Mondlicht und Sonnenwind von Lizard (aus den Schatten der Vergangenheit) ================================================================================ Kapitel 12: Tatendrang ---------------------- Vorbemerkung: Ich bedanke mich ganz herzlich bei allen potentiellen Lesern für das Interesse an meiner Geschichte, besonderer Dank geht dabei nochmals an inukimi für den Kommentar zu Kapitel 11 und für die fortwährende Unterstützung! Weiter im Text: in dem jahr(zehnt)elang überfälligen, vergangenen Kapitel lüftete sich ein wenig das Geheimnis um die Identität von Inutaishous Feinden. Der gefangene Heerführer Kage stand dem aufständischen Hundedämon Akechi sowie der mysteriösen Drachendämonin Hotaru gegenüber und fand sich alsbald in einer prekären Lage wieder, denn er soll zum Verrat gezwungen werden. Umso besser, dass sich währenddessen zwei Rettungstrupps auf den Weg in die Feste in der Tiefe gemacht haben, obwohl die Rettung beiderseits leicht in einem Desaster enden könnte... Enjoy reading! Kapitel 12: Tatendrang Es war wieder Nacht geworden. Ein abnehmender Sichelmond beleuchtete matt das einsame Berggebiet, in dem sich die Feste in der Tiefe verbarg. Seit dem Überfall auf die Gefolgsleute von Inutaishou und der Verschleppung seiner überlebenden Getreuen war bereits mehr als ein Tag vergangen. Für den Herrscher des Westens war das eine unerträglich lange Zeit der Ungewissheit gewesen, doch nun endlich lag sein Ziel direkt vor seinen Augen. Der Dämonenfürst hockte lauernd hinter einem Felsen und blickte grimmig auf das Bergmassiv vor sich. Das überwiegend nackte Gestein glänzte hellgrau im schwachen Mondlicht. Nur ein spaltartiger und auf den ersten Blick unauffälliger Bereich der Bergwand, auf die Inutaishou starrte, lag in völliger Schwärze. Dieser dunkle Bereich war ein Höhleneingang. Davor flackerte unruhig ein rötlicher Schein: der Schein eines Feuers, an dem vier Dämonenkrieger in menschenähnlicher Gestalt lagerten. „Das ist einer der Eingänge in die Feste“, flüsterte Aoi. Die Wolfsdämonin kauerte zusammen mit ihrem Artgenossen Chugo und drei tierischen Begleitern hinter Inutaishou. „Und der Eingang ist natürlich bewacht“, knurrte Chugo leise: „Es wird nicht einfach werden, unbemerkt da rein zu kommen.“ „Rechts am Fuße der Bergwand bietet die Vegetation genügend Deckung“, stellte Inutaishou fest, „wir können uns von dort aus seitlich heranschleichen.“ Der Dämonenfürst löste seinen Blick von der Szenerie vor sich und sah prüfend zu Chugo: „Kannst du zwei der Wachen übernehmen?“ Der Wolfsdämon nickte stumm. „Gut“, meinte Inutaishou und schaute danach fragend auf Aoi: „Wie weit wirkt die schützende Abschirmung des Fuyoheki?“ „Normalerweise nur bis zu zwanzig Schritt“, erwiderte Aoi und drehte bedeutungsvoll eine kristallene Kugel in ihren Händen, „doch die Reichweite lässt sich kurzfristig auch bis auf das Zehnfache erweitern.“ „Perfekt, das genügt. Dann warte mit den drei Wölfen hier bis wir die Wachen beseitigt haben!“ Ohne ein verräterisches Geräusch zu verursachen erhob Inutaishou sich und huschte, geduckt in die Schatten von Felsen, Büschen und Bäumen, an die Felswand mit dem Höhleneingang heran. Chugo folgte ihm ebenso lautlos. Die vor dem Felsenspalt lagernden, dämonischen Wächter bemerkten nichts von der sich annähernden Bedrohung. Der Fuyoheki, ein magischer Schutzstein, den sich Aoi von einem Berggeist ausgeliehen hatte, tarnte die Heranschleichenden hervorragend. Er unterdrückte nicht nur jegliche dämonische Ausstrahlung, sondern auch jeden