Mondlicht und Sonnenwind von Lizard (aus den Schatten der Vergangenheit) ================================================================================ Kapitel 10: Eigensinn --------------------- Vorbemerkung: Wie immer bedanke ich mich für alle Leser und alle bisherigen Kommentare und hoffe sehr, dass das Interesse an dieser Geschichte weiterhin bestehen bleibt. Im letzten Kapitel fanden sich zwei von Inutaishous Getreuen nach einem hinterhältigen Überfall als Gefangene in einer unterirdischen Drachenfestung wieder und bekamen eine Ahnung davon, dass da eine gefährliche und großangelegte Verschwörung gegen ihren Herrn am Laufen ist. Derweil starten der Herrscher des Westens und sein kleiner Sohn –in der fälschlichen Annahme, dass der jeweils andere auch gefangen wurde- unabhängig voneinander eine gegenseitige Befreiungsaktion. Der Inu no Taishou kann dabei dank der Wolfsdämonen Chugo und Aoi sehr zielgerichtet vorgehen. Sesshoumaru, seinen Freund Yoshio und seinen Leibwächter Seto führt diese gutgemeinte Rettungsmission dagegen auf Umwege... Enjoy reading! Kapitel 10: Eigensinn Erst am späten Nachmittag besserte sich endlich das stürmische, ungemütliche Regenwetter in den Bergen des Nordens. Langsam lockerte der düstere Himmel auf und bot ein beeindruckendes Naturschauspiel. Wie durch ein Bad erfrischt ragten die Berggipfel aus den tiefhängenden, sich bedächtig auflösenden Wolken hervor. Dunkelgrüne, durchtränkte Kiefernwälder umschmeichelten die bewachsenen Hänge wie schimmernder Samt. Viele Milliarden glitzernder Wasserperlen schmückten die Pflanzen. Überall rauschten angeschwollene Bergbäche. Gierig sog die kräftig spießende Frühlingsvegetation das lebensspendende Nass auf. Schließlich brach die allmählich untergehende Sonne durch die aufsteigenden Nebelfetzen. Ihre rotgoldenen Lichtstrahlen trafen auf den abziehenden Sprühregen und zersplitterten in tausend Farben. Ein prächtiger, doppelter Regenbogen spannte sich über das erfrischte Gebirge. Inmitten all dieser Schönheit der Natur waren Seto, Yoshio und Sesshoumaru unterwegs. Die drei jungen Hundedämonen zeigten allerdings keine Begeisterung für die bestaunenswerte Landschaft um sich herum. Begossenen Pudeln gleich wanderten sie müde am Rande der Waldgrenze in höhere Lagen empor, bis sie schließlich ein Hochtal mit einem kleinen, aber sehr tiefem und dunklem Gebirgssee erreichten. Am Ufer dieses Bergsees ließ sich Seto, der erste und älteste des Trios, zu Boden plumpsen. „Es reicht“, stöhnte er und schüttelte seine klitschnassen, schwarzen Haare: „Es reicht wirklich! Wir machen jetzt eine Pause! Ich bin schließlich ein Hund und kein Packpferd, das stundenlang durch die Gegend trottet. Außerdem kommen wir ausgeruht viel besser voran.“ „Ausruhen, au ja“, murmelte Yoshio und gönnte sich ein erleichtertes Aufseufzen. Erschöpft ließen sich nun auch er und Sesshoumaru am Seeufer nieder. Wieder seufzte Yoshio und starrte trübe auf die spiegelnde Wasseroberfläche. Wäre es ein heißer Sommertag gewesen, hätte ihn dieser Anblick normalerweise sehr gefreut. Der junge Wolfshundedämon nahm gerne mal ein erfrischendes Bad und hatte schon als Kind Spaß am wilden Herumtollen im kühlen Nass gehabt. Aber für heute hatte er wirklich genug von Wasser. Er war durchnässt