. Ich glaubte gespürt zu haben, wie mein Herzschlag einmal ausgesetzt hatte und auch Reita schien kurz wie erstarrt, doch dann erhob der Wachmann wieder sein Wort. „Können Sie einen Mord ausschließen?“, fragte er an mich gewandt und ich wusste im ersten Moment gar nichts zu antworten, bis mir mein Freund auch schon zuvorkam. „Zumindest können wir uns selbst ausschließen, denn mein Freund ist seit mindestens einer Woche nicht zuhause gewesen.“ „Warum das?“ „Weil sie… Alkoholikerin war und… mich geschlagen hat“, murmelte ich und kam somit Reitas Antwort zuvor, ehe meine Stimme brach und ich erneut leise aufschluchzte. Kurz musterte der Wachmann mich skeptisch, kräuselte dann aber die Nase und schaute ins Wohnzimmer, wo überall noch die Bierflaschen auf dem Tisch verteilt standen. „Danach sieht es hier auch aus“, nuschelte er in seinen Bart und rief einige Mediziner zu sich, um sie anzuweisen bei der Obduktion nach eventuellen Schäden in ihrem Körper zu suchen, die der Alkohol hinterlassen hatte. Er begann, sich ein wenig umzusehen und öffnete dann ganz nebenbei die Küchentür, verzog kurz das Gesicht und schloss sie wieder. „Nun, Anzeige erstatten brauchen Sie ja jetzt nicht mehr“, meinte er ziemlich ungerührt, „aber wir müssen trotzdem Ihre Verwandtschaft benachrichtigen und eine neue Bleibe für Sie finden, da Ihre Eltern anscheinend getrennt leben. Hab ich das richtig interpretiert?“ „Deshalb bin ich hier“, warf Saga schließlich auch ein und trat zu uns, „ich bin sein neuer Wohnpartner. Meine Wohnung ist hier ganz in der Nähe und er kann bei mir einziehen, wenn er will. Ist kein Problem, wir melden dann das Kindergeld auf sein Konto an und kündigen die Wohnung hier.“ Überrascht schauten die Beamten meinen Kumpel an, schwiegen dann einen Augenblick und berieten sich schließlich. Währenddessen hatte ich nach Reitas Hand gegriffen, hielt sie fest und trat noch immer leise schluchzend einen Schritt zurück, als die Trage mit dem schwarzen Tuch darüber aus dem Keller geholt wurde und man die Leiche meiner Mutter an uns vorbei trug. Es war ein furchtbares Bild. Und das Wissen, dass es meine eigene Mutter war, die bald in einem gerichtsmedizinischen Krankenhaus liegen würde und das aufgeschnitten und von oben bis unten, sowie außen und innen untersucht würde, trieb mir eiskalte Schauer über den Rücken. Warum ausgerechnet ich… „Trotzdem bitten wir Sie, wenn Sie sich von dem Schock erholt haben, morgen zu uns aufs Revier zu kommen und einige Dinge zu klären. Schließlich sind Sie noch minderjährig. Ihren zukünftigen Mitbewohner bringen Sie bitte auch mit, es muss mit ein paar Beamten und den Leuten vom Einwohnermeldeamt gesprochen werden. Können wir Sie allein nach Hause lassen?“ „Es wäre besser, wenn wir sie bringen, meinen Sie nicht auch?“, warf ein anderer Polizist ein, der neben dem Oberoffizier stand und Notizen gemacht hatte über alles, was bisher gesagt wurde. Kurz nickte er, deutete dann auf die Tür und die noch immer mit Blaulicht blinkenden Autos, zu denen wir uns dann langsam begaben und einstiegen. Meine ehemaligen Nachbarn standen nun allesamt draußen vor ihren Türen und sahen zu, wie meine Freunde und ich in ein Auto stiegen. Natürlich wurde getuschelt und gegafft, weil schließlich ich es war, der hier gerade in einem Polizeiauto davon kutschiert wurde, und weil vorher ein Leichensack aus dem Haus getragen worden war. Man fragte sich sicherlich, was vorgefallen war. So sah ich auch das große Fragezeichen in Aois Miene, der mit seiner Mutter draußen vor der Tür stand und entsetzt dreinschaute, als er mich erkannte, der da im Auto saß und völlig fertig an seinen Freund gelehnt war. Ich sah im Rückspiegel des Autos, wie er uns hinterher starrte und sogar einige Schritte auf die Straße machte, doch dann verlor ich ihn aus den Augen, als wir um die Ecke bogen und Saga begann, den Weg zu seiner Wohnung zu erklären. „Der denkt bestimmt, ich hätte was verbrochen und wurde verhaftet“, flüsterte ich leise in Reitas Ohr, als ich mich zu ihm raufgebeugt hatte und den undefinierbaren Blick des Wachmannes vor uns ignorierte. © Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)