Wednesday´s Children von Tsutsumi ================================================================================ Kapitel 1: Stage 1: Aida- Kensuke´s Kingdom ------------------------------------------- Er hatte vergessen, seinem Vater eine Nachricht zu hinterlassen. Für gewöhnlich legte er ihm einen Zettel hin. Das hatte Tradition. Seine ersten Schriftzeichen waren die gewesen, mit denen er sich auf einem Stück Papier mit „Ich bin Spielen gegangen.“ abmeldete. Mit der Zeit waren seine kalligraphischen Fähigkeiten besser geworden, geschwungener, ohne Zitterlinien, wo die Hände noch unsicher gewesen waren. Viel verändert hatte sich trotz allem nicht. Kensuke hatte seit jeher Zettelchen geschrieben. Inzwischen könnte man Bücher mit ihnen füllen, sie aufeinanderstapeln bis zur Decke, hätte man sie alle aufgehoben. Er meldete sich stets ab, wenn er etwas einkaufen ging, bummeln, zu Touji. Oder hierher. Wenn er hierher ging, pflegte er noch immer zu schreiben; „Ich bin Spielen gegangen.“ Diese Zettelwirtschaft hatte sein Vater eingeführt. Damals, als Kensukes Mutter gestorben war- an den Folgen der Langzeitnachwirkungen des Second Impact- hatte monatelang das pure Chaos geherrscht. Kensuke war damals erst fünf Jahre alt gewesen und hatte sich beigebracht, wenigstens das Geschirr selbst abzuwaschen. Sein Vater hatte damals nicht gewusst, ob er sich zuerst im Wein oder in der Arbeit ersäufen sollte. Irgendwann hatte er sich aufgerafft und sich schließlich klugerweise für die letztere Variante entschieden. „Damit wir uns umeinander keine Sorgen machen brauchen, schreiben wir uns immer Zettel, okay?“ Kaum dass er seinen Sohn in die Schule geschickt hatte, war Herr Aida mit der Idee angekommen. Eine Idee, die zur ersten und letzten festen Stütze für den Jungen geworden war. Diese Welt war das reine Chaos- und Kensuke fühlte sich als ein Teilchen des Gesamten. Er hatte die heimische Küche noch nie wirklich aufgeräumt gesehen. Sein Vater scherte sich nicht darum, ob auf den Tellern Fliegen saßen oder die Essensreste vom Vortag in der Morgensonne vergammelten. Er konnte sich meistens gar nicht darum kümmern, weil er im Akkord arbeitete. Oft kam er nicht einmal nach Hause. Kensuke stand auf dem dicken Querast der Kiefer, hielt sich mit der rechten Hand fest und schirmte mit der linken die Sonne ab um über den Waldrand und das Feld zu blicken, welches sich bei der blendenden Sonne bis in die Ewigkeit ziehen zu wollen schien. Wildes, hohes Gras, welches ihm fast bis zu den Schultern reichte und an den Spitzen puschelige Blüten trug, die wie Federn anmuteten, überwucherte die Szenerie. Manchmal standen Hirsche darin, nahe dem Wald und er konnte sie erst sehen, wenn er herangerannt kam und sie vor Schreck hinfortsprangen oder er auf einem Baum hockte und der Wind die Grashalme zu fest auseinanderblies, dass sich die Tarnung der Tiere aufhob. Kensuke griff nach seinem Feldstecher und suchte das Feld ab. Hinter ihm in den Zweigen saßen Zikaden und zirpten ihre Sinfonien so laut, dass es ihm in den Ohren klingelte. Die Klimakatastrophe hatte dafür gesorgt, dass sich die Insekten explosionsartig vermehrt hatten, während ihre Fressfeinde die Veränderungen weniger flexibel überstanden hatten. Der Junge zog den Riemen des Soldatenhelmes am Kinn fest, überprüfte seine Tarnuniform, die Schnürsenkel der Stiefel, die so gerne aufgingen. Alles saß beinahe perfekt. Er wartete auf sie. Irgendwann hatte sein Vater begonnen, kaum noch nach Hause zu kommen. Meistens übernachtete er im Geosektor in einer der tausend Einzelzimmer, die sonst nie genutzt wurden. Kensuke hatte nie die Erlaubnis bekommen, den Arbeitsplatz seines alten Herren mal besichtigen zu dürfen. In seiner Vorstellung war es eine kleine, graue Kammer mit einem Bett und einer altmodischen Kerze. In seiner Vorstellung schaute sein Vater sich vielleicht vor dem Schlafengehen ein Foto an, auf dem er, seine Frau und sein Kind abgebildet waren- ein Foto aus glücklichen Tagen- und schob es dann