bis auf die Knochen und fror erbärmlich, seine beiden Gefährten ebenso. Dämonen waren zwar nicht so empfindlich wie Menschen, doch sie spürten auch die verschiedenen Anforderungen, die das Leben in einer Körperform einem abnötigte. Warm, satt und trocken, das waren nun mal die Grundbedürfnisse vieler Säugetiere und ihrer dämonischen Verwandten. Und kein einziges dieser Grundbedürfnisse war momentan erfüllt. Dementsprechend elend fühlten die drei jungen, nassen Abenteurer sich mittlerweile. Yoshio gab seiner Müdigkeit nach, legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Trotz seines Frierens wäre er beinahe eingeschlafen. Doch kaum hatte er sich ein wenig entspannt, zuckte er zusammen und fuhr erschreckt wieder hoch. Verflucht noch mal, dachte er dabei, warum muss ich jetzt schon wieder an dieses scheußliche Bild denken? Immer wenn der Wolfshundedämon sich entspannte und seine Gedanken schweifen ließ, tauchten die mysteriösen Wandmalereien, die er in der geheimen Gruft auf dem Friedhof der Wolfsdämonen entdeckt hatte, vor seinem geistigen Auge auf. Besonders das letzte der Bilder, das er dort kurz gesehen hatte, verfolgte ihn nachhaltig in seinen Gedanken. Dieses Bild hatte so realistisch ausgesehen und war gleichzeitig so schrecklich gewesen, dass er es nicht vergessen konnte. Es war das Bild eines dämonischen Schattens gewesen, der auf einer Waldlichtung mit weißen Blumen stand, zu seinen Füßen ein Bach, in dem zwei leblose Körper lagen. Zwei leblose Körper, die Yoshio so vertraut vorkamen, als ob er sie auch schon einmal in Wirklichkeit gesehen hätte... Nein! Entschlossen verbannte Yoshio die verschwommene Erinnerung an die wölfischen Wandmalereien, die ihn merkwürdigerweise so erschreckte, wieder aus seinen Gedanken. Was mir diese Bilder in der Wolfsgruft gezeigt haben, ist sowieso nicht wirklich passiert, redete er sich ein. Ich habe mich gewiss getäuscht. Ich habe alles viel zu kurz gesehen, um richtig was erkennen zu können. Außerdem haben die Wölfe doch sicher nicht alles wahrheitsgemäß dargestellt. Immerhin sind sie ja mit uns Hunden verfeindet... das war alles nur ein dummer Irrtum! Nichts davon ist wahr! Langsam beruhigte Yoshio sich. Er atmete einige Male tief ein und aus und überprüfte dann vorsichtig, ob einer der Hundedämonen neben ihm, insbesondere Sesshoumaru, etwas von seinem Verhalten bemerkt hatte. Zu seiner Erleichterung war Sesshoumaru genau wie Seto ebenfalls viel zu erschöpft und mit eigenen Gedanken beschäftigt, um großartig auf seinen Freund zu achten. Der Fürstensohn bemühte sich zwar weiterhin seine zunehmenden Ermüdungserscheinungen zu verbergen, aber es war deutlich zu erkennen, dass er schon längst nicht mehr so motiviert war wie zu Beginn seiner Rettungsmission. Er zitterte unmerklich und bot einen fast mitleiderregenden Anblick. Gleichzeitig sah er jedoch sehr hübsch und bewundernswert aus. Sein feuchtes, seidenglattes und weißsilbernes Haar glänzte und funkelte wie Schneekristalle im farbenprächtigen Zwielicht der Abendsonne. In einem Anflug von Neid betrachtete Yoshio den kleinen Prinzen. Er hätte auch gern solch wunderschönes Haar und ein besonderes Aussehen gehabt. Leider wirkte er dagegen, wie er fand, sehr normal und unscheinbar. Bedauernd betastete der Wolfshundedämon seinen eigenen, braunhaarigen Hinterkopf. Sesshoumaru bemerkte Yoshios Geste, missverstand diese aber und sah seinen Freund besorgt an. „Schmerzt deine Kopfwunde?