Geruch. Die lange Verzögerung, die Inutaishou in Kauf hatte nehmen müssen, um den Fuyoheki zu holen, zahlte sich nun aus. Einer der Wächter zuckte zwar alarmiert zusammen, als er einen Schatten über sich sah. Aber es war schon zu spät. Im gleichen Moment riss ihn etwas aus seiner sitzenden Position in die Höhe und brach ihm das Genick. Seine drei Kumpane starben auf ähnliche Weise, bevor sie richtig reagieren konnten. Chugo zog die Getöteten flink hinter ein nahelegendes Gebüsch und verbarg sie dort. „Hoffen wir, dass nicht ein baldiger Wachwechsel ansteht.“ Inutaishou nickte nur und wandte seine Aufmerksamkeit dem spaltartigen Höhleneingang zu. Der Spalt war gerade so groß, dass sich ein Mann hindurchzwängen konnte. „Wartet! Lasst mich voran gehen!“ Aoi war mit Chugos Wölfen hinzu gekommen und drängte sich nun vor dem Hundeherrn in den Spalt. Drinnen erweiterte der Höhleneingang sich, so dass Aoi sowie die ihr nachfolgenden Dämonen und tierischen Begleiter daraufhin in einem hallenartigen Felsrund standen. „Hier geht es ja gar nicht weiter“, bemerkte Chugo verblüfft. „Lass dich nicht verwirren“, erklärte Aoi, „das ist bloß eine Täuschung!“ Prüfend betastete die Wolfsdämonin die gegenüberliegenden, massiven Felswände. „Ich muss die richtige Stelle finden und berühren“, murmelte sie, „ich schätze, es ist da, wo der Fels sich warm anfühlt...“ Plötzlich begann der Felsen bläulich zu schimmern. Direkt vor Aoi wurde das Gestein durchsichtig. Eine mannshohe, ovale Öffnung bildete sich. Dahinter lag ein zwei Meter hoher und fast ebenso breiter Gang. Schwach glimmende Fackeln, genährt durch dämonisches Feuer, beleuchteten diesen. „Vorsicht!“ Mit einer warnenden Handbewegung hielt Aoi den Herrn der Hunde und ihre Artgenossen zurück, als diese den Gang betreten wollten. „Da ist eine Falle“, begründete Aoi ihre Warnung: „Seht ihr dort unten auf dem Boden die musterartig ausgelegten Steinplatten? Man muss diese Platten in einer vorgegebenen Reihenfolge betreten. Man darf sie auch nicht überspringen oder überfliegen. Ansonsten bildet sich ein Bannkreis, der uns in der Eingangshöhle einschließt. Dieser Bannkreis besteht aus uralter Drachenmagie, dagegen kommt keiner von uns an.“ Inutaishou war zwar überzeugt, dass er sehr wohl gegen so etwas ankommen könnte. Doch das gewaltsame Zerstören eines Bannkreises würde sicherlich ungewollte Aufmerksamkeit erregen. Und das war nicht in seinem Sinne, denn dann hätte er sich auch das Besorgen des Fuyoheki sparen können. Daher folgte der Dämonenfürst lieber Aoi aufmerksam über die Steinplatten, immer genau dorthin seinen Schritt setzend wie sie es ihm vormachte. Zuletzt kam Chugo und dirigierte dabei vorsichtig die drei vor ihm her springenden Wölfe richtig über das Steinmuster. „Das läuft bisher ja ganz gut“, meinte der Wolfsdämon nach erfolgreicher Überwindung dieser Hürde und streichelte seine tierischen Gefolgsleute lobend. „Rein zu kommen ist keine große Schwierigkeit, wenn man sich auskennt, problematisch wird es eher raus zu kommen“, sagte Aoi dazu und folgte leise vorwärts huschend dem Gang. Inutaishou, Chugo und die drei Wölfe schlossen sich ihr sofort an. Der Gang wurde zunächst noch etwas breiter und höher, dann endete er vor einem Abgrund. Die Wölfe und der Hundedämon standen auf mittlerer Höhe vor einer riesigen, kuppelartigen Höhle. Überall von dieser rundlichen Höhle zweigten unter und über ihnen viele weitere Gänge ab. All das glich einem gewaltigen Röhrensystem. „Meine Güte“, stöhnte Chugo, „das ist ja unglaublich! Das sieht ja aus wie der unterirdische Teil eines Ameisenbaus in Riesenformat. Wie viele Drachen haben denn einst hier gehaust und diese unzähligen Gänge gegraben? Der reinste Irrgarten!