Die Arbeit des Tages von Cyprien ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Nach all der Zeit, die inzwischen vergangen war, nannte er ihn nur noch „den Tag“. „Der Tag“ war etwas, dass er nicht begriff, noch immer nicht. Es war so plötzlich gekommen, und doch hatte er es irgendwie erwartet. Womit konnte man das wohl am Besten vergleichen? Vielleicht mit einem Hund, der hinter einem Zaun lauerte. Der Hund starrt einen an, und man rechnet damit - wartet - auf den kläffenden Laut - Und wenn er dann einmal kommt, erschrickt man doch. Am „Tag“, als er aufgewacht war, und sich die Arbeit der Nacht aus den Augen gerieben hatte, leise vor sich hinmurmelnd, wie er es immer tat (und wofür sie ihn nie hatte leiden können), war alles wie immer, und doch ein klein wenig anders. Ein seltsames Gefühl in der Magengegend vielleicht, und ein dumpfes Pochen im Kopf, wie zähflüssige Überreste von Alkohol und billigem Bier - und diese Stille. Keine gewöhnliche Stille, wie nach einem Streit, oder einer Ohrfeige, sondern eine unruhige Stille. Etwas wollte Schreien, und konnte doch nicht. Er wollte schreien, und konnte nicht. Und danach hatte er langsam angefangen, all die vergangenen Dinge zu vergessen. Für einen Moment aus den Gedanken gerissen horchte er auf, das flackernde Lagerfeuer brannte etwas in seinen Augen. Die Dunkelheit um ihn herum, vorsichtig den kleinen Lichtkegel meidend, hatte ihm etwas zugeflüstert und für einen Moment hoffte er wieder - Sah aber schon bald ein, dass seine Ohren ihm wohl wieder einen Streich gespielt hatten, oder sein Verstand selbst. Ein leises Seufzen erklang, hinein in die Stille. Man hörte auf, die Tage zu zählen, wenn „der Tag“ einmal vorüber war. Man machte sich auf, die Welt zu entdecken, und kam doch eigentlich nicht voran. Eine kleine Reise hierhin, eine kleine Reise dorthin, letztendlich war es ihm auch egal. Hatte er nicht gerade nachgedacht? Nachdenken war ihm so wichtig geworden, und er wollte nur noch ein wenig weiter vor sich hin denken. Das kleine Feuer blinzelte ihn an, er blinzelte vorsichtig zurück. Es war Zeit, in seinen Gedanken zu versinken. Wie hatte er damals eigentlich reagiert? Geschockt, natürlich. Man könnte meinen, dass es eigentlich so selbstverständlich war, dass man es nicht einmal erwähnen musste. Inzwischen war er zu der festen Überzeugung gekommen, dass wohl jeder Mensch auf dieser Erde völlig geschockt gewesen wäre, zumindest wenn er noch bei rechtem Verstand war. Er schmunzelte leicht. Seine Gedanken wurden irgendwie eintönig, und hätte er den Satz laut ausgesprochen, er hätte sich wohl eine Ohrfeige geben müssen. „Jeremy, jetzt bist du verrückt. Jeremy, jetzt bist du verrückt.“ Er hatte es schon immer gemocht, kleine eigene Redewendungen vor sich hin zu murmeln (wofür sie ihn nie hatte leiden können) und so hielt er auch in dieser Situation noch getrost an seinen Gewohnheiten fest. Verrückt, naja - Konnte ihm überhaupt jemand sagen, ob er noch recht bei Verstand war? Das war wohl auch so ein verflixtes Problem am „Tag“, nicht. Es war schon spät geworden, und er fühlte seine müden Knochen protestieren. Heute hatte er ein gutes Stück zurückgelegt, hatte die bleiernen Eisentürme hinter sich gelassen, mit den großen kalten Bergen, und - diese unangenehmen Augen - war seinem geliebtem, dunklen Wald ein klein wenig näher gekommen. Hier auf der Wiese, zwischen dichten Gräsern und einer einsamen Eiche, fühlte er sich wohl etwas heimischer, doch seine Angst vor der Nacht wurde dadurch nicht gelindert. Seine