“ fragte er ihn. Yoshio hatte in dem regnerischen Sturm nämlich Pech gehabt und war bei der Durchquerung des Waldes fast von einem herabstürzenden Ast erschlagen worden. Schnell nahm Yoshio seine Hand vom Kopf, er wollte weder seine wahren Gedanken mitteilen noch als wehleidig dastehen. „Es ist nichts“, beteuerte er hastig, „nur eine kleine Beule...“ „Wäre ja auch noch schöner“, brummte Seto verärgert, „wie kann man auch so blöd sein und sich einen Holzprügel auf den Schädel fallen lassen? Du bist echt ein unheilbarer Schwächling, Wolfi!“ „Und du bist ein großkotziger, miserabler Spürhund“, gab Yoshio wütend zurück, „gib doch endlich zu, dass auch du absolut keine Ahnung mehr hast, wo wir uns mittlerweile befinden. Du Navigationsniete hast uns komplett in die Irre geführt!“ „Als ob das allein meine Schuld wäre“, motzte Seto: „Was kann ich für diesen beschissenen Sturmregen? Außerdem war es nicht meine Idee bei diesem Mistwetter weiter durch diese bescheuerte, verwirrende Berggegend zu latschen! Sesshoumaru wollte mir ja nicht glauben, dass das unklug ist.“ Zu spät wurde Seto bewusst, dass sein letzter Satz eine ungebührliche Kritik an seinem hochwohlgeborenen Schützling darstellte. Die Strafe folgte prompt. Wie aus dem Nichts traf ihn ein scharfer Krallenhieb mitten ins Gesicht. Der junge Soldat sah auf und begegnete einem eiskalten Goldblick. Sesshoumaru war aufgesprungen, stand nun mit erhobener Rechte neben seinem Leibwächter und starrte diesen böse an. „Behalt deine Weisheiten für dich“, drohte er dabei: „Meinetwegen kannst du auch gerne verschwinden! Ich habe dich nicht gebeten mitzukommen.“ Im ersten Moment packte Seto eine derartige Wut, dass er dem kleinen Dämonenprinzen am liebsten die maßregelnde Ohrfeige heimgezahlt und zurückgeschlagen hätte. Nur Sesshoumarus durchdringende goldene Augen, die ihn fixierten, hielten ihn gerade noch von einer unbedachten Reaktion ab. Denn in diesen Augen lag neben der sonst üblichen Arroganz ausnahmsweise mal etwas, das regelrecht rührend war. Es war eine versteckte Angst. Die Angst eines alleingelassenen Kindes, das sich nach dem verlorenen Vater sehnte. Und auf einmal schämte sich Seto für sein ständiges unhöfliches Verhalten zutiefst. „Verzeiht, Sesshoumaru-sama! Ich meinte das nicht so... Ich.. ich bin nur total müde. Und ich mache mir natürlich auch Sorgen um den Inu no Taishou und die anderen. Das alles war eben wirklich zuviel, da sage ich leicht etwas Dummes... es tut mir leid, ehrlich!“ Sesshoumaru ließ die Hand sinken und setzte sich wieder an Yoshios Seite. Yoshio hatte die kurze Auseinandersetzung des Leibwächters mit seinem fürstlichen Schützling staunend verfolgt. Am meisten erstaunte ihn die Nachgiebigkeit auf beiden Seiten. Begannen die beiden sich etwa allmählich zu vertragen? Seltsamerweise war das eine Vorstellung, die dem Wolfshundmischling nicht gefiel. Die Müdigkeit nahm die drei jungen Hundedämonen nun wieder völlig gefangen. Resigniertes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Seto massierte innerlich vor sich hin stöhnend seine schmerzenden Waden. Bisher hatte er