“ Inutaishou betrachtete den nun ersichtlichen Ausschnitt des unterirdischen Bauwerks ebenfalls mit sehr gemischten Gefühlen. Er hatte damit gerechnet, dass die Feste in der Tiefe riesig und ungewöhnlich war, aber das wirkliche Aussehen und die wahren Ausmaße dieser Festung übertrafen seine Vorstellung. Die ganze unterirdische Drachenburg war nichts anderes als ein unermesslich in die Breite und Tiefe gehendes Höhlenlabyrinth! Aoi kletterte und sprang währenddessen zu einem anderen, schräg nach unten führenden und besonders breiten Gang hinab. Von dort aus bedeutete sie Inutaishou und Chugo ihr zu folgen. Als diese das getan hatten, fuhr die Wolfsdämonin mit hilfreichen Erklärungen fort: „Das hier ist einer der Hauptgänge. Er führt ins Mittelgebiet der Feste, zu großen Hallen und Wohngebieten. Darunter liegen, soweit ich weiß, ausgedehnte Lagerbereiche und sicher auch die Kerkerräume. Ich würde vorschlagen, dass wir zunächst in Richtung des Thronsaals gehen. Denn der ist das Herzstück dieser Labyrinthburg, in dem sich viele der Wege vereinen. Von dort aus finden wir sicher am leichtesten einen Weg zu den Verliesen. Bis zum Thronsaal kann ich noch die Führung übernehmen, bis dorthin bin ich schon einmal fast gekommen. Aber weiter kenne auch ich mich nicht mehr aus. Dann müssen wir nach Gutdünken weiter... Außerdem hat sich seit meiner ersten Erkundung hier bestimmt einiges verändert, schließlich ist die Feste im Gegensatz zu damals jetzt wieder bewohnt. Vielleicht gibt es auch neue, mir unbekannte Fallen... Deshalb kann ich nicht sagen, was uns alles erwarten wird.“ Inutaishou musterte noch einmal die Umgebung und sah schließlich Aoi fest in die Augen. Immer noch wurde er nicht das seltsame Unbehagen los, das er in Gegenwart der Wolfsdämonin empfand. Konnte er ihr wirklich trauen? „Woher und warum weißt du eigentlich so viel über die Feste in der Tiefe?“ Aoi senkte ihren Blick und betrachtete den Fuyoheki in ihren Händen. „Chugo sagte Euch doch schon, dass ich bereits einmal hier drinnen war. Es ist schon etwas länger her. Ich war damals auf der Suche nach etwas... es war eine sehr törichte Idee und wäre mir beinahe zum Verhängnis geworden. Mein Gefährte rettete mich und gab dafür sein Leben... verzeiht, aber versteht bitte, dass ich nicht gern darüber spreche!“ Diese Antwort stellte Inutaishou zwar keinesfalls zufrieden, aber er beließ es dabei. Schließlich wollte er nicht noch mehr Zeit verstreichen lassen. Er musste nur an seinen Sohn und seine Getreuen denken, um seine zunehmende Ungeduld zu spüren. Er musste schnellstmöglich weiter und er würde tun, was nötig war, bis er sein Kind in Sicherheit wusste. Koste es, was es wolle! Eng beisammen bleibend und ständig nach möglichen Gefahrenquellen Ausschau haltend drangen der Hundeherr, die Wolfdämonen und ihre drei Tiere weiter in die labyrinthartigen Gänge der unterirdischen Drachenfestung vor. „Je näher wir dem Kernbereich der Feste kommen“, sprach Chugo nach einer Weile eine Befürchtung aus, „desto gefährlicher wird es werden. Bestimmt halten sich dort die meisten Feinde auf. Hoffentlich gelingt es uns, ihnen möglichst lange aus dem Weg...“ Der Wolfsdämon hatte seine Überlegungen noch nicht zu Ende geführt, als sich das Fell der drei Wölfe neben ihm sträubte und die Tiere warnend zu knurren begannen. Zur gleichen Zeit hatten Inutaishou und Aoi eine alarmbereite Haltung angenommen. „Da kommt jemand“, flüsterte Aoi. „In den Seitengang!