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Judasfall eines Drachen

Teil 13/2 - Zweifel und Vertrauen
von

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Kapitel 1 - 5

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Kapitel 6 - 10

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Kapitel 11 - 15

Chapter 11
 

„Oh Mann, hätte den nicht jemand mitnehmen können?“ Noah ging gleich auf dem Zahnfleisch, als er seinen Kopf entnervt in die Hand stützte. Wie sollte man anständig arbeiten, wenn einem ständig über die Schulter geguckt wurde? Da zwang Mokuba ihn, sich zu den anderen ins Wohnzimmer zu setzen und saß dann selbst nur mit Yugi, Narla, Tea, Mokeph und Nika beim Pokern. Und weil Yami erst zu spät, sprich genau dann als die Kinder alle im Bett waren, aus seinem viel zu langen Mittagsschlaf erwacht war, hatte er es weder zum Beginn der Pokerrunde, noch zum Abflug der anderen in die Disco geschafft. Der einzige, der gerade nicht nervte, war der große Tato, der still auf dem Sessel saß und sich in ein Buch vertieft hatte. Und Phoenix, der ebenso still danebensaß und in seinem Blockbuch herumstaffierte. Warum konnte Yami denn nicht auch ein bisschen so sein?

„Was denn?“ Yami schaute ihn vollkommen unschuldig an und hörte auf, auf seiner Tastatur herumzuklickern. „Ich korrigiere nur deine Rechtschreibfehler.“

„Ich mache keine Rechtschreibfehler“ meinte Noah seufzend. „Kannst du dich nicht irgendwo anders nützlich machen? Geh die Welt regieren oder so was.“

„Aber wohl machst du Rechtschreibfehler“ betonte er und zeigte auf den Bildschirm des Laptop. „Hier. Du schreibst: For your comfirmation I will send you bla bla bla. Das heißt doch: For your Konfirmation I will send you und so weiter. Das schreibt sich doch mit K und groß.“

„Yami, das ist englisch. Verstehst du?“ War das soooo schwer? „Confirmation hat mit Konfirmation nichts zu tun.“

„Aha ...“ In dieser Schulstunde war wohl Yugi dran gewesen. Und das obwohl er vom Christentum nicht mehr verstand als das, was er Seth damals fürs Studium abgefragt hatte. „Wer hat denn Konfirmation?“

„Niemand. Absolut niemand. Lass mich bitte arbeiten.“ War das so viel verlangt, wenn er schon nicht im Büro bei Seto sitzen durfte?

„Ich will dir doch nur helfen“ bettelte der alte Pharao mit hündchengroßen Augen. Er holte sogar die Schmolllippe **Tripple!** raus und bombardierte ihn mit seinem ‚Mir ist langweilig, beschäftige dich mit mir’-Blick.

Fast wäre Noah nach Sekunden unter Beschuss dieser Attacke weich geworden als er ganz gemein „AAAAUUUUUAAAA!!!! SCHEISSE!!!!“ am Bein erwischt wurde. Er rutschte sofort mit dem Stuhl zurück und sah gerade noch ein dunkelbraunes Fellknäul in Richtung Sofa türmen, auf die Kopflehne springen und sich dort knurrend aufbauen. „Mokuba!“

„Was kann ich dafür?“ drehte dieser sich aus seiner Pokerrunde heraus und sah seinen Schatzi an, der sich ziemlich wütend seinen angekratzten Knöchel rieb.

„Was du dafür kannst? Dein verflohter Kater hat mich schon wieder gekratzt.“

„Er hat keine Flöhe mehr.“

„Darum geht es doch gar nicht!“

„Ich hab dir gesagt, die Hose solltest du nicht anziehen“ nickte er auf ebendiese. Noahs neue, weiße Freizeithose trug nämlich kleine graue Kordeln mit Wollkügelchen am Saum, die für Katzen natürlich schrecklich reizvoll waren.

„Ich kann doch mein Outfit nicht nach deinen Haustieren richten!“ So weit kam das noch, dass er nun auch noch Zuhause der Etikette unterlag. Wenigstens hier sollte er doch wohl seine neue Mode tragen dürfen. Haustiere hin oder her!

„Ich hab dich aber gewarnt“ antwortete er ganz ruhig. „Wenn die Kleinen das erst sehen, werden die hinter so was her sein. Das ist ganz normaler Spieltrieb. Und Katzen sind nun mal Jäger.“

„Aber nicht die Jäger meiner Knöchel!“

„Grrrrruuuuuuuooooooommmmmmm“ knurrte obendrein auch noch das wuschelige Monster auf der Lehne. Er hatte sich eben erschrocken, dass an der Kordellust auch noch ein Bein dranhing und äußerte mit wildem Buckeln seinen Unmut.

„Och, hat er dich erschreckt?“ schaute Mokuba ihn mitleidig an und erhöhte lockend seine Stimme. „Reg dich nicht auf, Kumpelchen. Ist doch alles gut. Hm? Alles gut.“

„Muuoow!“ jaulte er und sprang von der Lehne herunter, als von draußen ein noch lauteres Mauen zu hören war. Wenn das nicht sein Weib war, welches da nach ihm rief.

„Na, geh hin, wenn sie dich ruft. Kusch!“ bestärkte Mokuba ihn, doch das wäre auch unnötig gewesen. Brav gegenüber der wahren Obrigkeit stellte er seinen buschigen Schwanz auf und trabte fröhlich und hoch erhobenen Kopfe ganz nach Katzenart zur Tür hinaus. Aller Ärger vergessen.

„Du bist dran“ meinte Yugi, als Mokuba dann schon wieder an der Reihe war.

„Ähm ja ... also ... ich gehe mit.“

„Hallo? Mokuba?“ weckte Noah ihn noch mal. „Wie wäre es, wenn wir das mal ausdiskutieren? Dieses Mistvieh birgt echte Verletzungsgefahr.“

„Unsinn. Den Kindern tut er ja nichts“ erwiderte der, ohne sich erneut umzudrehen.

„Ja, vor denen hat Hello Angst“ meinte auch Yugi, ohne von seinem Blatt aufzublicken. „Er türmt vor allem, was kleiner ist als einen Meter. Heute Morgen war Tato hinter ihm her, aber hinter den Töpfen hat er ihn nicht gekriegt. Ich glaube, so aggressiv ist er gar nicht.“

„Nicht aggressiv? Siehst du das hier?“ schimpfte Noah und zeigte seinen leicht blutenden Knöchel. „Das war’s für mich mit kurzen Hosen. So kann ich mich doch nicht zeigen!“

„Wir haben ohnehin Winter, Onkel Noah.“

„Danke Tato“ nickte Onkel Mokuba zu diesem trockenen Kommentar. Sie hatten doch sowieso Winter und keine Zeit für kurze Hosen. Warum regte Noah sich so auf? Solange der Kater vor den Kindern weglief und nicht umgekehrt ...

„Ich hab das Gefühl, du nimmst mich nicht ernst, Mokuba.“

„Soll ich dich heilen?“

„NEIN! ES GEHT UMS PRINZIP!“

„Ich weiß, was ich mache! Ich verarzte dich!“ Jawoll! Der Pharao hatte eine neue Berufung gefunden! Wenn man die Welt retten wollte, konnte man doch mit Noah mal einen Anfang starten. Er lief aufgeregt zum Wohnzimmerschrank und wühlte nach dem Erste-Hilfe-Kasten.

„Ich setze mich doch gleich zu Seto“ seufzte Noah als Yami schnellen Schrittes wieder zurückkam und nicht mal die Schranktür geschlossen hatte. So voller Elan wollte er unbedingt den armen Hasen vor dem Verbluten bewahren.

„Du bleibst schön hier“ meinte Mokuba ganz nebenbei. „Sonst sehe ich dich ja gar nicht mehr.“

„Wie wäre es, wenn du dich dann mal um mich kümmern würdest?“

„Wie wäre es, wenn du mal aufhören würdest, zu arbeiten?“

„Ey ...“ Noah konnte nur genervt den Kopf schütteln. „Bin ich hier im Zirkus oder was? Ich gehe wirklich gleich zu Seto. Mit dem kann man sich wenigstens normal unterhalten.“

„Warum? Du kannst doch hier bleiben“ meinte Yami und fischte nicht etwa das Pflaster heraus, sondern nüdelte gleich den Mullverband auf.

„Yami, ich bin nicht schwerverletzt“ bemerkte er leicht skeptisch. „Du musst mich nicht mumifizieren.“

„Das wäre doch auch mal lustig“ grinste er zu ihm rauf. „Soll ich dir mit kleinen Haken das Hirn zur Nase rausziehen?“

„Iiiieeeeeh.“

„Ihr Ägypter habt sie manchmal echt nicht alle“ schüttelte Narla den Kopf und warf ihre Spielchips in die Tischmitte.

„Musst du gerade sagen. Du bist doch auch Ägypterin“ meinte Mokeph. „Deine Gene sind so alt wie unsere.“

„Ist das Setos Handy?“ Und schon hatte Yami ein neues Interessengebiet, nachdem Noah ihm den Verband weggenommen hatte, um sich selbst nur ein Pflaster zu geben. Er fischte sich den kleinen Superminicomputer vom Tisch und wischte jedes Mal aufs Neue wieder voll Bewunderung über das glänzende Silber. Er liebte elektronisches Spielzeug. Und Seto hatte da, wie er neulich feststellte, wirklich niedliche Kinderspielchen drauf. Um Nini während längeren Autofahrten zu beschäftigen - natürlich, schon klar. „Warum liegt das hier und nicht bei Seto?“

„Weil der vorhin Hals über Kopf vor Joey getürmt ist“ erklärte Nika. „Der wollte ihn mit den anderen in die Disco schleifen und da hat er sich schnell ins Büro verzogen.“

„Und warum seit ihr nicht mit?“

„Weil wir pokern wollten und die anderen nicht.“

„Euch meine ich doch gar nicht. Ihr seid ja eh Langweiler“ winkte er lässig ab.

„Hey!“ Und Nika betrachtete sich nicht gerade als Langweilerin.

„Ich meine euch“ schaute er zu Tato und Phoenix rüber. „Wenn alle abtanzen, hättet ihr doch mitgehen können. So ne Disco unserer Zeit ausprobieren.“

„Für den Quatsch bin ich zu alt“ antwortete Tato ganz ohne von seinem Buch aufzublicken. Da las er lieber Goethe, das war ein Evergreen. Und seine wilden Zeiten lagen weiß Gott hinter ihm.

„Und du, Spatz?“ guckte er Phoenix an, der sogar aufschaute und ihm mit seinem silbergrauen Blick begegnete. „Willst du nicht mit? Du könntest ein Mädchen aufreißen. Oder auch zwei.“

„Ich ... ich gehe nicht so gern aus“ antwortete er mit seinem fast heiser hellen Stimmchen. „Außerdem bin ich noch nicht volljährig.“

„Balthasar hat doch aber auch eure Mama mitgenommen“ meinte Nika. „Du hättest ruhig mitgekonnt. Die Erwachsenen geben schon auf euch Acht. Und wenn du eine Visitenkarte von Seto hinlegst, kommst du überall rein.“

„Ich bleibe lieber bei Asato.“ Und er lächelte ganz glücklich, als der lobend sein Haar wuschelte. Zwar blickte der alte Drache nicht mal dafür auf, aber wenigstens einer seiner angenommenen Söhne, hörte mal auf ihn.

„Ihr seid echt ein süßes Pärchen“ grinste Yami. „Ihr würdet gut zusammen WHUA!!!“ Da klingelte plötzlich Setos Handy und vibrierte so stark, dass Yami das Teil erst mal drei Meter weit wegschmiss und in die entgegengesetzte Richtung hopste. Da hatte er sich aber verjagt!

„Du musst das nicht gleich wegwerfen“ lachte Noah und war am nächsten dran, das Teil aufzuheben.

„Ist bestimmt für Seto“ atmete Yami und strich sich das Haar zurück. „Ich gehe ihn holen.“

„YAMI!“ Aber der war schon zur Tür raus, als Noah ihm das Ding hinhielt. „Nimm das Handy doch gleich mit.“ Aber der war durch den langen Schlaf viel zu aufgeweckt und überhaupt etwas hibbelig im Moment. Wahrscheinlich zu viel überschüssige Energie seit Seth ihn nicht mehr jede Nacht auspowerte.

„Geh doch ran. Ist bestimmt geschäftlich“ meinte Mokuba gelangweilt. „Wer sollte ihn denn sonst anrufen? Oder steht da was, dass das schon wieder Joey ist?“

„Nein, Nummer ist unbekannt“ meinte Noah und klappte das Ding auf. Lieber selbst rangehen und den Telefondienst spielen, bevor derjenige nun doch noch gleich wieder auflegte. Könnte ja ein Kunde sein, der Geld loswerden wollte. „Kaiba?“ Aber am Telefon immer souverän, egal, ob er sich gerade hinsetzte und das Pflaster noch mal festdrückte. „Nein, Noah. Mein Bruder müsste gleich wieder zurück sein“ antwortete er wohl auf die Frage hin, welcher Kaiba jetzt am Telefon war. „Vielleicht ist unsere Meldung bei Ihnen noch nicht eingetroffen. Seto hat geheiratet und heißt jetzt Muto. Es würde ihn sicher freuen, wenn Sie das in Ihren Daten ändern könnten, Mr. Hamilton.“ Aber dann lachte er freundlich. „Nein, kein Problem. Sie sind nicht der einzige, der das verwechselt. Das passiert den meisten noch. Dauert wohl noch etwas bis das in den Köpfen angekommen ist. Aber wenn Sie das schon wissen ...“ Er wartete die Antwort ab und lehnte sich lächelnd zurück. „Nein, wirklich. Kein Problem. Viele nennen ihn noch Kaiba. Aber sie können sich denken, dass er Sie da etwas rüder korrigiert als ich. Korrekter Weise hätte ich auch sagen müssen ‚Kaiba am Apparat Muto’, da haben Sie Recht.“ Kurz wartete er, aber lachte dann wieder freundlich. „Nein, ich verrate es ihm nicht. Versprochen. Nun, Mr. Hamilton. Kann ich Ihnen vielleicht auch weiterhelfen?” Sein Lächeln wich nicht, aber er hörte doch schon kurz und ruhig zu, was der Fremde ihm sagte. „Nun gut. Er müsste gleich ...“

„Ich weiß selbst, wo das Wohnzimmer ist. Du musst mich nicht ziehen!“ ... um die Ecke kommen. Denn da sprang schon Yami herein und zog den grummelnden Drachen hinter sich her.

„Er kommt gerade rein. Ich übergebe Sie mal. Schönen Abend noch.“ Noah hielt Seto das Handy hin und besänftigte ihn mit einem seiner strahlenden Lächeln. „Telefon für dich, Brüderchen.“

„Wer?“ brummte er und nahm das Teil erst mal entgegen.

„Kenne ich nicht. Ein Mr. Hamilton?“

„Sagt mir nichts” meinte Seto, aber telefonierte trotzdem mit ihm. „Muto?“ Und ja, er meldete sich nicht mit Kaiba. Schon ewig nicht mehr. „Ja, Seto Muto. N’Abend. Was kann ich für Sie tun?” Hörte sich zwar eher an wie ‚Wie kann ich Sie wieder loswerden?’, aber Seto war nun mal kein kundenfreundlicher Mensch. Deshalb kümmerte er sich ja auch um Zahlen und Technik. Aber dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck vom kalt mürrischen Blick und wurde etwas blass. „Meine Mutter? Ist sie krank?“

Da hörten die anderen auf zu Pokern, selbst Tato blickte von seinem Schinken auf und beobachtete, wie sein Vater sich rückwärts wie paralysiert auf die Sofalehne neben Mokeph setzte. Ganz anscheinend musste er sich schnell mal irgendwo niederlassen, bevor er sich mitten im Raum noch verlorener vorkam.

Schweigen breitete sich aus und sicher wünschte sich jeder, er würde mal die Lautsprecher anstellen. Aber das Gespräch blieb zur Hälfte geheim. Außer

„Aha ...“ sagte er nämlich nicht viel mehr und lauschte einfach nur dem, was der Fremde am anderen Ende erzählte.

Yugi legte seine Karten hin und ging zu ihm, stellte sich neben ihn und legte ihm seine warme Hand auf die hart angespannte Schulter, als sein Liebling wie eine Bombe hochschoss.

„WAS HABEN SIE?“ schnauzte er in den Hörer. „MEIN ARZT UNTERLIEGT DER SCHWEIGEPFLICHT! ICH SCHWÖRE, EINER VON IHNEN HAT MORGEN EINE KLAGE AM HALS!!!“

„Liebling“ flüsterte Yugi und winkte seinen kalten Blick ihn mit senkenden Händen zur Ruhe. „Ganz ruhig bleiben. Immer cool.“

Als hätte das tatsächlich eine Wirkung, so setzte Seto sich wieder und lauschte der Stimme des Mannes. „Nein ... das ist schön für sie“ erwiderte er mit so glatter, kalter Stimme, dass es richtig kühl wurde im Raum. „Ist das so? Ich weiß nicht, ob ...“ Er sprach nicht aus, sondern musste zuhören. Ganz eindeutig wurde er da ziemlich gefordert. „Ich weiß. Meinen Sie wirklich, dass sie ... ruhig bleibt?“ Dann begann sein Ton zu zittern und dass Yugi an seiner Seite stand und seinen Kopf streichelte, schien auch eher wenig zu bringen, denn Seto drückte ihn respektvoll wieder fort und senkte seinen Blick auf den Boden. „Nein, ich werde es mir überlegen. Ich melde mich dann wieder bei Ihnen.“ Er nickte leise, aber hob seinen Blick nicht erneut. „Nein. Kein Problem. Danke, für Ihren Anruf, Dr. Hamilton. Ich melde mich bei Ihnen.“ Ganz kurz noch, bevor er mit einem „Ihnen auch noch einen schönen Abend“ auflegte.

Er behielt das Handy in der Hand und sah leer den Boden an. Irgendetwas musste ihn ziemlich aufgewühlt haben, dass er die fragenden Gesichter seine Freunde nicht einmal wahrnahm. Aber wenn es wirklich um seine Mutter ging, war klar, dass man ihm da in eine ganz weiche Stelle gebohrt hatte.

„Liebling? Alles in Ordnung?“

Seto hob einen Blick und sah ihn an. In seinen Augen eine Mischung aus Traurigkeit, Verzweiflung und diesem giftigen bisschen Hoffnung, welches er noch immer an diese Frau heftete. Er liebte sie. Er konnte es nicht ändern. Sie war seine Mutter und er liebte sie, egal was sie ihm angetan hatte. Und er hoffte, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem sie seine Liebe erwidern konnte.

„Komm her.“ Yugi stellte sich vor ihn, nahm seinen Kopf und legte ihn ohne Widerstand auf seine Schulter. Wenn Seto auf der Lehne saß, war er ja selbst fast so hoch wie Yugi, aber das war ihm gleich. Sein Yugi tröstete ihn und das war es, was er brauchte. „Was ist denn passiert, hm? Mon petit coeur?“

„Das war Dr. Hamilton“ antwortete er leise. Dann seufzte er tief und hob seinen Blick. Auch wenn es ihn im ersten Moment erschreckt hatte, war er mittlerweile stark genug, damit umzugehen. Und an Yugi gab es ohnehin kein Vorbeikommen.

„Und was wollte er?“ fragte er weiter. „Hat er dich geärgert?“

„Nein, er war sehr freundlich“ meinte Seto und blickte seitlich zu Boden. „Er hat gefragt, ob Mama uns besuchen darf.“

„Dann kannst du ihn gleich noch mal anrufen und ihm sagen, dass er sich das in die Haare schmieren kann“ bestand Mokuba sofort mit wütendem Blick und zeigte bedrohlich auf das Handy. „Die sitzt im Gefängnis und das aus gutem Grund. Soll sie da verrecken.“

„Häschen“ bat Noah ihn mit ruhiger Stimme um ein wenig mehr Beherrschung. Seto sah das nämlich durchaus anders. „Seto, was hat Mr. Hamilton von dir gewollt?”

„Dr. Hamilton“ korrigierte er. „Er ist ein Arzt aus den USA und hat sich auf Aggressionsstörungen spezialisiert. Er forscht und behandelt seit Jahren Leute wie ... meine Mama.“

„Aber deine Mutter hat doch schon einen Arzt.“

„Ja, aber der hat ihm den Fall vor einem halben Jahr übergeben“ erklärte er und sah ihn mit klarblauen Augen an. „Er hat mir gesagt, dass er sie seitdem mit Sprachsitzungen und Medikamenten therapiert. Er glaubt, er hat den Grund gefunden, der ihr gestörtes Verhalten erklärt. Er vermutet einen Defekt im Limbischen System, den er jetzt mit Hormonen behandelt ... er hat mir das erklärt“ wiegelte er mit winkender Hand ab. Das Wie war ihm wohl ein wenig egaler als das Was - nämlich die Auswirkungen, welche diese Therapie mit sich brachte.

„Und was bedeutet das jetzt für dich?“ fragte Yugi vorsichtig. „Was wollte Dr. Hamilton von dir? Du sagtest so was von ... hat er mit deinem Arzt gesprochen?“

„Ja, sie haben telefoniert“ erklärte er. „Er wollte von Dr. Peran hören, ob ich gefestigt genug bin, dass er mich mit meiner Mutter belasten kann. Deshalb hat er angerufen. Er wollte fragen, ob sie uns demnächst besuchen kommen darf, um zu sehen, ob die Medikamentierung so gut anschlägt wie er vermutet. Und sie ... sie möchte mich auch sehen ... sagt er.“

„Und jetzt möchtest du sie einladen.“

„Ich weiß nicht.“ Er sah Yugi traurig an, aber auch so schrecklich hoffnungsvoll. „Darf sie uns besuchen kommen? Meinst du ... das wäre gut?“

„Das hast du doch für dich eigentlich schon entschieden“ seufzte er und streichelte ihm durch das seidige Haar. „Oder? Mein Liebling? Du weißt, ich unterstütze dich. Egal, was du dir vornimmst.“

„Das kommt gar nicht in die Tüte!“ Aber Mokuba war da ganz anderer Meinung als sein großer Bruder. Er stampfte ganz nahe vor ihn und sah ihn entschlossen an. „Seto, du weißt doch ganz genau, wo das endet. Sie wird wieder rumschreien und handgreiflich werden. Das solltest du dir wirklich nicht antun.“

„Sie möchte uns beide sehen“ war seine unschuldige Antwort. „Dich auch.“

„Quatsch. Sie weiß nicht mal, dass ich existiere.“

„Das stimmt nicht“ bat er lieb. „Du musst ihr doch auch eine Chance geben, sich zu ändern. Vielleicht hat Dr. Hamilton einen Weg gefunden, ihr zu helfen. Sie ist doch krank ... und wenn man ihr helfen kann und ...“

„Mit Tabletten! Toll, Seto! Ganz toll! Wenn sie nur normal sein kann, wenn sie unter Medikamenten steht, dann hat das keinerlei Wert. Das kannst du in die Tonne kloppen!“

„Aber ich nehme auch ... Tabletten“ antwortete er vorsichtig. Er musste auch Antidepressiva nehmen, um mit seinem Alltag klar zu kommen. Er war da nicht viel anders. „Willst du mich deswegen auch in die Tonne kloppen?“

„Deine Störungen sind aber ihre Schuld!“ rief er und wurde langsam richtig wütend, er stampfte wie ein kleines Kind. „Seto, vergisst du etwa, was sie dir angetan hat? Wie sie dich traumatisiert hat? Sie hat dich hungern und dursten lassen, sie hat dich ein- und ausgesperrt, sie hat dir die Haut verätzt! Verdammt, sie hat dich vergewaltigt! Du wärst fast verreckt und du tust immer noch als wäre das nur ein Versehen gewesen!“

„Schrei mich nicht an“ bat er mit leiser Stimme. Er mochte es nicht, wenn Mokuba laut wurde.

„Sieh es doch endlich ein! Wir sind ohne sie besser dran! DU bist ohne sie besser dran! Diese Frau ist dein persönlicher Fluch! Sieh zu, dass du sie los wirst! Dieses Mal BEVOR sie dich wieder kaputt macht!“

„Rede nicht so über sie.“ Ihm stiegen die Tränen in die Augen, wenn er so schlecht über sie sprach. „Sie ist immerhin unsere Mama. Und wenn sie uns braucht, müssen wir ihr helfen.“

„Nein, Seto. Wir müssen gar nichts“ zischte er und beugte sich zu ihm herab, lehnte sich direkt vor sein Gesicht. Mokuba sah selbst aus, als würde er in seiner Wut irgendetwas Unbedachtes tun wollen. „Wir müssen gar nichts für sie tun. Ich rege mich für sie nicht ein Stück. Und ihr die Pest an den Hals wünschen, das ist es, was du tun solltest. Und wenn sie in der Gosse verreckt, das kümmert uns nicht. Wir werden auf ihrem Grab tanzen.“

„Tut mir leid“ sprach er gehaucht und sah fort von diesen funkelnden, schwarzen Augen. „Wenn du so redest, hörst du dich an wie sie.“

DAS hätte er jetzt vielleicht lieber nicht sagen sollen. Mokubas Lippen begannen zu beben und seine wütenden Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. Aber wenigstens war er so vernünftig, zu sehen, dass jede weitere Diskussion nur in noch mehr Schmerz enden würde. Außerdem diskutierte er selten mit seinem großen Bruder. Deshalb verließ er den Raum ohne noch etwas entgegnet zu haben.

Er wollte seiner Mutter nicht ähnlich sein. Wenn er jemanden hasste, dann sie. Und er brachte kein Verständnis dafür auf, dass Seto so an ihr hing. Und ihm dann auch noch vorzuwerfen, er wäre wie sie, war das aller letzte! Selbst wenn es stimmte, wollte er es nicht hören.

Aber manchmal, wenn er wütend wurde, nahm er genau ihre Züge an. Es war nicht seine Schuld ... aber er wollte das nicht. Er hasste sie und das würde er immer tun. Sie hatte ihn nur benutzt um Seto zu quälen und das würde er ihr niemals verzeihen.

Noah warf Yugi noch einen kurzen Blick zu und folgte seinem Häschen dann. Jetzt hatten sie erst mal damit zu tun, die beiden Brüder wieder zu beruhigen.

„Ja, prima“ meinte Seto enttäuscht. „Nur ein Anruf und schon ist wieder alles durcheinander. Und jetzt ist Mokuba sauer auf mich.“

„Nein, der ist sauer auf andere Dinge. Das hat mit dir nichts zu tun“ tröstete Yugi und streichelte ihm unter den roten Augen entlang. Zwar weinte Seto nicht, aber allein die Aufregung war so viel, dass er leicht platzen konnte.

„Vielleicht hat er Recht und wir sollten den Kontakt zu ihr ganz abbrechen. Ich will mich nicht mit Moki streiten.“

„Woher hatte dieser Dr. Hamilton überhaupt deine Nummer?“ fragte Nika. „Ich dachte, du gibst deine Privatnummer niemandem?“

„Ich hab sie für Notfälle im Gefängnis hinterlegt. Falls ihr etwas passiert“ antwortete er mit flacher Stimme und sah hilfesuchend zu Yugi auf. „Was soll ich denn machen?“

„Eigentlich weißt du das doch schon“ antwortete der voll Ehrlichkeit. „Du hast doch schon beschlossen, dass du sie treffen möchtest.“

„Aber wenn Mokuba Recht hat“ fürchtete er. „Dann schreit sie wieder und ... das alles. Es ist bisher nie gut gegangen. Sie hasst mich.“

„Aber du hast trotzdem noch Hoffnung.“

„Ja. Wenn ich sie nicht einlade ... sie hat doch selbst gesagt, dass sie kommen möchte.“

„Wenn du sie nicht triffst, wirst du dich ewig fragen, was gewesen wäre“ führte Yugi für ihn weiter. Er kannte ihn mittlerweile einfach zu gut. Er wusste, welche Angst Seto davor hatte, dass es wieder in einem Desaster endete. Aber ebenso wusste er auch, dass er seine Hoffnungen niemals aufgeben würde und sich dann ewig Vorwürfe machte. Er war da leider nicht wie Mokuba, der sich im Hass für eine feste Seite entschied. Seto war in dieser Beziehung sehr wankelmütig. „Liebling, wenn du möchtest, dass sie kommt, dann werden wir sie einladen. Wenn du dich aber nicht stark genug fühlst, dann solltest du es lassen. Oder dir zumindest Zeit lassen. Wie stark fühlst du dich denn?“

„Stark“ antwortete er schwach. „Ich bin stark. Ich hab eine eigene Familie. Ich habe dich. Eigentlich brauche ich sie nicht ... aber mein Herz ... ich wünschte, Seth wäre hier ...“ Er war stark genug, sich mit dem Gedanken, dass sie ihn niemals lieben würde, abzufinden, weil er mittlerweile eine eigene Familie gegründet hatte. Aber auf der anderen Seite ... das Kind ihm wünschte sich seine Mama. Das war nur natürlich. Jedes Kind liebte seine Mutter, egal wie gemein sie war. Deshalb konnte Mokuba erwachsen werden und sich von ihr lossagen - für ihn war Seto wie eine Mutter. Aber der brauchte seine Mama. Besonders jetzt wurde dieser Wunsch stärker, wo ihn sein Yami verlassen hatte, der ihn sonst wie eine Mutter beschützte.

„Ich weiß, Liebling. Ich weiß“ seufzte er und nahm ihn in den Arm. Das war eine schwere Entscheidung für ihn. Er hielt ihn im Arm und legte den Kopf auf seinen. Armer Liebling. Dabei blickte er zur Seite und sah Tato an. Da kam ihm der Gedanke: „Tato, sag mal. Kennst du deine Großmutter eigentlich?“

„Ja, ihr kennt doch die Zukunft“ meinte auch Yami. „Sag du doch, was er tun soll.“

„Was Mama tun soll, kann ich ihm nicht vorschreiben. Ich bin in dieser Zeit noch zu klein, um alles zu verstehen“ meinte er ruhig. „Aber wenn ihr meine persönliche Meinung hören wollt, würde ich sagen, dass Mama damals die richtige Entscheidung getroffen hat. Ohne Zweifel.“

„Danke. Das ist nicht wirklich hilfreich“ seufzte Yami und sah den hoffnungsvoll nachdenklichen Drachen an. „Seto, was willst du denn tun? Ganz tief in deinem Herzen.“

„Weiß ich nicht. Ich weiß das nicht“ antwortete er und stand langsam aus Yugis Armen aus. „Ich will darüber jetzt auch nicht mehr sprechen. Ich hab noch zu tun.“

„Arbeite nicht mehr zu lange“ bat Yugi noch als er sich zurück in Büro trollte und das Nachdenklichsein erst mal auf unbestimmte Zeit verschob. Er brauchte jetzt erst mal Ablenkung, um festzustellen, was er tun wollte.
 


 

Chapter 12
 

„Morgen, Yugi“ grüßte Balthasar freundlich und drehte sich um. „Möchtest du auch warme Brötchen?“

„Ihr habt ja schon Frühstück gemacht“ stellte der verwundert fest. Sonst war er doch derjenige, der das morgens immer erledigte. Und jetzt waren Balthasar und Tato schon wach und hatten sogar Kaffee gekocht. Noah war auch mit Tee und Körnerbrot versorgt und schmökerte in der Morgenzeitung. Yugi war somit arbeitslos. „Ihr seid ja toll. Wollt ihr nicht ganz hier bleiben?“

„Bei uns Zuhause macht Asato immer das Frühstück“ meinte er und stellte erst den Brötchenkorb auf den Tisch, bevor er ihn mit einem Bastdeckel belegte, damit der Inhalt möglichst lange warm blieb. „Ich meine, für irgendwas müssen alte Menschen ja auch nützlich sein.“

„Klappe, Grünschnabel“ brummte Tato und stellte die Kaffeekanne auf den Tisch. Der grummelte zwar wie Seto, aber so einige Qualitäten von Yugi schienen wohl doch in ihm zu schlummern. „Papa, möchtest du Tee oder Kakao?“

„Kakao. Danke“ lächelte er und setzte sich also ohne Arbeit auf seinen Stuhl. War doch sehr angenehm, wenn man morgens plötzlich mal selbst faul sein durfte. Wie schön es doch war, erwachsene Kinder zu haben. „Morgen, Noah.“

„Morgen“ antwortete der kurz und tonlos. Aber dann ließ er seine Zeitung sinken und sah ihn ratlos an. „Sorry, was hast du gesagt?“

„Nur guten Morgen“ schmunzelte er. „G u t e n M o r g e n, N o a h“ wiederholte er noch mal ganz langsam zum Mitschreiben.

„Morgen, Yugi“ lächelte er zurück. „Entschuldige, ich war gerade abgelenkt.“

„Was steht denn so spannendes in der Zeitung?“

„Nichts. Ich hab nur wenig geschlafen letzte Nacht“ erzählte er und faltete die Zeitung zusammen, um sie neben seinen Teller zu legen. „Moki war unerträglich. Erst hat er nicht einen Ton gesagt und dann hat er herumgepoltert. Er ist so ein Sturkopf.“

„Wegen des Anrufs gestern?“ vermutete Balthasar und setzte sich neben ihn. „Asato hat erzählt, was passiert ist. Haben Moki und Seto gestritten?“

„Irgendwie schon“ antwortete er. „Moki ist ziemlich sauer, weil Seto gesagt hat, er würde sich anhören wie seine Mutter.“

„Ich glaube, die sind beide etwas dünnhäutig gerade“ ergänzte Yugi. „Seto ist erst heute morgen um eins ins Bett gekommen. Er wollte nicht mal kuscheln und ist wieder aufgestanden, bevor Nini zu uns gekrabbelt ist. Das war so gegen fünf.“

„Ziemlich schlaflos, was?“ seufzte Balthasar. „Aber falls es euch interessiert, wir zumindest hatten Spaß letzte Nacht.“

„Das ist doch was“ lächelte Yugi. „Wo seid ihr denn gewesen?“

„Im Green Leave“ erzählte er. „Mama hat da früher mal gearbeitet und Onkel Tristan hat erzählt, dass er Tante Nika dort kennen gelernt hat. In unserer Zeit steht der Schuppen gar nicht mehr. War aber ganz lustig, mal zu Oldies zu tanzen. Einer hat sogar gedacht, Mama wäre meine Freundin. Sie sieht ja noch so jung aus.“

„Ich denke eher, du siehst älter aus als du bist“ meinte Noah. „Wenn man dich sieht, würde man dich eher auf 25 schätzen und nicht auf 16.“

„Na, so lange ich nicht auf 40 geschätzt werde.“

„Klappe“ brummte Tato vom Herd aus. „Du bekommst keinen Kakao.“

„Ich trinke eh Kaffee“ meinte er locker. „Auf jeden Fall war es nett gestern. Ihr solltet das nächste Mal mitkommen, bevor ihr wieder so dumme Anrufe bekommt.“

„DUTEN MOOORGÄÄÄÄN ONKE NOAH!“ Na, wenn das nicht klein Tato war, der da fröhlich zur Tür hereinwatschelte. Man sah, dass er sich selbst angezogen hatte. Der kleine Pullover war nicht nur verkehrt herum, sondern er hatte auch den Ärmel auf dem Kopf und schaute zum Kragenloch heraus. Ein Arm war gut angezogen, der andere hing nackig heraus. Wenigstens ein Unterhemd trug er. Wie ein schiefer Zwerg kam er daher.

„Guten Morgen, Tato“ antwortete Noah und konnte sich das Schmunzeln nicht verkneifen.

„GNUUUUUTS!“

„Knutsch“ lachte er nun doch und gab ihm erst mal einen Kuss, bevor er ihn belustig anlächelte. „Na, hast du dich selbst angezogen, du Räuber?“

„Ja“ strahlte er stolz. „Papa haddesaat, er maat alles, aber Pullover kann is selber vasuusen. Imma langsam lernen. Is hab den Pullover annezogen.“

„Ja, sieht man.“ Das sah man wirklich.

„Ich hab ihn so weit angezogen“ erklärte Yugi schmunzelnd. „Aber Tato durfte heute Morgen den Pullover selbst versuchen und dann in die Küche gehen.“

„Is muss das mal lernen. Is bin soon groß“ ergänzte er ernst. „Aba is glaub, da is was fals.“

„Ja, ein bisschen falsch. Aber auch ein bisschen richtig“ lachte Balthasar und tippte dem kleinen Mann auf die Schulter. „Soll ich dir helfen, Mini?“

„Ja“ nickte er und hob sofort seine Hände hoch. Hilfe, bitte.

Also bekam er mal ein bisschen Starthilfe. Er wurde von seiner Zipfelmütze befreit und kurz wieder ausgezogen. Dann bekam er den nackten Arm in den richtigen Ärmel durchgesteckt, womit dann auch sein Kopf zum richtigen Loch herauslugte. „So, jetzt ist gut. Sehr schick, Tato.“

„Dankesöön, Ballasa“ grinste er und streckte ihm die Arme entgegen. „Gibs ein Gnuuts, okee?“

„Okeeeeee“ grinste er und hielt ihm die Wange hin, wo er umgehend einen feuchten Knutscher sitzen hatte. „Ach, Asato. Du warst mal so niedlich.“

„Hm.“ Kein Kommentar. Das war lange, lange, laaaaaange her.