nicht gewusst, dass Dämonen Muskelkater bekommen konnten. Er war allerdings auch nie dermaßen schnell und lange irgendwelche Bergkämme hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter geklettert. Nie hätte er gedacht, dass Bergsteigen so anstrengend und eine Berglandschaft so groß sein konnte. Das ewige Auf und Ab nahm einfach kein Ende. Nach jedem überwundenen Berg kam ein neuer. Es hörte niemals auf! Wenn schon ein einziger Landesteil, der bloß zu einigen Inseln im Meer gehörte, so groß war, dachte Seto, wie groß war dann eigentlich erst die ganze Welt? Dieser Gedanke weckte ein komisches Gefühl in dem jungen Hundedämonen, er kam sich auf einmal so winzig und unbedeutend vor. Um sich von diesem beunruhigenden Gefühl abzulenken, sah er zur Nachmittagssonne. „Wenigstens wissen wir jetzt endlich, wo Westen ist“, meinte er dazu, „dieses dämliche Unwetter scheint sich zu verziehen. Wenn wir Glück haben, klart es nachts soweit auf, dass wir uns an den Sternen orientieren können.“ „Na und, was haben wir davon?“ fragte Yoshio griesgrämig. „Das ist ja wohl offensichtlich“, erklärte Seto ungeduldig, „so finden wir wieder nach Hause. Wenn wir uns immer südwestlich halten, stoßen wir sicher irgendwann auf das Schloss des Westens.“ „Ich gehe nicht nach Hause“, stellte Sesshoumaru unmissverständlich klar. „Sesshoumaru-sama, bitte...“ Seufzend suchte Seto nach den richtigen, überzeugenden Worten. „Glaub mir, Kleiner, ich finde das alles genauso beschissen wie du. Ich will deinem Vater, Tamahato und den anderen ja auch gern helfen. Aber so wie die Dinge momentan stehen, können wir allein nichts tun. Wir haben jede Spur verloren, sogar das Youki deines Vaters ist komplett verschwunden. Und wir haben uns in der Wildnis verirrt. Wir sind bloß zu dritt in einem fremden Feindesland. Was sollen wir machen, wenn wir einem Feind begegnen?“ „Soll ich jetzt etwa Angst kriegen und aufgeben?“ fragte Sesshoumaru unbeeindruckt zurück. Nun riss Seto doch noch der Geduldsfaden. „Ja, verdammt“, schimpfte er, „du solltest Schiss haben. Und zwar gewaltigen Schiss! Nur jemand, der Stroh im Kopf hat, hätte in so einer Situation keine Angst! Wir haben es hier schließlich mit Leuten zu tun, die den Inu no Taishou gefangen haben. Glaubst du, du wirst mit jemandem fertig, der deinen Vater reingelegt und überwältigt hat? Es war ein glückliches Wunder, dass wir dem ganzen Unheil entkommen sind. Deswegen ist es eine tollkühne Idiotie weiter den heldenhaften Retter spielen zu wollen. Sieh es doch endlich ein, es bleibt uns nix anderes mehr übrig, wir müssen aufgeben!“ Sesshoumaru presste stumm die Lippen aufeinander und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. In seinen goldglitzernden Iriden glimmte ein wahres Höllenfeuer der Wut. Offensichtlich stand er kurz davor seinem Leibwächter an die Kehle zu springen. Die Tatsache, dass er sich dennoch zurückhielt, zeigte allerdings, dass etwas nicht zu leugnen war: Seto hatte recht. „Sieh mal, Bruder, da sind drei kleine Hunde. Wie nett, endlich kommt uns mal wieder jemand besuchen! Und dann auch noch niedliche Kinder!