Angst, einzuschlafen. Aufzuwachen. Und doch musste er einmal schlafen - Alle Menschen müssen einmal schlafen. Es lag in seiner Biologie, auch wenn all die anderen Dinge sich verändert hatten, und er hasste „den Tag“ dafür. Wie oft hatte er es jetzt schon erlebt? Viermal, vielleicht - aber fünfmal bestimmt. Es war ein freies Stück Land gewesen, so wie dieses hier es auch war, mit den kalten Weiden und der frischen Luft. Jedes Mal hatte er sich niedergelassen, mit Feuer oder ohne, war schließlich eingeschlafen und am nächsten Morgen wieder aufgewacht. Und dann war alles ein wenig anders gewesen. Im kleinen Tal mit dem Rinnsal eines Bächleins war seine Feuerstelle verschwunden gewesen - fast so, als hätte sich die Erde gerächt, verbrannt zu werden. Auf dem Vorsprung am Rande der großen Berge hatte er sich noch beim Einschlafen an diesen riesigen Felsbrocken gedrückt - Und aufgewacht, und einen leere Druckstelle vorgefunden. Am Kieselbett, bei dem riesigen, namenlosen und traurigem Fluss hatte ihm die Nacht das Wasser versagt - Alles für sich genommen und nur toten, feuchten Stein zurückgelassen. Eigentlich wollte er gar nicht darüber nachdenken. Er hatte Angst vor der Nacht und spürte doch, wie seine Augen schwerer wurden. Es war an jedem Ende eines Tages das Gleiche - Im Zwiespalt mit der Furcht und der Müdigkeit. Vielleicht hätte er noch ein wenig nachdenken sollen, aber letztendlich… …und nun war die Eiche weg. Ein kahler Baumstumpf war noch übrig, sauber getrennt, wie von riesigen Kreissägen ermordet. Ihn fröstelte leicht, und dabei war es doch eigentlich warm. Die Arbeit der Nacht, sie war wieder hier. So oft in diesen Tagen, und wieder einmal, verfluchte er sich für seine eigene Dummheit: Eine Kamera nur, ein Videogerät - Aus der kalten Stadt mitgenommen, den leeren Märkten - Er hätte so viel mehr erfahren können, hätte sich alles logisch darlegen können. So aber konnte er nichts erreichen - Und wenn er doch einmal wach blieb, war Alles, was er aus der Nacht mitnahm, eine unglaublich kräftige Müdigkeit. Nun, man konnte die Dinge wohl einmal nicht verändern, und so musste er weiter, und ahnungslos reisen. Viel nachdenken dabei, das war ganz wichtig. Nicht zurücksehen, vielleicht, sonst wird man zu Stein. „Der Tag“ war ein sonniger Morgen gewesen, ein frischer Mittag und ein frostiger Abend. Es war das erste Mal, überlegte er sich, dass er einmal mit der Arbeit der Nacht zu tun gehabt hatte. Viel größer nur die Arbeit, die hier wohl verrichtet worden war - Aber eigentlich konnte er das nicht beurteilen. Er wusste nur, dass er weiter arbeiten musste, und mit jedem Schritt - Auf den saftigen Weiden, den staubigen Abhängen und dunklen Wäldern, mit Laub bedeckten Feldwegen und großen Klippen, die weiten Flächen und dunkel drohenden Seen - verrichtete er etwas Arbeit. Die Arbeit des Tages. So arbeiteten sie ständig gegeneinander, der Namenlose und er selbst. Die Arbeit der Nacht gegen die Arbeit des Tages. Zunächst galt es wohl, wieder Essen zu finden. Es war früh am Morgen und sein Bauch protestierte etwas, so wie er es immer tat, der alte Rhythmus. Wenn er seinem Magen gehorchte, wollte er wohl wieder von den saftigen roten Beeren kosten, aber ob es die hier gab, das wusste er nicht. Immerhin, auch dies gehörte zur Arbeit, die er verrichten musste, und so musste man sich wohl oder übel auf die Suche machen. Die Stille folgte ihm, als er den Rand des Waldes überschritt. Es war ein alter und kräftiger Wald, mit ungezogenen, lauten Blättern, wie er fand. Die