„Komm schon. Du könntest ruhig mal was davon wiederbeleben.“

„Willst du ernsthaft, dass ich dich gnuutse?“ fragte er mit uneinladend tiefer, rauer Stimme.

„Du machst mir Angst“ schaute er ihn scherzend an. „Doch, du hast mich mal geknutscht. Letztes Jahr als ich das Endspiel in der Jungendliga gewonnen habe. Da hast du mich vor Freude geknutscht.“

„Das war nichts. Die haben dich alle abgeknutscht“ murrte er. War doch klar. Wenn er Fußballmeister wurde, freuten sich natürlich alle.

„Trotzdem hat mir das was bedeutet ...“

Tato sah ihn an, er sah Tato an und es war Ruhe. Das war trotz aller Scherze mal ernst gemeint. Der alte, grummelige Drache war für ihn wie ein Vater. Und wenn er ihn stolz machte, war das ein gutes Gefühl. Für beide Seiten.

„Mir auch“ erwiderte der Große dann mit einem gütigen Lächeln. Und damit war das auch geklärt. Man war im Guten miteinander.

„Auf welcher Position spielst du denn?“ fragte Noah neugierig.

„Stürmer“ antwortete er. „In der Landesjugend. Eigentlich würde ich lieber Libero machen, aber der Trainer ist anderer Meinung. Doch als ich letztens zum Probetraining der Nationalmannschaft war, sagten sie, ich könnte irgendwann ein guter Libero werden und nächstes Jahr würden sie mich gern wiedersehen. Auch erst mal als Stürmer ... leider. Wie auch immer, wenn sie mich wirklich nehmen, muss ich mir was einfallen lassen. Entweder Karriere als Fußballer oder Schule fertig machen.“

„Schule wäre ja vielleicht besser“ meinte Noah. „Dann hast du etwas, wo du immer drauf zurückkommen kannst.“

„Ja, schon. Aber danach bin ich schon 21 und das ist schon bald wieder zu alt, um mit Profisport zu beginnen.“

„Nur wenn du dir dann die Hachsen brichst, ist das eine wie das andere gestorben“ meinte Tato so freundlich wie eh und je.

„Aber den Schulabschluss kannst du jederzeit nachholen. Deine Jugend nicht“ meinte Yugi. „Ich wäre da grundsätzlich Noahs Meinung, Schule sollte vorgehen. Aber du hast den Vorteil zu einer reichen Familie zu gehören, die dir den Rücken stärkt. Hätte ich Seto nicht geheiratet, wäre ich auch kein Sportler geworden. Aber wenn mir was passiert und ich ein Krüppel werde, verhungert meine Familie nicht. Mit Geld kann man seinen persönlichen Neigungen viel eher nachgehen.“

„Eigentlich hat Papa Recht“ stimmte auch Tato zu. „Wenn es nichts wird mit der Karriere hast du noch immer uns. Aber du solltest daran denken, dass Träume manchmal sehr schnell zerplatzen können.“

„Meine Träume sind aus Leder. Nicht aus Seifenblasen“ antwortete er bitterlich und ernst. „Ich weiß, dass ich das Zeug zu einem guten Spieler habe. Ich male mir keine Traumschlösser aus, in die ich nicht einziehen kann. So gut solltest du mich kennen, Asato.“

„So war das nicht gemeint, Kleiner. Erst mal musst du hart arbeiten, um es in die Nationalmannschaft zu schaffen. Das wird nicht ganz leicht. Du hast gesehen, was die Jungs draufhaben. Allein an Kondition. Mach erst Pläne, wenn du was genaueres weißt. Die Konkurrenz ist groß.“

„Nicht groß genug für mich. Ich bin gut und das weiß ich auch. Dumm ist nur, dass ich dann lange Zeit von Zuhause fort muss.“

„Du vermisst doch nur deine Freundin“ meinte Tato trocken.

„Stimmt, ihr fehlt mir nicht ein Stück“ grinste er und sah dann den Kleinen an, der noch immer neben ihm stand und ihn fasziniert ansah. „Und du?“

„Häh? Das heißt wie bitte, Tato“ guckte er aufgeschreckt. „Willsu was?“

„Du stehst da so und guckst mich an“ schmunzelte er. Da hatte er den kleinen Drachen doch beim Träumen ertappt. „Was willst du denn mal werden, wenn du groß bist?“

„Eine Wolke“ sagte er sofort ohne nachzudenken. „Wolken sind kuul. Die könn regnen machen und mansmal haben die eine lustige Farbe. Und könn ganz ho fliegen. Gaaaaanz ho.“

„Du willst also mal eine Wolke werden“ lachte er. „Dann streng dich mal an.“

„Ja“ nickte er entschlossen. Fragte sich, wer hier eher die Luftschlösser baute.

„Als Papa sagte, du kannst alles werden, was du willst, hat er das bestimmt anders gemeint“ lachte Noah. „Wie willst du das denn machen, Tato? Eine Wolke werden.“

„Is geh innie Wolkensuule“ erklärte er. „Dann kann is fliegen lern und dann weiß anmalen und HO! Ganz weit ho! Dann kann is alle sehen und wenn is weggeh, is die Sonne da. Sonne is au kuul. Aber Nene will soon die Sonne sein. Dann bin is eine Wolke.“

„Und warum nicht der Mond?“ fragte Papa. „Du kannst auch der Mond sein.“

„Neeeee“ guckte er mit skeptischen Äuglein. „So lange daf is nis aufbleiben.“ War doch logisch! Waren die denn alle total doof hier?

Im allgemeinen Lachen kam Nini rein und strahlte sofort wie die Sonne persönlich. Das war doch mal ne Begrüßung, wenn man aufstand und alle lachten einen an.

„Guten Morgen, Onkel Noah“ lachte sie fröhlich und zog ihn sofort zu sich runter, um ihn zu küssen. Zuerst wurde immer Onkel Noah begrüßt. „Du siehst aber fröhlich aus.“

„Guten Morgen, Mäuschen“ lächelte er. „Du auch. Dein Kleid gefällt mir.“

„Ja, hat Marie gemacht“ erzählte sie stolz und drehte sich. Ein neues Winterkleid aus dunkelrosa Wolle bis über die Knie und mit weißem Kragen über die Schultern. Dazu eine weiße Wollstrumpfhose und sie war für das kalte Wetter draußen gerüstet. Gut, wenn man Modemacher direkt nebenan hatte, für die man als Modepüppchen aushelfen durfte. Dann wand sie sich Balthasar zu und gab auch ihm einen Kuss. „Guten Morgen!“

„Guten Morgen“ lachte er als sie auch den kleinen Tato nicht nur abknutschte, sondern auch gleich umarmte, der das ganz innig mit seinen kurzen Armen erwiderte. Und Yugi schmunzelte in sich hinein. Seine Kinder konnten so schrecklich süß sein, wenn sie sich lieb hatten.

„Guten Morgen, Tato.“

„Morn, Nene“ grinste er und drückte sie ganz fest. „Du bis aber sick heute.“

„Findest du? Ich brauch noch Zöpfe. Lass mich mal los, ich muss dich mal in groß begrüßen.“

„Okee.“ Er ließ sie los und beobachtete neidisch wie sie sich seinem großen Ebenbild zuwandt und ihn lieb knutschte.

„Guten Morgen, kleiner Bruder Tato.“

„Morgen Schwersterchen“ erwiderte er und kramte für sie ein Lächeln der liebevolleren Variante heraus. „Du bist wirklich schick heute Morgen.“

„Ja? Dankeschön.“

„Du bis is, nä?“ fragte der Kleine lauernd. Eben noch knuddelte seine große Schwester ihn und jetzt wurde er eifersüchtig auf sich selbst. Irgendwas passte ihm daran eindeutig nicht.

„Hm“ schaute der große Tato wieder zurück. „Warum fragst du?“

„Hat Schoi desaat. Du bis is inner Sukunft, nä? Du weiß alles, nä?“

„Ja, ich weiß viel. Willst du was fragen?“

„Ja“ nickte er und trabte zu ihm rüber. Ärger vergessen, jetzt beschäftigte man sich ja wieder mit ihm. „Masst du au no innie Nindl?“

„Öhm ...“ Das war ja mal ne überraschende Frage. So überraschend, dass die anderen wieder belustigt lachten und der Große doch leichtes Schamgefühl entwickelte. „Nein, ich mache nicht mehr in die Windel.“

„Hm“ guckte der Kleine forschend an dem Großen hoch. „Wieso?“

„Weil ich ... ähm ...“

„Ah! Is weiß!“ Vollste Erleuchtung! „Du passt nis mehr auffen Wickeltis!“ LOGISCH! Der große Tato passte nicht mehr auf den Wickeltisch!

Nini schüttelte nur den Kopf über ihren kleinen Bruder und gab ihrem Papa einen Knutscher. „Guten Morgen, Papa.“

„Wir haben uns doch schon gesehen“ lächelte er.

„Trotzdem.“ Sie drückte ihn und sah ihn dann erwartungsvoll an. „Kannst du mir Zöpfe flechten?“

„Hast du denn eine Bürste und Zopfbänder?“

„Nein“ antwortete sie und senkte etwas betrübt den Blick. „Die hab ich vergessen. Papa hat nicht gesagt, dass ich die mitnehmen soll. Ich geh sie holen, okay?“

„Nee, halt. Warte mal.“ Er zog sie gleich wieder zurück und setzte seine Prinzessin auf einen Stuhl. „Erst wollen wir frühstücken. Sonst kommst du noch zu spät in den Kindergarten.“

„Ich geh doch nur ganz kurz.“

„Ja ja, dein ganz kurz kenne ich“ meinte er und nahm ein Brötchen aus dem abgedeckten Korb. „Komm, Tato. Du musst auch frühstücken.“

„Schschschoki“ meinte er. „Ja?“

„Nein“ antwortete Papa ohne nachzudenken. „Du kannst auch ein Brötchen haben. Oder Joghurt.“

„Nein. Schschschoki.“

„Asato.“ Yugi blickte ihn mit drohenden Augen an. „Nicht diskutieren.“

„Hmpf.“ Das passte dem kleinen Drachen ja nun weniger. Keine Schokolade zum Frühstück? Wie fies! „Dann geh is Mama fragen.“

„Asato ...“ zählte Yugi ihn warnend an. „Hier geblieben. Setz dich hin.“

„Grrrr.“ Der wurde mal ein guter Drache.

„Na komm, Großer. Setz dich neben mich“ bat Balthasar und hob ihn auf den Stuhl neben sich. „Möchtest du einen Quark?“

„Nä! Momurt“ muckschte er und schlang seine kleinen Arme vor den Bauch. Sollten wahrscheinlich eher überkreuzt werden, aber dafür waren sie noch zu kurz.

„Ist doch dasselbe“ meinte er. „Du merkst das doch gar nicht, ob ich dir Quark oder Joghurt gebe.“

Aber der Kleine sah ihn nur giftig an. Joghurt und nichts anderes! Verstanden? Und das am besten sofort, bevor er wirklich böse wurde.

„Ja, ist ja gut“ seufzte er und stand also auf, um ihm Joghurt aus dem Kühlschrank zu holen. „Müsst ihr Drachen immer so anspruchsvoll sein?“

„Ja“ antworteten kleiner Tato und großer Tato aus einem Munde. Wenigstens darin waren sie sich gleich geblieben.

„Ihr seid süß“ meinte Nini. Aber eine Reaktion bekam sie kaum. Der große Tato lugte nur skeptisch von seinem Kochtopf auf und der kleine warf ihr einen beleidigten Blick zu. So waren sie eben.

„Hast du deinen Vater getroffen heute Morgen?“ fragte Yugi mal ganz unschuldig. Sie erwähnte doch eben etwas in dieser Art und er hatte Seto heute noch nicht sprechen können. Seit gestern Abend schon nicht.

„Ja, im Bürozimmer“ erzählte sie. „Ich möchte Honig haben, ja?“

„Natürlich.“ Wie jeden Morgen.

„Aber ich glaube, Papa hatte schlechte Laune. Noch schlechter als sonst morgens, glaub ich.“

„Tatsächlich?“ Sonst grummelte er Nini doch nie länger als nötig an. „Wie kommst du darauf?“

„Vielleicht hat Joey ihn geärgert“ überlegte sie. „Ich bin ins Bürozimmer gegangen und dann hat Papa gar nicht hallo gesagt. Vielleicht hat er geträumt. Das macht er ja manchmal. Ich hab guten Morgen gesagt und wollte ihm ein Küsschen geben, aber er hat sich gar nicht runter gebeugt. Das muss er doch aber, sonst komme ich gar nicht ran. Papa ist doch so groß“ erzählte sie ihrem Papa Yugi ein wenig geknickt.

„Er hat dir kein Küsschen gegeben?“ Das wunderte jetzt auch Yugi. Waren das schlimme Anzeichen oder verdrehte Nini da nur wieder irgendwas?

„Nee“ schaute sie ihn an. „Ich wollte, dass er mir Zöpfe flechtet, aber er hat gesagt, ich soll zu dir gehen. Er muss arbeiten. Hat er gesagt. Ich wollte ihm erzählen, dass mein neues Kleid ganz warm ist. Das ist es nämlich. Musst du mal anfassen.“ Sie nahm Yugis Hand und zwang ihn, ihren Rock zu befühlen. „Schön weich und warm, oder Papa?“

„Ja, ein tolles Kleid“ lächelte er und legte ihr das Brötchen hin.

„Finde ich auch. Aber Papa findet das glaube ich nicht“ erzählte sie weiter und happste in ihre Honigstulle. „Dwer hat dweschaat ...“

„Erst kauen, dann sprechen“ bat Yugi. Typisch Papa. Immer irgendwas zu meckern.

Also kaute sie schnell fertig und schluckte sogar runter, bevor sie weiter plappern konnte. „Ich wollte sagen: Papa hat gesagt, er muss arbeiten und ich soll zu dir gehen. Ich glaube, er hat schlechte Laune.“

„Ja, wahrscheinlich.“ Sie verstand das noch nicht, aber Yugi begann sich Sorgen zu machen. Nini kam sich weggeschickt vor. Noch war das nicht schlimm. Dass Seto mal grummelte war ihr ja nicht neu und dass er sie mal rauskomplimentierte, wenn er zu tun hatte auch nicht. Aber ... irgendwas roch daran schlecht. „Ich werde gleich mal nach ihm sehen.“ Am besten, bevor er die Kinder wegfuhr. Dann konnte er entscheiden, ob er danach zum Training wollte oder lieber zurück nach Hause kam. Bei Seto wusste man nie so genau ...

„Seto hat um neun einen Termin. Wie jeden Donnerstag“ meinte Noah mit Blick auf die Uhr. „Eigentlich fahren wir in zehn Minuten zusammen in die Stadt. Wundert mich auch, dass Joey ...“

„Ich bin nicht zu spät“ redete der ihm gleich rein, als er aufs Stichwort genau in der Tür stand. Er hob seinen Finger und lächelte, aber ansonsten sah er zerstrubbelter aus als sonst. Da half auch sein schicker, dunkelgrüner Anzug nicht drüber hinweg.

„Morgen“ grinste Balthasar. „Gut geschlafen, Joseph?“

„Ja, nur zu wenig“ seufzte er und lehnte sich an den Türrahmen.

„Zu viel gesoffen. Hab ich doch gesagt.“

„Hat ja nicht jeder seine Mami im Schlepptau, die einen unter der Fuchtel hat.“

„Wer abends feiert, kann auch morgens arbeiten“ meinte Tato gnadenlos. „Selbst schuld.“

„Fiesling“ gab er deprimiert zurück. „Wer abends vögelt, kann morgens ja auch nicht fliegen.“

„Ich bezweifle, dass Narla dich gestern in diesem Zustand noch rangelassen hat.“

„Leute, bitte“ bat Noah ruhig. „Es sind kleine Ohren anwesend.“

„Dann zweifle. Solange ich das besser weiß“ setzte er noch schmunzelnd hinterher, bevor er ein anderes Thema beginnen konnte. „Wo ist mein Drache?“

„Üm Bwöroschimma“ antwortete Nini mit vollem Mund.

„Lass ihn lieber in Frieden“ bat Yugi. „Hat dir niemand ...?“

„SÄÄÄÄÄÄTOOOOO!“ Guten Morgen, Joey. Zuhören war nie seine Stärke. So trabte er fröhlich den Flur entlang ... war nur zu hoffen, dass er nicht die nächste Eiszeit auslöste. Er steuerte den Fettnapf ja mal wieder an, als hätte er das studiert.

„Na, prima“ zweifelte Yugi. „Wenn ich Joey jetzt nachlaufe, komme ich auch nicht mehr rechtzeitig, oder?“

„Das kannst du abzählen“ meinte Noah und sah auf die Wanduhr. „Ich gebe Joey zehn Sekunden. Entweder ist dann einer von beiden verletzt oder Seto türmt vor ihm und d a n n verletzt sich jemand.“

„RAUS!!!“ Das war sogar bis in die Küche zu hören. Es hatte also schon begonnen.

„JAAAAAA!“ jubelte der kleine Tato und schmiss dabei fast seinen Joghurt um, mit dem Balthasar ihn zu füttern versuchte. „MAMA IS DAAA!“ Er liebte es laut. Alles, was laut war.

„Tato, Mann“ meckerte Balthasar und wischte sich die Quarkspritzer vom Ärmel.

Aber das interessierte den Terroristen nicht weiter. Er rutschte von seinem Stuhl, stand wieder auf und wackelte in Richtung Flur. Angezogen von dem lauten Gemecker.

„Tato, du bleibst mal hier!“ Da sollte er nicht auch noch zwischenpringen. So sprang Yugi auf und erwischte ihn gerade kurz vor der Tür. So schrecklich schnell war der Kleine ja glücklicher Weise noch nicht.

Da stand auch schon Seto vor ihm. In seinem Stampfen hatte er gerade noch realisiert, dass da was kleines den Weg versperrte. Und das waren sogar Yugi und Tato im Doppelpack.

„Guten Morgen, Liebling.“ Aber Yugi lächelte, als wäre nichts gewesen. Als existiere dieser ungewohnt kalte Blick in seinen Augen gar nicht. „Möchtest du frühstücken?“

„Nein.“

Die zehn Sekunden hatte Noah ja gut abgeschätzt.

„Mama!“ strahlte Tato und streckte seine Arme nach oben. „Guten Morgän! Gnuutsi für dis!“

„Mach dich lieber für den Kindergarten fertig“ sprach er und ging an ihm vorbei.

Und ließ den Kleinen da stehen wie bestellt und nicht abgeholt. Der guckte auch wie ein Auto und verstand die Welt nicht mehr. Kein Knutschi?

„Mama!“ Aber so leicht gab er nicht auf. Er entwischte Yugis verdutztem Griff und hing umgehend an Setos Bein, als der sich einen Becher aus dem Schrank nahm und die Kaffeekanne anvisierte. „Mama! Guten Morgän! Hassu gut geslaafen?“

„Asato, verdammt. Renn mir nicht hinterher.“ Er schrie zwar nicht, aber sein Ton war etwas angenervt. Ebenso wie sein Blick. Er sah den Kleinen an als hätte der den letzten Weltkrieg zu verantworten. „Ich hab gesagt, du sollst dich für den Kindergarten fertig machen.“

„Bin is do“ meinte er verwundert. „Mussu mir nur Suuhe anziehen.“

„Wird Zeit, dass du mal selbst lernst, Schuhe anzuziehen. Merk dir das.“ Er goss sich den Becher ein und verschwand dann mit einem „Noah, mach dich fertig. Ich will gleich los“ aus der Küche. Zurück ins Büro. Ließ dabei seine Kinder verständnislos zurück, ebenso wie alle anderen. Sogar Joey quetschte sich an die Wand, um ihn vorbeizulassen.

„Der ist ja drauf“ meinte er als der Drache weg war. „Schlecht geschissen oder was?“

„Joey, bitte.“ Nicht vor den Kindern.

„Papa?“ guckte Tato ihn fragend an. „Is Mama böse mit mis?“

„Nein, Mama ist nicht böse mit dir, Tatolino” tröstete er, ging zu ihm und nahm ihn auf den Arm. „Mama hat heute schlecht geschlafen. Weißt du noch neulich als du den Traum von der Kneifzange hattest?“

„Ja“ guckte er und schnappte sich erschrocken sein Hemd, um sich daran festzuhalten. „Das war gruselis. Die wollte mis kneifen!“

„Siehst du? Da hast du auch schlecht geschlafen. Und Mama hatte auch einen bösen Traum.“

„Aba dann kann Mama do su mir ins Bettsen komm“ bot er gleich an. Wenn er schlecht träumte, krabbelte er ja auch zu Mama und Papa ins Bettchen. Die durften doch natürlich dasselbe machen.

„Nee, Mama steht dann auf und geht arbeiten“ lächelte er. „Aber lieb von dir. Ich gehe ihn mal trösten. Passt du solange auf Nini auf?“

„Ja“ nickte er, ließ sich runtersetzen und kletterte brav neben seine Schwester auf den Stuhl, wobei der große Tato ihm aber doch zur Hilfe kam. Für so kleine Menschen waren Stühle wie Berge.

„Ich sag doch, Papa hat schlechte Laune“ meinte Nini. „Tato, willst du was von meinem Brot abhaben?“

„Nee“ schüttelte er den Kopf und flüsterte ihr geheim zu. „Wolln wir Schschschoki klaun? Wenn keina da is.“ Typisch Tato.

„Ja“ flüsterte sie zurück. „Ich lenke sie ab und du krabbelst schnell in die Vorratskammer. Ich hab gesehen, dass Papa die hinter den grauen Karton gelegt hat. Die ist nicht mehr ganz oben. Die liegt jetzt ganz unten. Weißt du? Neben der Milch.“ Typisch Nini. Am besten malte sie ihm vorher noch ne Schatzkarte ...
 

Yugi indessen ging ins Büro, um nach seinem Liebling zu sehen, der sich heute Morgen alles andere als normal benahm.

Er erreichte das Ende des Flures, ging hinein und sah ihn tausend Blätter auf dem Schreibtisch durchwühlen. Er suchte wohl irgendwas, was in seinem geordneten Chaos verloren gegangen war ... vielleicht suchte er auch sein verlorenes Leben.

Er schloss die Tür hinter sich und stellte ihn gleich zur Rede. „Okay“ sprach er ihn mit strenger Stimme an. „Was war das eben?“

„Ich weiß nicht, was du meinst“ murmelte er und blickte nicht mal auf.

„Du weißt genau, was ich meine“ forderte er kräftig. „Du hast Tato viel zu hart zurechtgewiesen und Nini heute Morgen auch. Was sollte das?“

„Hast du nichts zu tun?“

„Nein. Und hör endlich auf, da zu wühlen. Ich spreche mit dir.“ Er ging zu ihm, nahm seine Hände, aber Seto riss sie gleich wieder los und baute sich vor ihm auf. Er hatte nun mal eine imposante Größe, aber vor Yugi stand er sonst nie so erhoben. Und diesen niederringenden Blick hatte er auch seit Jahren nicht mehr so extrem. „Was ist los, Liebling?“

„Nerv nicht, ja?“ antwortete er kalt. „Ich hab anderes zu tun, als mich mit euren Kindergartenspielchen zu beschäftigen.“ Er drehte sich um und nahm seine Aktentasche neben dem Schreibtisch weg. Wahrscheinlich wollte er jetzt gehen.

Aber mit dem Kommentar „Ach. Ist das so, Kaiba?“ versetzte Yugi ihm einen Schrecken.

Seto drehte sich um und sah ihn verständnislos an. Yugi nannte ihn seit Jahren nicht mehr Kaiba. Um genau zu sein, war das absolut inkorrekt.

„Ich heiße nicht mehr Kaiba.“

„Schön, dass dir das noch mal wieder einfällt. Du benimmst dich aber so“ erwiderte Yugi alles andere als zärtlich.

„Ich weiß nicht, was du meinst. Geh lieber zum Frisör und quatsch den voll.“ Er wollte erneut gehen, aber so leicht machte Yugi ihm das nicht. Im Gegensatz zu Seto fühlte er sich nicht Jahre zurückversetzt.

„Du bist nicht mehr allein. Hast du das vergessen, Seto Pascal Eraesus Muto?“ hielt er ihn auch ein zweites Mal auf und ließ ihn aufhorchen. „Genau deswegen wollte ich keine Kinder, bevor du einigermaßen gesund bist. Sobald dir irgendwas querschießt, senken sich deine Scheuklappen und erkennst weder Freund noch Feind. Das geht nicht. Deine Kinder brauchen Stabilität. Es geht nicht, dass du sie unter deinen Launen leiden lässt.“

„Du laberst“ stellte er verstimmt fest.

„Du kannst deine Tochter nicht einfach wegschicken, wenn sie dir nur einen Kuss geben will. Und du kannst von deinem einjährigen Sohn nicht verlangen, dass er sich allein die Schuhe anzieht. Sag mal, merkst du überhaupt noch was?“

„Ich mache keine Fehler“ erwiderte er harsch.

„Doch, die machst du. Und im Moment ziemlich viele. Nur weil dich der Anruf gestern und der Streit mit deinem Bruder und dein verschwundener Yami beschäftigen, hast du noch lange keinen Grund, deine Kinder wegzustoßen. Wirklich. Das hätte ich vielleicht von Seto Kaiba erwartet. Aber nicht von meinem Liebling.“ Und Yugi klang nicht, als würde er ihm das so einfach verzeihen. „Entweder besinnst du dich jetzt mal und kommst wieder runter oder du kannst die nächste Nacht im Hotel verbringen.“

„Du schickst mich weg?“ DAS war jetzt das Letzte, was er erwartet hatte. Immerhin war das hier sein Haus!

Aber Yugi ließ nicht mehr alles einfach so mit sich machen. Die Zeiten, wo Seto labil war und man ihn mit Samthandschuhen anfassen musste, waren vorbei. Und Yugi würde dorthin auch nicht mehr zurückkehren. Dafür hing er zu sehr an ihrem momentanen Leben. „Ja, das tue ich. Es tut mir leid, aber mein Liebling und ich haben uns einst das Versprechen gegeben, dass das Glück unserer Kinder immer über unserem eigenen steht. Und wenn die Kinder unter deinen Sorgen leiden, halte ich sie von dir fern.“

„Du nimmst mir meine Kinder weg? MIR?“

„Werde vernünftig und lass dich erst wieder blicken, wenn man normal mit dir reden kann. Ich helfe dir gern bei jedem Problem, aber so sehr ich dich auch liebe - die Kinder gehen jetzt einfach vor. Denk mal drüber nach.“ Das war sein letztes Wort. Er ging an ihm vorbei, öffnete die Tür und schloss sie auch wieder hinter sich. Darüber sollte er erst mal nachdenken. Für eine Zeit lang konnte er sein rüdes Verhalten bei den Kindern entschuldigen. Dafür hatten sie genug Urvertrauen in ihre Väter. Aber wenn Seto jetzt begann, merkwürdig zu werden und seine Sorgen an die Kleinen weiterzugeben, war das unakzeptabel. Das Problem bestand nicht darin, dass er es ein Mal tat. Das Problem bestand eher darin, dass er es dann immer wieder tun würde. Er konnte nicht jedes Mal, wenn ihm etwas zu schaffen machte und wenn ihm alles zu viel wurde, zurückmutieren. Das ging vielleicht, als er noch mit Yugi allein war. Mit Kindern war das unverantwortlich. Kinder brauchten durchgehende und beständige Liebe. Und wenn die ganze Welt zusammenbrach, mussten ihre Eltern sie noch lieben. In Ordnung, Yugi hatte auch Fehler gemacht und die Kinder belastet, damals als Seto gestorben war. Aber er hatte sie niemals an seiner Liebe zweifeln lassen. Und Seto durfte das genauso wenig. Das ging einfach nicht. Und so sehr er Seto auch liebte - er würde es niemals dulden, wenn seine Kinder belastet würden.
 

Auf dem Weg zurück in die Küche, lief ihm dann auch noch der zweite Bruder über den Weg. Aber der war relativ unkompliziert.

Mokuba sah Yugi aus seinen schwarzen Augen an, auch wenn darin noch immer ein Funken Wut blitzte. Dem lief ein Schauer über den Rücken. Wenn der richtig schlecht drauf war, konnte er erschreckend gefährlich aussehen. Wahrscheinlich war es die schwarze Kleidung, das tiefschwarz glatte und glänzende Haar, welches ihm in den leicht geneigten Kopf fiel. Und seine unbewegliche Miene. Mokuba war lange kein kleiner Junge mehr. Er war ein Mann, den man durchaus ernst nehmen musste. Zumal er eine wirklich verwöhnte Zicke war.

„Morgen, Yugi“ sagte er mit flacher Stimme und sah ihn kalt an.

„Guten Morgen, Moki“ erwiderte der und versuchte, sich seinen ersten Schrecken nicht sofort ansehen zu lassen. „Du trägst deine Uniform nicht. Ich gehe mal davon aus, dass du heute nicht in die Uni willst?“

„Nein. Will ich nicht“ bejahte er das. „Ist Mokeph schon weg?“

„Weiß ich nicht genau. Den hab ich heute noch nicht gesehen.“ Seit ihrem Streit fuhren sie nämlich nicht mehr gemeinsam zur Uni. Mokuba fuhr mit seinem eigenen Wagen und Mokeph fuhr entweder mit dem Chauffeur oder mit Roland. Umso erstaunlicher, dass er jetzt nach seinem Yami verlangte. „Ab und zu fährt er ja morgens mit den dreien in die Stadt und lässt sich dann absetzen. Vielleicht ist er ja noch drüben.“

„Hm. Danke.“ Das war ihm mehr als genug Information. So ließ er Yugi auf dem Gang stehen und verschwand mit weiten, langsamen Schritten zur Haustür hinaus.

„Meine Güte“ seufzte Yugi schwer. Die waren ja schlecht drauf heute. Mokuba und Seto gleichermaßen. Was so ein schlichter Anruf doch auslösen konnte. Als hätten sie nicht genug Probleme ...

„Du solltest mit Noah ne Selbsthilfegruppe gründen.“

„WHUA! YAMI!“ Schreck lass nach!

„Sorry“ lachte er als sein geschockter Hikari sich zu ihm umdrehte und sich das Herz hielt. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Er zog sich sein Shirt endlich über den Kopf und legte aufheiternd seinen Kopf schräg.

„Seit wann bist du so leise?“

„Seit du träumend auf dem Flur herumstehst“ lachte er und band sich sein Haar zum Zopf zurück, damit er nicht ganz so verschlafen aussah. „Ich hab noch mitgekriegt wie Moki verschwunden ist und du ihm seufzend nachsiehst. Ich dachte mir, du und Noah habt’s ja nicht leicht mit euren Ukebrüdern.“

„Woher weißt du, dass ich Probleme mit Seto habe?“

„So was sehe ich dir an. Du hast da ein Schild auf der Stirn“ lächelte liebevoll zu ihm hinunter. „Ist in Yamileuchtsprache geschrieben, weißt du?“

„Ach, Yami ...“ Ja. Er konnte verstehen, warum Seto so aufgewühlt war. Als Hikari sehnte man sich nach einem Yami, der einem beistand und immer dann stark war, wenn man selbst schwächelte. Ihm würde etwas fehlen, wenn sein Yami eines Tages nicht mehr überraschend hinter ihm stand und ihm seine Gedanken schon am Blick ansah.

„Erst mal nur umarmen oder gleich Sex?“ Und seine üblichen Sprüche brachte, die nicht wirklich ernst gemein waren.

„Ich muss gleich die Kinder in den Kindergarten fahren.“

„Also erst mal nur knuddeln. Schade, aber aufgeschoben ist ja nicht abgesagt.“ Er legte seine Arme um ihn und drückte ihn an sein Herz.

So ein Yami war doch wirklich unbezahlbar.

„Yami, weißt du was?“ fragte er leise.

„Ich weiß viel. Was willst du denn wissen, was ich weiß?“

„Wir sind das einzige Yami-Hikari-Paar, was sich noch nie wirklich entzweit hat.“

„Stimmt“ fiel ihm da auf und er drückte ihn noch näher. „Marik und Malik hatten Probleme, Ryo und Bakura hatten schon Zoff. Mokuba und Mokeph haben immer noch Streit und von Seto und Seth wollen wir mal gar nicht reden. Meinst du, wir sollten uns auch mal gegenseitig Probleme machen?“

„Können wir uns nicht lieber als Traumpaar irgendwo bewerben?“

„Im nächsten Leben heiraten wir“ lächelte er ihn heiter an. „Dann haben wir weder Probleme mit dem Leben, noch mit dem Sex. Nur übers Essen müssen wir noch mal verhandeln.“

„Beißt du gern auf Granit?“

„Weiß nicht ... ist wohl nicht so gut für die Zähne.“

„Dann verhandle lieber nicht mit mir.“

Wenigstens dieses Traumpaar blieb dem Haus erhalten.
 


 

Chapter 13
 

Die Türen waren hier nie abgeschlossen und so konnte Mokuba ohne Probleme in die Wohnung der Gardeners hinein. Er hatte zwar wenigstens angeklopft, aber die Chance, dass ihn jemand gehört hatte, war relativ gering.

Nett war es hier. Ihm fiel auf, dass Tea neue Bilder im Flur aufgehängt hatte. Sie fand immer, dass die modernen, orangenen Bilder nie wirklich zur aprikotfarbenen Tapete passten. Jetzt hatte sie dunkelblaue aufgehängt. Immer noch modern, aber farblich war ihr das wohl lieber. Und die bisher offenen Borde waren hinter Türchen versteckt, die sogar ein Schloss hatten. Ja, Risa konnte schon lange krabbeln und bald wusste sie sicher auch, wie man Schränke öffnete. Was für ein Glück, dass Noah und er keine Kinder wollten.

Aus der Küche kamen Stimmen, denen er folgte. Die dritte Tür rechts war weit offen und ließ die Morgensonne bis auf den Flur scheinen. Höflich klopfte er an den Türrahmen und lugte herein. „Guten Morgen?“

„Mokuba?“ Nicht nur Tea war verwundert, dass er hier auftauchte. Er ging Mokeph doch seit Wochen aus dem Weg. „Guten Morgen.“

Sie schaukelte gerade Theresa in ihrem Bettchen auf Rollen, während Risa in ihrem Hochstuhl saß und an einer Banane lutschte. Auch wenn die Hälfte davon sicher irgendwo an ihrem Kopf klebte. Mokeph saß Tea gegenüber am Tisch und hatte noch ein halbes Wurstbrötchen vor sich, während seine Frau nebenbei noch ihren Tee trank. Typisch familiäre Frühstücksatmosphäre. Doch seine Uniform verriet, dass er heute wohl durchaus in die Uni wollte. Obwohl er gestern lange gefeiert hatte. Sein Stil war an sich eher robust und nicht so eitel gepflegt wie Mokubas. Er glättete sich weder die Haare noch betonte er seine Augen. Aber trotzdem sah man ihm auch so nicht an, dass er erst heute Nacht zurückgekommen war.

„Morgen“ antwortete er Tea kurz. „Mokeph ... störe ich dich gerade?“

„Nein, natürlich nicht.“ Er legte sein Brötchen hin und wischte sich die Hände in der Serviette ab. „Meine Bishandra legt bald Eier. Möchtest du sie sehen?“

„Hm.“ Eigentlich nicht, aber es war ein guter Grund, um nicht sagen zu müssen, dass er gern allein mit ihm sprechen wollte. Ein Yami spürte so etwas.

„Genieß deinen Tee. Ich räume später ab, ja?“ lächelte er, gab seiner Frau einen kurzen Kuss und strich seiner schmatzenden Tochter über den Kopf, als er Mokuba hinausfolgte. „Bishandra wohnt jetzt im Wohnzimmer“ erzählte er, bevor Mokuba noch fälschlich in den Wohnungsteil mit den Terrarien vordrang, den Tea ihm schon erlaubt hatte.

„Konntest du Tea also doch überreden?“ fragte er gedrückt. Es war komisch, nach Wochen ein einigermaßen normales Wort mit ihm zu wechseln. Eigentlich hasste er ihn noch immer für das, was er getan und niemals gestanden hatte. Aber er war in einer Notlage, die vielleicht nur ein Yami verstehen konnte.

„Seit sie farblich zur Einrichtung passt, ja“ lachte er. „Sie hat eine Vorliebe für gelb und grün entwickelt und passt deshalb in ihrem Terrarium gut zu den grünen und gelben Bildern. Sie fällt gar nicht auf.“

Er schloss die Wohnzimmertür hinter ihnen und Mokuba stellte sich wirklich direkt ans Ende, wo in der Ecke das schmale, hohe Terrarium stand. Es war voll mit grünen Pflanzen und er musste sich anstrengend, um sie zu entdecken. Das war wirklich immer ein Suchspiel mit diesen Chamäleons.