“ befahl Inutaishou und sprang sofort in den schattigen Schutz einer unbeleuchteten Abzweigung, die links neben ihm vom Hauptgang wegführte. Die Wolfdämonen mit ihren Tieren folgten ihm und pressten sich neben dem Herrscher des Westens an die steinerne Gangwand. Schritte mehrerer Personen, in perfektem Gleichmaß, waren nun zu hören. Zusätzlicher Fackelschein erfüllte den Hauptgang. Mist, das klingt nach einem größeren Kriegertrupp, dachte Chugo und blickte rasch neben sich zu Inutaishou. Die Augen des Dämonenfürsten glänzten rötlich im düsteren Schatten des Seitengangs. Er hatte offensichtlich die gleichen Schlussfolgerungen gezogen wie Chugo und bereitete sich vorsichtshalber auf den Fall einer Entdeckung und Verteidigung vor. Mit unbewegter Miene griff er hinter sich und zog lautlos ein an seinem Rücken befestigtes Schwert aus der Scheide. Das Schwert schien kurz violettfarben aufzuschimmern und Chugo zuckte zusammen. Flüchtig hatte er das Gefühl von etwas Abscheulichem berührt worden zu sein. Kam das etwa von dem Schwert? Doch diese Empfindung war dermaßen schnell vorbei, dass der Wolfsdämon sie für Einbildung hielt. Stattdessen konzentrierte er sich lieber wieder auf den näherkommenden Kriegertrupp. Zu seinem Entsetzen war der tatsächlich recht groß, er bestand aus mindestens 50 Dämonen, dem Geruch nach zu urteilen waren darunter viele Wolfsdämonen. Es ist also wirklich wahr, so schwer es Chugo immer noch fiel, es zu glauben. Es waren wirklich Wolfsdämonen gewesen, die Inutaishous Getreuen überfallen und getötet hatten. Der Waffenstillstand zwischen Wölfen und Hunden war also wahrhaftig gebrochen worden und die Wölfe waren nun an einer Verschwörung gegen den Herrscher des Westens beteiligt. Warum? Und warum hatte Chugo nichts davon mitbekommen? Er war doch einer der Wolfswächter, ihm blieb sonst nichts verborgen, was bei den Wölfen geschah... was bedeutete das alles? Inutaishou umfasste sein Schwert fester. Die Krieger erreichten nun den Seitengang, in dem er sich mit Aoi, Chugo und dessen Tieren zurückgezogen hatte. Doch zum Glück der Verborgenen drang der Lichtschein von den zusätzlichen Fackeln, welche einige Krieger mit sich trugen, kaum in den schmalen Seitengang ein. Zudem schirmte der Fuyoheki in Aois Händen weiterhin zuverlässig jede verräterische Aura und jeden Geruch der dicht aneinander gedrängten, versteckten Dämonen ab. Ahnungslos lief die Kriegergruppe daher an den Eindringlingen vorbei und begann sich zu entfernen. Doch gerade in dem Moment, als Chugo sich erleichtert von der Wand lösen wollte, machte ein leise klingendes Geräusch, als ob etwas Gläsernes zu Boden gefallen wäre, zwei Krieger aus der Nachhut aufmerksam. Zögernd blieben die beiden stehen und starrten zurück. Chugo suchte nach der Ursache des verräterischen Geräuschs, schaute nach unten und sah überrascht den Fuyoheki an seinen Füßen vorbei über den Boden rollen. Als der Wolfsdämon daraufhin zur Seite sah, begegnete er einem entschuldigenden Blick Aois. Der magische Schutzstein war ihr aus der schwitzenden Hand gerutscht. Erneut half das Glück. Ein scharfer Befehl bewog die misstrauischen Nachzügler ihrer Truppe zu folgen. Gleich darauf waren sie fort, bevor sie die in den Hauptgang hinausrollende Kugel entdecken konnten. Es wurde wieder still. „Verflixt, Aoi, was sollte denn das?“ fragte Chugo wütend: „Kannst du nicht aufpassen? Fast hätte dein Missgeschick uns verraten!