unter sein Kopfkissen wie es die Typen in den Kriegsfilmen immer taten. Natürlich konnte das alles nicht stimmen, aber Kensuke war, auch wenn er kaum jemandem gegenüber zugeben würde, ein Mensch mit einer sehr dramatischen Vorstellungskraft. Manchmal hatte er das Gefühl, inkompatibel zum Rest seiner Mitmenschen zu sein. Wie ein Stecker aus einem anderen Land, der hier nicht in die Steckdose passte. Und Adapter gab es für Menschen eben nicht. Die Sonne schien so warm herab, dass Kensuke das Gefühl hatte, in seinen Stiefeln würde es kochen. Ungeduldig überblickte er das Feld erneut. Sie waren spät heute, verdammt spät. Vielleicht hatte es etwas mit der Verstärkung zu tun. Vielleicht hatte es einen Anschlag gegeben? Er griff noch einmal in seine Hosentasche, zog sein Handy hervor und vergewisserte sich, es ausgeschaltet zu haben. Oben im Wipfel der alten Kiefer setzte sich ein schwarzer Singvogel, dessen Namen er nicht kannte und trällerte gegen das Zirpen der Zikaden an. Der Junge schaute hoch, betrachtete das Tier und legte den Kopf leicht schief. Die anderen wussten nichts davon. Doch. Shinji wusste es. Shinji war es einmal gelungen, hier einzudringen. Er hatte es damals unabsichtlich getan- wusste der Teufel, wie er es geschafft hatte, in diese Wildnis hier draußen zu gelangen, aber Ziellosigkeit leitete einen wahrscheinlich manchmal weiter als wenn man einen Ort hatte, wo man hingehen wollte. Shinji wusste also von diesem Ort. Doch was er und alle anderen nicht wussten, war, dass dies hier Kensukes Herrschaftsgebiet war. Eine sanfte Brise schaukelte die Grashalme der weitläufigen Wiese zu seinen Füßen. Bald würde es dämmern. Dann knackte irgendwo ein Zweig und er wandte alarmiert den Blick vom Vogel über sich ab. Da waren sie. Jetzt durfte er keine einzige Sekunde verschwenden. Blitzschnell ließ er sich von der Kiefer sacken- vielleicht hatten sie ihn schon entdeckt- er musste zusehen, dass er den Standort wechselte. Bloß weg vom Lager! Sein Herz begann zu rasen. Es war mindestens ein Dutzend Mann gewesen, vielleicht sogar fünfzehn oder sechzehn. Und er alleine gegen all diese wendigen, trainierten Typen- er musste wahnsinnig sein! Einen kurzen Augenblick verbarg er sich am Stamm der Kiefer, pirschte sich dann langsam vorwärts, wagte es nur sich zu bewegen, wenn der Wind sanft wehte und die Halme des hohen Grases aneinanderrascheln ließ. Sie würden versuchen, ihn einzukesseln. Nun, zugegeben, sie würden es nicht versuchen müssen, wenn er nicht schnell genug handelte. Warum war er auch allein hier draußen? Er hatte die Verantwortlichen so oft vorgewarnt, dass ihnen seine verzweifelten Meldungen zu den Ohren wieder herausgekommen sein mussten. Und wieder einmal hatte niemand auf ihn gehört. Klagen half jetzt nichts. Kensuke zog sein auf den Rücken geschnalltes Gewehr am Kolben hervor und pirschte sich geduckt weiter vor. Wenn es den Bastarden bereits gelungen war, ihre Späher bis hierhin zu entsenden, war Neo Tokyo 3 bald schutzlos ausgeliefert. Er musste diese Leute also erledigen, bevor die zu ihren Stützpunkten zurückkehren und Meldung machen würden können. Sein Herz hämmerte ihm bis zum Hals. Er hatte keinerlei Erfahrung. Er war ein Blättchen im Wind gegen diese bis an die Zähne bewaffneten Alliierten dort vorne. Und doch, es gab keinen anderen Ausweg. Kensuke wagte den Vorstoß. In ca. zwanzig Metern Entfernung hatte er die feindlichen Männer durch das Gras schimmern sehen, ihre dunkelgrünen Uniformen hoben sich von gelblich gefärbten Halmen deutlich ab. Er begann, stoßend zu atmen, entsicherte seine Waffe und schob sich ein letztes Mal die Brille so hoch, dass seine Wimpern beinahe gegen die Gläser schlugen. Obwohl er nicht wusste, ob diese Taktik hier nützen würde, begann er im Zickzack zu laufen. Es kam auf Geschwindigkeit an, pure Geschwindigkeit gepaart mit dem Überraschungseffekt. Er stürmte so nahe am Feind vorbei, dass er ihre Stimmen klar und deutlich hören konnte, ihre geknautschte Sprache, die er nicht