„Da“ zeigte Mokeph etwa auf Augenhöhe nach links. „Auf dem dicken Ast neben der Blüte.“

„Ah. Ja.“ Da saß sie. Eine Chamäleondame so knallgrün wie die Blätter um sie herum. Nur ihren Schwanz hatte sie gelb gefärbt, weil in der Nähe eine knallgelbe Blüte erstrahlte. Bei der Einrichtung machte Mokeph sich jedes Mal viel Mühe. Ob der Teppich zum Sofa oder die Socken zum Hemd passten, kratzte ihn nicht. Aber wenn es um seine Tiere ging, wurde er kleinlich. „Sie ist wirklich ziemlich fett.“

„Es kann jeden Tag so weit sein. Ich hab den Brutkasten schon fertig gemacht.“

„Wer ist denn der Vater?“

„Narpon.“

„Narpon? Lebt der überhaupt noch?“

„Gesund und potent wie immer“ lächelte er. Narpon war sein Vorzeigeobjekt und der Vater von hunderten kleiner Echsen. Selbst in seinem hohen Alter beglückte er die Frauen noch. Und es ließ sich gut mit ihm züchten. Andere Züchter würden große Summen für so ein kräftiges Tier bieten. Aber da war Mokeph durch und durch unbestechlich. „Möchtest du eines haben, wenn sie schlüpfen?“

„Ich glaube, da wird Noah was gegen haben“ meinte er. „Er ist ja schon abgenervt, weil die Kätzchen neben dem Bett schlafen und Hello ständig rein und raus will.“

„Noah mag keine Tiere, oder?“

„Er hasst sie nicht unbedingt, aber er würde sich nicht mutwillig welche anschaffen, weißt du?“ Er hielt den Blick auf das zitternde und wankende Tier geheftet, aber dachte dabei eigentlich an andere Dinge. „Mokeph ... ich ... ich hab ein Problem.“

„Ich weiß. Tea hat mir erzählt, was gestern Abend war. Du hast dich mit deinem Bruder gestritten?“

„Er hat was gesagt, was mich sehr verletzt hat“ gestand er und senkte seinen schwarzen Blick. „Er hat gesagt, ich wäre wie unsere Mutter.“

„Oh.“ Ja, da konnte er sich vorstellen, dass ihn das verletzt hatte. Er wusste, wie groß Mokubas Hass auf sie war. „Tea meinte, er hat nur gesagt, du hörst dich an wie sie, wenn du herumschreist. Ich glaube nicht, dass er damit meinte, du seiest generell wie sie.“

„Er hat mich nie mit ihr verglichen. Ich weiß, dass ich ihr äußerlich ähnlich sehe. Aber ... alles andere ... ich hab die ganze Nacht nachgedacht.“ Meckernder Weise, sodass Noah auch keinen Schlaf bekommen konnte. „Ich glaube, er hat Recht. Ich bin wie sie.“

„Bist du nicht.“

„Aber wie wer bin ich dann sonst?“ Er sah ihn an und suchte nach Antworten. Nach irgendeiner Antwort. „Mokeph, du kennst mich in- und auswendig. Du kanntest jahrelang jeden meiner kleinsten Gedanken. Bin ich wirklich wie sie?“

„Ich kenne sie ja nur aus deiner Erinnerung. Und ich hab sie nur so gesehen, wie du sie gesehen hast“ antwortete er ehrlich. „Es kann sein, dass es zwischen euch Parallelen gibt. Das wäre nicht ungewöhnlich, denn immerhin hat ihr Leib dich geboren.“

„Also doch.“

„Lass mich doch mal ausreden, ja?“ bat er und sah ihn ernst an. „Du bist ihr vielleicht ähnlich, aber du bist nicht wie sie. Du würdest niemals das tun, was sie getan hat.“

„Aber ... diese Gefühle“ versuchte er zu erklären. „Dieser Hass in mir drin. Dieser abgrundtiefe Hass. Sobald jemand nur das Wort Mutter sagt, stellen sich bei mir Mordgelüste ein. Ich würde sie am liebsten bei lebendigem Leibe häuten und das auf einem brennenden Scheiterhaufen. Mokeph! Das ist doch nicht normal, dass man seine eigene Mutter hasst! Ebenso wie es nicht normal ist, seinen eigenen Sohn zu hassen! Woher kommt dieser Hass, wenn nicht von ihr?“

„Hass kann man besiegen“ erwiderte er mit sanfter Stimme. „Ich habe meinen Bruder gehasst.“

„Aber dein Hass wurde dir eingeredet. Mein Hass ist ... richtig. Er fühlt sich so richtig an!“

„Wenn es sich für dich richtig anfühlt, dann ist es so“ sprach er mit ruhiger Stimme in diese verzweifelten Augen. „Deine Mutter hat dich nie geschlagen. Aber sie hat dich auch niemals in den Arm genommen. Niemals wirklich. Du hast niemals die Liebe bekommen, die einem Kind zusteht. Es ist nur natürlich, dass jemand, der keine Liebe bekommt, irgendwann den Hass sucht. Das liegt in der menschlichen Natur.“

„Aber ich will nicht hassen. Ich will nicht diesen Hass fühlen, den sie für Seto fühlt. Ich will es nicht. Aber es ... ich hasse sie so sehr. Ich kann nicht so sein wie Seto. Ich kann sie nicht trotzdem lieben. Ich will sie hassen und doch wieder nicht. Wie macht er das? Warum kann ich das nicht?“

„Seto ist mehr wie euer Vater. Meiner Meinung nach ist er dumm“ eröffnete er seinem Hikari diese gewagte Ansicht. „Er liebt sie, obwohl sie sein Herz zerstört hat. Seine Liebe zu ihr ist einfach Dummheit. Er hat vielleicht einen hohen IQ, aber emotional läuft er mit offenen Augen in sein Unglück. Wenn du wirklich Parallelen zwischen euren Eltern und euch ziehen willst, dann diese.“

„Ich ... meinen Vater hab ich auch verloren.“ Er sah schuldbewusst zur Seite und schlang seine Arme schützend um sich. „Er wollte sich mit mir aussöhnen, aber mein Hass hat ihn sterben lassen, ohne dass wir Frieden schließen konnten. Setos Liebe ist nicht dumm. Mein Hass ist es.“

„Hass ist auch nur ein Warnsignal der Angst. Du weißt, dass deine Mutter eine böse Frau ist und du hast Angst, dass sie dir das einzige zerstört, was dem Kind in dir Liebe gegeben hat. Nämlich Seto. Was glaubst du, warum Setos Angst so groß ist? Er kann seine Mutter nicht hassen, obwohl sie ihn und dich bedroht. Also empfindet er Angst. Und gegen diese Angst will er ankämpfen. Und das kann er nur, indem er sie liebt.“

„Du hast wohl ein magisches Psychologiebuch gelesen“ meinte er traurig.

„Nein“ lächelte er sanft. „Ich mache mir nur viele Gedanken um dich.“

Genau wie Mokuba es eigentlich immer wusste. Mokeph kannte ihn besser als irgendwer sonst. Besser als Seto, besser als Noah. Er war sein Yami und er kannte auch den geheimstem Wunsch seiner Seele. Jedes leuchtende Gefühl und eben auch jedes dunkle. Wenn man eine Psychoanalyse bekommen wollte, die zu hundert Prozent stimmte, dann musste man einen Yami zu seinem Hikari befragen.

„Dann sag mir, was ich tun soll“ flehte er ihn mit tränengefülltem Blick an. „Bitte, sag mir, was ich tun kann. Ich will nicht hassen, so wie sie. Aber ich kann sie nicht lieben. Was soll ich denn tun?“

„Dann muss sie dir egal werden. Aber das wird sie niemals“ antwortete er und sah ihn vertrauensvoll an. „Du kannst nicht vergessen, was sie dir mit ihrer falschen Liebe angetan hat. Es formt dich zu sehr. Aber wenn du nicht hassen willst, dann musst du lieben.“

„Aber ich kann sie doch nicht lieben! ICH KANN ES NICHT! UND ICH WILL ES AUCH GAR NICHT!!! VERSTEHST DU DAS NICHT?“

„Doch, ich verstehe dich. Sehr gut sogar. Auch ich habe ein Familienmitglied gehasst und es war schwer, das loszulassen. Nenn mich einen traditionsbehangenen Ägypter, aber ich denke, du solltest dir ein Beispiel am Lichte deines Pharaos nehmen. Folge seinem Beispiel und finde Rahs Licht.“

„Ich ... ich verstehe dich nicht.“ Yugis Licht sollte er folgen? Seinem Beispiel? Wie bitte sollte das aussehen? Und wie bitte sollte ihm das helfen, nicht noch mehr wie seine Mutter zu werden?

„Liebe deinen Bruder“ riet sein Yami ihm. „Glaubst du nicht, dass auch Yugi sie hasst? Sie hat den Menschen verletzt, den er über alles liebt und allein der Gedanke an sie bedroht sicherlich derzeit seinen Familienfrieden. Aber folge dem Licht deines Pharaos. Hasse nicht, sondern liebe. Hasse nicht deine Mutter, sondern liebe deinen Bruder. Verhindere mit deiner Liebe, dass sie ihm wehtut. Und fühle deinen Hass gedämpft durch die Wohltat des Gedankens, alles zu Rahs Gefallen zu tun. Am Ende deines Lebens werden die Götter dein Herz mit einer Feder aufwiegen. Der Hass zu deiner Mutter wird dein Herz beschweren und deine Seele verdammen. Die Liebe zu deinem Bruder aber wird dein Herz erleichtern und die Feder des Schicksals in goldene Schwingen wandeln, welche dich hinauf in Rahs Reich tragen. Solange du mehr Liebe als Hass in dir trägst.“

„Du sprichst wirklich manchmal wie ein Ägypter.“

„Mach es mir nicht zum Vorwurf. Ich kann auch nicht aus meiner Haut“ lächelte er entschuldigend. „Aber ich denke, das ist etwas, was du kannst. Niemand sagt, dass du sie nicht hassen darfst. Es gibt keinen Menschen, der nicht hasst und Rah akzeptiert diese menschliche Natur. Solange die Liebe aber immer die stärkere Macht bleibt, kannst du trotz allen Hasses ein guter Mensch sein. Nur durch diese Erkenntnis und diesen Glauben, konnten Atemu und Yugi mich aus Seths Krallen befreien und mir ein neues Leben schenken. Das ist der Segen Rahs und seiner Kinder. Und wenn ich das kann, dann kannst du es auch.“

„Du meinst ... ich sollte lieber auf Seto aufpassen, anstatt nur an mich zu denken.“

„Aufpassen ist vielleicht zu viel gesagt. Aber denke mehr an ihn als an deine Mutter. Das wird deinen Charakter positiv formen. Ich weiß es. Ich bin dein Yami.“

Das war ein ganz neues Licht, das da auf seinen Standpunkt geworfen wurde. Bisher hatte Mokuba nur gewusst, dass er sie hasste. Seit er von ihr fort war, je älter er wurde, desto mehr spürte er, dass er sie niemals geliebt hatte. Sie hatte ihn enttäuscht und verletzt. Und nun hatte ihn diese Enttäuschung so weit getrieben, dass er begann, sie zu hassen. Er wollte es nicht und doch wollte er sie ebenso wenig lieben. Er konnte seinen Hass nicht loslassen. Aber wenn Mokephs Worte wirklich einen Funken Wahrheit in sich trugen, dann musste er das auch gar nicht ändern. Niemand verlangte von ihm, dass er seine Mutter lieben sollte. Aber seinen Bruder zu lieben, das war etwas, was er konnte. Und etwas, was er von sich selbst verlangen durfte. Wenn er seiner Bruderliebe den Vorzug gab, so konnte er noch immer ein guter Mensch sein. Auch mit einem dunklen Flecken auf dem Herzen. Solange er an Rahs Licht festhielt, musste er vor seinem eigenen Schatten keine Furcht haben.

„Danke, Mokeph. Das ist ein guter Rat.“ Er blickte zurück ins Terrarium, wo sich das Echsentier noch nicht wirklich fortbewegt hatte.

„Bitte. Gern geschehen.“

Stille breitete sich aus. Sie standen zwar nebeneinander, aber es fiel Mokuba schwer, ihm in die Augen zu sehen. Eigentlich war jetzt eine Entschuldigung fällig. Er kam her und sein Yami empfing ihn mit offenen Armen, gab ihm einen Rat, den ihm kein zweiter so geben konnte. Und das obwohl sie seit Wochen Streit hatten.

Er wand seinen Kopf herum und betrachtete sein Profil. Trotz seines wilden Haares und seines ungeschminkten Gesichts sah er ihm so ähnlich. Mokeph hatte eine schöne Haut, wenn auch eine Nuance dunkler als seine. Er hatte eine hübsche Stupsnase und so klare Züge ums Kinn. Und er hatte tiefschwarze, funkelnde Augen. Wenn er so dastand und ohne eine Regung sein Tier betrachtete, schien er wie eine schlafende Schönheit. Man mochte nicht glauben, dass hinter diesem sanften Äußeren ein Mann wie ein Pascha steckte. Seit ihrer Trennung hatten sie sich nicht nur äußerlich voneinander weg entwickelt. Jeder war in seinem Charakter vorangekommen und extremer geworden. Aber musste das denn heißen, dass sie nun nicht mehr zusammengehörten?

„Ich ... ähm ...“ Wie sollte er das formulieren? Er war noch immer nicht einverstanden mit dem, was Mokeph getan hatte. Aber wenn er ihn so betrachtete, stellte sich ein schlechtes Gewissen ein. Er durfte doch als sein Hikari nicht wegen so etwas Abstand von ihm nehmen. Er kannte seine Version der Geschichte überhaupt kein Stück. Er hätte ihm wenigstens zuhören sollen, aber stattdessen biss er ihn weg und beleidigte ihn vor versammelter Mannschaft. Lange hatte er es nicht wahrgenommen, aber wenn er jetzt hier mit ihm zusammen stand, sah er, dass er ihm mit so einem vehementen Urteil vielleicht Unrecht tat. „Ich hab dich ziemlich verletzt, oder?“

„Ja. Hast du“ antwortete er mit ruhiger Stimme. Mehr konnte er dazu auch nicht sagen. Ja, Mokuba hatte ihn verletzt. Dem gab es nichts hinzuzusetzen.

„Das hat mich ziemlich geschockt“ gab er vorsichtig zu. „Dich da zu sehen mit diesem Mädchen. Das hätte ich nicht von dir gedacht. Ich meine ... ich hab ja auch schon mal fremdgeknutscht, aber ... ich weiß nicht.“

„Hast du?“ Das wunderte Mokeph nun auch. Er drehte den Kopf und sah seinen Hikari verwundert an. „Du hast fremdgeknutscht? Ausgerechnet du?“

„Ja“ gestand er. „Mit einem anderen Mann. Damals kurz nach Setos Tod. Ich war angetrunken und deprimiert. Ich hab’s Noah aber dann recht schnell gestanden und er war auch nicht böse. Mein schlechtes Gewissen hat ihm wohl gereicht.“

„Aha. War’s denn wenigstens gut?“

„Eigentlich nicht“ seufzte er. „Er schmeckte schrecklich nach Bier und ... nein, da hab ich gemerkt, dass Noah niemand das Wasser reichen kann. So was nennt man dann wohl einen heilsamen Schock. Und ... bei dir?“

„Bei mir?“

„Ja.“ Er blickte vorsichtig auf und sah ihm direkt in die Augen. Aber dieses mal ohne Vorwurf. Eher wollte er versuchen, es zu verstehen. „War’s bei dir wenigstens gut?“

„Ich wünschte, ich könnte nein sagen“ antwortete er ganz ehrlich. „Aber das wäre unwahr.“

„Dann ... war es gut?“

„Es war verdammt gut. So guten Sex hab ich noch nie gehabt.“ Und er war da grottenehrlich. Auch wenn seine Antwort ihn selbst nicht glücklich machte. „Ich wünschte, es wäre schlecht gewesen, aber das war es nicht.“

„Ich verstehe das nicht.“ Er hob seine Augenbraue und konnte nicht glauben, was er hörte. „Das war eine dreckige Toilettenkabine und dieses Mädchen war ne Schlampe, wie sie im Buche steht. Für so niveaulos hab ich dich nicht gehalten.“

„Das war es wohl, was mich gereizt hat. Das Schmutzige.“ Er entgegnete seinem Blick und war ehrlich zu ihm. Auch wenn es keine schöne Ehrlichkeit war. „Im ersten Moment war ich auch verunsichert, aber als sie sich an mich gedrückt hat ... sie hat sich angeboten. Sie roch nach billigem Parfüm und die Umgebung war denkbar unpassend. Aber genau das war es, was ich wollte. Im Nachhinein weiß ich, dass ich es wollte. Ich wollte diesen schmutzigen Sex. Ich weiß nicht ... sie hat meine Triebe angeregt.“

„Aber ... sie war eine Schlampe.“

„Ich hatte auch nicht vor, sie zu heiraten. Ich wollte einfach nur ran. Ich weiß, es klingt dreckig, aber dieses Mädchen hat gezielt meine niedersten Instinkte angerührt. Verstehst du? Ich hab mich gefühlt wie ein Tier. Wenn ein Männchen auf das Weibchen raufspringt, denkt er dabei nicht an die Erhaltung seiner Art. Er will sie einfach nur begatten. So ging es mir auch. Dabei habe ich nicht daran gedacht, ihr Lust zu bereiten, sondern einfach nur meinen eigenen Druck abzubauen. Ich wünschte, ich könnte etwas anderes sagen, aber so war es. Das war einfach nur Sex, bei dem ich nicht nachdenken musste.“

„Dann würdest du es wieder tun?“ Das klang wirklich nicht nach dem Mokeph, den er kannte. Oder ... war das genau der Mokeph, den er kannte? Er war immerhin bei Apophis aufgewachsen und der hatte ihm sicher vorgelebt, auch die schmutzigsten Triebe anzunehmen.

„Ich glaube nicht. Nein, ich würde es nicht noch mal tun.“

„Aber wenn du doch sagst, dass es gut war ...?“

„Das war es auch. Aber ich würde es kein zweites Mal machen“ antwortete er und seine schwarzen Augen waren so aufrichtig, so ehrlich. Er fühlte sich schuldig und auch wieder nicht. „Und weißt du auch, warum?“

„Wegen Tea?“

„Genau. Eben wegen Tea.“

„Dann hast du es ihr nicht gesagt?“

„Nein. Bis jetzt nicht.“ Er drehte sich herum und warf einen vorsichtigen Blick auf die Wohnzimmertür.

„Die Tür hast du vorhin zugemacht, Mokeph.“

„Stimmt. Hab ich“ stellte er dann auch fest, bevor er erneut Mokuba ansah. „Hast du es jemandem gesagt?“

„Nein. Niemandem“ erwiderte er ernst. „Noah hab ich es gesagt. Sonst keinem.“

„Wirklich nicht?“

„Nein, wirklich nicht. Ich hab gehofft, du gestehst es irgendwann selbst. Tea hat ein Recht darauf, zu erfahren, dass du sie betrogen hast.“

„Vielleicht. Aber sie hat auch ein Recht darauf, glücklich zu sein“ seufzte er und sah zurück ins Terrarium. Es war schwer, Mokuba so lange in die Augen zu blicken. „Es wäre egoistisch, es ihr zu sagen. Damit würde ich nur mein eigenes Gewissen erleichtern, aber sie damit sehr verletzen.“

„Das klingt nicht nach deinen Worten.“

„Es sind die Worte meines Bruders. Ich war an dem Abend ziemlich fertig und er hat viele Dinge gesagt, die ich nicht einordnen konnte. Aber diesen Rat habe ich beherzigt. Tea ist die Frau, die ich liebe. Mit ihr will ich Kinder, Sicherheit und ein gemeinsames Leben. Mit ihr will ich mehr als nur Sex. Ich will eine Zukunft mir ihr. Wenn ich es ihr sage, würde sie das nur verletzen. Sie würde es nicht verstehen und sich vielleicht von mir trennen. Und das will ich nicht. Ich will sie nicht verlieren, nur weil ich einen Fehler gemacht habe.“

„Aber du lügst sie an.“

„Wenn ich ihr sage, dass ich sie liebe, ist das keine Lüge. Ich will, dass sie bei mir bleibt. Sie ist mir wichtig, unsere Töchter sind mir wichtig und mein ganzer Stolz. Das ist die Lehre, die ich daraus ziehe. Jetzt weiß ich, wie viel mir an ihr liegt. Dass ich es viel zu wenig schätze, eine so wundervolle, treue Frau zu haben. Und ich weiß jetzt, dass ich all das nicht aufs Spiel setzen darf, nur um meine Triebe zu befriedigen. Das war wahrscheinlich mein heilsamer Schock. Ich will nicht, dass dieser Fehler zwischen uns kommt. Lieber lebe ich mit dieser Lüge, als deshalb ein Leben ohne sie führen zu müssen. Und sie würde mich sonst verlassen. Ganz sicher.“

„Hm.“ Das war für jemanden wie Mokuba schwer zu verstehen. Fremdgehen war für ihn ein rotes Tuch, etwas was er niemals einfach so gutheißen konnte. „Tut es dir denn wenigstens leid?“

„Ja, wenigstens das“ lächelte Mokeph traurig seine grüne Echse an. „Was da passiert ist, tut mir sehr leid. Ich habe mein Treueversprechen gegenüber meiner Frau gebrochen und das verzeihe ich mir selbst nicht. Aber es war eine gute Erfahrung, die mein Leben verändert hat. Ich kann meine Familie jetzt mehr lieben und schätzen als vorher. Zumindest das kann ich daraus ziehen.“

„Du bist ziemlich ehrlich.“

„Dich anzulügen, würde auch wenig bringen“ meinte er ernst. „Noch verächtlicher kannst du ja nicht von mir denken. Da kann ich auch ehrlich sein.“

„Ich denke nicht verächtlich von dir.“ Er wand seinen Kopf herum und fühlte Reue darüber, dass sein Yami sich bei ihm nicht mehr geliebt fühlte. Er hatte Schuldgefühle, aber anstatt ihm zu helfen, riss er seine Wunden nur jeden Tag weiter auf. Er tat das, was ein Hikari eigentlich nicht tun sollte. „Es hat mich nur einfach erschrocken, dass du so etwas tun konntest. Dass du deine Triebe so schlecht unter Kontrolle hast. Das hätte ich nicht von dir gedacht.“

„Tja“ lächelte er aufgebend. „Ich von mir auch nicht. Aber was soll ich noch sagen? Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der Treue und Liebe nichts zählten. In dieser Sünde habe ich mich für einen Augenblick Zuhause gefühlt. Aber es war nur ein Augenblick. Ich weiß, wo mein Platz ist. Und wenn du das auch nicht akzeptieren kannst, dann lass bitte wenigstens meine Frau im Unklaren. Ich will nicht, dass meiner Familie ein Unglück geschieht und sie auseinander gerissen wird. Ich will nicht, dass meine Töchter ohne Vater aufwachsen.“

„Du verzeihst dir nicht, oder?“

„Nein.“ Er senkte seinen Kopf und seufzte tief. „Bei aller Aufrichtigkeit, das kann ich mir nicht verzeihen. Und es zerreißt mir das Herz.“

„Würde es dir denn helfen, wenn ich dir verzeihe?“

Mokeph blickte auf und sah keinen Vorwurf mehr in seinen Augen. „Ich verstehe nicht ...“

„Na ja, ich bin dein Hikari. Wenn ich dich nicht liebe ... wer soll es denn sonst tun? Du bist mein Yami und auch wenn du nicht perfekt bist ... wir gehören doch zusammen. Ich bin ja auch kein fehlerfreier Mensch. Ich kann es zwar nicht gutheißen, dass du fremdgegangen bist, aber ich bin ein Teil deiner Seele. Anstatt dich zu verurteilen und dich zu hassen, sollte ich dich lieben, so wie du mich liebst. Obwohl ich so gemein zu dir war, hast du dir anscheinend schon lange Gedanken um mich gemacht und du bist für mich da, obwohl ich mich nicht mal entschuldigt habe. Du hast deine Fehler, aber ein schlechter Mensch bist du nicht.“

„Dann ...“

„Tut mir leid“ eröffnete er schuldbewusst. „Ich hätte dich nicht so unfair behandeln dürfen. Tut mir leid.“

„Mokuba ...“

„Nimmst du mich in den Arm, du Pascha?“

„Komm her, du Ziege“ lächelte er und ließ sich fest drücken, genau wie er ihn auch umarmte. Es tat gut, sich mit ihm auszusöhnen. Wenigstens dieses Problem hatten sie damit weniger und konnten mit gestärktem Rücken das angehen, was ihnen noch bevorstand. Wenn wenigstens ein kleiner Teil der eigenen Seele einem die schlimmsten Fehler wie Hass und Untreue verzieh und die dunklen Seiten akzeptierte.

„Ah, das war gut“ atmete Mokeph tief auf, als Mokuba ihn wieder losließ. „Willst du auch eine rauchen?“

„Gute Idee.“ Um nicht zu sagen, das war die Idee des Jahrhunderts!

Sie setzten sich nebeneinander auf das dunkelgrüne Sofa und Mokeph hielt ihm erst die Zigarettenschachtel, dann das Feuerzeug hin, bevor er sich selbst eine anzündete und den ersten Zug tief in den Bronchien wirken ließ.

„Du willst heute nicht zur Uni?“ fragte er dann frei heraus. Mokubas Kleidung sah nämlich eher nicht danach aus.

„Nein“ lächelte ertappt. „Ich schwänze heute mal und werde mich wohl damit beschäftigen, meinen Bruder zu lieben.“

„Ein guter Vorsatz.“ Er lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und nahm den nächsten Zug, bevor Mokuba bemerkte, dass sich sein Blick veränderte.

„Und du?“ fragte er vorsichtig. „Wie kommst du damit klar, dass Seth ... na ja ...?“

„Dass mein Bruder die Zivilisation auslöschen und ein neues Reich errichten will?“ ergänzte er deprimiert. „Es geht so. Auf der einen Seite weiß ich, dass ich nichts daran hätte ändern können, dass sich so ein Gedanke in seinem Kopf festsetzt. Auf der anderen Seite frage ich mich aber, ob ich die Anzeichen nicht schon viel früher hätte sehen müssen.“

„Was für Anzeichen denn?“ tröstete Mokuba. „Er hat doch nie darüber gesprochen. Wenn etwas gewesen wäre, hätten wir das doch bemerkt.“

„Aber er hat ja gesprochen. Nur eben nicht so deutlich“ antwortete er mit schwerer Stimme. „Damals als du einfach weggefahren bist, hat er mich abgeholt und da ist es mir das erste Mal wirklich aufgefallen. Meine Gewissensbisse gegenüber Tea haben ihn gar nicht interessiert. Für ihn war nur entscheidend, dass ich meine religiöse Enthaltsamkeit gebrochen habe. Das hat mich ziemlich verunsichert.“

„Hat er das wirklich gesagt?“

„Ja“ seufzte er. „Im Nachhinein weiß ich, dass er seine Pläne schon lange angekündigt hat. Wie oft hat er fallen lassen, dass früher alles anders war? Dass sein Pharao nicht die Hochachtung bekommt, die ihm gebührt? Dass er seine Religion nur hinter verschlossenen Türen ausüben kann. Und dann auch noch seine Eifersucht auf Seto. Mein Bruder ist Priester. Das ist das, was er gelernt hat, das was er immer wollte. Das Leben, was er sich aufgebaut hat, interessiert heute niemanden mehr. Früher war er ein Mann vor dem ein ganzes Reich niederkniete. Heute ist alles, was er verkörpert nur noch Vergangenheit. Er sieht, dass Seto es schafft, mit seinem Leben klarzukommen. Er hat als mächtiger Geschäftsmann angehend den Status, den mein Bruder früher hatte. Und wenn nicht mal sein eigener Hikari ihn braucht, wenn der sogar mehr Anerkennung bekommt als er selbst ... ich kann schon verstehen, dass sein Geist da offen ist, für die scheinbar heilsamen Worte eines dunklen Gottes.“

Und Mokuba verstand, dass Mokeph da anscheinend doch großen Gesprächsbedarf hatte. Er machte durch sein ruhiges Wesen nicht den Anschein danach, aber er beobachtete viel und machte sich zu vielen Dingen Gedanken. Und immerhin war es sein Bruder, der im Moment durch seine Abwesenheit sein Leben bestimmte. Und dann auch noch Stress mit dem Hikari, das war doch etwas viel.

„Du hättest das nicht ändern können. Nicht mal dein Pharao konnte das ändern“ tröstete Mokuba ihn lieb. „Jetzt ist es nun mal so und wir müssen das Beste daraus machen. Bisher haben wir doch jedes Schäfchen zurück in die Herde geholt.“

„Nur dieses Mal stehen wir vor dem bösen Wolf“ meinte er und sah ihn demotiviert an. Eine Schäfchenherde war ja eine schöne Sache. Aber nicht, wenn der Gott Seth persönlich seine Finger im Spiel hatte und beabsichtigte, seinem Sohn ein Wolfsfell überzuwerfen.

„Hey, nicht so negativ“ buffte Mokuba ihn am Arm. „Komm schon. Denk positiv. Finde das Licht deines Pharaos.“

„Verarschst du mich gerade?“

„Jupp“ grinste er frech. Er mochte es nicht, wenn sein Yami den Kopf hängen ließ.

„Kümmere du dich lieber erst mal um dein eigenes Licht, Mokuba.“

„Ja, sollte ich vielleicht.“ Seufzend sank er gegen die Lehne zurück und nahm einen tiefen Zug seiner Zigarette. „Ich weiß, ich soll meinen Bruder mehr lieben als ich meine Mutter hasse. Aber was soll ich denn jetzt machen? Seto scheint ja zu wollen, dass sie herkommt. Ich weiß nicht, ob ich ihm das ausreden kann.“

„Ich glaube, der lässt sich weder etwas aus- noch etwas einreden. Du kannst ja deine Bedenken äußern, aber musst ihn einfach bestärken, wenn es mal wieder nach hinten losgeht. Beim nächsten Mal hört er dann vielleicht auf dich.“

„Meinst du?“

„... nein. Wahrscheinlich nicht.“ Drachen hörten selten auf das, was man ihnen sagte. Da waren sie stur. Und das wussten die beiden kleinen Brüder leider viel zu gut.
 


 

Chapter 14
 

So kam es dann auch, dass Mokuba nach fast zwei Stunden Erholungszeit bei seinem Yami zurück in die eigene Wohnung ging und schon beim Eintreten Stimmen aus dem Wohnzimmer hörte. Eine davon erkannte er sofort als Setos, dafür kannte er die zu gut.

Neugierig ging er den Lauten nach und sah nicht nur ihn, sondern auch Yugi seitlich am Tisch sitzen und sich unterhalten. Zwischen ihnen nur das Handy und der Obstkorb. Anscheinend hatten die auch Krisensitzung.

„Klopf klopf?“ fragte er vorsichtig beim Eintreten. „Störe ich euch?“

„Nein, wir sind gerade fertig“ lächelte Yugi und nickte ihn herein.

„Fertig womit?“ Er folgte der Einladung und setzte sich gern zu den beiden dazu. Mutwillig gleich auf Setos Seite, der ihn mit einer Mischung aus Skepsis und Zweifeln ansah. Der hatte wohl noch mehr zu kämpfen als sein kleiner Bruder.

„Wir hatten einen kleinen Streit heute Morgen, aber wir haben alles ausgeräumt. Nicht wahr, Liebling?“

„Hm“ antwortete er nur kurz. So sah er nur aus, wenn er mal wieder Mist gemacht hatte und sich entschuldigen musste. Zumal sich das verliebte Hochzeitspärchen doch sonst nie stritt.

„Hey, guck nicht so grimmig“ lächelte er und griff Setos Hände, die nervös am Handy herumfummelten. „Ist doch alles okay. Ich bin dir nicht böse, mein Herz.“

„Ich bin immer so ein Ekel.“

„Neeeeiiiiiin“ lächelte er lieb. „Nur manchmal.“

„Hm ...“

„Was ist denn passiert?“ wollte Mokuba wissen. Ein Streit zwischen Yugi und Seto war so was von selten. Und vor allem war dieser hier so kurz, dass er nicht mal mitbekommen hatte, dass es überhaupt einen gegeben hatte.

„Nichts. Nur leichte Panik, die schnell verfliegt.“ Yugi musste ja nicht jedem von Setos Ausbruch erzählen. Das war dem schon peinlich genug. Reichte, wenn Seto Gewissensbisse hatte, das war als Strafe mehr als ausreichend. „Du hast dich anscheinend auch wieder abgeregt.“

„Ja“ gab er leise zu. „Ich war bei Mokeph und wir haben uns ausgesprochen. Und er meinte, ich soll mir mehr Mühe geben, meinen Bruder zu lieben.“

Das ließ Seto doch ziemlich überrasch herübersehen und Mokuba musste lachen. Er konnte so niedlich sein, wenn er diesen planlosen Blick aufsetzte.

„Weißt du, Seto, ich kann unsere Mutter nicht so lieben wie du es tust. Wenn es nach mir geht, könnte sie auf der Stelle tot umfallen und ich freue mich noch drüber. Aber das werde ich dir zuliebe lassen.“

„Mir ... warum ...?“

„Weil du meine Mutter bist“ erwiderte er mit einem liebenden, tiefschwarzen Blick in seine blauen Augen. „Du hast mich aufgezogen, mich erzogen. Ich kann niemand anderen als dich akzeptieren. Ich hab keine anderen Eltern als dich. Aber gerade deswegen sollte ich mir ein Beispiel an dir nehmen und nicht an einer Mutter, die ich nicht habe. Ich weiß, ich bin ein schwieriger und sehr eigensinniger Mensch und weil ich erwachsen bin, schreibst du mir nichts mehr vor. Aber ich sollte dir mehr Respekt entgegenbringen. Den Respekt, den man normalerweise seinen Eltern entgegenbringt. Du warst für mich immer meine ganze Familie und das wirst du immer bleiben. Und wenn es dir wichtig ist, dass wir Mutter noch eine Chance geben, dann muss ich das vielleicht nicht gut finden, aber ich werde alles tun, damit du dir später nichts vorzuwerfen hast. Du hast immer zu meinem Wohle entschieden. Und ich vertraue darauf, dass das so bleibt.“

„Vertraue da nicht zu sehr drauf“ bat er verunsichert. „Du weißt, wie ich bin. Du weißt, dass ich ständig Fehler mache.“ Erst heute Morgen bei seinen Kindern, die er doch über alles liebte. Und den Kommentar gegenüber Mokuba gestern hätte er sich auch verkneifen können.

„Wir sind alle etwas angespannt im Augenblick. Und dir fehlt dein Yami“ entschuldigte er das. „Umso wichtiger, dass wir gerade jetzt zusammenhalten. Oder was meinst du? Immerhin sind wir doch Brüder.“

„Siehst du, Liebling? Ich hab doch gesagt, das renkt sich alles von selbst wieder ein“ lächelte Yugi. „Jetzt nimm ihn in den Arm und vergesst die dumme Sache.“

Die beiden Brüder sahen sich erst ein wenig scheu, aber dann doch lächelnd an, bevor sie sich in den Arm nahmen. Ja, sie waren beide keine einfachen Charaktere und bissen sich eben manchmal. Aber so schlimm, dass man sich nicht mehr versöhnen konnte, war es ja nun auch wieder nicht. Zumal auch Mokuba langsam immer mehr Erfahrungen sammelte in Sachen Entschuldigen ... das tat er ja häufiger in letzter Zeit.

„Du bist mir nicht mehr böse, oder?“ fragte Seto vorsichtig.

„Quatsch. Nein. Eigentlich hattest du ja Recht“ meinte er. „Lass uns nicht mehr drüber reden, okay?“

„Aber ich glaube ... das müssen wir ...“

„Ähm ... warum?“

„...“ Seto traute sich gar nicht recht, ihm das zu sagen. Aber ...

„Wir haben eben Dr. Hamilton angerufen“ erklärte Yugi zu seiner Erleichterung. Vielleicht würde er dann ja auch die Schuld auf sich nehmen, wenn Mokuba doch wieder böse wurde. „Eure Mutter kommt heute um drei zum Tee.“

„WAS?! SPINNT IHR?!“
 


 

Was für ein Glück, dass sie einen Sportraum hatten. Mokuba trieb selten Sport, aber heute dafür gleich zwei Stunden bis ihm vor Erschöpfung die Glieder schmerzten. Abregen war angesagt. Nicht rumschreien, lieben war die Devise. Aber sein neues Lebensmotto wurde umgehend auf den Prüfstand gestellt, als ihm der Besuch seiner Mutter eröffnet wurde. Sporten, lieben und die Klappe halten. Besser so als anders.

Supersportler Yugi indessen beschäftigte sich eher damit, einen leckeren Kuchen zu backen, der sowohl Mokuba als auch Seto ruhig stimmen sollte und vielleicht sogar ihrer Mutter ein Kompliment abrang.

Und Seto? Der hatte zwar eigentlich vor, sich die Fingernägel abzukauen, entschied sich dann aber doch dazu, mal seinen Schreibtisch aufzuräumen. Äußere Ordnung bedeutete innere Ordnung ... oder einfach nur weil Yugi gesagt hatte, er könne mal wieder aufräumen.

Es war eine nicht eben leichte Entscheidung, sie empfangen zu wollen. Aber wenn man wirklich ihre Aggressionsstörung durch ein fehlendes Hormon im Hirn beheben konnte, war das eine ganz einmalige Chance. Und Seto wollte jede Chance greifen, die er hatte. Er würde seiner Mutter auch eine zehnte, elfte, zwölfte oder millionste Chance geben.