“ Eine fremde, glucksende Stimme, die wie das Blubbern von Wasserblasen klang, mischte sich auf einmal in das Geschehen ein und schreckte die drei jungen Hundedämonen auf. Alarmiert sprangen sie hoch und drehten sich blitzartig zu dem See hinter sich um. Erstaunen spiegelte sich daraufhin in allen Gesichtern. Aus der stillen Wasseroberfläche des Bergsees ragten nämlich plötzlich zwei riesige, viele Meter lange und baumstammdicke Schlangenkörper hervor. Sie hatten die gleiche silbrige, fliesende und glasklare Färbung wie das Wasser, so dass es schien, als würden sich zwei Wassersäulen aus dem See erheben. Im unteren Bereich, knapp unter der Wasseroberfläche, vereinigten sich diese beiden Körper zu einem einzigen, ebenso durchsichtig erscheinenden Schlangenleib, dessen Konturen kaum vom umgebenden Wasser zu unterscheiden waren. Zwei schuppige Köpfe, deren auffallendstes Merkmal ein gefährlich wirkendes Maul mit messerscharfen Zähnen und vielen herabhängenden Barteln war, krönten die zwei aus dem See ragenden Schlangenhälse. Beide Köpfe besaßen je drei große, kugelrunde Augen, mit denen sie neugierig auf die drei jungen Hundedämonen am Seeufer herabsahen. Die Augen des einen Kopfs hatten eine himmelblaue Farbe, die des anderen schimmerten perlmuttweiß. Seto, der selbst in größter Gefahr oder in den unmöglichsten Situationen nie lange seinen Mund halten konnte, fand als Erster seine Sprache wieder. „Hey, was ist das“, platzte er heraus, „wo kommt denn auf einmal dieses zweiköpfige, schlangenartige und geruchslose Wasserungetüm her?“ Kaum hatte er das gesagt, beugte einer der einschüchternden Köpfe seinen langen Hals und senkte sich schnell zu Seto herab. Hastig machte Seto einen rückwärtigen Sprung vom Seeufer weg, riss sein Schwert aus der Scheide und verpasste dem vermeintlich angreifenden Schlangenkopf einen kräftigen Hieb ins bedrohliche, zahnbewehrte Maul. Aber die Klinge des jugendlichen Hundedämonen schnitt einfach nur durch den silbrig glänzenden Schlangenschädel hindurch wie durch einen Wasserstrahl, ohne irgendeinen Schaden anzurichten. Erstaunt und erschrocken zugleich wich Seto noch einen weiteren Schritt nach hinten und nahm eine verteidigungsbereite Haltung ein, um einen erneuten Angriffsversuch sofort wieder abwehren zu können. Der vollkommen unbeschadete, riesige Schlangenkopf zog sich jedoch zurück und schüttelte sich kurz. Ein Geräusch ähnlich wie leises Wasserplätschern begleitete jede seiner Bewegungen. Seine drei weißlichen Augen schienen pikiert aufzuleuchten. Gleich darauf öffnete er sein Maul und fing mit glucksender Stimme zu sprechen an: „Unverschämter Rotzbengel, was ist denn das für eine unhöfliche Begrüßung? Wieso schlägst du mit dem Schwert nach mir? Hast du denn kein Benehmen? So ein unerzogenes Hundekind wie du ist mir ja noch nie unter gekommen!“ Die Tatsache, als Kind bezeichnet zu werden, ließ Seto sämtliche Vorsicht oder jegliche vielleicht vorhandene Höflichkeit vergessen. „Ach, ich bin also unverschämt, ja?“ knurrte er: „Und was bist du, du komisches, doppelköpfiges Wassermonster? Du hast mich schließlich angegriffen! Gehörst du zu den Fieslingen, die uns Hundedämonen überfallen haben? Komm uns noch einmal zu nahe und du erlebst dein blaues Wunder!