verstand. Er riss das Gewehr hoch und feuerte zwei-dreimal, schlug sich sogleich in die nächste Deckung. In seinen Ohren rauschte das Blut, pochte der Nachhall der Schüsse- Zwei der Männer waren wie Marionetten, denen man die Fäden durchschnitten, gefallen. Jetzt wussten sie, worum es ging. Fünf der Typen beugten sich über die beiden Soldaten, die jetzt am Boden lagen, die anderen begannen, mit entsicherten Waffen die Umgebung abzusuchen. Kensuke kauerte am Boden und atmete so schnell dass ihm kurzzeitig schwarz vor Augen wurde. Es waren jetzt noch dreizehn, er hatte sie blitzschnell zählen können. Verstärkung wäre jetzt nicht schlecht, dachte er sich. Seine Kehle war schon jetzt eingetrocknet, seine Hände zitterten. Wenn sie ihn bekämen... sie würden ihn nicht schonen nur weil er noch ein halbes Kind war. Mit rasselndem Atem zwang er sich, bezwang seine Todesangst und stieß erneut vor. Diesmal war er nicht geschickt genug. Zwei feindliche Soldaten entdeckten ihn, rissen die Waffen hoch, begannen zu schreien. Er konnte nichts mehr tun als sich einer Schießerei auszusetzen, feuerte so gut es ging und warf sich sogleich hinter einen Baum. Ein dritter Mann war in sich zusammengesunken. Jetzt beugten sich zwei über ihn, der Rest nahm den Jungen unter Beschuss. Kensuke gestattete sich ein Zucken der Mundwinkel, ein Lächeln. Er hatte drei von diesen Bastarden ganz alleine erledigt. Er hatte es alleine geschafft! Dies war seine Herrschaftsgebiet, sein Grund und Boden. Niemand hatte es zu betreten, wenn er es nicht wollte. Geschickt verbarg er sich hinter dem Baumstamm, der glücklicherweise dick genug war, schoss zwei-dreimal auf den Trupp vor sich, der sich wegen der Verletzten nur langsam bewegen und selbst Deckung aufsuchen konnte. Sechs dieser Leute beschossen ihn unablässig, links und rechts stoben Stücke von Baumrinde und Holzsplitter vom Baum, als würde er langsam aber sicher durchgehackt werden. Ob sie einen Sanitäter dabei hatten? Ob sie Verstärkung rufen würden? Je länger er hinter dem Stamm kauerte und angesichts des Kugelhagels auf sich den Kopf einzog, desto unsicherer wurde ihm die Aktion. Vielleicht hätte er sich dem Feind doch nicht stellen sollen. Vielleicht hätte er einfach nur die Klappe halten und zur richtigen Zeit einen Bunker aufsuchen sollen. Gerade als er begann, ernsthaft Angst zu empfinden, vernahm er das Knacken von Zweigen und ein Grunzen direkt hinter sich, bei dem ihm das Blut in allen Adern gefror. Es war still geworden. Er wandte sich langsam herum und starrte einem der Soldaten in die Augen. Der älteste Trick der Welt. Ablenkung von vorne und schließlich ein Hinterhalt, offensichtlich einfach anzuwenden bei nur einem Gegner. Der Junge spürte wie seine Hände schweißnass wurden, sein Gewehr Millimeter um Millimeter nach unten rutschte. Dann hörte er das Knallen, welches alle Zikaden zum Verstummen brachte, alle Vögel in der Umgebung erneut aufscheuchte, spürte eine überwarme Energie in seinem Bauch, wie das Entzünden eines inneren Feuers. „Was machst du hier? Übst du für einen Guerilla-Krieg?“ Shinjis ahnungslose Stimme hallte in seinem blutleeren Kopf. Ikari hatte dabei beinahe spöttisch gelächelt- und nun, in Kensukes Erinnerung, tat er das auch. Shinji hatte keine Ahnung, keinen blassen Schimmer. Verzogene Eva-Piloten wie er hatten von nichts eine Ahnung, sie lebten in einer ganz anderen Welt, wussten die Bewunderung, die man ihnen entgegenbrachte, kaum zu schätzen, verkannten sie und behaupteten, dass sie das Steuern von Eva als Belastung empfanden. Wusste Shinji denn nicht, dass der Krieg schon längst ausgebrochen war? Hatte er nicht erkannt, dass man hier schon seit Ewigkeiten um das nackte Überleben kämpfte? Kensukes Beine gaben nach, er sackte zusammen, seine Knie schmerzten, als er mit voller Wucht auf ihnen zusammenfiel, sich mit den Armen atemlos am Waldboden, der mit Nadeln übersät war, abstützte. Das Brennen in seinem Bauch wurde von Sekunde zu Sekunde heißer, ging in einen spitzen Schmerz