“ Die gerügte Wolfsdämonin kniete sich im Hauptgang nieder und sammelte schuldbewusst den fallengelassenen Fuyoheki wieder auf. „Tut mir wirklich leid...“ Inutaishou sagte zunächst nichts dazu, doch seine eisige Miene verhieß nichts Gutes. Sein unheimliches Schwert lag immer noch drohend in seiner Hand. „Ich war nervös... ich bin eben keine Kämpferin“, wagte Aoi flüsternd hinzuzufügen. „Wenn so etwas noch einmal vorkommt, werde ich euch töten“, drohte Inutaishou mit eisenharter Stimme: „Solche Fehler kann ich nicht tolerieren, dafür steht zuviel auf dem Spiel! Lass dir das eine Warnung sein... Und jetzt zeig uns weiter den Weg!“ Aoi schluckte, stand auf und begann wieder voranzulaufen. Lautlos und vorläufig noch unbemerkt folgten ihr der Dämonenfürst, Chugo und die Wölfe weiter in das Wirrwarr zahlloser Gänge, tief ins Innere der gewaltigen, unterirdischen Labyrinthfeste. In einem ganz anderen, weit entferntem und seit langem unbenutzten Gelände der Drachenburg schlichen währenddessen drei weitere Eindringlinge auf fragwürdiger Rettungsmission durch die Tiefe. Dem ersten Anschein nach hatten diese es im Vergleich zum Herrn der Hunde und den Wölfen sehr einfach. Denn Probleme mit irgendwelchen Wachposten oder patrouillierenden Kriegern hatten Sesshoumaru, Yoshio und Seto nicht. Der Gang hinter einem Höhlensee, den ihnen die doppelköpfige Seeschlange Taki als Weg in die Festung gezeigt hatte, war mittlerweile völlig vergessen und wurde von den derzeitigen Burgbesitzern deswegen auch nicht mehr genutzt. Unbehelligt folgte das junge Trio dem vergessenen, scheinbar endlosen Schacht, der in schlängelnden Bahnen und mit sanfter Neigung hinab in die Tiefe führte. Fluoreszierende Steine statt dämonische Feuerfackeln spendeten hier schwaches Licht. Im Gegensatz zu allen sonstigen Bereichen der Feste in der Tiefe, gab es in diesem Gang bisher keine Abzweigungen. Von dem Labyrinth, zu dem der Weg letztendlich führte, ahnten die Drei daher noch nichts. Ebenso wenig ahnten sie, dass der vergessene Gang trotz fehlender Wächter nicht ungefährlich war. Und, dass dieser Burgbereich nicht unbegründet dem Vergessen heimgefallen war. „Puh, was ist denn das für ein Gestank?“ Nach langer Zeit des Schweigens, während die drei jungen Hundedämonen vorsichtig und langsam, aber stetig vorwärts gewandert waren, meldete sich Seto zu Wort. Gemäß seiner Leibwachfunktion ging er voran. Sesshoumaru lief in der Mitte. Yoshio bildete das Schlusslicht und fühlte sich dabei keineswegs wohl. Er hatte dauernd das Gefühl verfolgt zu werden und drehte sich deshalb häufig unruhig um. Jetzt allerdings erforderte ein seltsamer Geruch vor den jungen Dämonen alle Aufmerksamkeit. Immer stärker werdend kam ihnen von dort ein starker, süßlicher Duft entgegen. „Das stinkt ja tausendmal schlimmer als dieses Zeug, mit dem Menschen so gern ihre Haut beschmieren. Parfüm oder wie das heißt“, meckerte Seto weiter: „Ist ja nicht auszuhalten! Gibt es hier eine unterirdische Blumenwiese, oder was?“ Sesshoumaru und Yoshio sparten sich den Hinweis, dass das Vorkommen von Blumen ohne Sonnenlicht sehr unwahrscheinlich war. Auch zu der Tatsache, dass sie schon bald wissen würden, woher dieser intensive Duft kam, weil sie ja direkt darauf zu liefen, sagten beide nichts. Unter weiteren vor sich hin gemurmelten Schimpftiraden und Flüchen ging Seto weiter. Der lange Weg durch die Düsternis strapazierte seine sowieso geringe Geduld und seine immer mieser werdende Laune. Erst, als der Gang eine scharfe Biegung machte, verstummte er und blieb überrascht stehen. „Igitt, was ist denn das?