Schattenspiele gefielen ihm nicht, und doch musste er weiter, tiefer hinein. Am Boden wuchs wohl ein klein wenig Moos, zwischen kahlen Stellen und zertretener Erde. Die Wurzeln waren keine sanften Gänger, und wo ihr Weg lag, musste die Erde gehorchen. Büsche und Sträucher ordneten sich unter, die kleinen Feiglinge, wie er dachte. Hier und da wuchs vielleicht auch ein Pilz, und die Magenkrämpfe erinnerten ihn daran, welchen er essen konnte, und welchen nicht. Er bediente sich hier und da ein klein wenig, nahm sich reichlich von der kargen Platte des Waldes. Das Gepäck wurde schwerer, je länger er brauchte, und eh er sich’s versah, war es schon wieder Mittag. Die halbe Arbeit, und er war so wenig, so wenig gelaufen, aber immerhin satt. Satt und zufrieden, in der grausamen Stille, die er immer verfluchte, so gut wie es ging. „Der Tag“ hatte viel von ihm genommen, und so wenig gegeben, es war nicht gerecht. Weiter, die Reise, auf verlorenen Pfaden, in das Labyrinth aus Bäumen, und wieder hinaus. Ein riesiger Abhang, kahl und steinig und am Ende des Abhangs lag wieder ein Tal. Ein namenloses Gebirge baute sich drohend auf, in der Ferne und Nähe, weit hinter seinem Blick. Er nannte es schmunzelnd „steinerner Narr“, denn bei guter Betrachtung gefiel es ihm nicht. Das Tal wollte er besiegen, nahm er sich vor, und den Weg erklimmen, hinab und hinauf. Wer war er denn schon, vor dem Anblick zu schaudern, vor den großen Bergen und dem weiten Blick. Der Wind wurde kälter, nahm wohl seine Herausforderung an, und ihm gefiel es, endlich einmal wieder einen Gegner zu haben. Er musste noch arbeiten, ohnehin, und so kam es ihm nur gelegen. Einen flachen Stein hatte er sich damals bewahrt, im Rucksack verstaut, so gut es eben ging. Das Feuer war ihm ein guter Freund geworden, wie er es gemerkt hatte, und als sich die Pilze auf dem Stein verbrannten, nickte er dem Feuer dankbar zu. Er nahm es immer mit, das Lagerfeuer, und bei jedem neuen Entzünden erkannte er es wieder. Es war immer das gleiche, egal ob er es zurückgelassen hatte, oder ob er ein wenig der Kohle bei sich behielt. - Rohe Pilze kann man nicht essen, kaltes Wasser tötet den Geist. Kahle Stellen meiden, und nicht nach hinten sehen, Wurzeln und Gräser, Kräuter und Staub - Er musste sich viele Dinge merken, und es war nicht so einfach, bei all den Gedanken. Aber immerhin, er hatte gewonnen! Das Tal war doch kein so schwieriger Feind gewesen, wie er sich das vorgestellt hatte. Leicht sogar schon, zu leicht für seine geübten Füße. Er hatte etwas lachen müssen, als er den Weg zurückgelegt hatte, und die Arbeit verrichtet - hatte sich danach aber höflich bei dem Tal entschuldigt. Sowas gehörte sich schließlich auch nicht. Er hatte seinen Teil der Arbeit getan. Jetzt konnte er nur warten, und dabei dämmerte es schon. Sich schnell doch noch ein paar Dinge einprägen, ein kleiner Baum hier, ein Erdrutsch dort. Was würde wohl dieses Mal verschwinden? Oder sich verändern, oder vielleicht auch erscheinen. Die Arbeit der Nacht war ein mühsames Pfand, und er wusste es nur zu genau, war dafür umso dankbarer. Dieses Mal war er auch ein wenig gespannt, hatte schon den ganzen Tag nachgedacht. „Der Tag“ war vorüber, und auch dieser Morgen - schneller vergangen als angenommen. „Feuer, bitte spiel’ doch ein wenig leiser“ - bat er noch, auf dem Rücken liegend. Manchmal hielt es ihn ein klein wenig wach, es war ungezogen und hatte keine Manieren. Das Knacksen und Knirschen - sind wir mal ehrlich - musste nicht sein, denn er schlief doch so gern. Zwar zwang ihn die Furcht noch lange Wege, aber langsam kam auch die Neugier dazu, grüßte freundlich und drängte die Furcht dann von ihrem Sitz. Als er einschlief, dachte er noch verschiedene Dinge: “Sei doch ein klein wenig leiser. Denk’ an den Morgen, dann kommt er auch schon. Muss’ Essen sammeln, nur noch ein wenig. Muss arbeiten gehen, aber nicht in der Nacht.