Nicht allerdings, wenn sie das tat, was sie an diesem Tag tat.

Denn das schmerzte Seto mehr als alles je Dagewesene.

**Prophezeiung, lalala, Prophezeiung, lalala ...**
 

Pünktlich um fünf Minuten vor drei läutete es an der großen Haustür. Doch schon zuvor war Seto aufgeregt zu Yugi gelaufen, um ihm zu erzählen, dass er ihr Auto schon vom Fenster aus gesehen hatte.

„Yugi! Wir müssen aufmachen!“ bettelte er und zog ihn am Arm. „Komm, sonst denken sie, wir sind nicht Zuhause.“

„Ja, ist ja gut“ lächelte er und stellte als letzte Aktion die Zuckerdose auf den Tisch. Es hatte einen Grund, weshalb sie nicht in ihren Privatbereich gingen, sondern einen der kleinen Meetingräume für dieses Treffen wählten. Die Einrichtung war relativ schlicht aus hellem Holz und eigentlich gab es hier nicht mehr als ein großes Fenster mit kleiner Terrasse zum Garten hinaus und in der Mitte ein kleiner Besprechungstisch für etwa vier bis acht Personen. Die Präsentationsanlagen wie Beamer, Videokonferenzen oder Telefonsterne waren sicher in einem der hohen Schränke verstaut und anstatt Akten und Softdrinks auf dem Tisch gab es heute frische Obsttorte, Kaffee, Tee und ein paar Schokoladenkekse. War mal was anderes, aber dafür relativ anonymer Boden. Schließlich wussten sie nicht, inwiefern seine Mutter belastbar war und auf persönliche Gegenstände reagierte. Dr. Hamilton sagte zwar, sie sei ruhig gestellt und vernünftig, man sollte sie jedoch nicht überlasten mit zu vielen persönlichen Gesprächen. Vorerst jedenfalls nicht bis man die Grenzen der Hormontherapie absehen konnte.

Endlich war Yugi fertig, hakte sich in Setos verspannten Arm und begleitete ihn in die Halle. Es hatte nicht ein zweites Mal gedongelt, also hatte man entweder schon geöffnet oder sie warteten geduldig. Dass sie einfach so wieder wegfahren würden, konnte Yugi sich nicht vorstellen.

In der Halle angekommen, sahen sie eine ihrer Theorien bestätigt. Noah hatte die Tür geöffnet und begrüßte mit geübt neutraler Freundlichkeit drei Herrschaften.

Der erste war ein Schrank von Mann mit dunklem Sacko und Bügelfaltenhose. Seine hohe, kräftige Gestalt und das kahlgeschorene Haupt mit Dreitagebart verriet ebenso wie das Label an seiner Hemdtasche, dass er Gefängnisangestellter war. Also hatten sie ihre Gefangene auch bei Freigang unter Aufsicht gestellt, was vielleicht für alle Seiten ganz gut so war.

Der zweite Mann war ein mittelgroßer, älterer Herr. Sein dunkelgraues Haar ließ seine Kopfhaut durchscheinen und bildete einen Kranz um seine flaumbehangene Platte. Sein Gesicht war ein wenig wie das einer Dogge. Die Wangen hingen herab und er hatte Tränensäcke unter den Augen. Aber sein Lächeln war hell und freundlich. Sein freundliches Wesen wurde von seinem hellgrauen Stoffanzug und dem weißen Hemd noch unterstrichen. Das war sicher ihr behandelnder Psychiater.

Und als letzte eine schlanke Frau mit heller Haut und glänzend schwarzem Haar. Ihr Kraushaar hatte sie in einem lockeren Pferdeschwanz gebändigt und trug zu Yugis Erstaunen keine Gefängniskluft. Sie zeigte ihre schönen Beine bis zu den Knien in durchsichtiger Strumpfhose, bevor sie einen schönen Zweiteiler trug. Einen schlicht schwarzen Rock mit weißer Bluse und einer schwarzen Wolljacke. Wenn ihr jemand ähnlich sah dann Mokuba. Sie war zwar nicht so groß wie er, aber wäre Mokuba eine Frau, würde er genau so aussehen.

Als Yugi und Seto die Runde erreichten, schloss Noah eben die Tür und wollte sie nach vorn geleiten. Aber es wurde gestoppt, als ein unsicherer Augenkontakt zwischen Seto und seiner Mutter herrschte.

„Guten Tag. Ich bin Ian Robert Hamilton“ begrüßte der freundliche Grauhaarige erst Yugi mit einem Handschlag und dann den verunsicherten Seto. „Sie haben wirklich ein schönes Haus und einen traumhaften Garten, Mr. Muto.“

„Ja ... danke ...“ erwiderte Seto mit tonloser Stimme und blickte zurück zu seiner Mutter, die wirklich erstaunlich ruhig war. Sie schaute nicht mal so funkelnd wie sonst, sondern ihre schwarzen Augen hatten einen sanften Schimmer, fast wie ein scheues Reh stand sie da, die Hände vor dem Schoß verschränkt und schien sich nicht recht zu trauen.

„Und Sie sind?“ wollte Yugi von dem bulligen Mensch wissen, der so griesgrämig danebenstand.

„Nur der Begleitschutz“ antwortete er dunkel. „Bemerken Sie mich bitte einfach nicht weiter, Mr. Muto.“

„Nun gut“ nickte er. Wenn es denn so sein sollte.

„Ja, da sind wir nun“ seufzte Dr. Hamilton und wippte entspannt auf seinen Fußballen, bevor er seine Patientin ansah. „Akemi, möchten Sie Ihrem Sohn nicht auch guten Tag sagen?“

„Natürlich ...“ Ihre Stimme war hell und weich. Ganz anders als die, welche sie sonst von ihr gewohnt waren. Sie sah langsam an Seto hinauf, der um so vieles größer war als die anderen um sie herum. „Seto.“

„Mutter“ nickte er zurück. Es war merkwürdig. Wenn er von ihr sprach, nannte er sie Mama. Wenn er zu ihr sprach, nannte er sie Mutter. Er war sich wohl selbst nicht im Klaren in welchem Verhältnis er nun zu ihr stand. Er liebte und fürchtete sie. Seine Gefühle zu ihr waren sicher nicht nur für Außenstehende verwirrend, sondern auch für ihn selbst.

„Wollen wir nicht reingehen?“ Noah bemühte sich, die angespannte Stimmung zu durchbrechen und wies nach links auf die entfernt offenstehende Tür. „Yugi hat gedeckt und einen wunderbaren Obstkuchen gebacken.“

„Oh, Kuchen“ lächelte Dr. Hamilton erfreut. „Na, wir können ja ein Glück haben.“

„Ich hoffe, Sie haben gut hergefunden?“ Noah und der Doktor begannen einfach ein wenig Smalltalk, während sie durch die warme Wüstenhalle schritten. Der Wärter immer dicht neben seinem Schützling und die ganz leise, während Seto sich an Yugis Außenseite in Sicherheit brachte.

„Oh ja. Wir haben ja ein Navigationssystem“ erzählte er frei heraus. „Es hat uns zwar ein wenig im Kreis geschickt, aber gefunden haben wir Sie ja doch. Und das sogar pünktlich.“

„Ja, durchaus“ lachte Noah. „Warum? Sind Sie sonst nicht pünktlich?“

„Um ehrlich zu sein, koste ich das akademische Viertel gern aus“ scherzte er zurück. Mit den beiden würde sicher kein peinliches Schweigen aufkommen. „Ich weiß, das ist nicht unbedingt höflich, aber ich muss gestehen, Mr. Kaiba, ich habe einen furchtbaren Orientierungssinn.“

„Na, solange sie noch einen haben. Ein Bekannter von mir verläuft sich in der eigenen Wohnung. So schlimm wird es bei Ihnen doch wohl nicht sein.“

„In der eigenen Wohnung? Nein, da habe ich glücklicherweise meine Frau als Wegweiser. Aber wie kann man sich denn in der eigenen Wohnung verlaufen?“

Da kannte er Jimmy aber schlecht. „Es passiert ihm, dass er im halbschlafenden Zustand noch Dinge erledigen will. Und da schläft er schon mal in der Badewanne, anstatt im eigenen Bett.“

„Mit oder ohne Wasser?“ lachte er.

„Meinen Sie das Bett oder die Wanne, Doktor?“ lachte Noah zurück. Ja, da hatten sich zwei Meister des sympathischen Talks gefunden. Nichts sagen, ohne schweigend zu werden. So hatten die anderen Zeit, sich zu beobachten und die Stimmung abzutasten.

„Oh, was für ein hübscher Raum“ lobte Dr. Hamilton als er nach Noah in den Meetingraum trat und höflich vor dem Tisch stehen blieb.

„Wir nutzen ihn gelegentlich für geschäftliche Besuche. Bitte setzen Sie sich doch.“

Um den runden Tisch hatte Yugi geschickt gedeckt. So setzten sich der Reihe nach die Menschen, die sich am wenigsten tun würden. Ringsum gesehen, setzten sich erst Dr. Hamilton, zu seiner rechten Seite dann Setos Mutter, neben ihr der Bodyguard, daneben Yugi, dann Seto, daneben blieb ein Platz frei, bevor Noah sich neben den Doktor setzte. So saßen sich Söhne und Mutter gegenüber und hatten trotzdem noch genügen Abstand zwischen sich.

„Kommt Mokuba nicht?“ fragte seine Mutter leise und faltete erneut die ringenden Hände vor dem Schoß.

„Er wusste es noch nicht, ob er kommen möchte“ antwortete Noah für ihn. „Er weiß aber, dass wir hier sind. Er wird kommen, wenn er es möchte.“

„Aha ... danke.“ Sie bedankte sich sogar. Das mussten die Drogen sein unter denen sie stand. Sie hatte bisher nicht einen giftigen Blick und nicht einen fiesen Kommentar verteilt. Vielleicht war Setos Entscheidung, sie willkommen zu heißen, ja doch der Anfang einer ganz neuen Beziehung. Wenn ihre Aggressivität wirklich auf einen Hirndefekt zurückzuführen war, den man mit Hormonen behandeln konnte ... es wäre nicht nur ihr zu wünschen.

„Nun? Kaffee, Tee, Kuchen?“ Yugi bot einfach mal alles an und übernahm das Einschenken, die Kuchenausgabe und beteiligte sich mit der Zeit auch zunehmend an dem Smalltalk der beiden geschulten Unterhalter.

So verstrichen etliche Minuten, in denen zwar fleißig geredet, aber letztlich rein gar nichts gesagt wurde. Unverfänglicher Smalltalk eben. Man sprach über das Wetter, über die Ergebnisse der letzten Lottoziehung, über das schlimme Unwetter der vergangenen Woche, über den harten Winter, über Mücken im Sommer und über das schöne Muster des Porzellangeschirrs. Das übliche eben, worüber man sich so unterhielt.

Die anderen drei jedoch sagten bisher nicht einen Ton. Der Gefängniswärter an sich war ja ohnehin nicht zum Reden hier, ließ sich aber gern einen schwarzen Kaffee anbieten und knabberte höflich an einem Keks, mehr dann aber auch nicht. Setos Mutter hielt den Blick gesenkt, schaute ein wenig im Raum herum und senkte ihre Augen wieder. Ähnlich wie Seto, der seinen Kuchen nur zur Hälfte aufessen mochte und dessen zittrigen Hände sicher nicht vom starken Kaffee kamen. Zum Glück schmiegte Yugi sein Bein an ihn und beruhigte ihn wenigstens ein wenig durch unbemerkten Körperkontakt. Und Setos Gegendruck nach zu urteilen, nahm der die Nähe sehr gern an.

„Ah, der Kuchen ist fantastisch“ schwärmte der Doktor und freute sich bester Laune. Er hielt Yugi sogar seinen Teller hin. „Wäre es unverschämt, nach einem dritten Stück zu fragen?“

„Nein, natürlich nicht“ lächelte der und hob noch ein Stück seines Meisterwerks, auf dass es seine Bestimmung finde. „Wissen Sie, Mr. Muto, Zuhause bekomme ich nie so gute Sachen. Meine Frau hält sämtliche Süßigkeiten von mir fern.“

„Das ist ja auch nicht nett“ lachte er. „Etwas Süßes braucht der Mensch doch.“

„Nicht, wenn man sich davon schon einen Vorrat angelegt hat“ meinte er und klopfte lachend auf seine kleine Wampe, die er wohl nicht ganz so ernst nahm. „Mr. Muto, Sie sind wirklich ein großartiger Konditor.“

„Vielen Dank“ nickte er fröhlich. „Das hört man immer gern.“

Es entstand ein ganz kurzer Moment Schweigen. Noah drückte mit dem Löffel seinen Teebeutel aus, Dr. Hamilton hatte den Mund voll und Yugi nahm sich die Serviette vom Schoß. Gelegenheit genug, auch endlich das Wort zu ergreifen.

„Du hast wirklich ein schönes Haus.“ Sie sprach! Setos Mutter konnte tatsächlich sprechen! „Die hohen Fenster lassen viel Licht herein. Das ist schön.“

„Ja ...“ erwiderte er ebenso zurückhaltend. „Große Räume und hohe Fenster machen das Haus hell. Ein alter, architektonischer Trick.“

„Und ... das Bild ist auch sehr hübsch“ sprach sie weiter und sah auf das recht aussagenlose Bild im Silberrahmen an der seitlichen Wand. Es war nicht viel mehr als einige staffierte Farben von links oben nach rechts unten. Etwas, was in Arztpraxen hing, damit die Wände nicht so weiß waren. Wahrscheinlich wollte sie nur irgendetwas sagen.

„Ja ...“ antwortete er wieder. „Ein Freund hat es bei Ikea gekauft. Er mochte die weiße Wand nicht.“ Die erste zaghafte Unterhaltung und innerlich betete man, dass das nun endlich gut gehen würde.

„Verständlich. Kahle Wände wirken so kalt. Es ist schön, wenn etwas da hängt und ein wenig Wärme verbreitet.“

„Ähm ... ja. Irgendwann sieht man das Bild nicht mehr. Es sagt ja nichts aus.“

„Dann ... magst du lieber Bilder, die etwas zeigen?“

„Ja ... ich mag gern Bilder vom Meer“ sagte er und sah sie vorsichtig an. „Fotografien von Wellen oder Strandbilder. Ich finde, das Meer hat so etwas freies.“

„Du magst helle Räume und viel Freiheit ... oder?“

„Ja, tue ich.“ Es war ihm ja lang genug verwährt geblieben und sie wusste das auch.

So hob auch sie ihre Augen und sah ihn traurig an. „Das tut mir leid, Seto.“

„Schon gut“ antwortete er fast zu schnell. Yugi sah das Zeichen, er wollte jetzt nicht darüber sprechen. Wenn er so schnell abwehrte, sollte man nicht weiter bohren.

„Nein, wirklich“ wiederholte sie noch mal und schien das ganz ernst zu meinen. „Es tut mir sehr leid, dass ich ... dass ich dich und Mokuba von mir fortgetrieben habe.“

„Aber heute bist du ja hier.“

„Ja ...“

„...“

„Schmeckt Ihnen der Kuchen, Mrs. Nandare?“ rettete Yugi das Gespräch, bevor einer von beiden gleich wieder ins Schweigen oder Bohren verfiel. Eine oberflächliche, höfliche Konversation war wohl doch etwas viel verlangt. Zum jetzigen Zeitpunkt zumindest.

„Ja. Danke, Mr. Muto. Er ist sehr gut.“

„Möchten Sie vielleicht noch etwas? Vielleicht noch einen Kaffee oder einen Keks?“

„Nein, vielen Dank.“

„Ach, wenn Sie nicht wollen“ lächelte Dr. Hamilton. „Ich nehme gern noch einen Keks. Oder auch zwei?“

„Tun Sie sich keinen Zwang an“ lachte Yugi angespannt und reichte ihm die Platte mit den Plätzchen. „Ihre Frau sieht Sie ja heute nicht.“

„Was für ein Glück. Sagen Sie, haben Sie noch ein Zimmer? Ich würde hier gern einziehen.“

„Sicher doch“ meinte Noah scherzend. „Wir können den Dachboden ausräumen.“

„Ach, nicht nötig. Eine Pritsche in der Küche reicht mir schon.“

„Mit Direktverbindung zum Kühlschrank?“

„Sie haben mich durchschaut, Mr. Kaiba“ schmunzelte er. „Ehrlich. Wie bleiben Sie so schlank mit so einem guten Bäcker im Haus?“

„Jeder hat sein kleines Schönheitsgeheimnis“ schmunzelte er und hob schweigend den Finger. Das würde er nicht verraten, wie er seinen Adoniskörper in Schwung hielt.

Und noch bevor der schmatzende Dr. Hamilton ihn weiter ausfragen konnte, ging die Tür hinter ihm auf und Mokuba kam herein. Nachdem er nun fast eine Stunde zu spät war, hatte er sich wohl doch entschlossen, dem Beispiel seines Bruders zu folgen.

„Hallo, Moki“ lächelte Noah. „Schön, dass du noch kommst.“

„Ja“ antwortete er mit dunkler Stimme und einem forschenden Blick zur Seite, wo sich eben seine Mutter nach ihm umdrehte. Dann wand er sich dem älteren Herrn neben ihr zu. „Sie sind Dr. Hamilton?“

„Dann sind Sie, Mr. Kaiba“ lächelte er und erhob sich, um dem etwas größeren Mokuba höflich die Hand zu schütteln. „Es freut mich, Sie kennen zu lernen.“

„Ebenso.“ Den Wärter begrüßte er auch nicht weiter, da der sich nicht erhob. Mokuba war da etwas merkwürdig eingestellt. Wer ihn nicht grüßte, den grüßte er auch nicht. Genau wie seine Katze es zu tun pflegte.

Aber seine Mutter blickte ihn an und stand sogar von ihrem Stuhl auf, als er zurückblickte. Er kam ihr entgegen und sie streckte ihm beide Hände hin, um ihm gleich doppelt die Hand zu schütteln.

„Mutter.“ Aber Mokuba ging eiskalt an ihr vorbei und hatte nicht mehr für sie übrig als ein Nicken. Was das anging, war er schlimmer als Seto. Wenn er Menschen nicht mochte, konnte es Jahre dauern bis er ein anständiges Wort mit ihnen sprach. Bei James waren es Jahre gewesen. Und der hatte ihm nicht mal sein Leben verpfuscht.

Er setzte sich auf den Stuhl zwischen Seto und Noah und schenkte sich selbstständig einen Kaffee ein. Zu seiner rüden Art sagte niemand etwas, aber als anerkannter Psychiater legte Dr. Hamilton doch für einen Moment einen beschäftigten Blick auf, bevor er sich noch einen Keks nahm.

„Wir sprachen eben darüber, wie ich mich besser in Form halten kann, wo ich doch so gern Süßes esse“ begann der Doktor ihn in ein Gespräch zu verwickeln. „Ihr Freund wollte mir doch tatsächlich nicht sein Schönheitsgeheimnis verraten. Können Sie mir da helfen?“

„Eher nicht“ lehnte Mokuba ab und pustete seinen Kaffee kalt. „Sie könnten sich ein paar schwule Freunde anschaffen. Das wirkt manchmal Wunder bei der Stilfindung.“

„Ich werde es in Betracht ziehen“ lächelte er gütig.

„Sehr offen, finde ich. Es gibt durchaus Menschen, die Homosexuellen nur Schimpf und Schande nachrufen. Nicht wahr, Mutter?“

„Mokuba“ flüsterte Seto mahnend. Der Kleine war also nicht gekommen, um einer Versöhnung zuzustimmen, sondern um sie zu testen oder sie möglichst schnell zu vertreiben.

„Was denn? Wir können die Karten doch mal auf den Tisch legen. Bei aller Höflichkeit“ meinte er ganz hart und sah sie an. „Hast du uns nichts zu sagen, Mutter? Oder bist du nur hergekommen, weil man dann deine Haft verkürzt?“

„Nein, Mr. Kaiba, das ist sie nicht“ ergriff Dr. Hamilton das Wort. „Es ist verständlich, dass Sie verletzt sind. Aber Ihr Ton hilft weder Ihrer Mutter noch Ihnen. Man kann über alles vernünftig sprechen. Vernünftig und nicht mit unterschwelligen Andeutungen oder offen harten Anklagen.“

„Sie haben ja auch leicht reden. Sie mussten nicht zusehen wie Ihr Bruder vergewaltigt wird.“

„MOKUBA! ES REICHT JETZT!“ schnauzte Seto ihn an und stand sogar wütend von seinem Stuhl auf. „Geh raus, wenn du hier nur Stunk machst und misch dich nicht in meine Sachen.“

„Nein. Ich werde gehen“ sprach seine Mutter und stand langsam ebenfalls auf, womit auch ihr Bodyguard sofort ins Stehen kam. Sie sah ihre Söhne an und legte ein bedauernden Ton in ihre Stimme. „Ich wollte keinen Streit zwischen euch provozieren. Es tut mir leid. Das alles war vielleicht doch keine so gute Idee.“

„Nein, Mokuba hat es nicht so gemeint.“

„Doch, hat er“ sprach genau der seinem großen Bruder rein. „Mutter, was denkst du dir? Denkst du, du kannst hier unter Drogeneinfluss einfach auftauchen und alles ist wieder wunderbar?“

„Nein, das denke ich nicht“ erwiderte sie mit Tränen in den Augen. „Aber ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe. Große Fehler, die ich nie wieder gut machen kann. Ich kann es verstehen, wenn ihr mir nicht verzeihen könnt. Aber ich dachte ...“

„Nein, Mutter. Weine nicht“ bat Seto, dem dabei selbst die Tränen in die Augen stiegen. Er ging zu ihr herum und nahm sogar ihre Hände. Bei Tränen wurde er immer ganz schnell weich. Er mochte es nicht, wenn jemand Tränen vergoss und traurig war. Tränen waren die Sprache des Herzens. „Du hast eine Medizin gefunden, die dir hilft. Das ist großartig.“

„Findest du?“

„Ja, finde ich“ sagte er ihr ehrlich. „Ich hab mir immer gewünscht, dass wir normal miteinander sprechen können. So wie heute.“

„Aber ich ...“

„Mach dir nichts draus. Ich muss auch Tabletten nehmen. Sonst bin ich nicht zu genießen“ lächelte er sie verzweifelt an. „Dann haben wir doch was gemeinsam. Mutter, wir haben endlich was gemeinsam ...“

>Mokeph hatte Recht. Seto ist dumm< war Mokubas einziger Gedanke dazu. Was Gefühle anging, war Seto ein Dummkopf. Er rannte mit offenen Augen in sein Unglück. Er glaubte tatsächlich noch an das Gute in seiner Mutter. Einen Glauben, den Mokuba schon lange begraben hatte. Entweder war Seto auf der vollkommen falschen Spur oder Mokuba sollte selbst ernsthaft über eine Therapie nachdenken. Aber wenn dieser Rat von Mokeph richtig war. Vielleicht war dann auch der andere richtig. Nämlich dass Mokuba seinem Hass nicht nachgeben durfte. Er musste seinen Bruder mehr lieben als er seine Mutter hasste. Das würde beiden mehr helfen, auch wenn es der schwerere Weg war. Er war hin und her gerissen zwischen seinen Gefühlen. Hassen oder lieben? Hassen oder lieben? Was sollte er tun? >Ach, Scheiße.< „Es tut mir leid, Mutter“ zwang er sich dann doch heraus. „Aber bitte versteh. Es dauert eine Weile bis ich dir vertrauen kann. Dein Auftauchen hier ist sehr überraschend.“

„Ihr hättet nicht so schnell zustimmen müssen“ antwortete sie und sah ihn sehnsüchtig an. „Ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe. Ich weiß, dass ich krank bin, auch wenn ich dadurch die Verantwortung und die Schuld nicht abgeben kann. Ich kann nie wieder gutmachen, was geschehen ist ...“

„Lass uns nicht mehr darüber sprechen“ bat Seto und drückte ihre Hände. „Du kannst uns so oft besuchen wie du möchtest.“

„Nein, das kann ich nicht“ lächelte sie mit einem heiter versuchten Seufzen. „Ich hab nur ein Mal im Quartal Freigang.“

„Mutter ...“ Jetzt tat es ihm leid. Seto bereute viel zu schnell. „Es tut mir leid, dass du meinetwegen im Gefängnis sitzt.“

„Nein, das ist nicht deine Schuld“ tröstete sie. „Hätte ich damals nicht das Sorgerecht für Mokuba angefochten, wäre es nicht so weit gekommen.“

„Aber ich hätte nicht aussagen dürfen. Ich hätte ...“

„Nein, Seto. Es ist nicht deine Schuld.“

„Aber wenn ich vielleicht nicht ...“

„Seto, nein ... bitte lass das.“

„Aber wenn ich ...“

„ES IST NICHT DEINE SCHULD, DU SCHWANZLUTSCHER!“ schnauzte sie ihn laut und mit funkelnden Augen an.

Seto war viel zu gelähmt, als dass er noch viel mehr tun konnte, als in sich zusammenzusinken und den Kopf wegzuducken. Eine ganz natürliche Reaktion. Seine Hände hatte sie fortgestoßen und damit war auch ihr Wärter gleich neben ihr und hielt sie kräftig am Arm. Sie setzte aber nicht nach, sondern sah ihren Sohn mit blitzendem Blick an.

„Akemi, seien Sie ganz ruhig“ beschwichtigte Dr. Hamilton und stellte sich zwischen sie und den Wärter, womit der Bulle sie auch gleich los ließ. „Ruhig einatmen und bis fünf zählen. Wie wir es geübt haben.“

Sie senkte ihren Blick und atmete wirklich kurz ein. Anscheinend hatte Setos Gebettel ihr zugesetzt und sie auf die Palme getrieben. Es erinnerte sie an früher, wenn ständig ein kleines Kind herumstand und mit diesem stechend blauen Blick irgendwas von ihr wollte. Es nervte und brachte sie zur Weißglut, wenn er nicht parierte und so egoistisch war. Sie hatte keine Geduld mit ihm und seinem aufdringlichen Gebettel. Sie kam mit seinen Ansprüchen nicht zurecht. Sie hasste es, wenn er etwas von ihr forderte. Egal, ob es Essen oder Liebe war. Ihre Toleranzgrenze lag da sehr niedrig.

„Tut mir leid“ entschuldigte sie und sah Seto bittend an. „Ich wollte dich nicht anschreien.“

Seto war im Augenblick noch viel zu erschrocken, als dass er ihr sofort antworten konnte. Er sah sie an und wusste nicht, was er tun sollte. Weglaufen wollte er nicht, auch wenn er das am liebsten tun würde. Es war schwer mit jemandem auszukommen, der bei für anderen klein scheinenden Reizen so leicht austickte ... genau wie er selbst.

„Wir bekommen das in den Griff“ versprach Dr. Hamilton als Seto ihr nicht antwortete. „Bitte, Sie dürfen nicht so vehement auf eine Sache bestehen. Keine aufregenden Dinge, das strapaziert die Nerven zu sehr.“

„Ja.“ Auch wenn Seto das von sich selbst kannte, erschreckte es ihm. Ihm konnte man auch unberechenbare Reaktionen entlocken, wenn man ihm beispielsweise von hinten auf die Schulter klopfte oder im Fahrstuhl das Licht ausmachte. Er hatte Jahre gebraucht, um das richtige Entspannen in diesen Situationen zu lernen. Und seine Mutter stand noch ganz am Anfang ihrer Therapie.

„Vielleicht sollten wir jetzt gehen, Akemi“ schlug der Doktor vor. „Sie haben das sehr gut gemacht. Sie sollten sich nicht überlasten. Verabschieden Sie sich von Ihren Söhnen und freuen Sie sich auf einen nächsten Besuch, ja?“

„Ja, Doktor“ seufzte sie und nickte Seto vorsichtig zu. „Es tut mir leid, dass ich laut geworden bin. Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr erschreckt und diesen schönen Nachmittag kaputt gemacht.“

„Nein, alles okay“ atmete er. Und doch war er erschrocken. Und wie. Seine Euphorie war abgeflaut und hatte der anfänglichen Vorsicht wieder Platz gemacht. Auch wenn sie Medikamente nahm, war das noch lange kein Allheilmittel. Und an ihrer Beherrschung musste sie noch arbeiten. Die spontane Wunderliebe, die er sich erhoffte, konnte sie ihm nicht geben. Yugi hatte Jahre gebraucht, um Seto seine Liebe zu entlocken. Vielleicht musste er seiner Mutter jetzt dieselbe Zeit und Geduld entgegenbringen. Aber konnte er das? Konnte jemand, der selbst krank war, jemanden anderen heilen?

„Es ist wirklich besser, wenn du jetzt gehst“ war auch Mokubas Meinung, als er sich neben Seto stellte und ihn vertraulich am Arm nahm. Er zeigte, dass sie zusammen gehörten und in diese Gemeinschaft reinzukommen, würde er ihr nicht leicht machen. Wenn es nach ihm ginge, sollte Seto das genauso sehen. Er sollte es ihr nicht zu leicht machen. Zu anderen war er ja auch nicht so offen. „Du kannst ja irgendwann mal wiederkommen.“ Irgendwann mal, aber bitte nicht zu bald.

„Ja“ lächelte sie ihn traurig an. „Ich verstehe. Du bist wirklich ein starker und ansehnlicher Mann geworden, Mokuba.“

„Und das ist nicht dein Verdienst“ erwiderte er kühl. „Guten Tag, Mutter.“

„Ich bringe Sie hinaus.“ Die Stimme des Wärters war dunkel und bestimmend, als er den Arm über ihrer Schulter schweben ließ und zur Tür wies. Auch wenn sie nicht so aussah, als würde sie sich groß wehren wollen, Widerstand wäre ohnehin zwecklos.

So ließ sie sich friedlich hinausbegleiten.

Die anderen folgten ihr entweder aus Höflichkeit und Mokuba wohl, weil er mit eigenen Augen sehen wollte, dass sie zur Tür hinaus war.

„Wir danken Ihnen für den schönen Aufenthalt“ sprach Dr. Hamilton zu Noah, der zufällig gerade neben ihm ging. „Sie sind doch sicher unter der Woche sonst sehr beschäftigt.“

„Nicht nur unter der Woche“ lächelte er. „Aber wir haben uns die Zeit gern genommen. Nicht wahr, Yugi?“

„Natürlich“ bestätigte der, obwohl er seinen noch leicht erschrockenen Liebling an der Seite führte und darauf achtete, dass er ihm nicht plötzlich zusammenklappte. Auch wenn Mokuba ihn fest am Arm hielt und so schnell wohl nicht loslassen würde. „Und der große Kuchen ist tatsächlich fast aufgegessen. Da wird das Resteessen wohl ein wenig kleiner ausfallen müssen.“

„Lassen Sie die Anspielungen, Mr. Muto“ lachte der rundgegessene Doktor. „Ich hoffe, ich schaffe noch das Abendessen. Sonst kommt meine Frau mir noch auf die Schliche.“

„Sie scheinen ja ziemlich unterm Pantoffel zu stehen, Doktor.“

„Ach, merkt man das so sehr?“ schmunzelte er. „Würden Sie meine Frau kennen, hätten sie auch Angst.“

„Oh je“ lachte Noah und Yugi mochte sich das auch gar nicht vorstellen. Entweder war seine Frau eine schlimme Furie oder er übertrieb mal wieder.

Sie traten in die Halle hinein und hörten schon beim Öffnen der Tür lautes Lachen.

Draußen hatte es vor einigen Minuten zu regnen begonnen und so nutzte der hauseigene Kindergarten die warme Wüstenhalle eben als großen Sandkasten. Tea und Nika hüteten die Kinder und sahen ihnen beim Spielen zu. Feli saß direkt neben ihrer Mama und schichtete mit ihren Händen langsam eine Zipfelmütze aus Sand auf den Boden. Tato fand es währenddessen lustiger, seiner großen Schwester hinterherzulaufen und wollte ihr eine handvoll Sand ins Hemd stecken. Risa saß neben Tea und ließ sich zeigen, wie man Zeichen in den glatt gestrichenen Sand malen konnte. Die Babys schienen sie wohl woanders gelassen zu haben, aber um diese Uhrzeit war auch Narla schon Zuhause und ließ die kleine Joey häufig mit Theresa zusammen ein Schläfchen machen, damit auch Tea mal beide Arme frei hatte, um sich um ihre Große zu kümmern.

Anscheinend ahnten sie nicht, dass sie heute ungewöhnlichen Besuch im Hause hatten. Sonst würden sie hier nicht so frei die Halle in Beschlag nehmen. Aber Nika hatte sie entdeckt und tippte Tea an, um sie aufmerksam zu machen, dass dort Fremde waren.

„BOAH! BESUCH!!!“ Doch da wurde auch Nini schon hellhörig und rannte auf die unbekannten Leute zu. Besuch bedeutete immer, dass sie jemanden zum Vollquatschen hatte, denn Besuch wehrte sich selten dagegen.

Tato kam da auf seinen kleinen Füßen nicht ganz so schnell hinterher. Im Krabbeln war er irgendwie noch schneller, aber er hatte gelernt, dass das ja nur für Babys war. So musste er eben auf zwei speckigen Strampfern hetzen, um seiner großen Schwester folgen zu können.

„Hallo!“ Da war Nini auch schon angekommen und grinste an den drei Besuchern hinauf. „Ich bin Nini. Wer seid ihr?“

„Quasi schon weg sind die“ meinte Mokuba und wollte die drei abschirmen und zur Tür drängeln, aber doch nicht mit Nini.

„Wow! Du siehst aus wie Onkel Moki“ plapperte sie seine Mutter an und hielt sie am Rockzipfel fest. „Das ist aber ein schönes Kleid. Deine Frisur finde ich auch schön. Wenn ich alt bin, will ich auch mal schwarze Haare haben. Indianer haben schwarze Haare. Und Neger. Aber Neger darf man nicht sagen, sagt Onkel Noah. Das heißt gefärbte Nachbarn.“

„Nein, Nini. Farbige Mitbürger“ seufzte der. „Komm mal her.“ Er nahm sie zur Seite und auf seinen Arm. Musste ja nicht sein, dass sie hier ihre Oma begrabbelte, die sie nicht mal als solche kannte oder erkannte.

„Meine Freundin Pana im Kindergarten ist auch eine gefärbte Mitbürgerin. Aber ihr macht das nichts aus, weil sie sagt ja selber, dass sie ein Neger ist. Ich finde das nicht schlimm. Sie hat gaaaaanz dunkle Haut, wo wir mit Creme draufgemalt haben. Ein Grinsegesicht haben wir gemalt. Das sah bei ihr viel besser aus als bei mir. Wir haben gesagt, wenn im Sommer die Sonne wieder scheint, dann setze ich mich in den Garten bis ich auch so eine schöne braune Haut habe. Dann bin ich auch eine Negerin. Dann sind wir zwei. Und wenn wir uns dann ein Küsschen geben, sind wir Negerküsse. Lustig, oder?“

„Ähm ...“ Was war denn das für ein Mädchen? Damit wusste ihre Großmutter spontan nichts mit anzufangen. Und sie erkannte sie auch nicht. Sie schaute einfach nur absolut überrascht über diesen Überfall.

„Du bis neu.“ Und jetzt stand auch Tato vor ihr und sah an ihr hoch. Ganz aus der Puste, weil er sich so beeilt hatte. „Wie heiß du?“ Doch dann wurden seine Augen ganz groß und sein Mund öffnete sich zu einem Staunen. „Du siehs aus wie Onke Moke! Boah! Alter Swede!“

„Tato, drinnen steht noch Kuchen.“ Yugi kniete sich zu ihm herunter und legte seinen Arm um ihn. „Komm, wollen wir Resteschlemmen machen?“

„Speeta Resteslemm.“ Er konnte seinen Blick gerade nicht von dieser Frau lassen, die ihn so faszinierte. „Du bis ein hübses Mädsen. Wie heiß du? Wie alt bis du? Is bin soon eins. Ein Finger“ zeigte er stolz. „Wie viele Finger has du?“

„Warum darf Tato plappern und ich nicht?“ Nini war eingeschnappt als Onkel Noah sie in den Meetingraum schleppte.

„Komm, Nini. Resteschlemmen.“ Sie wollten die Mutter doch nicht überfordern. Und für jemanden, der mit Kindern nicht zurechtkam, waren die beiden kleinen Mutos eine echt harte Prüfung. Denn die waren aufdringlich und neugierig, kannten keine Scheu vor Fremden. Wenigstens konnte man Nini noch wegschleppen. Tato begann dann immer zu schreien und schmollte für Stunden. Den musste man irgendwie ablenken und für etwas anderes begeistern, wenn man keinen Ärger provozieren wollte. Zumal man ihn nicht einfach wegtragen und sagen konnte, man wollte nicht, dass er seiner Oma begegnete. Das wäre für den Besuch erst recht beleidigend. Aber Yugi arbeitete ja schon dran.

„Tato, schau doch mal“ versuchte er einen Blick zu catchen und zeigte zurück, wo Tea und Nika mit den kleinen saßen. „Feli macht eine ganz tolle Sandburg. Wollen wir mal gucken gehen?“ Da Tato sich an ihrem Rocksaum festgekrallt hatte, konnte Papa ihn auch nicht einfach so wegreißen. Das würde ziemlich rüde aussehen.