“ Genervt von Setos Nörgeleien und seinen sinnlosen Fragen drängte Yoshio den jungen Hundekrieger beiseite und blickte nun neben ihm stehend auf einen fast quadratischen Höhlenraum mit einer Bodenfläche von vielleicht 20 Metern. Weitaus interessanter als die Form war der Inhalt dieses Raums. Der steinige Boden war überwuchert von übermannshohen, schleimigen, pilzähnlichen und quietschbunten Gebilden, die einen dermaßen starken, honigsüßen Duft absonderten, dass die geruchsempfindlichen Hundedämonen fast in Ohnmacht gefallen wären. „Puh, müssen wir da etwa durchgehen?“ fragte Yoshio mit krampfhaft zugehaltener Nase: „Das ist ja grässlich!“ „Es gibt keinen anderen Weg!“ gab Sesshoumaru Antwort. Auch der kleine Fürstensohn hielt sich die Nase zu und presste dabei fest seinen Ärmel vor das Gesicht. Ihm war gleichgültig, ob das vielleicht unkultiviert aussah. Der Geruch war anders nicht zu ertragen. Tapfer betrat er dann die merkwürdige Schleimpilzfläche. Seto, der für Sesshoumarus Sicherheit verantwortlich war, und Yoshio, der nicht allein zurückbleiben wollte, konnten nichts anderes tun als dem Dämonenprinzen zu folgen. Bis auf den intensiven Duft ging auch nichts Gefährliches von den Pilzgebilden aus. Geradezu fluchtartig durchquerten die jungen Hundedämonen den quadratischen Höhlenraum und retteten sich in den gegenüberliegenden Gang. „Oh, bei all meinen Ahnen, war das scheußlich“, jammerte Seto, „gut nur, dass ich da durch gekommen bin ohne eines von diesen ekligen Pilzdingern zu berühren. Diesen süßen Duftschleim von denen würden wir ja unser Lebtag nicht mehr abbekommen...“ Sesshoumaru hob ruckartig den Kopf und starrte seinen Leibwächter an. „Aber natürlich“, sagte er daraufhin, „das ist DIE Idee!“ „Bitte?“ „Was für eine Idee?“ fragte auch Yoshio. „Wir reiben uns mit diesem duftenden Pilzschleim ein“, erklärte Sesshoumaru, „das ist wie das Parfüm der Menschen. Es übertüncht jeden anderen Geruch. Damit sind wir hervorragend getarnt!“ „Das ist nicht dein Ernst!“, entsetzte Yoshio sich. „Unsere Feinde sind Wolfsdämonen“, fuhr Sesshoumaru ungeduldig fort, „sie haben genauso gute Nasen wie wir. Früher oder später könnten sie uns wittern. Wenn wir aber wie irgendwelche Pilze riechen, die hier unten wachsen, wird sich keiner was dabei denken!“ Sprachlos und immer noch voller Entsetzen starrten Yoshio und Seto erst sich und dann wieder den Fürstensohn an. Keiner der Drei war von dieser Idee begeistert. Doch je länger jeder darüber nachdachte, desto einsichtiger war diese. Na ja, vielleicht ist das ja eine gute Vorübung für meine künftige Berufswahl als Blumenzüchter, überlegte Seto innerlich seufzend und holte sich schließlich etwas Schleim von einem orangefarbenen Pilz. Mit einem Gesicht, als habe er soeben in eine saure Zitrone gebissen, begann er sich und seine Kleidung mit der süßlich riechenden Substanz einzureiben. Sesshoumaru und Yoshio taten es ihm nach. Versehen mit einer neuartigen, tarnenden Duftmarke und neuem Tatendrang folgten die drei Hundedämonen danach weiter dem Gang in die Tiefe. Doch Sesshoumarus Stolz über seine grandiose Idee und seine überzeugte Vorfreude darauf, seinen Vater retten zu können, währte nicht lange. Nach nur wenigen Minuten endete der Gang nach einer erneuten Biegung abrupt vor einem Abgrund. Seto, der weiterhin pflichtbewusst voran gegangen war, hatte gerade noch rechtzeitig abbremsen können. Verärgert sah er nun hinunter in die bodenlose Schwärze vor sich. „So langsam reicht es echt! Was soll der Scheiß denn jetzt? Welcher Vollidiot baut denn solch einen Gang, der runter in eine Grube ins Nirgendwo führt?