“ Als er aufwachte hatte sich alles verändert. Doch dieses Mal, und er musste schon sagen, dieses Mal erschrak er fürchterlich. Er spürte zuerst das Klopfen des Herzens im Halse, dann den seltsamen Geruch von Schweiß und Angst. Das leichte Zittern in den Fingerspitzen, die zuckenden Pupillen, wie er es von damals noch kannte. Den Grund für die Angst verstand er rasch, es war diese Frau, die vor ihm stand. Von all den Dingen, welche die Nacht je getan hatte, war dies das Schlimmste, und er fluchte leise. Spürte seine Beine springen, kam in die Höhe, stand schließlich auf festem Grund. Sein Mund war noch offen, und er schloss ihn verlegen, blinzelte dann, blinzelte gleich noch einmal. Sie trug nur ein langes, schneeweißes Kleid. Im perversen Einklang dazu ihre offenen Haare, lang und weiß und grauenhaft sanft. Fast konnte er die Landschaft um sich herum schreien hören, weil sie so unnatürlich darin erschien. Ihr Gesicht war wie leer, und doch sagte es ihm etwas, nur er konnte es nicht einordnen, und wollte auch nicht. Ihre Augen bohrten ihn ein wenig nieder, und er wünschte sich fast, er würde noch liegen. Doch was sollte er nun tun? Die Lippen öffnen, versuchen zu sprechen? Nein, das konnte er nicht. Er würde nur vergessen, wie das mit dem Sprechen funktioniert hatte, schließlich hatte er es schon so lange nicht mehr gebraucht. Nicht, seitdem „der Tag“…aber…daran wollte er nicht denken. Zu seinem größeren Schrecken sprach sie zuerst. Ihre Worte klangen wie ein rauschender Fluss, und er bildete sich ein, ihren Zorn herauszuhören, eine Sekunde später nur Freundlichkeit. Sie machte ihm mehr Angst als alles, was er bisher gesehen hatte. „Jeremy,“ sprach sie leise. Ihre Augen funkelten, tanzten im Licht. „Ich wollte dich treffen. Weißt du, es ist nun schon so lange her? Hast du eigentlich mitgezählt? Es sind 12712 Minuten bisher, und ich habe jede genossen, und jede gezählt. Bist du verwirrt, vielleicht? Oder hast du dich schon - damit abgefunden - wie ich mich auch? Ich will dir sagen, wer ich bin - und du darfst mir ruhig glauben - denn Ich, Jeremy, bin die Arbeit der Nacht.“ „Jeremy, jetzt bist du verrückt.“ Er murmelte leise. Sie hasste ihn dafür. „Der Tag ist sicherlich schwer gewesen, für dich wie für mich, und das glaube ich dir. Doch wir beide arbeiten, jeder für seine Hälfte, und deswegen weiß ich, du wirst mich verstehen. Es ist nicht einfach, aufzuwachen und festzustellen, es hat sich geändert. Man ist der letzte, letzte Mensch auf Erden, und alles was man geliebt, ist plötzlich weg. Die Nacht arbeitet für uns, Jeremy, schon seit diesem Tag an, ich weiß es genau. Aber schließlich bin ich auch die Arbeit der Nacht, und so soll es bleiben, für dich und für mich.“ „Du bist hierfür verantwortlich? Aber…ich…wie…kann das denn sein?“ Mit seinen Worten breitete sie die Arme aus. Ihre Augen sprangen auf, und sie lächelte stumm. Sein Blick fiel auf ihre geöffneten Augen. Nur in diesem Moment, und durch seinen Blick, nur in diesem Moment, da verstand er es. Und er sah hinein, in die Arbeit der Nacht - in ihre Augen - und verlor den Verstand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)