„Nein.“ Er schaute weiter an der schwarzäugigen Schönheit hinauf. „Wie alt bis du? Sag do mal. Bitte.“

„Und wer ist dieses aufdringliche Kind?“ sah sie Seto missmutig an.

„Das ist Asato. Setos und mein Sohn“ antwortete Yugi. „Er ist vielleicht aufdringlich, aber er meint es nicht so. Er ist nur interessiert an Menschen.“

„Nein, nis an Mensen. Mädsen“ grinste er sie an. „Du bis ein hübses Mädsen. Willsu mis heiraten, wenn is alt bin? Aba nur wenn du saast wie alt du bis.“

„Das geht dich nichts an. So etwas fragt man eine Frau nicht.“

„Nis?“ Komisch? Etwa nicht? Er wurde doch auch ständig gefragt, wie alt er war. Das war ihm jetzt neu, dass diese Frage verboten war. „Das hat mir no keina dessaat. Willsu nis saan wie alt du bis?“

„Nein.“

„Aba is hab au desaat. Du muss au.“

„Tato, es ist gut jetzt“ ermahnte Yugi und nahm ihn an der Hand. „Komm, wir gehen mal zu Nini, bevor sie den Kuchen aufisst. Du wolltest doch Kuchen haben vorhin.“

„Nis setz, Papa. Is will wissen wie alt das Mädsen is“ plädierte er und entkam mit einem flinken Stolpern Papas laschem Griff und umklammerte im Liegen das Bein seiner neuen Eroberung. „Wie alt bis du! Saaaag setz! Wie alt? Wie alt? Is sieh dir den Suuh aus, wenn du nis saast. Wie alt bissu? Wie alt? Wie ...?“

Yugi hatte sich gedacht, dass Tatos aufsässiges Gehabe vielleicht etwas reizend auf sie wirkte, aber nicht, dass sie so austickte.

„HALT DIE SCHNAUZE, DU PISSBALG!!!“ keifte sie und trat Tato mit ihren harten Sohlen einen Meter weit von sich fort. „DU HAST KEINE MANIEREN, DU DRECKIGES ...“ Sie wollte ihm nachsetzen, aber da trat nicht nur Yugi dazwischen und fischte sich seinen geschockt weinenden Sohn auf den Arm, sondern das weckte auch den Mamadrachen.

Bei Gewalt gegen Kindern, besonders wenn es die eigenen waren, sah Seto rot. Aber absolut. Und da war es ihm egal, ob das seine eigene Mutter oder sonst wer war. Sie hatte Tato getreten und das ließ er ihr nicht durchgehen.

Er trat nur einen Schritt zur Seite und stand direkt vor ihr. Und schon hatte er ausgeholt und knallte ihr eine schallende Ohrfeige, die so schmerzlich widerhallte, dass es schon beim Hören wehtat.

Doch damit nicht genug. Er packte sie am Kragen, wirbelte sie herum und knallte sie mit Kraft an die Wand, wo er sie gegendrückte und vom Boden auf seine Höhe abhob. Mit seinen blauen Augen spießte er sie auf und die Ader auf seiner Stirn drohte jeden Moment zu platzen. So schnell hatte noch niemand seinen Zorn geweckt.

Keine Angst, sondern echten Zorn.

Geistesgegenwärtig wollte der Wärter dazwischengehen und die beiden trennen, aber ein Ton ließ ihn stoppen. Ein dunkles Grollen, welches von Seto ausging und sich bedrohlich in die Luft legte. Ein tiefes Schnaufen und als sich seine Lippen einen Spalt öffneten, drang ein noch lauteres Grollen hervor, welches so unnatürlich klang, dass sich jedem die Nackenhaare aufstellen. Und diese bebenden Lefzen ließen den sonst so ruhigen Mann wie ein Monster scheinen, das seine Zähne zeigte. Das war doch nicht normal. Dieser Ton, der das Innerste einen Menschen aufrührte wie der Nachhall des Urknalls.

Und so sah es auch seine Mutter. Mit geschockt aufgerissenen Augen erstarrte sie in ihrem Blick und begann sich an seinem Arm festzukrallen. Nicht nur, weil er sie an die Wand gedrückt hielt, sondern es gab auch kein Entkommen aus dieser schrecklichen Erfahrung.

„Noch ein Mal“ fauchte Seto mit verzerrter Stimme. „Noch ein einziges Mal legst du Hand an meine Kinder und ich bringe dich um. Das schwöre ich dir bei allem, was mir heilig ist. Ich bringe dich um.“ Auch wenn er häufig Dinge sagte, die ihm später leid taten - das hier meinte er ernst. An seine Kinder ließ er niemanden ran.

„Du bist doch nicht normal“ flehte sie und das erste Mal im Leben bekam sie Angst vor ihrem Opfer. „Lass mich runter, du Freak. Du bist doch kein Mensch.“

Das tat ihm weh, aber er konnte es nicht ändern. Mit einem spitzen Schrei eines verletzten Drachen schmiss er sie meterweit gegen die Haustür und konnte trotz seine wachsenden Zornes die eisigen Tränen nicht zurückhalten.

„Du hast mich das letzte Mal enttäuscht!“ schimpfte er verzweifelt. „Hau ab und lass dich nie wieder sehen! Ich will nie wieder was mit dir zu tun haben! Du bist ein schlechter Mensch! Du gehörst nicht in meine Familie! Ich hasse dich!“

„Seto, es ist gut jetzt.“ Mokuba trat an seine Seite und hielt ihn an Arm fest, bevor er noch irgendwelche weiteren Spirenzchen veranstaltete. Das ging jetzt selbst dem wirklich mutterhassenden Sohn zu weit.

„Mein Mann ist ein Stimmkünstler und manchmal geht es mit ihm durch“ versuchte Yugi zu erklären, während er dem weinenden Tato das Köpfchen versteckte. „Aber Sie sollten jetzt wirklich gehen. Ich glaube, es war genug für heute.“

„Natürlich“ nickte der Doktor. So einen Ton hatte er noch nie gehört. Weder aus einer menschlichen Kehle noch aus der eines Tieres. Er war zwar erstaunt, aber er zwang sich, zum Tagesgeschäft überzugehen. Seto war nicht sein Patient - um den kümmerte sich ein Kollege bereits. „Bitte entschuldigen Sie, Mr. Muto. Das habe ich nicht kommen sehen.“

„Schon gut. Gehen Sie jetzt.“ Es war nicht seine Schuld. So eine heftige Reaktion hatte niemand absehen können. Aber ob nun Schuld oder Unschuld, sie sollten die Sache jetzt beenden.

„Kommen Sie. Wir gehen.“ Der Doktor nahm auch den noch immer erschrockenen Wachmann am Arm und schob ihn mit sich zur Tür, wo beide der erschrocken atmenden Frau auf die Beine holfen und selbst die große Tür öffneten.

„DAS WIRD DIR NOCH LEID TUN, DU TIER!!!“ schrie sie ihrem Sohn noch hinterher. „ICH VERFLUCHE DICH! DICH UND DEINE VERKOMMENE BRUT! DU FICKST DEINEN COUSIN, DU INZESTSCHWEIN! DU MIESER ...!!!“

Mokuba spürte wie Seto selbst nach Schließen der Tür noch am ganzen Leibe zitterte. In ihm mussten sich in diesem Augenblick millionen von Gefühlen mischen. Der Traum, dass man seiner Mutter noch helfen konnte, der Traum, dass es noch irgendeinen Weg gab, ihr Herz zu erwärmen, dieser Traum war jetzt für ihn gestorben. Er trug ihn vielleicht noch in sich, aber er wusste nun ganz sicher, dass anderes wichtiger für ihn war. Nämlich das Wohl seiner eigenen Familie. Und das durfte er sich von niemandem nehmen lassen. Ihn durfte sie vielleicht ungestraft schlagen und beschimpfen - nicht aber seine Kinder.

„Das war’s. Jetzt hab ich’s gesagt“ weinte Seto und ließ seine Knie einknicken, womit er in dem weichen Sand sitzen blieb. „Ich hab ihr gesagt, ich will sie nicht mehr. Ich hab meine Stimme gezeigt ... jetzt wird sie niemals wieder zurückkommen. Ich hab keine Mama mehr ... sie hasst mich ... ich hab keine Mama mehr ...“

„Die hatten wir noch nie, Seto“ meinte Mokuba als auch schon Yugi neben ihm war und nicht nur den kleinen, sondern auch den großen Drachen in die Arme nahm.

„Liebling, nicht weinen“ versuchte er den zu beruhigen. „Ist doch alles okay. Nicht weinen. Beruhige dich.“

„Yugi?“ Tea stellte sich neben ihn und legte ihre Hände an Tato. Er brauchte ihn nur loslassen, wenn er lieber Seto trösten wollte.

Aber da tauchte eben der große Tato hinter ihr auf, nahm ganz selbstständig sein kleineres Windel-Ich auf den Arm und schuckelte ihn mit einem beruhigenden „Schschsch“ hin und her. Er war ja nun mal noch ein Baby. „Hat die Frau dir wehgetan, Großer? Nicht weinen.“

Der Kleine nickte und schluchzte leise. Aber er drückte seine kleine Nase an die große, starke Brust und krallte sich fest.

„Wo denn?“ fragte er mitleidig. „Am Bauch?“

Wieder nickte der Mini und schniefte tief. Es war wohl nicht nur der schmerzende Tritt, sondern auch der Schrecken darüber, dass fremde Menschen so böse Sachen tun konnten. Er hatte noch nie schlechte Erfahrungen mit Fremden gemacht.

„Tato? Wie soll das weitergehen?“ fragte Seto mit so deutlicher Verzweiflung im Ton und sah ihn verzagt an. „Du hast gesagt, ich hab die richtige Entscheidung getroffen. War’s das jetzt? War das alles, was mich noch mit ihr verbindet?“

„So weit ich es weiß“ antwortete er ruhig. „Ich hab sie niemals wiedergesehen. Ich weiß nur noch, dass wir den ganzen Abend zusammen Gundam Wing geguckt und Schokolade gegessen haben.“

„Sogolade“ schnupfte der kleine und hob sein rot geweintes Gesicht und sah seine Drachenmama mit so einem tieftraurigen Blick an. „Mama, Soki. Wowa gucke …“

„Schschschoki“ berichtigte der Große.

„Schschschoki“ gab er sich Mühe und streckte seine kleinen Arme aus. „Nene holn und essen. Mama, bitte. Ja? Und Wowa gucke ...“

„Na gut. Schoki essen und Trowa gucken.“ Wenn er so sehnsüchtig fragte. Mama stand ihm zuliebe auf, wischte sich die salzigen Tränen fort und drückte dann seinen Sohn an sich. Jetzt war er selber Vater und er würde nicht dieselben Fehler machen. Er wusste, wie man seine Kinder liebte. Und er würde die Welt zu einem besseren Ort machen, ein Leben leben, welches ihn und seine Familie glücklich machte. Er konnte seinen Kindern all das geben, was ihm selbst fehlte. „Komm, Tatolino. Wollen wir Nini holen und uns vor die Glotze setzen?“

„Ja“ nickte er und streckte sich, um Yugis Ärmel zu fassen zu kriegen. „Tusseln, Papa. Gib’s ein Gnuuts? Is wein nis.“

„Nein, du weinst nicht. Du bist ein großer Junge“ lächelte Yugi und gab dem kleinen, liebesbedürftigen Drachen einen liebevollen Knutschi. „Ich hab dich lieb, Tato.“

„Is dis au, Papa.“

„Möchtest du mit?“ fragte Seto als sie aufbrachen, um Nini bei Onkel Noah abzuholen. Vielleicht wollte Mokuba auch ein wenig Nähe zu seinem großen Bruder. Er gehörte doch zu ihm und das Verhalten seiner Mutter musste auch ihn bewegen. Wieder ging es nur um Seto ...

„Nein, geht ihr nur“ lächelte er traurig und steuerte selbst die Treppe an. „Ich werde gleich erst mal Mokeph ärgern. Oder Yami ...“

„Na gut.“ Wahrscheinlich wollte er nur gerade über etwas anderes sprechen. Heute mussten sie sich erst mal erholen, um dann morgen hoffentlich so tun zu können, als sei all das nie geschehen. Auch wenn es schwierig werden würde.

„War es das jetzt wirklich?“ fragte Nika, als sie sich mit Feli auf dem Arm neben Tato stellte. „Werden die beiden ihre Mama wirklich nie wiedersehen?“

„Mir hat meine Großmutter nie gefehlt“ sprach er ehrlich und streichelte sanft über Felis Wange, weil die ihn so scheu anblickte. „Wir Kinder hatten immer liebevolle Eltern. Oder Feli? Hast du Mama lieb?“

„Feli ...“ antwortete sie leise. „Babbi hause?“

„Ja, Papi kommt ja bald nach Hause“ seufzte Nika. War wohl nicht das erste Mal, dass sie heute nach ihm fragte.

„Feli Babbi hause?“

„Ja, Schatz.”

„Babbi hause?”

„Jaha, bahald“ schuckelte sie die Kleine. „Papi kommt ja bald nach Hause.“ Aber sie freute sich. Nach Tagen endlich blühte Feli auf. Obwohl alles um sie herum wild und chaotisch war, begann sie plötzlich schüchtern wieder zu sprechen und nach ihrem Papi zu fragen. Auch wenn es auf der einen Seite Dunkelheit gab, tat sich woanders gerade wieder ein kleines Lichtlein auf.

„Wir waren immer glücklich“ versprach Tato auch als Tea einen besorgten Blick auf die Tür warf, zu der Seto und Yugi eben hinaus verschwunden waren. „Ihr werdet sehen. Morgen ist alles wieder im normalen Chaos. Ich glaube, heute war der Tag, an dem Mama mit seiner Mutter abgeschlossen hatte.“
 


 

Chapter 15
 

„Was wollt ihr denn schon wieder hier? Habt ihr keine eigenen Küchen?“ Seto war echt angefressen, als er mittags aufstand und die versammelte Mannschaft in seiner Küche antraf. Gestern wurde er von Yugi mitten in der Nacht vom Schreibtisch ins Bett geschleift und heute Morgen von einem kreischenden Kater geweckt, der sich wohl in sein Schlafzimmer verlaufen hatte und von einer ebenso kreischenden Falkendame verjagt werden sollte - was durch verschlossene Türen aber schlecht zu machen war. Und nach dem Trennen dieser beiden Streithähne wollte er nur in Ruhe einen Kaffee und die Morgenzeitung und was bekam stattdessen? Einen ganzen Haufen Leute, die ausgerechnet bei ihm saßen und auch noch den Brötchenkorb so gut wie geleert hatten. Und das auf einem Freitag!!!

„Schon, aber bei dir ist schöner, Drache“ grinste Joey ihn frech an.

„Was machst du überhaupt hier?“ nöhlte er mit Blick auf die Uhr. „Hast du nicht Meeting immer um zehn Uhr? Es ist jetzt halb zwölf, du Idiot!“

„Weiß ich. Aber ich werde woanders dringender gebraucht.“

„Narla hat Projekttag und die Kleine schnupft ein bisschen“ erklärte Noah, der sich gemeinerweise auch noch die Morgenzeitung unter den Nagel gerissen hatte. Und den anderen Teil hatte Tato in der Hand und war mit seiner Nase im Lokalteil versunken. Für Seto waren also weder viele Brötchen, noch irgendwelche Zeitungsteile übrig.

„Und warum lässt du sie nicht vormittags von Tea sitten wie immer? Wegen dem bisschen Schnupfen!“ meckerte Seto. Als wolle er den jungen Papa hier unbedingt rausmobben.

„Weil ich nicht will, dass Theresa sich bei Joey ansteckt“ meckerte er zurück. „Mann, komm mal runter. Ich arbeite von Zuhause heute.“

„Und du?“ stürzte er sich auf Noah. „Warum bist du nicht arbeiten?“

„Ebenfalls Haustag“ antwortete er schlicht. Einen flexiblen Tag in der Woche arbeitete er von Zuhause aus, um Mokuba zu besänftigen. Und dieser Tag war dann wohl heute.

„Warum bist du nicht in der Uni?“ schimpfte er dann mit Mokuba.

„Der Professor hat Schnupfen und ich hab keine Vorlesung“ guckte er ihn mit großen Augen an. „Seto, ich bin erwachsen. Ich schwänze schon nicht. Ein bisschen mehr Vertrauen, bitte.“

Er holte gerade Luft und sah Tristan an, aber der sagte nur schnell

„Feli!“

und war fein raus. Und als er daraufhin Nika andonnern wollte, hob die auch nur schnell die Hände und rief

„Ebenfalls!“ und zeigte demonstrativ auf das Kind auf Tristans Schoß.

„Babbi ...“ Und Feli war auch der Meinung, dass Papi sie mal schön weiter kuscheln sollte.

Also drehte er sich zu Yami und holte noch mal Luft, aber

„Isch abe gar keine Küsche“ schmunzelte er. „Zum Glück klappt’s mit dem Nachbarn.“

Gut, das musste er gelten lassen. Das stimmte. Yami hatte keine Küche - aus gutem Grunde.

„Okay, du gehörst ja hier hin. Auch wenn du zu viel Werbung siehst. Du musst ja leider hier sein“ winkte er dann gütig ab. „Aber DU nicht“ zeigte er auf Tea. „Warum sitzt du hier rum?“

Doch sie machte einfach nur große Augen und sah ihn fragend an. Als wolle sie sagen ‚Ist noch alles heile bei dir?’ Sie hatte ja zwei Kinder zu betreuen und war zentrale Anlaufstelle für sämtliche Babysitteraufgaben. Vormittags passte sie sogar zusätzlich auf Klein-Joey auf, wenn Narla mindestens von neun bis zwölf Uhr in der Schule sitzen musste, bevor sie den Rest Zuhause erarbeiten durfte. Und eigentlich saß sie ständig in Setos und Yugis Küche.

„Ja, sorry“ grummelte er tief. Dass er da die Falsche anging, merkte er gerade noch.

„Und uns musst du leider auch ne Weile aushalten“ lächelte Balthasar. „Wir haben auch keine eigene Küche.“

„Maaaaann“ heulte er und sank ein paar Zentimeter in sich zusammen. „Müsst ihr immer ausgerechnet hier rumhängen? Habt ihr nix anderes zu tun?“

Ein allgemeines Schmunzeln ging durch die Reihen. Der arme Seto.

„Liebling!“ Yugi winkte ihm mit einer unteren Brötchenhälfte liebevoll zu. „Nutellabrot mit Liebesherzchen drauf? Eines ist noch da!“

„Du willst mich erpressen“ warf er ihm mit dunklem Grollen zu.

„Stimmt“ schmunzelte er fröhlich. „Und? Klappt’s?“

„Jaaaaa ...“ grummelte er tief, senkte den Kopf und umrundete den Tisch, wo er sich dann mit einem Plumpsen auf seinen Stuhl fallen ließ. Gegen Yugis Argumente kam er nicht an. Und gegen die Übermacht an Leuten hier wohl auch nicht. Wirklich niemand nahm hier auf ihn Rücksicht! Kindergarten, echt!!!

„Teto is da?“ Zwischen seinen Beinen tauchte ein kleiner Kopf mit brünetten Zöpfchen auf und große, schwarze Augen leuchteten ihn an.

„Risa ist da?“ lächelte er zurück nach unten. „Guten Morgen, Mäuschen.“

„Mein Teto!“ Sie streckte ihre Arme hinauf und wurde auch sofort auf den Schoß genommen. Ja, sie würde der Drache sicher niemals mit einem Platzverweis bedrohen.

„Und Feli?“ fragte er und blickte sie über den Tisch hinweg zu Tristan an. „Wo ist meine Feli? Hm? Wo ist Feli?“

Aber die reagierte nicht wirklich. Sie schaute gerade Papas Hände an, die ihre Knie streichelten. Sie war noch immer etwas in sich gekehrt, etwas geschockt. Es brauchte noch eine Weile bis sie wieder die Alte war und unter dem Tisch darauf lauerte anderen Leuten die Puschen auszuziehen und ihren Namen zu hören. Es reichte schon, dass sie ab und zu mal fragte, wo Mama und Papi waren. Unter den Tisch traute sie sich noch nicht wieder. Das war noch zu weit weg.

„Flitzetässchen ... hey, Prinzessin“ sprach Tristan sie leise an. Sie hob auch ihren Blick und sah fragend zu ihm auf. „Seto hat dich gerufen“ lächelte er und zeigte mit dem Finger auf den. „Schau doch mal, wer da ist. Seto ist da.“ Aber sie guckte ihn nur weiter an. Er zeigte noch mal auf Seto, aber weiter als bis zu seiner Hand kam ihr Blick nicht. Für äußerliche Reize war sie noch nicht wirklich empfänglich und verstand nicht, was Papi da tat.

„Babbi?“ Sie streckte ihre beiden Hände nach seinem ausgestreckten Finger aus und war beruhigt, als sie seine Hand wieder zurück hatte, um sie weiter anzusehen und zu betasten. Und Papi und Mama seufzten nur. Sie brauchte jetzt wirklich Zeit, um sich an alles Gelernte wieder zu erinnern.

„Ach, Feli“ sah Seto sie traurig an. „Das wird schon werden, Schätzchen.“

„Teto?“ Aber Risa war da und schaute fragend an ihm hinauf. Warum sah er denn so traurig aus?

„Ach, Risa. Du bist auch mein Schätzchen“ lächelte er und drückte sie an sich. „Seto hat dich lieb.“

„Mein Teto ...“ Und sie liebte es, bei ihm zu kuscheln.

„Genieße es, solange es dauert, Große“ riet Papa Mokeph. „Wenn Nini und Tato aus dem Kindergarten zurück sind, musst du ihn wieder teilen.“

„Hääääääh?“ Sie sah auf und mit riesigen Babyaugen zu ihm rüber.

„Wer hat ihr denn dieses Häh beigebracht?“ guckte Seto geschockt. „Wir versuchen die ganze Zeit, Tato das abzugewöhnen. Risa, das heißt wie bitte. Wer dreht dir solche Worte an, Prinzessin?“

„Na, wer wohl?“ verdrehte Tea die Augen und nickte auf Yami, der irgendwie gerade versuchte, unter Noahs Zeitung zu krabbeln und dort nur mit einem Klaps von Mokuba vertrieben wurde, der zufällig noch immer dazwischen saß und sich nicht wegdrängeln ließ.

„Das verwächst sich wieder, wenn sie andere Worte lernt, Schatz“ tröstete Mokeph seine Frau und versuchte so wohl auch seinem Pharao ein bisschen Rückendeckung zu geben.

„Genau! Sag es ihr, Giftzwerg!“ grinste Yami.

„Trotzdem, Yami“ grummelte Seto. „Bring ihr lieber was Anständiges bei. Ewig lernen die Kinder von dir nur Quatsch. Nur deinetwegen, sagt Tato jetzt immer vor jedem Saft ‚Gut Schluck’.“

„Nein, er sagt ‚Duut Sluck!’“ lachte er.

„Das verwächst sich alles wieder“ versicherte Mokeph überzeugt. „Guck ihn dir doch an, deinen Tato“ nickte er auf den Großen, der jetzt zum ersten Mal von seinem Teil der Zeitung aufsah. „Er trinkt schon den ganzen Morgen Kaffee und hat noch nicht ein Mal ‚Gut Schluck’ gesagt. Und genauso wird Risa später nicht ständig ‚Häh’ sagen. Klein Tato sagt ja immerhin schon ‚Häh, das heißt wie bitte, Tato’“

„Das stimmt aber nicht“ antwortete Tato mit einem kühlen Lächeln. „Sie hat ständig ‚Häh’ gesagt und alle Leute damit wahnsinnig gemacht. Es war ihr Markenzeichen. Anstatt ‚wie bitte’ oder ‚was’ hat sie immer nur ‚häh’ gesagt. Häh hier, Häh da, Häh überall. Ihr hättet sie mal hören sollen, wenn sie telefonierte. Man konnte Strichlisten machen, wie oft sie Häh sagte. Sie hat mal einen Sprachkurs gemacht, um sich das abzugewöhnen, aber es hat nichts gebracht. Immer und ständig hieß es: HÄÄÄH?“

„Hääääh?“ kam es passend dazu aus der hellen Mädchenkehle.

„Siehst du? Also bring den Kindern keinen Mist bei. Du schädigst sie ja für ihr ganzes Leben“ drohte Seto ein Mal quer über den Tisch.

„Reg dich nicht so auf, Liebling“ beruhigte Yugi und legte ihm sein fertiges Brötchen mit Zuckerherz auf den Teller.

„Tato, darf ich dich was fragen?“ lächelte Tea ihn liebevoll an. „Ist die Zukunft denn so geblieben, dass du mit Risa zusammengekommen bist?“

„Warum?“ Sein Lächeln schwand langsam und seine Augen verloren ihr kurzes Aufleuchten. Als würde jemand das Licht abstellen.

„Weil ...“ Das merkte sie sofort und fühlte sich schuldig, dass sie da wohl einen scheinbar wunden Punkt getroffen hatte. Aber jetzt kam sie da auch nicht elegant von zurück. „Weil du ... der Ring an deinem Finger. Ist das Ehering oder nur Schmuck? Ich meine ... damals in der Zukunft ...“ Sie wusste nicht, wie sie das noch anders formulieren sollte. Und dass die drei Jüngeren ihn so vorsichtig ansahen, als fragten sie sich, was er antworten würde ... irgendwie war es unangenehm.

„Es ist dabei geblieben. Wir haben geheiratet“ antwortete er dann und blickte wehmütig auf seinen silbernen Ring herab. „Wir waren sehr verliebt. Sehr glücklich. Wir hatten das größte Glück, das Menschen nur haben können.“

„Ihr hattet?“ fragte Yugi vorsichtig weiter. Ganz ruhig. „Was ist denn heute? Liebt ihr euch nicht mehr?“

„Doch“ flüsterte er und senkte seinen Kopf so tief, dass man seine Augen nicht mehr sah. „Risa ist vor zehn Jahren gestorben. Zusammen mit unserem Sohn.“ Und fast unhörbar leise gehaucht, erklärte er: „Ich konnte sie nicht beschützen.“

Im ersten Moment herrschte nur erschrockenes Schweigen im Raum. Nicht mal ein Schlucken kam jemandem in den Sinn. Risa war tot? Das kleine Mädchen auf Setos Schoß sollte sterben? Und er? Trug Tato deshalb nur schwarz? Weil er um sie trauerte? Seit zehn Jahren? Und sie hatten einen gemeinsamen Sohn? Beide waren gestorben und er ... er war Witwer? Und anscheinend fühlte er noch immer den Schmerz ihres Verlustes. Er hatte Frau und Kind verloren. Deshalb wollte er nicht über sein eigenes Leben sprechen. Weil es ihm wehtat. Deshalb hatte sein Blick das Leuchten verloren.

„Ihr hattet einen Sohn?“ brach Yugi sanft das Schweigen und reichte ihm die Hand herüber, legte sie auf seine totenstillen Hände.

„Ja“ flüsterte er leise. „Tadashi Salomon. Er war sechs Jahre alt, als er ...“

„Als er was?“ Yugi versuchte, ihn anzusehen, aber er hielt den Kopf gesenkt. Er wollte nicht, dass man die Trauer in seinen Augen las und so tat er lieber, als würde er noch in die Zeitung sehen. „Tato, möchtest du darüber sprechen? Du musst nicht, Großer.“

Er atmete leise und hob dann doch seinen Kopf. Mit dem kleinen Finger wischte er sich eine entfleuchte Träne aus dem Auge, bevor sie noch ganz kullern konnte. Vielleicht hatte Yugis Stimme ihn beruhigt. Wenn er heulend rausgerannt wäre, hätte sich vielleicht niemand gewundert. Aber er stand zu seinem Wort, stand zu dem, was er sagte. Und er hätte es nicht gesagt, wenn er es nicht gewollt hätte.

„Nein. Entschuldige“ versuchte er und setzte ein tapferes Lächeln auf. „Ich muss nur immer weinen.“

„Du musst dich nicht entschuldigen“ tröstete er und sah ihn aufbauend an. „Wir sprechen jetzt auch nicht weiter darüber. Okay?“ Nicht zu viel auf ein Mal. Tato war vielleicht seelisch stärker als Seto, aber überreizen sollte man ihn nicht. Wenn man ihn jetzt mit Fragen löcherte, würde er sich zurückziehen und gar nichts mehr sagen. So groß und grollend wie Drachen auch waren, in manchen Situationen waren sie nur allzu leicht zu verschrecken. Er würde mehr erzählen, wenn er bereit dazu war.

Von Seto kam ein stoßweises Atmen und Tato sah ihn fragend an. „Mama!“ lächelte er ungläubig. „Nicht du auch noch heulen.“

„Tut mir leid.“ Er setzte ein Lächeln auf, welches dem von Tato haargenau glich. Dasselbe, traurige, aber kämpfende Lächeln. Er drückte die kleine Risa an sich und küsste sie auf den kleinen Kopf. Seine zukünftige Schwiegertochter. Die Mutter seines Enkels.

„Aber die Zukunft muss nicht so sein“ beschloss Tea mit fester Stimme. Mit der Entschlossenheit einer Mutter. „Ihr seid doch hier, damit wir sie ändern können. Es muss nicht geschehen, dass sie ...“

„Eben, wir können die Zukunft ändern“ schloss sich auch Sharesa an. „Mama hat Recht. Wir haben die Macht, etwas zu ändern und das Recht dazu.“

„Genau.“ Ganz vorsichtig legte Phoenix seine Hand an Tatos Arm und blickte ihn mit seinen weichen, grauen Augen an. „Es ist nicht deine Schuld, Dicker. Sie wird weiterleben. Und Dashi auch. Ganz sicher. Und du musst dann nicht mehr weinen.“

„Und Seto dann auch nicht mehr“ versuchte Yami die angespannte Stimmung ein wenig aufzuhellen. „Aber Seto heult ja sowieso wegen jedem Kleinkram. Mit dem kann man echt keinen Film gucken!“

„Du hast aber auch geheult am Schluss neulich!“ meckerte er schniefend zurück.

„Aber ich hab nach ner Minute wieder aufgehört. Du hast ja sogar mit Stimme geheult! Wusstet ihr eigentlich, dass es Männer gibt, die nach dem Orgasmus anfangen zu weinen?“

„DAZU GEHÖRE ICH ABER NICHT!“

„Stimmt“ schmunzelte Yami lustig. „Das kann ich bezeugen.“

„Dafür schläfst du immer schnell ein, Liebling.“

„YUGI!!!“ Waren denn hier alle gegen ihn?

Aber wenigstens musste auch Tato erheitert aufseufzen, während andere schon wieder lachten. Yami war einfach Meister darin, Fröhlichkeit zu verbreiten. Und wenn Yugi auch noch mitzog, waren die Pharaonen nicht mehr zu stoppen. Sie trugen immerhin Rahs Licht in sich und wollten der Dunkelheit niemals die Übermacht lassen. Und ein wenig von dem Dunkel ablenken, welches über ihnen hing und sich gelegentlich herabsenkte.

Aber durch den Lärm wachte dann die kleine Joey auf und plärrte los wie eine Sirene. Sie war eh schon verschnupft und dass es jetzt so laut war, passte der Dame gar nicht.

„Oooooch, mein Krümelchen“ lächelte Joey und ging an den Rand, wo sie in ihrem rosa Stubenwagen lag. Er nahm sie heraus und mit ein bisschen Schuckeln und Küssen wurde sie auch schnell wieder leise. Bei ihrem Papa war es doch am Schönsten. „Was wird denn eigentlich aus meiner Tochter?“ wollte er von den anderen wissen, während er ihr schon seine ersten Haare aus den kleinen Greifern fummelte. „Sie wird bestimmt mal Modell oder Superwoman.“

„Nicht ganz“ schmunzelte Balthasar. „Sie wird Straßenkünstlerin.“

„Wie?“ staunte er und sah seine verschnupfte Maus an. „Du wirst mal eine berühmte Künstlerin, Krümel.“

„Nein, nicht ganz“ musste Balthasar berichtigen. „Sie arbeitet in einem Hilfsprojekt, wo sie dem Ordnungsdienst der Stadt helfen. Und was sie dadurch einnehmen, dürfen sie behalten.“

„Oh, sie ist sozial engagiert“ freute er sich und setzte sich stolz mit der Kleinen auf den Stuhl. „Hast du gehört, Krümel? Du arbeitest in einem Hilfsprojekt. Du tust einen Dienst an der Menschheit.“

„Ähm ... nicht so wie du jetzt glaubst“ musste Sharesa vorsichtig einwenden. „Sie arbeitet als Teilnehmer des Hilfsprojektes. Es ist ein Projekt für ... für geistig behinderte Menschen.“

„Für ...?“ Das schockte ihn doch im ersten Moment. Keine große Künstlerin mit sozialem Hintergrund, sondern eine Behinderte? Er blickte herunter auf das blonde Bündel in seinen Armen, welches ihn mit ihren zwei verschiedenfarbigen Augen und dem süßen Silberblick groß anschielte. „Sie ist ...? Meine Kleine?“

„Das hattet ihr doch schon vermutet“ versuchte Noah ein bisschen zu trösten. „Sie ist doch so früh geboren und durch den Sauerstoffmangel ... daran liegt es doch, oder?“

„Ja, ein Geburtsfehler“ nickte Balthasar. „Aber nicht soooo schlimm, dass sie nichts mehr rallt. Sie ist nur ein bisschen langsamer als andere und etwas verplant. Aber sie sitzt jetzt nicht sabbernd in einer Ecke. Sie hat ganz eigene Talente. Sie kann kaum lesen oder rechnen, aber sie hat ein sehr gutes Auge für Größen und deren Symmetrie, obwohl sie nicht mal zusammenhängende Sätze schreiben kann. Die Ärzte meinten, es sei ein leichter Autismus.“

„Sie ist ein ganz toller Mensch“ erklärte Tato. „Sie hat Spaß, sie hat Freunde und einen Job. Und sie macht ihren Job wirklich gut. Sie nimmt sich diese fahrbaren Geräte für die Straßenmarkierungen und hat Freude daran, die Farbe zentimetergenau aufzutragen. Besonders die Doppelstreifen oder die Abbiegerpfeile haben es ihr angetan. Sie liebt die Genauigkeit und die ewigen Wiederholungen und sie ist kein bisschen traurig dabei. Eher im Gegenteil. Wenn wir irgendwo langfahren, dann zeigt sie stolz, dass sie diese oder jene Zeichen auf die Straße gemalt hat. Deswegen sagen wir, sie ist eine Straßenkünstlerin. Und das macht sie mit viel Spaß bei Wind und Wetter. Es gibt kaum jemanden, der so fröhlich bei der Arbeit ist. Sie ist ein ganz tolles Mädchen.“

„Asato liebt sein Püdelchen“ schmunzelte Balthasar. „Ständig werden sie für ein Paar gehalten. Sie darf bei ihm echt alles. Die einzige Frau, die unvertrieben sein Bett teilen darf.“

„Du nennst sie Püdelchen?“ schmunzelte Joey. Zwar war das natürlich ein Schock, wenn man hörte, dass die eigene Tochter in einem Hilfsprojekt die Streifen auf die Straße malte. Aber es tröstete ihn, dass ihr das anscheinend viel Spaß bereitete und vor allem, dass sie Tato offensichtlich so nahe stand.

„Nicht alles darf sie“ berichtigte Tato pikiert. „Eigentlich darf sie gar nichts.“

„Leidest du jetzt schon an Altersdemenz?“ lachte Balthasar. „Neulich hat sie dir Löckchen gemacht.“

„ALS ICH GESCHLAFEN HAB!“

„Das sah sooooo süß aus“ nahm er ihn weiter auf die Schippe. „Habt ihr schon mal einen Vierzigjährigen mit kleinen Löckchen ge ...?“

„ICH BIN 39! WANN KAPIERST DU ES ENDLICH?! 39!“

„Mach dir nichts draus“ lachte er. „Wir werden alle nicht jünger.“

„Und wenn du so weitermachst, wirst du nicht alt, Herr Pasrahcal-Taylor“ raunte er ihm dunkel zu.

„Wenn du dein großes Ziel erreichst, wirklich nicht“ schmunzelte der.

„Dein großes Ziel?“ fragte Phoenix erstaunt zu Tato hoch. „Davon hast du gar nichts erzählt, Asato. Du hast ein großes Ziel?“

„Ja! Und was für eines!“ prustete Balthasar. „Den Jungbrunnen finden.“

Einige lachten über den schlechten Witz, andere über Tatos Reaktion. Die bestand nämlich darin, dass man ihn fest schlucken hörte und sein Kopf hochrot wurde. Er hatte genau zwei Möglichkeiten. Schweigen oder ... etwas, was sehr schmerzhaft für einen von beiden werden würde.

„Meine Güte, man hört euch ja über den ganzen Flur!“ lachte Narla, die eben reinkam und ihre Schultasche neben die Tür stellte.

„Oh Gott!“ schmachtete Joey sie leuchtend an. Sah so aus, als würde er gleich zu sabbern anfangen.

„Was?“ guckte sie verwirrt und ging keinen Schritt weiter. Was war denn mit dem los so plötzlich?