“ Die beiden riesigen, säulenartigen Schlangenhälse erzitterten. Lautes Sprudeln und Blubbern ertönte. Beunruhigt umfasste Seto sein Schwert fester, bis er begriff, dass dieses gurgelnde Geräusch keine Drohung, sondern ein Lachen darstellte. Das seltsame Wasserwesen schien sich bloß zu amüsieren. Ausgelacht zu werden, konnte Seto allerdings genauso wenig vertragen wie für zu jung und unerfahren angesehen zu werden. „Was gibt’s denn da zu lachen?“ beschwerte er sich: „Warte nur, das wird dir noch leid tun. Ich mach dich alle!“ Das Wasserwesen hörte auf zu lachen. Wieder senkte es einen seiner Köpfe, dieses Mal aber das andere, blauäugige Haupt, zu Seto herab und musterte ihn abfällig. „Du bist ganz schön vorlaut, Bursche! Und dumm offenbar auch noch. Meinst du etwa, dein Schwert, deine Krallen oder sonst eine deiner Waffen könnten mir etwas anhaben? Ich bin eine der ehrwürdigen Seeschlangen, ein Abkömmling uralter Wassermächte, geboren in den Zeiten, als die Weltmeere entstanden. Hast du je das Meer gesehen? Weißt du, wie unendlich groß es ist? Dieses gewaltige Wasser ist meine Mutter und der Urquell meiner Stärke! Wie willst du mich hindern, wenn ich dich und die beiden Hündchen neben dir verschlingen wollte? Nichts könntest du gegen mich ausrichten, Junge, gar nichts. Also halt besser deinen Mund!“ „Sei nachsichtig, Ta“, meldete sich nun der erste, weißäugige Schlangenkopf wieder zu Wort, „die Kleinen sind nur erschrocken und haben meine Annäherung wohl missverstanden. Sie dachten wohl, ich wolle ihnen was antun. Stellen wir uns daher doch erst mal namentlich vor!“ Freundlich lächelnd machte der Kopf mit den weißen Augen nun eine leichte Verbeugung. „Ich bin Ki“, sagte er und nickte darauf dem blauäugigen Kopf zu: „Das ist mein Bruderkopf Ta. Zusammen heißen wir Taki. Entschuldigt, falls wir euch erschreckt haben sollten. Das lag nicht in unserer Absicht. Wir sind sehr friedliebend und tun niemanden was. Und ich wollte euch nicht angreifen, sondern nur von der Nähe anschauen und beschnuppern. Ich sehe nicht mehr ganz so gut, müsst ihr wissen.“ „Ki hat ein paar altersbedingte Schwächen“, bemerkte der Schlangenkopf namens Ta herablassend. Verärgert wandte Ki sich ihm zu. „Du Blödkopf solltest nicht vergessen, dass wir einen gemeinsamen Körper besitzen und dass du deshalb genauso alt bist wie ich. Also mach dich gefälligst nicht über meine Altersbeschwerden lustig! Ich erzähl ja auch niemanden etwas über deine zunehmende Demenz!“ „Ich soll demenzkrank sein?“ schrie Ta wütend: „Sag das noch mal und ich beiß dir deine schon lange untaugliche Nase ab! Ohne mich wärst du vergreisender Saurierschädel doch schon längst zugrunde gegangen!“ „Du meinst wohl eher, ohne MICH wärst DU schon lange tot!“ gab Ki zurück: „Du besitzt mittlerweile ja nicht mehr genug Gehirn, um dich daran zu erinnern, was vor einer Stunde passiert ist!“ „Und du hast überhaupt nie irgendein Hirn besessen, du eingetrockneter, verschrumpelter Wasserkopf“, kam die Antwort. Ein wildes Streitgespräch entspann sich zwischen den beiden Köpfen der ehrwürdigen Seeschlange und steigerte sich schließlich in eine wüste Beschimpfungsorgie. Zuletzt, als sie ihren beträchtlichen Wortschatz aus Beleidigungen und Flüchen aufgebraucht hatten, gingen Ta und Ki mit den Zähnen aufeinander los und verbissen sich ineinander. Ihre gegenseitigen Attacken hatten allerdings, genau wie zuvor Setos Schwert, keinerlei Effekt. Denn die Bisswunden, die sich die beiden