“ Sesshoumaru und Yoshio kamen ebenfalls an den Rand des Abgrunds heran. Letzterer prüfte schnuppernd die Luft. „Wo auch immer es da unten hinführen mag, wir sollten dort lieber nicht runter. Es riecht sehr eigenartig da unten. Wie eine Leichengrube.“ „Wir müssen ja auch nicht da runter“, bemerkte Sesshoumaru und deutete geradeaus auf die weit entfernte, gegenüberliegende Höhlenwand: „Dort drüben geht der Gang weiter. Die Benutzer dieses Gangs hatten offenbar Flugfähigkeiten. Wir brauchen es ihnen bloß nachzumachen und über den Abgrund fliegen.“ „Tolle Idee!“ Setos Stimme triefte vor Sarkasmus: „Offenbar ist Euch entfallen, dass Yoshio und ich nicht fliegen können, Sesshoumaru-sama. Wollt Ihr etwa alleine weiter? Das kommt überhaupt nicht in Frage! Ich wiederhole es ungern, aber ich bin für dich kleinen Scheißer verantwortlich. Und ich habe keine Lust wegen dir von deinem Vater zu Hackbällchen verarbeitet zu werden, weil du mich zurücklässt und mich so an meiner Pflichterfüllung hinderst!“ „Halt gefälligst endlich deine Schnauze!“ gab Sesshoumaru zurück. Seine eher ordinäre Wortwahl bewies, dass er ziemlich wütend war: „Ich lasse euch beide ja nicht zurück. Ich trage euch rüber!“ „Äh, Sesshoumaru, also ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist...“ Krampfhaft überlegte Yoshio, wie er seinen Einwand weiter ausformulieren konnte, ohne den kleinen Dämonenprinzen noch mehr zu erzürnen: „Du bist stark und deine Flugfähigkeiten sind schon erstaunlich gut, aber deine Kräfte sind noch nicht völlig entfaltet... Das letzte Mal, als du versucht hast mich zusammen mit dir in der Luft zu halten, wäre das beinahe schief gegangen... Und jetzt müsstest du auch noch Seto tragen...“ „In meiner wahren Gestalt geht es!“ behauptete Sesshoumaru. Bevor noch weitere Zweifel und Proteste aufkamen, verwandelte er sich in seine pferdegroße, noch nicht ausgewachsene und welpenartige Hundeform. Auffordernd knurrend legte er sich dann neben seine beiden Gefährten auf den Boden und wartete darauf, dass diese sich auf seinen Rücken setzten. Seto ließ sich nicht lange bitten. Die Vorstellung, Sesshoumaru als Reittier zu benutzen, gefiel ihm außerordentlich gut. Das war bestimmt eine unwiederholbare Gelegenheit den arroganten Knirps mal in einer demütigenden Position zu erleben. So eine Chance würde Seto nicht verstreichen lassen, selbst wenn er dafür in den Abgrund stürzen müsste. In einer schadenfrohen, boshaften und nahezu selbstmörderischen Stimmung setzte sich der junge Krieger auf den weißen, welpenartigen Hund. Yoshio dagegen war nicht lebensmüde genug, um sich über solch einen außergewöhnlichen Ritt zu freuen. Nur sehr zögerlich stieg auch er hinter Seto auf Sesshoumarus Rücken. Als Sesshoumaru sich am Boden abdrückte und in den Abgrund sprang, schloss der Wolfhundedämon kurz die Augen. Den Reflex sich an Seto zu klammern konnte er glücklicherweise gerade noch unterdrücken. Deshalb bemerkte niemand etwas von seiner Angst. Es ging alles glatt. Sicher überflog Sesshoumaru den dunklen, scheinbar bodenlosen Abgrund und landete im angepeilten, gegenüberliegenden Gang. Drüben angekommen verwandelte er sich schnell zurück in seine menschenähnliche Gestalt. Länger als unbedingt nötig wollte er nicht Reittier spielen. Seto, der nicht wie Yoshio sofort bei der Landung von Sesshoumarus Rücken abgesprungen war, wurde bei der Rückverwandlung unsanft mit der Nase voran zu Boden befördert. „Aah! Scheiße! Jetzt habe ich mir einen Zahn ausgeschlagen! Ich hasse diese Feste und diesen beknackten Gang! Ich hasse diese ganze Mission! Und ich...