„Oh je“ lächelte er sie an. „Hab ich dir schon mal gesagt, dass ich es liebe, wenn du diesen Rock anhast?“

„Doch nur, weil der ne Nummer zu klein ist“ raunte sie und gab ihm erst mal ein Begrüßungsküsschen, bevor sie sich zu Klein-Joey wand. „Über Mamas Hose hat der Papa nämlich heute Morgen Saft gegossen. Der Blödel.“

Das interessierte die Kleine aber herzlich wenig. In dieser gebeugten Position griff sie lieber an Narlas Busen und spuckte ihren Schnuller aus. Wurde auch Zeit, dass Mama kam. Immerhin schob man hier Zuhause Kohldampf!

„Das musst du von deinem Vater haben“ seufzte sie und nahm das Schätzchen auf den Arm. Und die ließ auch nicht von dieser einen Stelle ab. Hunger, bitte!

„Woher willst du denn wissen, wie ich als Baby war?“

Ein lautes „Ach, Joey!“ ging durch den Raum und die einen klatschten sich an den Kopf, die anderen brachen über dem Tisch zusammen. Der rallte auch echt gar nichts.

„Was denn?“

„Willst du gar nicht wissen, warum ich so früh Zuhause bin?“ fragte sie, hatte schon ihre Bluse geöffnet und das Baby an sich kleben, bevor sie sich überhaupt setzen konnte. „Oh, sorry“ fiel ihr da noch ein. „Isst noch wer?“

„Stört mich nicht“ nuschelte Seto mit einem Bissen im Hals. Eigentlich wurde nicht gestillt, wenn andere noch beim Essen waren. Aber Seto verdarb das eigentlich nicht den Appetit. Da wären andere Sachen ekliger ... aber er gab sich schon Mühe, nicht auf Yamis Teller zu sehen. Wo das Nutella herkam, wusste er ... jedoch die Herkunft der Heringe konnte er sich nicht spontan erklären.

„Doch. Sag mal, Schatz“ meinte Joey und zog ihr mit dem Fuß einen Stuhl heran, damit sie sich auch neben ihn setzen konnte.

„Na, dann denk mal scharf nach, Mister“ funkelte sie zurück.

„Weil ...“ Und ihm wurde von diesem feurigen Funkeln ganz mulmig um den Magen herum. „Weil du mich liebst und mich vermisst hast?“

„Nope“ erwiderte sie und sah ihn weiter dunkel an. „Hast du daran gedacht, das Paket mit dem Mobile abzuholen?“

„Ähm ... jaaaaa“ log er. „Aber das ... ähm ...“

„Die haben mich nämlich auf dem Handy angerufen“ erzählte sie den anderen. „Und damit sie es nicht wieder zurückschicken, musste ich es selbst abholen. Was für ein Glück, dass ich nach der Stunde noch rechtzeitig die Bahn bekommen hab.“

„Aber die Kleine hat doch Schnupfen“ bat er um Vergebung. „Da muss ich sie doch nicht unbedingt mit in die Kälte schleifen.“

„Und deswegen MEIN Mobile zurückgehen lassen?“ raunte sie und irgendwie hörte sie sich doch ein bisschen an wie Seth, wenn der beleidigt war. „Das war das Letzte. Weißt du eigentlich, wie viel ich bei Ebay bezahlen musste, um das noch zu kriegen?“

„Ja, weiß ich“ lächelte er. „Ich hab’s ja schließlich bezahlt.“

„Soll das eine Anspielung sein, Joseph Jay?“ Konnte eine stillende Mutter ernsthaft so böse gucken? „Wenn du mir schon ein Baby machst, kannst du mir ruhig mal was Schönes kaufen und das dann auch von der Post abholen.“

„Du hättest es auch neu zustellen lassen können.“

„Muss ich denn alles selbst machen? Schule, Baby UND einkaufen, während der Herr seinen freien Tag genießt?“ Und beleidigt setzte sie sich dann auch endlich auf ihren Stuhl.

„Vergebung, Meisterin“ heulte er und schmiegte seinen Kopf an ihren Arm. „Es wird nie wieder vorkommen.“

„Das hoffe ich doch“ murmelte sie und schubste ihn spielerisch weg. „Zur Entschuldigung könntest du mich wenigstens mal küssen.“

„Ich mache sogar noch viel mehr für dich, oh Herrin“ schmunzelte er und drückte ihr einen Kuss auf. Und noch einen. Und beim dritten waren sie dann auch untrennbar versöhnt.

„Hast du das Paket denn jetzt abgeholt?“ wollte Yami dann trotzdem noch wissen.

„Natürlich. Selbst ist die Frau“ meinte Narla, als sie Joey wieder aus seiner Buße entließ. „Außerdem war das Projekt eh langweilig.“

„Pflanzenkunde ist doch nicht langweilig“ verbat Noah sich diesen Kommentar und blickte von seiner Zeitung auf. „Ich wünschte, ich hätte das damals in der Schule als Projekt gehabt.“

„Ich wäre lieber zur Sport-AG gegangen“ war ihre Meinung. „Die haben Basketball gespielt.“

„Aber du darfst noch nicht wieder so viel Sport machen“ ermahnte Joey.

„Das wäre kein wirklicher Sport gewesen, oder?“ lachte Sharesa. „Narla ist doch so groß, die braucht nicht mal springen, um den Korb zu erreichen.“

„Eben drum“ musste die ebenfalls lachend zustimmen. „Volleyball wäre auch noch okay gewesen.“

„Kannst ja mal mit Seto und Tato spielen“ schlug Nika vor. „Da hast du echte Gegner.“ Denn die waren mit Abstand noch größer.

„Au ja! Wir machen ein Volleyball-Turnier!“ jubelte Yami. „Alle gegen alle!“

„Und Yugi passt dann auf die Kleinen auf“ lachte Joey ... aber als Einziger. Denn so lustig war das nicht, zumal Yugi einen etwas gekränkten Blick über den Tisch warf und Seto zwar zum Schimpfen angesetzt, aber einen großen Krümel aus dem Mund verloren hatte, den er erst mal aufsammeln musste, während Risa auf seinem Schoß den Finger in sein Nutellabrötchen bohrte und davon naschte.

„Mach dir nichts draus, Yugi“ versuchte Phoenix mit leiser Stimme zu trösten. „Ich kann auch nicht so gut Sport machen. Wir können ja was anderes zusammen machen.“

„Ja, das machen wir.“ Yugi hätte Joey zwar lieber im Volleyball geschlagen, aber dieses vorsichtige Angebot war doch mehr wert. Auch, wenn das wohl eher nur ein Scherz mit dem Turnier war, bot der Spatz ihm doch seine Gesellschaft an. Und dass es bei ihm sonst wohl etwas dauerte bis er aus sich herauskam, ehrte Yugi damit umso mehr. Anscheinend hatte er mit dem kleinen Gespräch neulich doch ein wenig Vertrauen erreicht. „Zu was hättest du denn Lust?“

„Ich weiß nicht“ überlegte er und sah ihn scheu an. „Du kannst doch gut kochen und kennst dich mit Lebensmitteln aus, oder?“

„Ja?“ lächelte er sanft zurück. „Hast du da an was Bestimmtes gedacht?“

„Ich dachte mir ... vielleicht können wir ... wir könnten ... ach, vergiss es!“ Rückzug. Dazu hatte er keinen Mut.

„Doch, sag es ihm, Spatz“ baute Balthasar ihn lieb auf. „Sag, was dein Traum ist.“

„Du hast einen Traum?“ wollte Yugi interessiert wissen. „Los, sag mal.“

„Aber nicht lachen“ bat er und sah scheu in die Runde, um sich zu versichern, dass auch bestimmt keiner lachte.

„Erzähl es, Spatz“ drängelte sein Bruder. „Es ist ein schöner Traum.“

„Ich möchte mal ...“ sagte er leise. „Ich möchte mal Käsemacher werden.“

„Käsemacher?!“ Eigentlich wollte Joey sofort anfangen zu lachen, aber da er zeitgleich böse und mahnende Blicke von Seto UND Tato bekam, blieb ihm das im Halse stecken.

„Das ist wirklich ein schöner Traum, Schatz“ bekräftigte Marie ihn und nickte auf seinen scheuen Blick hin. „Wirklich. Ich glaube, Käse herzustellen, ist gar nicht so einfach. Magst du denn gern Käse?“

„Ja“ erzählte er fast unhörbar. „Ich mag gern Käse. Ich möchte mal ... Ziegen und Schafe haben und aus der Milch Käse machen. Mit Bertas Milch hab ich es schon mal geschafft, aber ich muss noch üben, damit er gut wird.“

„Berta?“ fragte sie fröhlich. „Wer ist denn Berta?“

„Setos Kuh.“

„Nee, echt?“ Jetzt fiel Tristan aber gleich vom Stuhl. „Seto hat sich ne Kuh gekauft?“

„Berta ist schon die zweite“ erzählte Sharesa. „Sie ist das Kälbchen von Heidi gewesen und steht jetzt in unserem Garten.“

„Ich wollte schon immer ne Kuh haben!“ freute Seto sich und sah Yugi begeistert an.

„Ich weiß“ schmunzelte der. Früher, als Seto noch klein war, hatte er häufig davon gesprochen, eine Kuh haben zu wollen. Aber er wollte ja auch eine hübsche Frau in einem tollen Kleid und ihr einen Kochtopf schenken. Doch die Kuh war damals kurz vor seiner Erkrankung noch mal aktuell geworden ... genauso wie seine Hochzeitspläne. Nur hatte er bis heute diesen Traum nicht so in die Tat umgesetzt wie den anderen.

„Wollen wir nicht jetzt schon ...?“

„Nein, Seto!“ intervenierte Noah aber SOFORT! Am besten noch bevor Seto seinen Gedanken ganz zuende brachte. „Nicht solange ich meinen Rasen beschützen kann.“

„Lass dir keinen Deal mit ner Weide vorschlagen“ riet Sharesa. „Heidi hat damals immer den Zaun durchbrochen. Seto sperrt seine Kühe eher schlecht als recht ein.“

„Umso weniger kriegst du eine“ beschloss er fest. Seinen schönen, preisgekrönten Pflanzen zuliebe. „Yugi, sag ihm, dass er keine Kuh bekommt.“

„Sorry, mach das mit ihm selbst aus“ lachte der. Er würde sich Setos Träumen sicher nicht in den Weg stellen.

„Wie wäre es mit einem Spiel?“ schlug Seto vor. „Wer im Volleyball gewinnt, darf ne Kuh haben.“

„Schlau, aber nicht schlau genug“ schüttelte Noah den Kopf. „Und wenn ich gewinne, kriege ich ne Kuh? Seto, ehrlich. Da müssen wir noch mal drüber sprechen. Ich bin nicht dafür, dass du ...“
 

Aber er stoppte. Nicht weil er nicht weiter seine Pflanzen verteidigen wollte, sondern weil er ebenso wie einige andere, Stimmen auf dem Flur hörte.

„Was ist?“ fragte Mokuba, aber

„Pscht“ machte Noah nur und spitzte mit den anderen zusammen seine Ohren. „Da war doch eben was oder hab ich mir das eingebildet?“

Sie warteten nur zwei Sekunden, da hörte man ein klares Lachen.
 

„Ha, nein! Quatsch! Glaub ich nicht.“

„Wetten? Ich hab’s gesehen. In der Dose und zwar in der grünen.“

„Unsinn!“

„Doch, echt! Nando, Mann! Hast du da jemals reingeguckt? Die ist doch schon uralt.“

„Ja, aber doch nicht soooo alt.“
 

„Da unterhält sich jemand“ stellte Mokeph treffend fest.

„Und die kommen her“ stimmte Mokuba zu. „Da laufen doch zwei Männer auf unserem Flur rum.“

„Ich glaube, die Stimmen kennen wir“ kündigte Balthasar mit einem erfreuten Lächeln an, auf welches die anderen nur ebenso schmunzelnd nickten.

„Stimmt!“ Da waren sie auch schon da. Zwei Männer standen in der Tür.

Der eine war etwas kleiner, hatte dunkel gebräunte Haut und schwarzes Haar. Seine Augen glänzten tiefbraun. Er war von schlanker, nicht gerade riesiger Statur und geschätzt etwa Ende 20, Anfang 30. Der andere neben ihm war ein paar Zentimeter größer und sah aus wie Joeys Doppelgänger. Nur, dass seine Nase ein Stück stupsiger war und seine Augen leicht grün. Aber selbst das strohblonde Strubbelhaar, das ungebügelte Shirt und die abgetragenen Turnschuhe waren gleich. Das könnte sein Zwilling sein.

„Eure Taschen dürft ihr selbst hoch tragen.“ Hinter ihnen tauchte sogar noch ein dritter Mann auf. Der schien noch ein wenig älter als die beiden. Er war etwa so groß wie der zweite Joey, etwas größer vielleicht noch, trug langes, kohlrabenschwarzes Haar zu einem strengen Zopf gebunden, was seine katzenhaften, schwarzen Augen betonte und er war von sehr schlanker, hoher Statur. Fast ein bisschen arg schlank mit einem schmalen, blassen Gesicht. Doch diese Statur schien zu ihm zu gehören und nicht angehungert. Auch wenn ihm etwas mehr auf den Rippen sicher gut tun würde. Groß und dünn mit tiefen Augen ... obwohl er kein Schönling war, umgab ihn doch eine dunkle, geheimnisvolle Aura. Faszinierend und ein doch wenig schauderhaft.

„Sag doch erst mal höflich hallo, bevor du hier rumstöhnst“ meinte der kleinere Dunkle.

„Das muss ich mir nicht sagen lassen“ zeigte der geheimnisvolle Dünne auf die zwei und sah gezielt Tato an. „Wärst du so gut und bringst denen mal Respekt vor dem Alter bei?“

„Komm, so alt bist du doch auch nicht“ grummelte Tato.

„Stimmt. Immerhin erst 37“ lachte Balthasar. „Dakar ist von den 40 noch weit entfernt. Was man von dir ja nicht ...“

„Und bevor die beiden sich schon wieder in die Haare kriegen, stellen wir uns kurz selbst vor, ja?“ lachte der Joey-Verschnitt die versammelte Runde an.

„Jetzt erzähl mir nicht, du bist mein Yami“ guckte Joey ihn an. Woher denn sonst die Ähnlichkeit?

„Höh?“ guckte der zurück. „Ähm, nee. Ich bin dein Sohn, Alter.“

„MEIN WAS?!“ Er hatte doch gerade mal eine Tochter! Ein frisches Baby. An ein zweites Kind hatte er noch lange nicht gedacht.

„Das ist Jonny“ stellte Sharesa freundlich vor. „Joseph Jonathan Wheeler. Aber der Name Joey ist ja von seiner großen Schwester blockiert. Jonny eben.”

„Krass! Du heißt genau wie mein Vater!“

„Ich hab mir das nicht ausgesucht“ lachte Jonny. „Ich hoffe, du freust dich, mich kennen zu lernen!“

„Ja, klar! Boah! Krass, Alter!“ Und einfach so sprang er auf, schloss seinen zukünftigen Sohn in die Arme und knuddelte ihn. Die zwei mussten jetzt wohl im gleichen Alter sein, was die Ähnlichkeit nur noch eher verblüffend werden ließ. Vom Sprachschatz mal ganz abzusehen. Hilfe, jetzt hatten sie zwei Joeys! „Guck mal, Schatz!“ strahlte er Narla an. „Wir haben plötzlich zwei Kinder.“

„Ähm ... nee“ versuchte Balthasar vorsichtig einzuwenden, bevor Narla ihm auch noch um den Hals fiel. „Jonny ist von dir und Sara.“

Während Narlas Mine versteinerte, fiel Joey alles auch dem Gesicht. Er und Sara? Aber er war doch schon seit Jahren nicht mehr mit ihr zusammen! Er liebte doch Narla! An Sara hatte er nicht mal mehr einen Gedanken vertan! Aber bei den grünen Augen hätte er eigentlich fast selbst drauf kommen müssen ... auf diese doch eher abwegig klingende Idee.

„Hat eure veränderte Zukunft auch ne veränderte Vergangenheit?“ fragte Joey doch ziemlich verunsichert und ließ seinen Sohn auch vorsichtshalber aus seinem Schwitzkasten raus.

„Nicht wirklich“ versuchte der behutsam zu erklären. „Du und Narla, ihr habt euch getrennt. Deshalb.“

„Aber ich bin schon ewig nicht mehr mit Sara zusammen!“ erklärte er und sah Narla mehr als flehend an. „Wirklich! Da läuft nichts.“

„Ja, jetzt noch nicht“ antwortete sie und nabelte lieber das Baby ab. Mit blanken Brüsten dem Sohn ihres Geliebten zu begegnen war doch etwas bloßstellend.

„Sorry“ erbrachte Jonny mit leiserer Stimme. „Ich wollte hier jetzt nix kaputtmachen oder so.“

„Ach was, du machst nichts kaputt.“ Und Narla nahm es dann scheinbar doch ganz gefasst auf. Sie reichte ihm sogar die Hand. „Du kannst ja nichts dafür. Schon okay. Wer weiß, was die Zukunft bringt?“

„Na ja, wir zumindest wissen das“ lächelte er und nahm nicht die Hand, sondern gleich die ganze Narla, um sie zu knuddeln. Sie musste auch ein bisschen lachen als er sie so fest an sich drückte und dann dem Baby über die Nase strich. „Na, große Schwester? Was los bei dir? Schon komisch, dass du so klein bist.“

„Aaaaaaah!“ quietschte sie begeistert und schon hatte sie wundervolles, blondes Haar in den Krallen. Anscheinend verwechselte sie da ihren Bruder mit ihrem Papa.

„Wie alt bist du denn jetzt?“ wollte Joey noch immer etwas blass erfahren.

„27“ antwortete er fröhlich und half Narla, die kleinen Zangen zu lösen. „Soll ich dir noch erzählen, was ich so mache? Also ...“

„Bitte verschone uns“ seufzte Tato und sank sichtbar in sich zusammen. Wenn Jonny erst mal anfing zu reden ...

„Hast du ihn schon wieder geärgert, Mann?“ grinste Jonny zu Balthasar rüber und konnte sich endlich wieder aufrichten, musste aber noch einen Moment das Patschehändchen seiner schielenden Schwester halten.

„Ich wusste ja nicht, dass du das selbst machen willst“ scherzte der zurück.

„Seid nicht immer so gemein zu Asato“ bat Phoenix mit trockenem Ernst. „Ihr wisst doch, dass er sonst brummig wird.“

„Ach, Phoenix!“ heulte Tato und sank gänzlich auf seinem Stuhl zusammen. Musste der jetzt auch noch auf ihm rumhacken? „Und ich hab dich für meinen einzigen Freund gehalten ...“

Aber bevor der seinen so niedlich verwirrten Gesichtsausdruck noch ganz abgewischt hatte, löcherte Yami schon weiter.

„Und wer seid ihr?“ guckte er die beiden Schwarzhaarigen an.

„Ich bin Fernando Taylor“ nickte der Kleinere von beiden. „Ich komme aus Spanien, bin 34 Jahre alt und Lehrer an einer Fremdsprachenschule.“

„Taylor? Dann gehörst du zu uns, oder?“ fragte Nika vorsichtig. „Bist du unser Sohn, oder ...?“

„Nicht direkt“ lächelte er. „Eher der Schwiegersohn. Ich bin der Ehemann von Feli.“

„Ja, dann willkommen“ lächelte Tristan sichtlich überrascht. „Schön, dich kennen zu lernen ... Schwiegersohn.“

„Ebenfalls“ lachte er und blieb aber erst mal an der Tür stehen, weil die zwei da hinten ziemlich verkeilt zwischen den anderen saßen und eine Knuddeltour ziemlich umständlich gewesen wäre. „Ich drücke euch dann später kräftig, okay?“

„Aber Moment mal“ bemerkte Mokuba. „Wenn du jetzt 34 bist und Feli ist heute fünf Jahre alt ... dann ist sie ... sieben oder acht Jahre älter als du, wenn ich jetzt richtig gerechnet habe.“

„Macht nichts“ lächelte er. „Ich mag Frauen, die älter sind als ich. Deshalb hab ich ja auch ihren Namen angenommen. Sie wollte nämlich nicht unbedingt Castraciatasso heißen.“

„Sag das noch mal!“ bat Yami mit erstaunt offenem Mund.

„Castraciatasso“ lachte Fernando. „Ist ein Zungenbrecher, ich weiß.”

„Für einen Spanier sprichst du aber ziemlich gut unsere Sprache. Fast ohne Akzent“ war das, was Nika bemerkte. „Wo habt ihr euch denn kennen gelernt?“

„In Spanien“ erzählte er. „Erklärt hört sich das kompliziert an, aber eigentlich ist es ganz einfach. Feli hat ja noch eine Cousine in Spanien und die hatte damals einen Freund. Und dieser Freund hatte einen Freund und von diesem Freund der kleine Bruder - das bin ich. Als Feli auf Besuch bei ihrer Tante war, habe ich sie kennen gelernt. Zuerst hat sie mich keines Blickes gewürdigt, aber ich hab mich nicht abwimmeln lassen. Ich hab angefangen, ihre Sprache zu lernen und hab dafür dann extra eine Umschulung und ein Auslandsrefendariat in Domino gemacht. Eigentlich bin ich Lehrer für Spanisch, Englisch und Latein an allgemeinbildenden Schulen. Ist ne lange Geschichte, aber letztlich hat sie mich doch endlich erhört und geheiratet, anstatt mich als Stalker zu verklagen.“

„Na“ lächelte Nika. „Hört sich ja an, als hättest du sie dir ausgesucht.“

„War ein ziemliches Stück Arbeit. Ich hab zwei Jahre an ihr rumgebaggert bis sie mit mir ausging. Aber sie ist nun mal nicht leicht zu haben“ strahlte er. „Und eigentlich will ich auch lieber wieder nach Hause. Wir haben nämlich vor drei Monaten eine kleine Tochter bekommen. Nikita Gracia Taylor.“

„Wir sind Großeltern!“ lachte Nika und sah Tristan freudestrahlend an. „Hör mal an, Opa! Nikita Gracia heißt sie!“

„Ich bin baff“ gab er zu und sah Feli stolz an, die noch immer nur mit seinen Händen beschäftigt war. „Du wirst mal eine Mama, Flitzetässchen.“

Aber sie flüsterte nur ... „Babbi“ und war ganz woanders. An Kinder konnte sie derzeit noch nicht denken.

„Und du?“ wollte Noah von dem Letztverbliebenen wissen. Er schien mit 37, wie sie schon rausgefunden hatten, ebenso wie Tato wohl zu der etwas älteren Garde zu zählen, anstatt zu den jungen Wilden. „Rein rechnerisch, wenn du jetzt 37 bist, müsstest du bald gezeugt werden oder schon auf dem Weg sein.“

„Ich bin Dakar“ stellte er sich selbst mit ruhiger Stimme vor. „Ich hab den Namen Gardener angenommen.“

„Dann hast du eine meiner Töchter geheiratet?“ fragte Mokeph ins Blaue hinein. Auch wenn man schon raushörte, dass ihm was komisch vorkam. Diese schwarzen Augen ... dieser Dakar hatte kohlschwarze Augen. Auch wenn er sonst nicht so aussah wie ein Moki, hatte er schwarze Augen und eine helle, fast weiße Haut. Und dieses tiefschwarze Haar, auch wenn seines glatt war.

„Nein“ antwortete er ruhig. „Tea ist meine Mama und ich liebe sie sehr. Sie hat mich adoptiert, als es mir schlecht ging. Ich habe ihr viel zu verdanken.“

„Und Mokeph?“ fragte Noah verwundert. „Hat er dich nicht adoptiert? Oder ist Tea mit jemand anderem zusammen?“

„Nein, sie ist noch immer mit Mokeph, meinem Papa, verheiratet“ nickte er. „Das ist alles eine sehr lange Geschichte. Wir können sie vielleicht später erzählen.“

„Na, dann aber auch erst mal willkommen, mein Kind“ lächelte Tea und sie brauchte nicht mal aufstehen, da beugte er sich zu ihr herab und nahm sie in den Arm. Er war zwar auch älter als sie, aber seine Umarmung sah schon so aus als würde sie ihm viel bedeuten. So voller Liebe und doch auch respektvoll. Er schien sie sehr zu schätzen. Auf Händen zu tragen fast.

Mokeph wollte auch eben aufstehen und ihn persönlich begrüßen, als die Riege der Neuen offensichtlich noch nicht ausgeschöpft war.

Mit einem gellenden Schrei schwirrte etwas knapp unter seiner Nase vorbei, so dicht, dass er noch den Luftzug spüren konnte. Es war blitzschnell und so laut, dass fast alle zusammenschraken. So ein spitzer Ton, dass es ein Wunder wäre, wenn kein Glas zu Bruch ginge. Ein kleiner, schneller Schatten tobte um die Lampe über dem Esstisch und landete dann mit einem lauten Flattern auf Tatos Schulter.

Staunen! Ein kleiner Falke. Ein sehr kleiner, sah beinahe noch aus wie ein Jungtier. Er war dunkelbraun und trug Sprenkeln überall auf seinem Bauch. Seine Augen groß und dunkel, sein Schnabel etwas kleiner, aber seine Krallen waren nicht zu verachten. Ein kleiner Falke, ganz eindeutig. Auch wenn er fliegen konnte wie eine Schwalbe.

„Muss der immer so schreien?“ stöhnte Jonny und fasst sich ans Herz. „Ich kriege jedes Mal einen Schock.“

„Du bist nur zu weich besaitet, du Memme“ murrte Tato und kraulte dem kleinen Federmann seinen hellbraunen Schnabel.

„Ich hab mich aber auch erschrocken“ meinte Noah. „Ist das dein Falke?“

„Sieht so aus, oder?“ antwortete Tato. Natürlich war das seiner. Wessen denn sonst? Also wirklich blöde Frage.

„Gott, ist der süß“ strahlte Marie den Kleinen an. „Wie alt ist er denn?“

„24.“ Und die Antwort war doch etwas erstaunlich.

„Der Kleine da?“ zeigte Joey noch mal, um sicher zu gehen. „Der ist doch noch fast ein Baby!“

„Er ist vielleicht klein, aber er ist kein Baby mehr“ verteidigte Tato den armen Unterschätzten.

„Ist das eine besondere Art? Vielleicht ein Zwergfalke?“ wollte Mokuba neugierig wissen.

„Nein, er ist einfach nur klein“ erwiderte er ruhig. „Als ich 16 geworden bin, hat Mama mich zu einem Falkner mitgenommen. Eigentlich wollte ich keinen Falken haben, aber er hat darauf bestanden, dass ich wenigstens mal schauen gehe. Eigentlich fand ich die Vögel da alle doof, aber er hier war was Besonderes“ lächelte er stolz und kraulte dem Kleinen sein aufgeplustertes Brüstchen. „Ich hab ihn durch Zufall gesehen, als wir rausgingen. Er war in einer Transportbox eingesperrt, weil er an einen Zoo verkauft werden sollte. Zum Jagen taugte er nicht viel. Er saß immer nur da und hat sich nicht mal bewegt. Der Falkner konnte machen, was er wollte. Aber sobald man ihn losband, versuchte er so weit wegzufliegen wie möglich. Arbeiten konnte man mit ihm nicht. Und zum Züchten ist er zu klein.“

„Aber er scheint doch ganz gut zutraulich zu sein“ meinte Narla.

„Wie der Priester so sein Falke“ schmunzelte Yami. „Tato macht ja auch nur, was ihm passt. Wie heißt er denn?“

„Laertes“ antwortete er.

„Laertes“ lächelte Yugi. „Wie der Freund von Prinz Hamlet?“

„Ich fand schon immer, dass Laertes eine tragende Rolle im Stück zukommt“ war seine feste Antwort. „Letztlich ist er zwar demselben Unglück zugefallen, wie der Prinz, aber letztlich nur, weil er seine Schwester rächen wollte. Irgendwie konnte ich mich immer mit ihm identifizieren.“ **Ich kann es nur immer wieder empfehlen, Leute. Lest Hamlet oder schaut euch einen Film an. Das ist ein Meisterwerk!!! Obwohl ich Horatio immer am liebsten mochte. ^^**

„Du hast die Hamlet-Sammlung von Seto und Yugi gefressen“ lachte Yami.

„Jedes Kind ist das Produkt seiner Erziehung“ grummelte Tato. Was konnte er dafür, dass er vorgeprägt war?

„Und Laertes ist gut erzogen?“ fragte Noah skeptisch. Wie der eben hier durch die Küche flitzte, machte einen eher wilden Eindruck.

„Er weiß, was sich gehört“ versicherte Tato. „Er versucht zwar manchmal größer zu sein, als er ist, besonders wenn er andere Vögel sieht, aber er weiß auch, was er kann.“

„Nämlich?“ Über Laertes schien Prinz Asato ja gern zu sprechen. Ja, er schien direkt stolz auf ihn zu sein.

„Er ist der beste Flieger“ erzählte Phoenix, als Tato nichts weiter sagte. „Er kann jeden Sturm durchfliegen und durch die engsten Spalten sausen. Weil er so klein ist, erreicht er viel höhere Geschwindigkeiten und der Wind trägt ihn leichter, reißt ihn aber nicht um. Manchmal nennen wir ihn Stormy, wenn er bei Orkanwarnung die ganze Nacht nicht nach Hause kommt.“

„Spatz ist vernarrt in Laertes“ erzählte Balthasar. „Er ist nicht so schwer und schön klein. Deshalb kann er gut auf seiner Schulter sitzen.“

„Und er gurgelt so niedlich. Als würde er singen“ lächelte er den kleinen Falkenmann an. „Laertes, sing doch mal.“

„Gurr?“ Der schaute zwar zu ihm auf, hatte aber gerade nicht zugehört. Wie denn auch, wenn man so schön gekrault wurde?

„Brrr brrr brrr“ machte Phoenix mit seiner hellen Stimme.

„Brrr brrr brrr“ machte Laertes es ihm nach. Er plusterte sich auf und plätscherte wie ein pfeifender Wasserhahn. „Brruurr brruurr rraaarrraaa rrraaaaaaaarrrrr brrrrrr ...“ Es klang wirklich als würde er singen. Obwohl Falken sonst eher kreischten oder pfiffen und manchmal vielleicht gurrähnliche Laute von sich gaben, konnte er richtig zwitschern. Vielleicht nicht unbedingt schön im Vergleich zu einer Nachtigall, aber es hörte sich niedlich an.

„Bring ihm nicht so einen Quatsch bei“ grummelte Tato und hielt dem Kleinen seinen Schnabel zu. Sofort wurde er wieder ganz dünn und machte große Augen, sah seinen Herren fragend an. Nicht singen jetzt? „Genau. Leise sein“ erklärte er mahnend.

„Brrrrrrrrrr ...“

„N e i n“ sprach er gaaaaanz langsam. „Laertes, leise.“

Da war der Kleine auch ruhig und schüttelte seinen Kopf frei. Echt, nichts durfte man hier!

„Lass ihn doch“ lächelte Tea. „Klingt doch niedlich.“

„Nee, lass mal lieber, Mama“ meinte Sharesa. „Wenn er erst mal anfängt, singt er sich so fest, dass er nicht mehr aufhört. Dann kannst du ihn nur noch aus dem Fenster werfen.“

„Du bist immer so grausam, Shari“ lachte Jonny.

„Na ja, deinen Vogel kann man ja leider gar nicht rauswerfen. Der ist festgewachsen.“

„Danke, Asato“ muckschte er sofort beleidigt. „Kannst du nicht e i n M a l was Nettes zu mir sagen?“

„Nein.“ Das war doch ne klare Antwort.

„Immer diese altkluge Arroganz“ hackte Balthasar auch wieder rein. „Was man gut, dass wir noch nicht 40 sind. Was, Jonny?“

„Grrrrrrrr ...“ Sollte er dazu wirklich noch was sagen?

„Grrrrrrrr ...“ machte Laertes ihn sofort nach.

„Sei ruhig“ raunte Tato ihn an. „Du bist kein Papagei.“

„Ihr seid süß“ lächelte Yugi. „Ich mag Laertes. Er passt gut zu dir.“

„Der würde ja mehr zu dir passen“ lachte Joey. „Die richtige Größe hätte er ja.“

„Joseph“ sprach Seto ganz langsam und besonders klar mit seinem drohend vibrierenden Ton. „Noch einen Spruch und wir gehen vor die Tür.“ Das war schon Seitenhieb Nummer zwei heute Morgen. Bei sich selbst hatte Seto ja noch Geduld, aber wenn es um Yugi ging ... da war seine Toleranzschwelle sehr niedrig.

„Ah, Gassi gehen“ lachte Jonny. „Was ist, Papa? Soll ich deine Leine holen?“

„Ich hab sogar eine“ meldete Yami sich. „Wollt ihr auch ein Geschirr dazu haben? Das ist feinstes Leder und kratzt kein bisschen auf der Haut.“

„Ich glaube, Jonny meinte da was anderes“ vermutete Noah. Yamis Fesselausstattung würde doch wohl hoffentlich nicht in aller Öffentlichkeit ausgepackt werden.

„Also, wenn ihr eins braucht“ sagte er fest zu. „Dann fragt einfach. Aber Wiedersehen macht Freude.“

„Auch, wenn man sich noch gar nicht gesehen hat?“ fragte Fernando und war einen Schritt zurückgetreten, um auf den Flur zu sehen. „Ich glaube, jetzt sind wir komplett.“

„Oh je“ schaute Tristan beunruhigt. „Wie viele kommen denn noch von euch? Wir haben ja jetzt schon nicht mehr genug Stühle.“

„Nur noch zwei von uns“ gab er zur Antwort und winkte hinaus, um anzuzeigen, wo sie waren. „Hier sind wir. Kommst du heute noch an?“

„Oh Mann“ fasste Jonny sich an die Stirn. „Der ist so langsam.“

„Wer?“ wollte Mokuba wissen.

„Na, Sethan“ antwortete er. „Mit dem irgendwo hingehen, macht keinen Spaß. Ständig bleibt er stehen und muss sich irgendwas angucken. Neulich hat er fünf Minuten lang einen Briefkasten angeguckt. Total gaga.“

„Er ist nun mal etwas anders“ meinte Sharesa. „Lass ihn doch.“

„Wir müssen ihn ja auch lassen“ gab Balthasar als Erklärung ab. „Zum Weiterschleifen ist er nämlich leider zu schwer. Du kannst ihn höchstens schubsen.“

War das wirklich der große König, der Herrscher über alle Macht, über welchen sie hier so flapsig sprachen? Er wurde als mächtigste Geburt aller Zeiten anorakelt und dann schubsten sie ihn? Wobei ... das war ebenso abwegig wie ein Pharao, der zum Frühstück Gewürzgurken mit Zimt aß. Nämlich leider gar absolut real.

„Mann“ seufzte Joey. „Müssen denn immer alle mächtigen Leute eine Macke haben?“

„Nur Yugi nicht“ meinte Seto ernst. „Yugi ist perfekt.“

„Möchtest du diese Äußerung noch mal überdenken?“ grinste Yami. „Mir fallen da so einige Sachen bei Yugi ein, die man durchaus als Macke bezeichnen könnte.“

„Nein“ war seine feste Meinung. „Yugi ist nicht so ein Spinner wie du.“

„Und was ist hiermit?“ Yamis Gesicht wurde ganz traurig, seine Augen feucht und kurz kniff er sich noch in die Wangen, damit sie schön rot wurden. So sah er binnen Sekunden aus wie ein ausgesetztes Häschen. „Oh, Liebling ...“

„LASS DAS!“ schimpfte Seto, der aber ganz real rot im Gesicht wurde. Das war fies. Mit diesem Puppyblick würde Yugi alles von ihm kriegen. Er konnte so unschuldig aussehen ... mit Betonung auf ‚aussehen’, denn das kleine Monster war alles andere als unschuldig.

„Okay, mein Hikari kann das besser“ lachte er. „Yugi, mach doch mal den Yu-chan.“

„Später vielleicht“ lachte er und musste Seto beruhigend das Händchen tätscheln, damit er nicht irgendwelche Sachen nach Yami warf. Ihn so auf die Schippe zu nehmen, war aber auch gemein. Seto hatte nun mal ein weicheres Herz als man es ihm zutraute. Und bei großen, feuchten Augen wurde er ganz schnell schwach.

Ja, es stimmte also. Alle mächtigen Leute hatten eine Macke. Mindestens eine, meistens eher mehrere.

Kapitel 16 - 20

Chapter 16
 

„Guten Tag?“ Höflich blieb er erst mal im Türrahmen stehen, um nicht sofort reinzustürmen wie alle anderen.

Die anderen wandten sich um und eigentlich musste er sich nicht mal vorstellen. Man sah ihm an, dass er Ninis Sohn war. Sein Haar hatte dieselbe, goldene Farbe. Er trug es lang bis zu den Hüften und hatte sich nur den Pony zu einem kleinen Zopf nach hinten gebunden. Sein Gesicht war zwar männlich, aber seine weichen Wangenknochen, der große Mund und die schmale Nase gaben ihm einen Hauch Zartheit. Man sah ihm jedoch auch den Vater an. Er hatte schmale Hüften und einen kräftigen Oberkörper, lange Beine. Jedoch fehlte ihm die auffällig große Statur. Nini war ja auch nicht riesig und so schoss er ebenfalls nicht in die Höhe. Er wurde gezügelt zu einer normalen Größe. Er besaß Schönheit, ganz ohne Zweifel. Dennoch nicht so reiner Abstammung. Er war nicht nur der Sohn des Seth, sondern auch Ilanis Kind. Der erste, welcher Vater und Mutter gleichermaßen in sich vereinigte.