Köpfe zufügten, flossen wie Wasser einfach wieder zusammen. Scheinbar besaß Takis Körper nicht nur das gleiche Aussehen, sondern auch die gleichen Eigenschaften wie das Element, in dem er lebte. Verdutzt schauten Seto, Yoshio und Sesshoumaru dem Treiben der doppelköpfigen Seeschlange eine Weile lang zu. So friedliebend wie Ki behauptet hatte, war dieses seltsame, sehr alte und mächtige Wesen offensichtlich doch nicht, jedenfalls nicht zu sich selbst. Es lebte wohl schon dermaßen lange einsam in seinem See, dass Streiten die einzige interessante Abwechslung in seinem eintönigen Leben darstellte. Vermutlich stritten sich die beiden Köpfe schon mehrere Millionen Jahre und waren dabei allmählich verrückt geworden. Mit derartigen Verrückten wollten sich die drei Hundedämonen allerdings lieber nicht weiter abgeben. Außerdem konnte ihnen dieses senile Wasserwesen ja egal sein, denn mit den Feinden, nach denen das Hundetrio suchte, hatte Taki scheinbar auch nichts zu tun. Daher wandten die Drei sich schließlich in gemeinschaftlichem und stillschweigendem Einvernehmen ab, um den Bergsee und die darin wohnende Riesenschlange schnellstmöglich zu verlassen. „He, wartet doch!“ rief Ki ihnen nach: „Wo geht ihr denn hin? Wir wissen ja noch gar nicht, wer ihr seid und was ihr hier wolltet. Bitte, ihr lieben Kleinen, bleibt doch da! Wir kriegen so selten Besuch. Und wir mögen Kinder doch so gern... Unterhaltet euch doch noch ein wenig mit uns!“ Genervt drehte sich Seto wieder zu der Seeschlange um. „Also, erstens sind wir keine Kinder mehr, ich jedenfalls nicht. Und zweitens interessierst du uns einen Scheißdreck. Wir haben echt Sinnvolleres zu tun als eine bekloppte Doppelkopfschlange zu unterhalten!“ „Aber vielleicht können wir euch ja helfen“, wandte Ta ein, „ihr seht so aus, als ob ihr euch verirrt habt... Ihr armen Kleinen... Sucht ihr jemanden?“ Seto wollte eine weitere beleidigende Schimpftirade loslassen, doch Yoshio kam ihm zuvor. „Ja, wir suchen tatsächlich jemanden“, bestätigte der Wolfshundedämon, „und zwar andere Hundedämonen. Oder Wölfe. Hast du seit letzter Nacht welche gesehen?“ „Hm“, überlegte Ta, „Hunde haben wir vor euch schon ewig keine mehr gesehen. Aber Wölfe schon. Seit ein paar Monaten wohnen nämlich viele von denen, glaube ich, in der Feste in der Tiefe.“ „Was für eine Feste in der Tiefe?“ Hellhörig geworden wandte sich nun auch Sesshoumaru an Taki und sah die Seeschlange neugierig fragend an. „Na, die Feste in der Tiefe eben!“ erklärte Ki: „Kennt ihr die denn nicht? Das ist eine alte, unterirdische Drachenburg. Bis vor einiger Zeit haben Ta und ich nahe einem Eingang zu diesem Festungsgelände gelebt, in einem Höhlensee. Aber dann sind Wolfsdämonen in die Feste gekommen und wohnen da neuerdings wohl. Jedenfalls haben sie ab und zu irgendwo in der Burg laute Jaulkonzerte veranstaltet. Und dieses Geheule war schrecklich! Es drang durch sämtliche Gänge, sogar bis zu unserer abgelegenen Höhle. Das tat uns in den Ohren weh. Deshalb sind wir lieber fortgezogen.“ „Eine unterirdische Festung“, flüsterte Yoshio aufgeregt in Sesshoumarus Ohr: „Bestimmt haben sich darin die Wolfdämonen versteckt. Und vielleicht halten sie deinen Vater und die anderen Verschleppten dort gefangen.