über. Das Atmen... er musste atmen! Der Mann, der auf ihn geschossen hatte, trat neben ihn, nahm wortlos sein Gewehr und stapfte davon. Kieselchen, Sand und Zweige knirschten unter seinen Stiefeln, laut und sterbend. Kensuke schaffte es, ganz langsam und ganz flach zu atmen, er presste seine Rechte auf seinen Bauch, auf die Stelle, aus der das Brennen kam und sich ausbreitete. Sie wurde dunkelrot. Unter schwerster Anstrengung schleppte er sich vom Baum weg, weiter auf das offene Feld. Der Boden unter seinen Füßen begann zu beben, laut, grollend und so irritierend, dass der Junge es nicht schaffte, sich länger auf den Beinen zu halten. Erneut sackte er auf die Knie, konnte sich so gut wie gar nicht aufrecht halten. Dann sah er die Evas. Aus der Ferne kamen sie angesprintet, blitzschnell, tollkühn hechteten sie über Strommasten und über Felsvorsprünge des Gebirgsrandes. Blau, rot und pupur glänzten ihre Panzer in der Sonne. Kensuke spürte, dass er nun nicht mehr atmen konnte. Aus seinem Mund quoll dickflüssiges Blut. Er versuchte, es schnellstmöglich auszuspucken um wieder nach Luft schöpfen zu können, doch es hörte einfach nicht auf. Verzweifelt keuchend brach er zusammen, als Eva 01 an ihm vorbeidonnerte. Der Trupp der feindlichen Soldaten krächzte erschrocken auf, versuchte, in den Wald zu fliehen. Das war das letzte, was Kensuke sah. Er sank nieder, auf die Seite, dann auf den Rücken. Ganz in seiner Nähe erfolgte der Kampf, Maschinengewehre knatterten ohrenbetäubend , das Stampfen der Evas wirkte wie ein Ersatz für seinen immer mehr verblassenden Herzschlag. Ein Stampfen, welches sein Mark bis ins Innerste erschütterte. Die Seite der Allmächtigen siegte und er gehörte nicht dazu. Vielleicht hatte sein Vater inzwischen auch eine neue Freundin. Das konnte ja gut möglich sein. Vielleicht schlief er lieber in einem Bett einer neuen Frau als zu seinem Sohn nach Hause zu gehen, dessen Aussehen ihn tagtäglich an den Tod seiner geliebten Ehefrau erinnerte. Vielleicht war das des Rätsels Lösung. Vielleicht auch nicht. Kensuke wusste es nicht- sein Vater schrieb ja keine Zettel. Lange, beinahe viel zu lange lag der Junge da und starrte gedankenversunken in den sich allmählich dunkel verfärbenden Himmel. Die Zikaden zirpten laut in der Kiefer, in der er eben gehockt hatte, der Vogel mit dem schwarzen Gefieder saß noch immer im Wipfel und sang leise sein Liedchen. In seinen Szenarien pflegte Kensuke immer, am Ende zu sterben. Es gehörte dazu wie die Uniform und der Helm. Es galt, möglichst echt zu sein. Im wirklichen Leben hatte man ihm keine Chance gegeben, also warum sollte er in seinen Theaterstücken eine haben? Minutenlang lag er dann im hohen Gras, hielt den Atem an solange er konnte. Starrte den Himmel an, zählte die vorbeiziehenden Wolken. Vorsichtig legte er die Hand an den Bauch, genau auf die Stelle, an der er eben noch verletzt gewesen war, zog das Hemd hoch und fühlte auf der intakten Haut nach. Es kitzelte nur ein bisschen. Heute hatte er zum ersten Mal keine Nachricht auf dem Küchentisch hinterlassen. Wenn sein Vater nach Hause kommen sollte, wusste er diesmal nicht, wo sein Sohn war. Zum ersten Mal. Kensuke hatte die einzige Tradition seiner Familie gebrochen. Jetzt gab es beinahe nichts mehr, was ihn hielt. „Ich bin Spielen gegangen.“, murmelte er leise ins hohe Gras hinein. Nein, Blödsinn. Er spielte nicht. Er übte für den Ernstfall. Er war der Späher, der Reservist, einer dieser unbegabten Versager, die niemals Eva-Pilot werden würden. Wenn er irgendwann nicht mehr da wäre, würde das sein Vater wahrscheinlich ohnehin nur am Fehlen der Zettel merken. So einen Taugenichts brauchte man nicht weiter. Deshalb musste Kensuke üben. Wenn der Krieg kam, musste er bereit sein, mehr als nur vier Soldaten niederzuschießen. Dann würde er hier auf den Feldern vor Neo Tokyo 3 warten, mit einem richtigen Gewehr im Anschlag. Genau hier. In seinem Hoheitsgebiet. To be continued... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)