Das Intensivste, Auffälligste an ihm blieben jedoch seine Augen. Sie waren blau, tiefblau. Aber als würde vor ihm ein violettes Licht leuchten, spiegelte sich diese Farbe in ihnen wieder. Es war nicht greifbar, eher wie ein Schein. Ein leichter Schleier, den man darüber gelegt hatte. So eine Augenfarbe war fast unnatürlich.

Jedoch wurde sein glanzvolles Äußeres durch fast unpassend normale Kleidung gebändigt. Ein langärmliger, schwarzer Wollpullover mit breitem Kuschelkragen, eine hellgraue Jeans knapp über den weißen Turnschuhen. Ein ganz normaler, junger Mann.

„Was ist denn?“ lachte er die anderen an, die ihn nur bestaunten. „Kommen wir so ungelegen? Frühstückszeit ist doch schon durch, oder?“

„Du bist Sethan, oder?“ Typisch Yami. Wenn er was wissen wollte, dann fragte er einfach. Egal, wie blöde es klingen konnte.

„Und du bist Atemu“ lächelte er zurück. „Du hattest Recht. Du warst wirklich mal hübsch.“

„Warum? Bin ich später denn nicht mehr hübsch?“

„Doch, schon“ scherzte er im Gegenzug. „Aber nicht mehr so jung.“

„Ja ja“ grinste er. „Wie sagte Opa neulich so schön? Die Jugend ist an die Jungen verschwendet.“

„Irgendwas ist ja immer, oder?“ Ein wahres Wort. Er sah sich in der Runde um und schien wohl selbst nicht wirklich zu wissen, was er sagen konnte. Letztlich wussten alle, dass er nicht wegen eines kleinen Plausches zu Besuch gekommen war. Und dem mächtigsten aller jemals geborenen Wesen zu begegnen, war ja auch kein alltägliches Geschäft. Seine Aura war so verschlossen, dass man Angst hatte, wenn er sich erst öffnete. Wie ein Sturm, den man hinter Flüchen gebändigt hatte. Er schien so natürlich, dass man ihm diese Normalität nicht glauben konnte.

Das war er also. Der mächtigste aller Könige.

„Hast du jetzt alles geregelt, was du noch wolltest?“ wollte Tato nüchtern von ihm wissen.

„Ja, hab ich“ entgegnete er mit einem harmonischen Ton. „Danke, dass ihr so lange gewartet habt.“

„Schon gut“ winkte Jonny ab. „Wir sind’s ja gewohnt, auf dich zu warten.“

„Ich meinte eigentlich die anderen, die schon länger hier sind“ berichtigte er. „Gab’s irgendwas Aufregendes, was wir wissen sollten?“

„Wir sind ja erst ein paar Tage jetzt hier“ antwortete Balthasar.

„Wie hast du eigentlich entschieden, wen du mitnimmst und wen nicht?“ wollte Yugi von ihm wissen. „Das hab ich mich schon die ganze Zeit gefragt.“

„Ich hab alle mitgenommen, die uns helfen können und die wir in der Zukunft entbehren konnten“ war seine Antwort. „Die anderen sollten lieber Zuhause bleiben und sehen, dass die Welt nicht umkippt, während wir hier sind. Aber schön habt ihr es hier“ meinte er und blickte sich um. „Ich kenne das Haus sonst nur von Fotos. Schon merkwürdig durch die Räume zu laufen, die man sonst ganz anders kennt.“

„Man gewöhnt sich aber schnell daran“ tröstete Sharesa. „Also, ich fühle mich schon wie Zuhause.“

„Bist du ja auch“ lachte Jonny. „Wir sind alle Zuhause ... irgendwie.“

„Ja, schon merkwürdig“ lächelte Yugi. „Obwohl ich euch nicht alle kenne, kommt ihr mir persönlich gar nicht unbekannt vor. Als würden wir uns schon ewig kennen.“

„Ein schönes Gefühl, oder Opa?“ lächelte Sethan ebenso zurück. „Irgendwie beruhigend zu wissen, dass man über alle Zeiten hinweg zusammen gehört.“

„Moment mal!“ rief Yami aufgeregt. „Wie hast du ihn eben genannt?“

„Opa“ erwiderte Sethan belustigt. „Yugi und Seto sind für mich Opa und Oma.“

„OMA?!“ Seto kriegte gleich nen Koller. „Also ehrlich, das muss doch nicht sein! Müsst ihr mich immer ärgern?“ Und dass die anderen ihn auslachten, fand er auch nicht eben witzig. Mama war ja schon schlimm genug, aber dann auch noch Oma zu werden, sprengte doch den Rahmen.

„Zukünftig wirst du da nichts gegen haben, denke ich“ versuchte er sein Lachen zu unterdrücken. „Aber wenn es dich stört, nenne ich dich Seto. Oder Eraseus. Oder Pascal. Ganz wie du möchtest.“

„Nein, es stört ihn nicht“ beschloss Yugi und griff sich Setos Hand, bevor der noch protestieren konnte. „Es ist schön, dich kennen zu lernen, Sethan. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal meinem Enkel so jung gegenüberstehe.“

„Ich glaube, das hier hätte niemals jemand so für möglich gehalten“ meinte Mokuba ernst. „Wirklich, wir sind doch ziemlich abgedreht, oder?“

„Wir sind die Herrscherfamilie, Onkel Moki. Was erwartest du?“ berichtigte Tato ebenso ernst. „Denkst du etwa, jemand wie wir könnte normal leben? Das ist uns leider nicht vergönnt.“

„Dafür sind andere Dinge wie in jeder anderen Familie auch“ meinte Sharesa. „Nur eben, dass unsere Familie sich nicht auseinander lebt, sondern immer größer wird.“

„Das ist doch etwas Gutes“ wand Seto ein. „Eine große Familie, welche einander liebt und annimmt, bietet Sicherheit für das ganzes Leben. Wenn aus vielen Individuen ein großes Ganzes wird. Das ist etwas Wertvolles.“

„Und wir halten es alle in Ehren, Mama“ versprach Tato. „Auch die Jungen, die sich lossagen wollen und auch dürfen, kehren irgendwann immer wieder zurück. Letztlich weiß jeder, was er daran hat.“

„Und so wird es hoffentlich immer sein“ nickte Sethan abschließend und griff vorsichtig hinter sich. „Aber ich wollte euch doch noch jemand vorstellen, der sich da hinten herumdrückt.“

„Noch jemand?“ guckte Marie. „Mensch, jetzt wird’s echt voll. Gut, dass wir so viel Platz haben.“

„Nur Stühle müssen wir wohl noch ein paar einkaufen“ meinte Noah ernst. Mittlerweile kamen sie wirklich ernsthaft in Platznöte.

„Jetzt zeig dich doch“ ermutigte Sethan denjenigen, der hinter ihm stand. „Es beißt dich schon niemand, Schätzchen. Das sind doch dieselben Leute wie Zuhause.“

Etwas widerwillig weil zurückhaltend, kam hinter ihm ein junges Mädchen hervor. Und ihr sah man die Abstammung ebenfalls sofort an. Das konnte kein Irrtum sein. Sie hatte nussbraunes Haar und stechende, leuchtend blaue Augen. Ihre Haut war hell, ihre Wangen gerötet und auch wenn sie noch nicht ganz im Frauenalter war, sah man, dass sie einst sicher sehr hübsch werden würde. Sie war ja jetzt schon hübsch, auch wenn es eher eine niedliche Schönheit war. Ein wenig hatte sie Ähnlichkeit mit Narla, aber ihr fehlte das Wilde, das Ungestüme. Wenn Seto ein junges Mädchen gewesen wäre, hätte er sicher genau so ausgesehen. Sie war einfach zart.

Wenn also nicht alles täuschte, hatte der dunkle Seth sich zusätzlich noch eine Tochter gezeugt. Vielleicht wollte er es Rah nachmachen und ebenfalls ein Mädchen sein Eigen nennen. Warum auch immer ... man sah es in ihren tiefen Augen. Sie war ein Drache.

„Sag mal, spinnst du?“ Jetzt schrie Tato und stand so plötzlich auf, dass der kleine Laertes überrascht von seiner Schulter flatterte und sich bei Phoenix in Sicherheit brachte. „Ich hab dir gesagt, sie soll Zuhause bleiben!“

„Ich weiß“ antwortete Sethan selbst dann noch ruhig und gelassen als der viel größere Tatodrache schnaubend vor ihm stand. „Aber ich fand es wichtig, dass sie uns begleitet.“

„Das ist mir scheißegal! Treib es nicht zu weit, Sethan!“

„Ich ehre dich sehr. Das weißt du, Onkel Tato“ sprach er sanft. „Aber wer mit uns geht und wer nicht, entscheide ich. Du solltest sie nicht zu sehr einengen.“

„Du hast dich da rauszuhalten!“ Er war wirklich ernsthaft böse. Das hier war kein Spaß. Man hörte es in seiner Stimme, sah es in seinem wilden Blick. Er war anderer Meinung. Und Tato hasste es, wenn ihm was gegen den Strich ging.

„Nein, das habe ich nicht“ entgegnete Sethan dafür umso standfester. „Sari ist wichtig für uns und unser Ziel. Sie hat zugestimmt, uns zu begleiten und deshalb wird sie bleiben. Frag sie selbst.“

„Du kannst vielleicht über die ganze Erde bestimmen, aber meine Tochter gehört immer noch mir“ drohte er ihm und stach mit seinen Fingerspitzen warnend in Sethans Schulter. „Du findest einen Weg, sie zurückzubringen oder wir beide geraten ernsthaft aneinander.“

„Das kann ich nicht“ sagte er ihm ernst. „Sie ist wichtig und das weißt du auch. Sei vernünftig, Asato.“

„Was vernünftig ist und was nicht, kannst du nicht beurteilen“ zischte er ihm stinksauer zu. „Bring sie zurück. Sofort.“

„Nein.“ Und Sethan rückte davon nicht ab. „Du hast das mit meiner Mutter bereits diskutiert. Es ist unfair mir gegenüber, wenn du das jetzt wieder infrage stellst, was sie mir gestattet und dir geboten hat. Das ist sehr unfair.“

„Du bist vielleicht mächtiger als ich“ fauchte er mit blitzenden Augen. „Aber du hast keine Ahnung, wie unfair das Leben wirklich ist. Bring sie zurück.“ Und damit ihm seine Worte niemand mehr abstreiten konnte, drängte er durch die Tür und verschwand.

Während Tato sich wahrscheinlich erst mal irgendwo abregen musste, stand das junge Mädchen etwas unsicher da. Ihr Erscheinen hier war wohl schon länger umstritten. Und so knetete sie eher nervös den Saum ihres originellen Kleides als den Anschein zu machen, dass sie hier wichtig war.

„Das müssen wir jetzt nicht verstehen, oder?“ zeigte Yami dem davongedonnerten Drachen hinterher. Da schien wohl schon länger ein Konflikt zu schwelen, jedenfalls roch es stark danach.

„Dazu müsstet ihr erst Onkel Tatos Leben verstehen“ meinte Sethan. „Da liegt vieles, was er sich selbst nicht eingesteht.“

„Ich ... ich glaub ...“ Sie sprach ganz leise und zupfte zaghaft an Sethans Wollpullover. „Ich sollte lieber wieder nach Hause gehen.“

„Aber du bist doch Zuhause, Schätzchen“ tröstete er und sah zu ihr herunter. „Sieh mal, es sind alle da. Sogar Oma und Opa. Du hast doch gesagt, du wolltest sie so gern mal jung sehen.“

„Ich hab sie ja jetzt gesehen“ antwortete sie leise und sah schüchtern zu den beiden herüber, bevor sie ihren Blick senkte. „Jetzt muss ich lieber wieder nach Hause. Ich möchte Papa nicht traurig machen ... ich wusste, er wird böse, wenn ich hier bin ...“

„Unsinn, du weißt doch, wie er ist“ lächelte er sie fröhlich an. „Erst probt er einen riesigen Aufstand und hinterher redet er nicht mehr drüber. Tut er doch, oder? Erst der große Vulkanausbruch und dann Funkstille. Der ist doch’n Schizo.“ Da lächelte sie und hob schüchtern ihren Blick. Ja, ihren Papa kannte sie gut. Und sie wusste, dass er ziemlich aufbrausend sein konnte. „Außerdem ist Spatz doch auch hier“ tröstete er weiter. „Du hast ihm doch versprochen, dass du nachkommst.“

„Stimmt“ sprach auch der ihr ermutigend zu. „Du kannst mich hier doch nicht alleine lassen, Sari. Mit den ganzen Spinnern hier.“

„Wer ist hier ein Spinner, du Spinner?“ Anscheinend fühlte Jonny sich spontan angesprochen.

„Außerdem wollen wir dich auch gern kennen lernen.“ Yugi war aufgestanden und zu ihr rübergegangen. Er brauchte sich nicht mal herunterknien, da er ihr auch so in die Augen sehen konnte. Sie hatten in etwa dieselbe Höhe. „Hab ich das richtig verstanden, dass du meine Enkelin bist?“

„Ja“ antwortete sie höflich und ließ Sethan los, um sich ihm ganz zuzuwenden. „Ich heiße Sareth Muto. Guten Tag.“ Sie hielt ihm die Hand hin, als wäre er ein Fremder. Anscheinend wusste sie nicht ganz, wie sie sich verhalten sollte. Genau dieselbe auf Höflichkeit bedachte Art wie sie Seto als Kind auch hatte.

„Na, nicht so förmlich“ baute er sie auf und drückte ihr trotzdem die Hand, um sie nicht ganz dumm dastehen zu lassen. Jedoch nicht, ohne ihr einen kleinen Begrüßungskuss auf die Wange zu geben. „Und die anderen nennen dich, Sari? Ist das wegen deiner Kleidung?“

„Ja“ äußerte sie leise und strich sich vorsichtig über die Seiten. Das also war gar kein modischer Tick aus der Zukunft. Sie trug einen Sari wie die Frauen in Indien. Das Gewand war uralt, anstatt originell neu. Und die dunkelblaue Farbe stand ihr gut zu Gesicht, trotz der hellen Haut. „Onkel Noah mag das so gern. Ich wollte hübsch sein für ihn ...“

„Oh, du bist doch sehr hübsch“ lächelte Yugi und legte vorsichtig seinen Arm um das nervöse Mädchen. „Oder, Onkel Noah? Was meinst du? Ist sie hübsch?“

„Ja, natürlich. Wunderschön sogar“ strahlte er mit seinem verführerischsten Herzensbrecherlächeln. „Du hast das extra für mich angezogen?“

„Ja“ gestand sie leise. „Magst du es?“

„Natürlich.“ Das ehrte ihn doch sehr. Sie hatte sich also extra für ihn herausgeputzt? Anscheinend verstanden sie sich in der Zukunft wohl sehr gut miteinander. „Komm doch mal her, Liebes.“ Er streckte seine Arme aus und sie trat zaghaft an ihn heran. Aber sie sah, dass er sie wohl umarmen wollte und lächelte schüchtern zu Boden. Unangenehm würde ihr das also nicht sein. War es auch dann nicht, als er sie tatsächlich in die Arme schloss und liebevoll knuddelte.

„Du hattest Recht“ erzählte sie leise und sah ihn mit roten Wangen an.

„Was denn?“ lächelte er sanft zurück.

„Du riechst gut.“

„Dankeschön“ freute er sich. „Du riechst aber auch gut. Ist das Parfüm?“

„Nein, Badeschaum“ kicherte sie verlegen. „Ich darf doch noch kein Parfüm benutzen, Onkel Noah.“

„Darfst du nicht?“ staunte er. „Aber wie alt bist du denn?“

„Elf“ antwortete sie ganz klar. „In drei Wochen werde ich aber schon zwölf. Und wie alt bist du?“

„29“ gab auch er preis. „Aber ich hatte schon Geburtstag dieses Jahr.“

„Ja, im Februar. Du bist Wassermann.“ Das wusste sie dafür ganz genau. „Ich bin Jungfrau. Meerjungfrau sagt Ati immer. Das passt gut zusammen, oder?“

„Ja, sehr gut“ nickte er. „Onkel Moki ist Fisch. Hast du das gewusst?“

„Ja, wusste ich.“ Sie sah Mokuba an und lächelte ich. „Dann können wir drei zusammen schwimmen gehen.“

„Das können wir wohl“ strahlte er. „Welchen Monat habt ihr denn bei euch, wenn du in drei Wochen Geburtstag hast?“

„Wir haben August“ erzählte sie weiter. Sie schien jetzt langsam wohl aufzutauen, wo sie merkte, dass das hier keine anderen Menschen waren, als die, welche sie von Zuhause kannte. Alle waren genauso lieb. Und sie schien schneller mit der Situation warm zu werden als Phoenix, der noch immer recht leise war. „Wir haben gerade Opas Geburtstag gefeiert. Opa ist 55 geworden. Das ist eine Schnapszahl, weißt du?“

„Ja, stimmt“ nickte Noah. „Da muss Yugi ja einen ausgegeben haben.“

„Ja, stimmt“ nickte sie genauso zurück. „Es gab uralten Whiskey, der war seeeehr teuer hat Joseph gesagt. Aber die Kinder und Oma und Phoenix, wir haben dafür einen bunten Fruchtcocktail in einem großen Glas mit Schirmchen bekommen. Das war viel besser.“

„Na“ lachte er. Das war wohl auch besser, wenn Kinder keinen Alkohol bekamen. Und Seto durfte ja so oder so nicht.

„Weißt du auch, woher ich weiß, dass das besser war?“ flüsterte sie ihm verstohlen zu.

„Nein“ hauchte er zurück. „Sagst du es mir?“

„Ati hat mir sein Glas gegeben. Da war noch ein bisschen was drin. Aber ich musste husten, so eklig war das. Deswegen weiß ich, dass Alkohol nicht schmeckt.“

„Sari“ schmunzelte Balthasar. „Das hat jetzt jeder hier mitbekommen.“

„Was?!“ So leise hatte sie dann wohl doch nicht gesprochen. Zumal sie im Smalltalk mit dem geliebten Onkel ganz ausgeblendet hatte, dass ihr jeder zuhörte.

„Du hast also Schnaps getrunken, ja?“ grinste Jonny. „Soll ich mal bei Papa petzen gehen?“

„NEIN!“ winkte sie sofort hilflos. „Bloß nicht! Bitte nicht!“

„Ach, so schlimm wirst du schon keinen Ärger bekommen“ versuchte Mokuba sie zu beruhigen. „Aber wir sagen ihm auch nichts.“

„Ich glaube, du verstehst da was falsch“ lachte Balthasar. „Asato wird eher Ati zur Schnecke machen als seine Tochter. Der wird ihn wahrscheinlich durchs halbe Haus jagen.“

„Aber ich kann da doch gar nichts für“ meinte der verwundert. „Ich hab doch noch gar nichts getan. Außerdem ... nur mal nippen, kann doch nicht so schlimm sein. Außerdem HAB ich ja noch gar nichts gemacht!“

„Aber du wirst und das reicht schon“ schlussfolgerte auch Yugi. „Also beschließen wir, dass wir ihm nichts sagen, ja?“

„Besser ist das“ meinte Jonny. „Sonst kriegt er noch mit, dass Sari genau so’n Alki ist wie er selbst.“

„Jonathan“ warnte Sharesa ihn ernst und schüttelte den Kopf.

„Warum?“ fragte Yugi, der da doch sofort was roch. Anscheinend hatte Jonny dasselbe Talent wie sein Vater - nämlich Geheimnisse unbemerkt auszuplaudern und damit trittsicher jeden Fettnapf zu treffen. „Tato hat doch hoffentlich keine Alkoholprobleme.“

„Sethan sagte es doch“ antwortete Sharesa ihm vorsichtig. „Es gibt da vieles, was er sich nicht eingestehen will.“

„Aber er ... er hat ...“ Yugi sah Seto an, dem bei dem Gedanken wohl auch so einiges im Halse stecken blieb. „Er hat doch gar nichts getrunken seit er hier ist.“

„Alkoholismus soll ja häufig ne Erbkrankheit sein“ bemerkte Mokuba vorsichtig.

„Onkel Tato trinkt anders als Oma“ erklärte Sethan. „Er trinkt nicht jeden Tag. Aber er betrinkt sich regelmäßig. Sehr regelmäßig. Und das nicht zu knapp.“

„Vielleicht sollten wir darüber nicht sprechen“ wand Seto mit etwas gesenkter Stimme ein. Schließlich stand seine Tochter hier direkt daneben und musste nicht unbedingt alles mitbekommen.

„Ich weiß das“ sagte sie dann von sich aus. „Ich mache mir dann Sorgen um Papa. Ich mag es nicht, wenn er Rotwein trinkt. Dann wird er immer so ... komisch.“

„Dann ...“

„Sprich ihn nicht gleich darauf an“ bat Sharesa sofort, denn sie wusste, was Seto denken würde. „Bei dem Thema kennt er weder Freund noch Feind.“

„Davon können wir ein Lied singen“ erzählte Balthasar. „Es ist gar nicht so lange her, da hat Yugi ihn darauf angesprochen und Asato ist in die Luft gegangen. Ein Wort hat das andere gegeben und Asato hat ihn angepöbelt und gedroht, mit Sari das Land zu verlassen. Er meint, er hat kein Problem und jeder, der ihm so was unterstellt ... nun ja. Selbst bei seinem Papa kennt er da nichts.“

„Umso mehr klingt das nach einem ernsthaften Problem“ sorgte Yugi sich natürlich. Er beobachtete das jetzt schon eine Weile und sein Gespür drängte ihm da auf, dass etwas nicht rund lief bei seinem Sohn. „Was zum Teufel ist mit ihm los? So langsam bekomme ich das Gefühl, dass er da so einiges nicht bewältigt.“

„Sari, mein Schätzchen.“ Sethan legte ihr seine Hand auf den Kopf und lächelte sie liebvoll an. „Geh doch zu Papa und bring ihm seinen Stock. Bevor er wieder Rückenschmerzen bekommt.“

„Du willst nur nicht, dass ich weiß, was du über ihn sagst“ warf sie ihm etwas beleidigt vor.

„Unsinn“ versicherte er lieb. „Ich weiß doch, dass du das zu schnell spitz kriegen würdest. So groß ist dein Rücken nicht, dass man da was hinter machen könnte.“

„Hm ...“ Sie glaubte ihm das wohl nicht so ganz. Diesen Blick hatte sie mit allen Drachen gemeinsam. Sie roch, dass da was im Busch war und schätzte es nicht besonders, wenn man sie ausschloss.

„Ich hab dir doch schon erzählt, was wir jetzt vorhaben“ betonte er. „Jetzt muss ich es nur noch den anderen stecken. Und in der Zwischenzeit kannst du mal deinen schmollenden Vater besänftigen. Keiner kann das so schön wie du.“

„Aber du denkst dran, was du mir versprochen hast.“

„Ja, natürlich“ lächelte er. „Vorher gehen wir noch Uropa besuchen.“

„Ururopa“ berichtigte sie. „Ich will ihn sehen, bevor wir wegreisen. Ich will seinen Schokoladenkuchen probieren und wissen, ob Opa ihn wirklich ganz genauso macht oder ob er mich verarscht.“

„Opa würde dich nie verarschen“ lachte er und auch die anderen mussten grinsen. Das war ein Wort, welches so gar nicht zu ihrer sonst höflichen Art passte.

„Und was du für Wörter kennst, sagen wir Papi lieber auch nicht“ schmunzelte Jonny.

„Sei lieb oder ich sag ihm mal, wer die Beule in sein weißes Auto gefahren hat“ drohte sie mal ganz nebenbei und ging zu Tatos leerem Stuhl, um sich seinen Stock zu holen, den er hatte stehen lassen.

„Du bist fies, Sari“ zankte er eingeschnappt. „Du hast mich beim Ausparken abgelenkt mit deinem Gequengel.“

„Ist mir egal. Außerdem hab ich nicht gequengelt, sondern du hast am Radio gedreht.“ Aber wo sie gerade schon neben Seto stand, sah sie ihn ganz intensiv an. Schon komisch, wie er dasaß und sie etwas schüchtern vor ihm stand. Irgendwie waren sich die zwei von ihrer Art her so ähnlich. Häufig übersprangen charakteristische Merkmale ja eine Generation von den Großeltern auf die Enkel und bei den beiden war das wohl der Fall. Sareth war wie ihr Großvater Seto früher. „Kommst du mit, Oma?“ fragte sie ihn leise.

„Oma“ grummelte er tief. „Muss das sein?“ Warum musste ausgerechnet er immer auf die weibliche Rolle gedrängt werden? Er sah nicht mal annähernd aus wie eine Frau!!! Und wie eine Oma schon gar nicht!!!

Doch anstatt ihm etwas zu antworten, kramte Sari schnell unter ihrem Kleidstoff und hatte sich aus irgendeiner versteckten Tasche einen Stift gefischt. Jedenfalls sah es aus wie ein etwas dickerer Kugelschreiber, aber es war silbern und sicher nicht das, wonach es aussah. Sie drehte schnell zwei Rädchen daran und schon schallte eine männlich tiefe Stimme heraus. Ganz ruhig, sanft und liebevoll. Setos Stimme.

„Und wenn ich dir sage, du sollst mich nicht Oma nennen ....“ Anscheinend eine Sprachaufzeichnung aus ihrer Zeit. Man erkannte Setos Stimme, aber sie war ein wenig tiefer. Älter eben. „... dann lächelst du einfach so hübsch wie jetzt und gibst mir einen Knutschi. Ich schwöre dir, ich kann dir garantiert nichts abschlagen. Wenn du mich abknutscht, werde ich immer ganz weich. Das weißt du doch.“

„Ist das etwa ein Tonbandgerät?“ zeigte Seto erstaunt auf das Hightechteil.

Aber sie lächelte nur, kam ganz dicht und gab ihm einen vorsichtigen Kuss auf die Wange. Genau wie er es ihr gesagt hatte. Mit Küssen konnte man ihn bestechen.

„Das Ding musst du mir bei Gelegenheit mal näher zeigen.“ Er legte seinen Arm um sie und drückte seine Enkelin, legte sogar seinen Kopf auf ihre Schulter. Und sie war wohl auch erleichtert, dass er sie sofort annahm, obwohl er sie nicht kannte.

„Ach Mann, ihr seid so altmodisch“ seufzte Jonny und setzte sich neben Narla auf den Stuhl, der eigentlich noch Joey gehörte. „Wir hätten euch mal Werbung aus unserer Zeit mitbringen sollen. Dann seht ihr mal ...“

„Jetzt spiel dich nicht so auf“ argwöhnte Sharesa. „Das sind immerhin knapp 38 Jahre Unterschied. Und GZSZ läuft sogar hier schon seit Jahren. Also so ab vom Schuss sind wir auch nicht.“

„Was echt?“ staunte er. „Auf diesen alten Fernseherteilen?“

„Ich glaube, du bist derjenige, der nicht so ganz aktuell ist“ frotzelte Balthasar. „Du musst dich halt der Zeit hier angleichen.“

„Ey, wir haben schon extra Klamotten, die der Zeit hier angebracht sind“ betonte er doch sehr intensiv, während Seto und Sareth sich auf den Weg hinaus machten. Nicht nur um Tato seinen Stock zu bringen, sondern auch, um ihn wieder ein wenig gnädiger zu stimmen.

„Kannst froh sein, dass die anderen uns alte Bilder gezeigt haben“ erinnerte Sharesa ihn streng. „Du und Balthasar, ihr wärt ja sonst total overdressed gekommen.“

„Ach, Jeans sind ein Evergreen“ winkte Balthasar ab. „War schon komisch, darauf zu achten, was man mitnimmt, aber ich hab mich echt schnell an die Sachen hier gewöhnt. Diese Videokassetten im Wohnzimmer! Ich hätte nicht gedacht, dass die wirklich mal jemand benutzt hat.“

„Na ja, wir steigen ja zunehmend auf DVD um“ meinte Marie.

„Ach, Mama“ lächelte er sie mitleidig an. „DVD’s sind doch überholt.“

„Hier aber nicht. Ich finde DVD’s sehr praktisch.“

„Warum bist du überhaupt ausgerechnet in diese Zeit zurückgereist?“ wollte Yami von Sethan wissen, der nur mehr danebenstand und sich lächelnd die Jüngeren betrachtete. Fernando und Dakar schienen sich da wohl eher herauszuhalten.

„Du meinst, wenn ich weiter zurückgekehrt wäre, hätte ich verhindern können, dass Seth diese radikalen Weltveränderungsanschauungen entwickelt?“ vermutete er ganz richtig auf Yamis Nicken. „Weißt du, Ati, Zeitreisen sind eine nicht einfache Sache. Selbst für mich. Für jeden Tag, den wir mehr zurückreisen und jeden Menschen, den ich mit mir nehme, verbrauche ich viel Kraft. Auch jetzt in diesem Moment muss ich uns alle hier festhalten.“

„Und nichts auf dieser Welt ist unendlich“ schlussfolgerte er. „Also kannst du nur soweit zurück?“

„Ich hätte auch noch weiter gekonnt“ erklärte er. „Aber ich möchte hier nicht nur die Vergangenheit verändern, sondern auch unsere eigene Zukunft. Und dafür brauche ich nicht nur Kraft, sondern auch Vertrauen in alle, die mir nahe stehen. Wenn ich hätte verhindern wollen, dass Aleseus Seth zum größten Feind der Gegenwart mutiert, hätte ich nur ein ganz bestimmtes Ereignis verhindern müssen. Das hätte zwar die Vergangenheit verändert, nicht aber unsere Zukunft.“

„Welches Ereignis wäre denn das gewesen?“ fragte Mokeph. „Dass er die Liebe zu Atemu verliert oder ...? Damals ging es ihm das erste Mal doch wirklich schlecht und er hat sich zurück nach Hause gesehnt. Wenn du das verhindern könntest ...“

„Nein, ein Ereignis. Kein Prozess“ erwiderte Sethan mit ruhiger Stimme. „Seine Liebe zu verlieren und wiederzufinden, ist ein Prozess. Ich denke, das war sogar wichtig, damit er sich darüber klar wird, an wessen Seite sein Platz ist. Aber letztlich war auch dies nur die Folge eines langen Prozesses.“

„Ich glaube, ich weiß, was du meinst“ vermutete Yugi. „Wir hätten uns nicht trennen dürfen.“

„Nein, nicht ihr“ berichtigte er freundlich. „Seth und Seto hätten sich nicht trennen dürfen.“

„Ähm ... wie jetzt?“ sah Mokeph ihn ratlos an. „Aber es sind doch keine Schäden entstanden oder sonst etwas. Seto geht es doch gut.“

„Darf ich?“ Sethan wies auf den Stuhl neben Yugi, der durch Setos Weggang eben freigeworden war. Im Gegensatz zu anderen war er so höflich, zu fragen, ob er sich setzen durfte.

„Ja. Natürlich“ bat Yugi und zog ihm den Stuhl richtig hin, bevor er sich an die anderen wand. „Möchtet ihr euch nicht auch setzen? Wollt ihr vielleicht was trinken?“

„Gibt’ schon Cola?“ wollte Jonny wissen.

„Ja, die gibt’s schon“ lachte Yugi und ging an den Kühlschrank, um die zusätzlichen Gäste mit Getränken zu versorgen. „Möchte sonst noch jemand etwas?“

„Nein, Cola ist super“ nickte Fernando, der sich dankend auf Mokubas Stuhl setzte. Der hatte den freigemacht und gab damit nicht nur einen Platz neben Tristan frei, sondern hatte auch mal wieder einen Grund, auf Noahs Schoß herumzuturnen. Einen Stuhl als Ersatz für Joeys geklauten fanden sie auch noch und als Dakar sich auf Phoenix’ Stuhl niederließ, war Yugi doch überrascht, als er sich wieder umdrehte und dem nachsah.

„Spatz, wo willst du denn hin?“ fragte er, bevor er noch ganz an der Tür war.

„Ich möchte zu Asato“ antwortete er folgsam. „Vielleicht kann ich Sari helfen, ihn ein bisschen zu beruhigen.“

„Ja, geh du nur. Tschüss“ winkte Jonny und mit einem kleinen Kopfschütteln war er dann auch verschwunden. „Das ist bestimmt gut, dass er mitgeht“ meinte er dann lächelnd. „Spatz hat so eine merkwürdig beruhigende Wirkung auf Tato. Ein bisschen wie Valium.“

Doch über diesen Scherz konnte auch nur er selbst lachen und Joey. Obwohl der den Insider kaum verstand, lachte er trotzdem mit. Die beiden hatten denselben, eigensinnig flachen Humor.

„Ist das so, ja?“ Yugi setzte sich zurück auf seinen Stuhl und stellte auch Sethan ein Glas hin. „Oder möchtest du etwas anderes als Cola?“

„Nö, danke“ lächelte der. „Ich bin pflegeleicht.“

„Und du?“ schaute Yugi rüber zu Dakar. „Cola?“

„Später vielleicht. Danke“ antwortete er knapp. „Habt ihr was dagegen, wenn ich rauche?“

„Nein, mach nur“ meinte Nika, griff hinter sich ins Regal und fischte ihm den Aschenbecher heraus. „Die anderen rauchen ja auch hier.“

„Danke.“ Er nahm den Aschenbecher entgegen und zückte seine Zigaretten heraus.

„Du redest nicht viel, oder?“ fiel Marie auf. „Bist du auch schüchtern oder ...?“

„Nein, ich bin nicht schüchtern“ lachte der ungewöhnlich dünne Mann mit der dunklen Aura und zündete seinen Glimmstängel an. „Ich schwatze nur einfach nicht so gern. Ich sag was, wenn ich was zu sagen habe.“

„Deswegen hat er auch keine Frau“ frotzelte Jonny ihn. „Er ist zu schweigsam.“

„Stimmt doch gar nicht“ meinte Sharesa. „Wenn mein Herr Bruder erst mal anfängt zu reden, dann aber auch richtig. Nicht Quantität, sondern Qualität. Anders als du, der jedem sein sinnloses Gebrabbel aufdrängt. Dakar ist besser dran, denn wenn er was sagt, hat das Hand und Fuß.“

„Sag ich doch“ schnippte Jonny. „Deswegen hat er auch keine Frau.“

„Du doch auch nicht“ grinste Balthasar. „Seit wann bist du nicht mehr mit Taria zusammen? Drei Tage?“

„Sechs“ berichtigte er wissend.

„Und die wievielte Freundin war das jetzt? Die achte?“

„Nein, die siebte“ wusste er genau und sah ihn forschend an. „Versuchst du, mir irgendwas zu sagen, Balti?“

„Ich meine ja nur. Wenn sich einer über gescheiterte Beziehungen nicht auslassen sollte, dann doch du.“

„Das ist nun mal schwer mit dem Job und so. War halt noch keine dabei, die richtig zu mir passte. Ist nun mal nicht jeder so ein Charmingboy wie du.“

„Warum? Was machst du denn beruflich?“ wollte Narla interessiert wissen.

„Ich bin Parcour-Künstler“ erzählte er frei heraus. „Ich laufe vom Start an den direkten Weg quer durch die Stadt bis zum Ziel. Das beinhaltet den absolut direkten Weg. Das heißt, über Häuser klettert man rüber, über Mauern und Zäune springt man. Immer den direktesten und schnellsten Weg. Hindernisse sind egal. Und je graziler und komplizierter die Sprünge sind, desto mehr Punkte bekommt man. Ist eine Art zwischen Sport und Kunst.“

„Bei uns ist das ein Kultberuf“ erklärte Sharesa. „Vielleicht kennt ihr das hier in der Zeit schon? Früher hat das nur ne Hand voll Leute in Paris gemacht bis das um sich gegriffen hat und heute ist das ein anerkannter Kunstsport.“

„Hört sich aber gefährlich an“ meinte Tea. „Ich meine, wenn man über Häuser klettert und Mauern runterspringt. Ist das nicht ziemlich heftig?“

„Deswegen hab ich ja auch ne Menge Trophäen“ erzählte Jonny fröhlich und hob seinen Pullover hoch, um seinen blanken Rücken zu zeigen. Überall lauter kleinere Narben. Gut verheilt, aber schon auffällig, dass er sich wohl mehrmals etwas aufgerissen hatte. „Man muss gut sein, sonst bricht man sich was“ erzählt er, während er sich wieder bedeckte. „Aber mehr als nen verstauchten Knöchel hatte ich noch nicht. Ein paar Schürfwunden, aber daran gewöhnt man sich. Und wenn man richtig gut ist, verdient man viel Geld. Letztes Jahr bin ich immerhin zweiter in der Weltrangliste geworden. Ich hab ne Silbermedaille bekommen. Cool, was?“

„Nett“ meinte Yami, wollte dann aber langsam zurück auf anderes kommen. „Du sagtest, Seto und Seth hätten sich nicht trennen dürfen. Ist das der Grund, weshalb er so ... ist wie er ist?“

„Nicht der Grund, aber der Beginn von allem“ nickte Sethan und nippte an seinem Glas.