“ Sesshoumaru nickte leicht, Tatendrang spiegelte sich in seinen goldenen Augen. „Kannst du uns in diese Feste in der Tiefe führen?“ fragte er Taki. Die Seeschlange schüttelte verneinend ihre beiden Köpfe. „Nein, tut uns leid“, entgegnete Ta, „wir sind niemals in der Burg gewesen, die hat uns nie interessiert. Wir kennen davon nur den Höhlensee, den Ki erwähnte und an dem eben zufällig ein Eingang zur Feste liegt. Und dieser Weg ist schon sehr alt und wurde, soweit wir uns erinnern, sehr lange nicht mehr benutzt. Wahrscheinlich wurde er im Laufe der Zeit vergessen.“ „Zeig uns diesen Eingang“, forderte Sesshoumaru. Ta senkte sich zu dem kleinen Dämonenprinzen herab und musterte ihn aufmerksam mit seinen drei blauen Augen. „Du bist ja noch ein Baby“, stellte er fest, in seiner Stimme klang ein sorgenvoller Unterton mit: „Ich weiß nicht, ob wir das verantworten können, wenn du mit deinen Freunden in eine unterirdische Festung gehst. Diese Burg soll sehr, sehr groß sein. Und vielleicht ist das gefährlich. Wo sind denn deine Eltern, wissen die darüber Bescheid?“ Eine steile Zornesfalte bildete sich auf Sesshoumarus Stirn. Offenbar gefiel es ihm genauso wenig wie Seto, dass er als Kind eingestuft und behandelt wurde, auch wenn das in seinem Fall der Wahrheit entsprach. Yoshio wollte nicht, dass sich die bisher günstig erscheinende Sachlage komplizierte und übernahm daher hastig die Antwort: „Sesshoumarus Vater ist wahrscheinlich in dieser Festung, aus diesem Grund wollen wir ja da hinein. Wir suchen ihn!“ „Ach, so ist das“, meinte Ki, „ihr wollt also einfach zu eurer Familie, ja? Na, dann ist ja alles in Ordnung. Also gut, dann zeigen wir euch den Höhlensee mit dem Weg in die Feste in der Tiefe. Allerdings ist das recht weit weg von hier und ihr seht ziemlich müde aus... Wollt ihr euch nicht erst ein bisschen ausruhen oder was essen? In meinem See gibt es köstliche Fische, wir würden euch ein paar fangen.“ „Nö, nicht nötig“, brummte Seto verärgert. Er hatte zwar schon Hunger, aber die senile Wasserschlange zerrte an seinen Nerven. Besser, sie wurden Taki schnell wieder los. „Na, dann tragen Ta und ich euch wenigstens, dann sind wir ganz schnell da“, fuhr Ki fort und öffnete plötzlich weit sein Maul. Auch Ta riss seinen Rachen auf. Bevor die drei Hundedämonen überhaupt reagieren konnten, schnellten zwei lange wasserfarbene Zungen auf sie zu. Eine Zunge packte und umschlang Sesshoumaru und Yoshio, die andere umwickelte Seto. Es fühlte sich an, als ob sie ein zähflüssiges, klebriges Gel umfließen würde. Gleich darauf zogen Ta und Ki ihre Zungen zurück in ihren Schlund. Für Gegenwehr blieb keine Zeit. Seto bemerkte entsetzt, wie er geradewegs auf das geöffnete Maul von Ki zuflog. So muss sich eine Fliege fühlen, wenn sie vom Frosch gefangen und verschluckt wird, dachte er noch, dann war er auch schon im Rachen von Ki verschwunden. Soweit das zehnte Kapitel. Hopsa, hat die Schlange jetzt drei Hunde gefressen? Oder wohin führt das Ganze? Die lieben Kleinen haben sich da wohl eine Begegnung mit einer mehr als seltsamen Art ausgesucht.^^ Im nächsten Kapitel geht es mit den verschluckten Hunden und den armen Gefangenen in der Drachenburg weiter... Über Kommentare freue ich mich sehr. Hosted by Animexx e.V. 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