“ „Was ist das?“ unterbrach Yoshio Setos wüstes Lamentieren. Vorsichtig ging er einige Schritte weiter vor in den Gang. Seltsame, klebrige und gebündelte Fadenstränge hingen dort an den Felswänden. Die Luft war stickig und feucht. „Sind das Spinnenfäden?“ „Nein“, meinte Sesshoumaru nachdenklich, „es sieht nicht danach aus und riecht ja auch nicht nach Spinne. Aber vielleicht ist es etwas ähnliches wie Spinnenfäden. Wir sollten es lieber nicht berühren. Gehen wir weiter!“ Beklommen folgte Yoshio dem Dämonenprinzen in den Gang. Seto rappelte sich hastig auf und rannte ihnen nach. Je weiter die drei jungen Hundedämonen in den Gang vordrangen, desto dichter wurde das seltsame, spinnenartige Gewebe. Es wurde immer schwieriger den Fäden auszuweichen. Zudem wurde das Licht immer schwächer, denn die fluoreszierenden Steine in den Wänden wurden weniger. „Das gefällt mir gar nicht!“ murmelte Seto leise. Auch Yoshios Unbehagen stieg. Er bekam mehr und mehr das Gefühl etwas oder jemand würde sie beobachten. Oder eher auf sie lauern. Vielleicht doch eine Spinne oder eben etwas ähnliches? Mühsam unterdrückte er seine aufwallende Furcht. Warum nur konnte er nicht so mutig sein wie Sesshoumaru, der sogar noch ein Kind war. Immer bin ich so ein Schwächling, ärgerte Yoshio sich, er hasste sich selbst dafür. Es hätte den Wolfshundedämonen vielleicht beruhigt, wenn er gewusst hätte, dass auch Sesshoumaru keineswegs so selbstsicher war wie es äußerlich den Anschein hatte. Doch der Erbe des Westens ging trotz aller innerlichen Bedenken beharrlich weiter. Aufgeben kam für ihn nicht in Frage. Nur wenige Zeit später weitete sich der Gang. Doch wie weit, das konnten die drei Hundedämonen nicht sehen, weil das fluoreszierende Licht weiter abgenommen hatte. Nur sehr undeutlich erkannten sie einen großen, rechteckigen Raum, ähnlich dem, in dem die pilzartigen Gebilde gewesen waren. Statt der Pilze wucherte hier das klebrige, dichte Gespinst. Eine der Wände schien zudem durchlöchert zu sein. Sieht fast aus wie riesige Bienenwaben, dachte Seto und erschrak. Auf einmal wusste er, was das für Löcher und Fäden waren und was das alles bedeutete. „Los, weg hier“, schrie er, „wir müssen sofort hier raus!“ Doch es war schon zu spät. Wie von Geisterhand schloss sich plötzlich der Gang hinter ihm. Die drei Hundedämonen waren gefangen. Gleichzeitig verlosch das letzte Licht. Insektengeruch erfüllte nun die Luft. Sesshoumaru, Yoshio und Seto drängten sich aneinander, sich gegenseitig mit dem Rücken Deckung bietend. Tja, wie es aussieht, schaffe ich es nicht mehr mir eine andere Arbeit zu suchen und Blumenzüchter zu werden, dachte Seto zynisch und zog sein Schwert. Ich werde mir Blumen wohl nur noch von unten ansehen können. Im nächsten Moment hörte er ein Schwirren und sah im Dunkeln eine unzählige Menge rotglühender Facettenaugen aufleuchten. Soweit das zwölfte Kapitel. Beide Rettungstrupps sind also mehr oder weniger erfolgreich in die unterirdische, labyrinthartige Festung eingedrungen. Fragt sich, was sie alle weiter erwartet. Das jüngere Rettungstrio hat ja offensichtlich schon mal ein ziemliches Problem. Im nächsten Kapitel erfahrt ihr mehr über dieses Problem, zumindest ein ganz klein bisschen, während euch ein weiterer Blick auf das feindliche Lager gewährt wird... 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