„Kannst du das erklären?“ bat Noah. „Ich verstehe das nicht ganz. Seto hat das doch nicht geschadet. Warum dann Seth? Er war doch immer der Gefestigte von beiden.“

„Ja, er w a r“ erläuterte er ruhig. „Ich will versuchen, es dir zu verdeutlichen. Rah hat es ja nicht ohne Grund so eingerichtet, dass Yami und Hikari sich einen Körper teilen. Seth hat es ihm ja mehr aus Not nachgemacht, da er aus keinem Splitter seines Herzens einen neuen Sohn formen konnte. Ihm fehlte sein Herz zu dem Zeitpunkt. So hat er es getan wie Rah. Nämlich das Herz eines bereits geschaffenen Sohnes nehmen, aus seiner Seele ein Stück heraustrennen und daraus einen neuen Menschen schaffen. Zwei Menschen, die einen Teil ihres Ichs gemeinsam haben. Vielleicht ist das Leben zu zweit mit einem Körper manchmal hinderlich, aber es hat ja einen Sinn. Ich weiß nicht, ob ihr euch das vorstellen könnt. Als beispielsweise Atemu in meinem Großvater wiedererwachte, fand er sich einem Kulturschock ausgesetzt. Die Menschen lebten anders, die Wissenschaft hatte sich verändert, die Landschaft, das Miteinander, alles. Angefangen darin, dass er eine neue Sprache lernen musste bis dahin, dass er nur noch einer von vielen war, anstatt eines Herrschers.“

„Das stelle ich mir ziemlich schockig vor“ mutmaßte Marie. „Wenn ich mir vorstelle, ich werde 5000 Jahre in die Zukunft katapultiert ...“

„Es reicht ja schon, 5000 Jahre in die Vergangenheit zu reisen. Das ist ebenso ein Kulturschock, obwohl man selbst viel aufgeklärter ist“ versuchte er zu sagen. „Und damit der Yami sich in seiner neuen Umwelt zurechtfindet, braucht er den Halt seines Hikaris. Indem er aus seinem großen Wissensfundus Erfahrungen und Lebenskraft weitergibt, teilt der Hikari seinen Körper leichter und zeigt ihm, wie man dieses veränderte Leben lebt.“

„Das ist wahr“ nickte Yami. „Als Yugi mich damals aus dem Puzzle befreit hat, war ich wirklich geschockt. Alles hatte sich verändert. Ich glaube, ich wäre planlos herumgelaufen, wenn Yugi mir nicht alles gezeigt hätte. Ich hätte ja nicht mal die Sprache verstanden, aber durch Yugi habe ich rasend schnell alles gelernt. Eben weil wir miteinander verwachsen sind. Wir spüren uns ja heute manchmal noch als wären wir eine einzige Person.“

„Aber was ich nicht verstehe“ versuchte Yugi zu formulieren. „Damals haben wir gut darüber nachgedacht und wir waren alle überzeugt, dass diese Trennung etwas Positives ist. So hatte jeder ein ganzes Leben und nicht nur ein halbes.“

„Das ist zu negativ gedacht“ verfocht Sethan. „Yami und Hikari haben nicht jeweils ein halbes Leben, sondern jeder zwei.“

„Das ist wie die halb voll oder halb leer Sache“ meinte Yami. „Du meinst, nach der Trennung hat Seth sich nicht mehr zurechtgefunden? Das sah für mich nicht so aus.“

„Vielleicht. Aber rückblickend gab es viele Faktoren, die zu seiner jetzigen Meinung geführt haben. Damals war Oma, also Seto“ lächelte er. Er musste sich abgewöhnen, ihn Oma zu nennen. So weit war der hier noch nicht. „Seto war damals noch sehr auf ihn angewiesen, trotz des getrennten Körpers. Aber je selbstständiger er wurde, desto weniger fühlte Seth sich gebraucht. Er musste seinem Hikari die Freiheit lassen, ihn sogar für einige Jahre allein in ein anderes Land gehen lassen, damit er sich entwickeln konnte. Aber das bedeutete auch, dass er auf sich selbst gestellt war. Und so etwas kann für einen Yami der K.O.-Schlag sein. Wenn er einsieht, dass der Hikari nicht länger auf ihn angewiesen ist und er somit für diese ganze, für ihn neue Welt unnütz wird. Seth ist Hohepriester mit seinem ganzen Herzen. Hier aber zählt das nicht viel. Er hätte sich durch die Verbundenheit zu Seto an das, ich nenne es mal das moderne Priestertum, daran hätte er sich gewöhnen müssen. Seto ist ein Priester der Moderne, Seth ist ein Priester der Zeit, in welcher die Wurzeln dazu lagen. Indem Seto sich ohne Seth weiterentwickelt hat, ist einer von beiden auf der Strecke geblieben.“

„Aber das ist noch lange kein Grund, die Weltbevölkerung zu reduzieren und den Fortschritt zurückzudrehen“ meinte Yami, der das etwas abgeklärter sah.

„Für dich vielleicht nicht. Für ihn schon“ versuchte Sethan zu erklären. „Du bist anders. Obwohl du ebenfalls von deinem Hikari getrennt lebst, sogar drei Jahre davon völlig kontaktlos, hast du dich dennoch weiterentwickelt. Aber dein Geist ist ein anderer, ein übernatürlicher. Seth hat diese Göttlichkeit nicht. Er hängt an seinen alten Gebräuchen und Ansichten. Das ist es, was er als gut und richtig ansieht. Und je weniger das in dieser Welt zählt, umso mehr klammert er sich daran. Es muss ihm vorkommen, als hätte er nicht mehr als nur seine Erinnerungen. Seine Welt ist tot. Er hat keinen Hikari, der ihn aus diesen alten Werten herauslöst. Und er hat einen Eid geschworen, seinem Pharao zu dienen. Und nichts anderes tut er. Er sieht, was diese Welt verloren hat. Und um seinem Pharao ein neues Reich zu geben, lässt er das alte wiederauferstehen.“

„Das ist der Grund?“ schaute er ihn ungläubig an. „Nur, damit ich auf irgendeinem Thron sitze, läuft er Amok?“

„Im Grundsatz ja. Es ist eher ein kontrollierter Amoklauf“ nickte er. „Natürlich spielen noch viele andere Faktoren mit hinein. Ich war so frei, mir die Vergangenheit anzusehen und ich habe gesehen, dass er zunehmend eifersüchtig auf Seto wurde. Eifersucht gegen seinen Hikari ist eine schlimme Sache.“

„Du meinst diesen Kampf gegen den Zirkel“ schloss Yami. „Seto hat so gut wie alle besiegt. Sicher nicht ohne Seths Hilfe, aber ...“

„Seth hat sich zurückgesetzt gefühlt“ sprach Yugi. „Das hat man gemerkt. Während Seto seine Seele aufgeteilt hat, hatte er gar nichts zu bieten. Plötzlich drehte sich alles nur noch um Seto und nicht um ihn. Er hatte das Gefühl, dass er keine Aufmerksamkeit bekam. Er hat ebenfalls hart gekämpft und alles gegeben, aber letztlich bekam er das Gefühl, er wäre seinem Hikari nicht mehr gewachsen.“

„Ja, das hat man gemerkt“ meinte auch Yami. „Ich hab ihm mehrmals gesagt, dass er nicht versagt hat und dass auch er wichtig für den ganzen Kampf war. Aber letztlich hat Seto mehr Aufmerksamkeit bekommen, obwohl auch er alles gegeben hat. Es war doch früher schon so. Als beide wieder Kinder waren, da haben wir darauf geachtet, beiden dieselbe Aufmerksamkeit zu geben, weil sonst einer von ihnen eifersüchtig oder neidisch wurde.“

„Dann ist das auch der Grund, warum er auf ihn losgegangen ist“ meinte Joey. „Seth wollte zeigen, dass er immer noch stark ist. Stärker als Seto. Deshalb hat er sich auch mit Sethos angelegt. Okay, gegen den hat er nichts ausrichten können, aber er wollte einfach demonstrieren, dass er auch mächtig ist.“

„Es ist einfach alles zusammen“ seufzte Sethan und stützte nachdenklich sein Kinn auf die Hände. „Der Kulturschock, der verlorene Hikari und obendrein spricht ihm auch noch mein Vater ständig zu und bestärkt ihn in seinem falschen Weg.“

„Dann ist das der Grund für seine komischen Worte?“ fragte Yami. „Der dunkle Seth hat ihn auf den falschen Weg geführt? Nein, nicht geführt. Eher ihn darin bestätigt?“

„Hm“ nickte er traurig. „Indem er etwas sehr Intelligentes getan hat. Vater verbietet ihm sein Priestertum nicht, sondern nimmt genau das zum Anlass, ihn darin zu erbauen, dass sein Pharao sich ebenso unwohl fühlt wie er. Er bekämpft nicht die Liebe zwischen dir und Seth, sondern er baut auf Seths Versprechen, alles für dich zu tun. Er packt ihn bei seiner Treue. Und wenn ein Priester seinen Pharao unzureichend leben sieht, so wird er daran etwas ändern. Und mit göttlicher Hilfe ...“

„Entschuldigt, wenn ich das so sage“ sprach Noah ruhig. „Aber sind nicht eigentlich die Priester diejenigen, die dem Pharao ursprünglich am Meisten schaden sollen? Ihre natürlichen Feinde?“

„Auch das spielt da mit hinein“ bejahte Sethan. „Es ist so vieles, was seinen Geist beherrscht. Und deshalb ist es auch fast unmöglich, ihn von diesem Weg abzubringen. Selbst die Worte seines Pharaos haben fast keinen Einfluss mehr auf ihn.“

„Aber nur fast“ sprach Yami entschlossen nach. „Und was können wir tun, um ihn trotzdem auf den richtigen Weg zurückzuholen? Ich will Seth nicht so leicht verloren geben.“

„Das solltest du auch nicht“ antwortete Sethan ernst. „Wir sind hier, um die Erde zu retten und die Zukunft zu verändern. Aleseus aber ist dein Priester. Also hast nur du allein die Macht und ein Recht auf ihn. Du entscheidest, was mit ihm geschieht. Das kann dir niemand abnehmen. Und ich denke, du willst sein Schicksal auch nicht in die Hände eines anderen legen.“

„Also bist du nicht hier, um ihn zu töten“ schlussfolgerte er.

„Nein. Du allein entscheidest, ob er lebt oder stirbt. Hindern will ich ihn, aber ich werde nicht über ihn richten. Das ist Aufgabe seines Pharaos. Zumal Rah mich um ebendies gebeten hat. Und ich werde seiner Bitte gern entsprechen. Du kennst ihn am besten. Aleseus gehört dir und keinem anderen. Nur du kannst sein Richter sein.“
 

Nebenbei waren Seto und Sareth unterwegs, um den wutschnaubenden Tato zu beruhigen. Erst gingen sie leise nebeneinander auf dem Flur her bis die Kleine vorsichtig fragte.

„Oma?“ sprach sie leise. „Darf ich deine Hand halten?“

„Natürlich, mein Schatz“ antwortete er ebenso ruhig und streckte ihr seine große Hand hin, damit sie sie nehmen konnte. Sofort drückte sie ihn fest und blickte schüchtern zu Boden. Wahrscheinlich hatte sie für diese Frage viel Mut aufbringen müssen. „Darf ich dich auch etwas fragen?“ fragte er nun.

„Wenn du willst.“ Sie blickte an ihm hinauf und war gespannt, was er wohl wollen könnte.

„Bist du schüchtern oder nur verlegen?“ lächelte er sie lieb an. „Findest du es gruselig hier, weil wir so jung sind?“

„Nein ...“ antwortete sie leise. „Aber du kennst mich ja gar nicht. Keiner kennt mich. Und ich ... ich möchte, dass du mich magst. Ich will nichts falsch machen.“

„Aber in deiner Zeit mögen wir uns doch sehr, oder? Jedenfalls hörte sich das auf dem Tonband so an.“

„Ja“ schmunzelte sie verlegen. „Ich glaube, wir mögen uns. Wir wohnen ja zusammen und du sagst jeden Tag, wie lieb du mich hast. Und Opa Yugi auch.“

„Na siehst du? Dann mag ich dich doch auch jetzt, oder?“

„Ja?“

„Warum denn nicht?“ Er blieb stehen und kniete sich herunter, sodass er sogar noch ein Stück kleiner war als sie. „Ich finde, du bist ein höfliches und ein sehr hübsches Mädchen.“

„Findest du?“ Sie wurde ganz rot, wenn er sie so liebevoll ansah.

„Ja, finde ich. Ich möchte dich gern noch ein bisschen mehr kennen lernen und ich bin froh, dass du hier bist. Oder magst du mich nicht so jung?“

„Nein!“ betonte sie sofort. „Du bist doch mein Großvater! Ich liebe dich!“

„Und ich liebe dich auch. Das spüre ich. In meinem Herzen“ lächelte er und streichelte zart ihre roten Wangen. „Und wenn du Probleme hast dann kommst du zu mir, damit ich dir helfen kann, ja?“

„Ja“ hauchte sie und ließ sich vorsichtig nach vorn kippen, damit er sie in den Arm schloss. Anscheinend hatten sich da zwei Kuscheldrachen gefunden. In einem gewissen Sinne, war sie ja nun das erste Weibchen im Rudel.

„Und jetzt bringen wir deinem Papa seinen Gehstock, ja?“

„Ja“ antwortete sie sofort und blieb auch dann an seiner Hand, als sie weiter gingen. Sie wollte ihn am liebsten gar nicht mehr loslassen.

Und Seto wollte ihr nicht zeigen, dass er sich nicht nur Sorgen um Tato, sondern auch um sie machte. Wenn es stimmte, dass sein Sohn Alkoholiker war, dann war auch sie unglücklich. Denn ganz anscheinend schien es viel zu geben, was sie belastete und worüber sie nicht sprach. Er wusste nicht, wie er es hätte erklären sollen, aber es war einfach so ein Gefühl. Die kleine Sareth war ihm vom Wesen her so ähnlich, genau wie er früher. Schüchtern, sehr höflich, unsicher und ständig liebesbedürftig. Doch Tato schien so sehr mit seiner Trauer beschäftigt zu sein ... er hatte ja nicht mal erzählt, dass er eine Tochter hatte, die noch lebte ... irgendwas lag da, was anders sein sollte.

„Halt“ lachte Seto, als sie immer noch weiterlaufen wollte und er schon stehen geblieben war.

„Schon da?“ guckte sie ihn verwundert an.

„Ja, hier“ zeigte er auf die geschlossene Tür. „Wir haben ihn im alten Schlafzimmer von Yami und Seth einquartiert, weil wir keinen Gästeraum mehr haben. Wir wollten es demnächst wieder zu einem Wohnzimmer machen. Tato sagte aber, er hält es nicht noch eine Nacht mehr mit Balthasar in einem Zimmer aus. Deswegen bleibt er jetzt erst mal da.“

„Ach, das ist ein Wohnzimmer. Das alte Großyami-Schlafzimmer“ wiederholte sie einprägend. „In meiner Zeit ist da Sethans Zimmer drin.“

„Na ja, noch haben wir da fast ein Wohnzimmer. Wollen wir reingehen?“

„Klopfen ist besser“ meinte sie und klopfte vorsichtig an. Nicht laut, aber laut genug, dass er es hören musste.

Seto wollte dann auch nicht mehr warten und öffnete die Tür. Wenn Tato eingeschnappt war, würde er wohl kaum antworten. Kaum war die Tür offen, sah er ihn auch schon. Er stand am Fenster und blickte hinaus. In seinen Gedanken versunken, drehte er sich trotzdem herum und blickte die beiden an. Erst Seto und dann etwas tiefer seine Tochter, die ihm seinen Stock hinterherschleppte.

„Papa?“ fragte sie vorsichtig. „Du hast deinen Stock vergessen. Du bekommst doch Rückenschmerzen.“

„Ach, Sareth“ seufzte er und setzte sich auf den Sessel, der direkt neben ihm stand, bevor er seine Arme ausstreckte. „Komm mal her, mein Schatz.“

Sie trabte sofort zu ihm hin und ließ sich auf seinem Schoß nieder, schlang ihre Arme um ihn und kuschelte ebenso, wie er sie auch schmuste. Den Stock stellte er dabei erst mal achtlos zur Seite. Sie war jetzt wichtiger.

„Tut mir leid, Süße“ entschuldigte er sich und drückte sie noch fester. „Ich hab schon wieder geschimpft.“

„Ist nicht schlimm“ tröstete sie ihn. „Du machst dir ja nur Sorgen um mich.“

„Das stimmt. Aber ich hab dich gar nicht richtig begrüßt. Ich bin doch froh, wenn du bei mir bist, mein Schatz. Tut mir leid, dass ich nur gemeckert habe.“

„Ist nicht schlimm“ wiederholte sie wieder und drückte sich so weit weg, dass sie ihm einen kleinen Kuss auf die Lippen flüstern konnte. „Ich hab dich lieb, Papa.“

„Ich hab dich auch lieb, Mäuschen.“ Wieder drückte er sie, lehnte sich zurück und seufzte tief. Sie konnte ja nichts dafür, dass Sethan sie mitgenommen hatte. Er wollte sie nicht anschreien oder ihr das Gefühl geben, sie wäre ihm nicht willkommen. Sie war doch alles, was ihm noch geblieben war.

Seto wollte die zwei nicht stören, aber dennoch kam er langsam herein. Um es ganz genau zu wissen, warf er einen Blick zur Seite. Tato hatte seine Reisetasche noch gar nicht richtig ausgepackt, da schien er ebenso unfähig wie Seto. Der wäre ohne Yugi, der immer seine Sachen wegpackte, auch aufgeschmissen. Aber das gab ihm Gelegenheit, mit einem magischen Blick, den Pullover ganz obenauf zur Seite zu schieben und er sah, was er lieber nicht gesehen hätte. Es stimmte. Darunter versteckt hatte er eine, dann zwei, ganze drei Flaschen Rotwein im Gepäck. Rotwein, sein Fluch. Seto hatte auch immer mit Vorliebe Wein getrunken, wenn es ihm schlecht ging. Und Tato tat es ebenso. Alkoholismus war also doch erblich.

Willentlich rückte Seto das Kleidungsstück auch nicht wieder zurück. Tato sollte ruhig sehen, dass er es wusste. Vielleicht würde er dann ja von selbst das Gespräch suchen ... vielleicht ... aber wohl eher unwahrscheinlich.

Er setzte sich zu den beiden neben den Sessel aufs Sofa und legte seine Hand auf Tatos Knie. Der öffnete die Augen und sah ihn an. Mit einem Blick aus Traurigkeit, Sorgen und Tapferkeit. Er wollte sich nicht unterkriegen lassen, aber es war schwer. So ganz allein mit einem abhängigen Kind und einem gebrochenen Herzen. Sein Blick war ähnlich dem von Yugi, als er plötzlich als Witwer dastand und weder ein noch aus wusste.

„Du bist nicht mehr böse, oder?“ Sie lehnte sich zurück, um nicht mehr den Kopf auf seiner Schulter zu haben, sondern ihn ansehen zu können.

„Nein, ich bin nicht böse“ versprach er sanft. „Mir wäre es nur lieber gewesen, wenn du Zuhause bei Oma und Opa geblieben wärst. Da, wo du sicher bist.“

„Aber Oma und Opa gibt’s doch auch hier. Ich bin lieber bei dir, weißt du? Vielleicht kann ich euch ja helfen. Vielleicht auch nicht, aber ... vielleicht doch. Ein bisschen. Ich hab ein bisschen geübt ... nur ein bisschen.“

„Du hältst dich erst mal bedeckt, Schatzi“ bat er. „Ich möchte nicht, dass dir was passiert. Also sei vorsichtig, dass du keinem Schatten begegnest, hörst du?“

„Und auf Sethan bist du auch nicht böse“ bat sie weiter. „Er muss das doch machen. Ich glaube, er möchte auch lieber Zuhause sein. Aber er muss doch die Welt retten. Und wir müssen ihm helfen. Wenn wir das nicht machen, wer soll denn sonst? Wir müssen furchtlos sein und intelligent. Damit alle Menschen eine schöne Welt haben und Seth nicht alles vernichtet. Und Sethan will, dass es allen gut geht. Er macht das nicht, weil er dich ärgern will.“

„Ich weiß, Schätzchen. Das weiß ich doch. Du hörst dich an wie Nini“ seufzte er resignierend. „Aber pass trotzdem auf dich auf und mach nichts Gefährliches. Wenn was ist, dann lass die großen Jungs kämpfen. Hörst du?“

„Ja“ versprach sie mit gesenkter Stimme. „Ich passe auf.“

„Asato?“ Phoenix steckte seinen Kopf durch die geöffnete Tür und sah ihn besorgt an. Ebenso wie der kleine Laertes, der auf seiner schmalen Schulter bequem Platz fand. „Ist alles in Ordnung?“

„Spatz!“ strahlte die Kleine ihn an. „Und Laertes!“

„Unser Dreamteam“ lächelte Tato und daraufhin kamen die zwei auch herein. Das war wohl als Einladung zu sehen. Zwar fiel auch der Blick von Phoenix kurz auf die Tasche, welche Seto geheim durchwühlt hatte, aber auch er tat als hätte er nichts gesehen. Ihm schien das nicht neu zu sein.

„Du hast Sethan ja ziemlich angeraunzt“ sprach Phoenix erstaunlich offen, was Seto überraschte. Vor ihm und Sari schien er ein ganz anderer Mensch zu werden. Viel mutiger. Zwar noch immer sehr sanft und ruhig, aber viel mutiger. Vielleicht aus dem Grund, den Sharesa und Balthasar erzählt hatten. Für ihn hatte Tato eine Art Vaterrolle übernommen und Sareth wurde ihm damit eine Schwester. Und so ging er auch mit ihnen um. Wie mit einem Vater und einer kleinen Schwester.

„Willst du mir das etwa vorhalten?“ fragte er beleidigt zurück. „Einfach Sari mitzuschleifen, obwohl sie noch viel zu jung und unerfahren ist.“

„Du weißt, er würde sie nicht mitnehmen, wenn es nicht wichtig wäre. Er würde niemanden von uns in Gefahr bringen“ antwortete er ernst und blieb vor ihm stehen, kraulte den zwergwüchsigen Vogel auf seiner Schulter. „Ich glaube, du tust ihm Unrecht, wenn du ihn so anmachst. Jetzt denken alle, wie skrupellos er ist. Keiner hat ihn richtig geknuddelt. Ich glaube, ihn macht das auch traurig, wenn sich alle von ihm distanzieren. Auch du.“

„Hör auf, so zu reden“ grummelte er und senkte ausweichend seinen Kopf.

Für Seto taten sich hier ganz neue Seiten auf. Hatte dieser schwache Junge ihm etwa was zu sagen? Mit dem mächtigen Sethan legte er sich an wie eine Furie und vor diesem nicht mal magischen Jugendlichen senkte er den Kopf? Das tat ein Drache doch nur, wenn er seinen Frieden signalisieren wollte. Wenn er jemanden beschwichtigen und sich wörtlich wegducken wollte. Seto erkannte seine eigene Körpersprache.

„Ich finde, du solltest dich bei ihm entschuldigen.“

„Ach, findest du, ja?“ Aber er wäre kein Drache, wenn nicht auch er seinen Stolz hätte.

„Ja, finde ich“ verdeutlichte er nochmals. „Für ihn ist das hier sicher auch alles nicht leicht. Alle verlassen sich auf ihn und er braucht jeden Beistand. Besonders deinen. Du weißt, dass er große Stücke auf dich hält und dass du hier der erste Ansprechpartner für ihn bist. Mach es ihm doch nicht so schwer.“

„Du hast leicht reden“ warf er ihm vor.

„Ach, hab ich das?“ schaute er dunkel zurück und schüttelte dann aufgebend seinen Kopf. „Ach, Asato. Warum bist du nur so ein Sturkopf?“

„Sag einfach, dass du mich lieb hast.“

„Ja, ich hab dich lieb. Sehr lieb sogar“ gestand er ihm zu und setzte sich zu den beiden auf die Lehne. Er legte seine Arme um Tatos breite Schultern und schmiegte seine Stirn an ihn. „Bitte sei nicht so aufbrausend, ja? Mein Dicker?“

„Ja“ versprach er leise. „Tut mir leid.“ Er drückte die zwei an sich und so saß er nun da. Mit seiner eigenen, jungen Tochter und dem angenommenen Sohn. Alles verließ sich auf ihn ... er hatte eigentlich gar keine Zeit für eigene Probleme.

„Du bist nun mal ein kleiner Sturkopf, Papa“ lächelte Sareth und tippte ihm neckisch auf die Nase.

„Das sagt ja die Richtige“ brummte er zurück.

„Ach, ihr tut euch beide nicht viel“ meinte Phoenix dazu. „Wollen wir vielleicht mal zurückgehen? Sethan erzählt uns jetzt bestimmt, wie es weitergehen soll.“

„Darf ich vorher noch etwas fragen?“ warf Seto bedacht ein.

„Ja, Mama. Natürlich“ antwortete Tato sofort. „Tut mir leid, dass ich so ...“

„Nicht deswegen. Ist schon okay“ beruhigte er ihn liebevoll. „Ich kenne das. Ich hab auch ständig so Ausraster, wo ich mich hinterher selbst frage, warum ich eigentlich gebrüllt habe.“

„Das stimmt“ meinte Sareth. „In meiner Zeit bist du auch ein bisschen wie mein Papa. Aber nicht soooo schlimm. Aber Opa sagt immer, das hat er von dir.“

„Den Schuh muss ich mir wohl anziehen“ gab er lächelnd zu. „Aber ich wollte eigentlich etwas anderes fragen. Wegen Sethan.“

„Sethan ist lieb.“ Da musste Sareth doch ein gutes Wort für ihn einlegen. „Er ist mein Cousin und auch dein Enkel. Er ist eigentlich nicht immer so ernst wie jetzt. Aber er weiß, dass es jetzt ganz wichtig ist. Er muss aufmerksam sein, hat er gesagt und aufpassen, dass möglichst viele wieder nach Hause kommen. Aber Zuhause ist er anders. Er lacht immer ganz viel und er kuschelt gerne. Er ist nicht immer so ernst. Ich hab ihn sehr lieb.“

„Er machte wirklich einen angespannten Eindruck“ musste Seto zugeben. „Aber er hat wundervoll klare Augen. Ich glaube auch, dass er ein guter Mensch ist.“

„Das ist er“ nickte Phoenix zustimmend. „Er ist im Augenblick wirklich angestrengt und vernünftiger als sonst. Er weiß, dass es jetzt auf ihn ankommt.“

„Ich an seiner Stelle wäre wohl auch etwas nüchtern“ gestand Seto. „Was mich aber eigentlich interessiert, ist, wie er entscheidet, wer mitkommt und wer nicht. Ich meine, woher weiß er, wen er braucht? Dass er Tato mitnimmt, weil er ein starker Magier ist, verstehe ich ja noch. Aber warum nimmt er einen Chaoten wie Jonny mit und lässt dafür eine starke Hexe wie Narla Zuhause? Sie hätte vielleicht sogar noch eher Einfluss auf Seth.“

„Jonny ist nicht wie Joseph“ erklärte Tato. „Sethan hat nur Menschen mitgenommen, die in einem magischen Kampf bestehen können. Dafür hat er einige Zuhause gelassen, die dort die Stellung halten und andere, vor allem die Jüngeren, ausgewählt, um ihn zu begleiten.“

„Du willst mir erzählen, dass Jonny ein Hexer ist?“ fragte Seto mit einem mehr als skeptischen Blick. Sogar die skeptische Augenbraue hatte sich erhoben. „Er hat doch gar keine Hexen in seiner Blutlinie.“

„Nein“ erzählte Sareth frei heraus. „Jonny ist ein Zauberer.“

„Ein Zauberer? Der?“ Seto fiel heute irgendwann noch ab vom Glauben. „Als Zauberer muss man alles hart erlernen. Wirklich gute Zauberer sind steinalt. Selbst Seth kannte nur eine Hand voll. Ich selbst kenne gar keinen. Und du meinst, ausgerechnet jemand wie er ist so strebsam, dass er Magie entwickelt?“

„Ich weiß. Es passt nicht zu ihm“ murrte Tato. „Jonny ist ein Idiot.“

„Gar nicht! Sag das nicht immer!“ schimpfte seine Tochter und haute ihn auf die Schulter. „Jonny ist sehr schlau und er lernt immer viel.“

„Während er zwischen seinen Rennen Pause macht“ erklärte Phoenix etwas ruhiger als die beiden Drachen. „Von Madesh bekommt er alte Schriften übersetzt, die er dann auswendig lernt. Er spricht es auf Tonband, wie du es nennst und hört es solange bis er es kann. Und dann arbeitet er sich in der Praxis heran, zumal er durch den Sport einen sehr belastbaren, flexiblen Körper hat und auch im Kopf ständig aufmerksam sein muss. Das macht er seit er zehn oder elf ist und er hat bis heute nicht aufgehört. Natürlich lernt er bei Weitem nicht so schnell wie ein Hexer, aber er hat sich einige Fähigkeiten hart erarbeitet.“

„Er kann sehen“ erzählte Sareth. „Er spürt manchmal, dass Sachen geschehen. Dafür guckt er in den Himmel oder auf den Boden. Ich weiß nicht, wie er das macht, aber er kann das riechen, sagt er. Immer kurz vorher. Da kann er sagen, jetzt fliegt gleich ein Vogel vorbei und dann fliegt wirklich ein Vogel vorbei. Wahnsinn, was?“

„Wer ist Madesh?“ wollte Seto viel lieber wissen.

„Madesh Ishtar“ erklärte Tato. „Das Oberhaupt der Grabwächter. Es ist übrigens in 5000 Jahren das erste Mal, dass eine Frau zum Oberhaupt wird.“

„Madesh Ishtar ist also eine Frau“ wiederholte er anerkennend. „Gleichberechtigung in allen Bereichen, was?“

„Sozusagen.“

„Ist sie Mariks eigene Tochter?“

„Das ist wieder eine andere Geschichte, in der Malik ziemlich tief drinsteckt“ wiegelte er ab. „Ich erzähle es dir dann ein anderes Mal.“

„Madesh ist lieb“ lächelte Sareth. „Und sie ist so hübsch. Sie hat ganz lange Haare und glitzernde Augen. Wenn wir sie das nächste Mal besuchen gehen, zeigt sie mir, wie sich eine Ägypterin schminkt.“

„Das sehen wir dann.“ Tato schien von der Idee nicht so angetan. Sie war erst elf und dachte schon ans Schminken ...

„Das bedeutet dann aber auch, dass die anderen ebenfalls magische Fähigkeiten haben, oder?“ fragte Seto weiter.

„Ja“ antwortete Phoenix. „Fernando ist ein Hexer. Er ist unser Spezialist, wenn’s um Fallen geht. Er kann die Magie eines Gegners für einen Moment anzapfen und sie ihm beim nächsten Angriff entgegenstellen oder daraus für ein bestimmtes Ziel einen Schutzbann errichten. Das kann er bei Schatten übrigens besonders gut.“

„Und Dakar?“ wollte er ebenfalls wissen. „Er hat irgendwas an sich, was ich nicht richtig benennen kann. Vielleicht ein Illusionist? Er ist so undurchsichtig.“

„Dakar“ versuchte Tato ihm dann nachdenklich zu antworten. Als wolle er ihm schonend etwas beibringen. „Aber versprich, dass du nicht ausflippst oder irgendein Wort zu jemand anderem sagst.“

„Okay“ versprach er beobachtend. „Was ist mit ihm? Er ist so ... einfach merkwürdig.“

„Er ist Giftmagier.“

„Ein Magier sogar“ nickte er. „Da lag ich mit Illusionen wohl etwas falsch. Aber er ist so ... ich weiß nicht. Irgendwie glatt.“

„Das ist er wirklich. Er hat seine eigene Geschichte.“

„Vielleicht in Kurzform?“ bat Seto. „Ich finde, man sollte sich kennen, wenn man miteinander arbeiten soll.“

„Er ist der Sohn von Apophis und Mokeph.“

Darauf wusste nicht mal Seto spontan etwas zu antworten. Er bekam ziemlich große Augen und seine Überraschtheit versperrte ihm die Lippen. Deshalb hatte er so rabenschwarze Augen - weil er Mokephs Sohn war. Und die hohe, hagere Gestalt musste er von Apophis haben. Deshalb war er auch so auffällig unscheinbar.

„Aber er sagte, Tea hat ihn adoptiert“ kombinierte er zaghaft selbst. „Also hat sie ihn nicht geboren?“

„Mokeph hatte einen Seitensprung“ erklärte Tato. „Er hat Tea niemals etwas gesagt, aber eines Tages war Dakar plötzlich da. Im Alter von 15. Es gab ein großes Hin und Her, wobei Dakar fast auf der Strecke geblieben wäre. Er war über einen traurigen Weg in die Fänge des Zirkels geraten. Er wirkt heute noch manchmal etwas merkwürdig, aber das liegt daran, dass sie ihm die Stimmbänder gekürzt und seine Tränendrüsen verkümmert haben. Seine heisere Stimme und seine regungslosen Augen, dafür kann er nichts. Als er damals zu uns kam, war auf dem Aussteigerweg. Er war vor seinem Meister geflohen. Letztlich endete er in der Obdachlosigkeit. Er kannte die normale Welt außerhalb des Zirkels überhaupt nicht. Deshalb war er sehr orientierungslos. Außerdem hatte er Drogenprobleme, ziemlich schwere sogar. Mit einer Droge namens Dust, die in unserer Zeit zu vielen Todesfällen geführt hat und es noch immer tut. Und zudem wollte Tea ihn natürlich nicht akzeptieren, sich sogar von Mokeph scheiden lassen. Sie war schrecklich enttäuscht und sauer auf ihn und in Dakar sah sie nur Apophis und diese fremde Frau. Für ihn aber war das zuviel und er wollte sein Leben wohl gar nicht mehr. Er hatte ja nichts mehr.“

„Aber was war denn mit seiner Mutter?“ fragte Seto betroffen. „Hat sie sich nicht um ihn gekümmert?“

„Sie hat ihn weggegeben“ antwortete Tato hart. „Sie hat sich vor ihrem Baby geekelt und es einem Fremden gegeben, der Dakar dann als starken Magier im Namen des Zirkels erzogen hat. Sie wussten nämlich sehr wohl, wer ihn gezeugt hatte. Sie haben ihn von der Welt abgeschottet und seit Kindesbeinen an einer Art Hirnwäsche unterzogen. Er sollte das Aushängeschild des Zirkels werden, aber gleichzeitig vollkommen hörig. Aber er spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. Er versuchte, wegzukommen, aber auch bei Mokeph fand er erst keinen Schutz. Der hatte sich dafür entschieden, seine Ehe zu retten. Er wollte sich zwar um Dakar kümmern, aber ihn von seiner Familie erst mal fern halten. Verständlich, denn er war damals wirklich zum Fürchten. Natürlich fiel ihm das als Vater nicht leicht, aber er konnte ihn nicht ins Haus holen. Er wollte für ihn da sein und ihm helfen, aber was Dakar von ihm wollte, war eine Familie. Und die schien er nicht zu bekommen. Aber als er am Abgrund stand, hat Tea sich letztlich überwunden und ihn als Mokephs Sohn akzeptiert. Sie hat ihn nach Hause geholt und offiziell adoptiert. Sie hat ihm bei seinem Drogenproblem geholfen und ihn sogar in ihrem Bett schlafen lassen, wenn er nachts weinte. Seitdem weicht er nicht mehr von ihrer Seite. Er sieht in ihr die Mutter, die er niemals hatte. Manchmal scheint es, er liebt Tea viel mehr als Mokeph es tut. Er würde alles für sie tun. Sie ist für ihn eine Heilige.“

„Und meine Cousinen haben ihn auch sofort adoptiert“ lächelte Phoenix. „Die Mädchen lieben ihn wie einen großen Bruder.“

„Aber wenn er im Zirkel war“ meinte Seto. „Warum hat Seth sich nicht um ihn gekümmert? Als sein Onkel hätte er das tun müssen.“

„Zu diesem Zeitpunkt hatte Seth den Zirkel noch nicht übernommen“ erklärte Tato ihm geduldig. „Das hat er erst vor etwa zehn Jahren getan und Dakar ist schon vor über 20 Jahren ins Haus gekommen. Kurz bevor Sethan geboren wurde.“

„Mokeph hat also Tea mit einer anderen betrogen“ seufzte er und lehnte sich geschafft zurück. Das musste er erst mal verdauen und hätte Tato ihn nicht um Stillschweigen gebeten, hätte er sicher anders reagiert. „Ihr kommt 38 Jahre aus der Zukunft und Dakar ist jetzt 37. Das heißt, seine Mutter ist jetzt schwanger.“

„Tea weiß nichts davon“ bat er. „Bitte sag ihr nichts. Das sollten die Gardeners unter sich ausmachen.“

„Er hat sie wirklich betrogen“ wiederholte er ungläubig. „Ich hätte nie gedacht, dass Mokis Yami ein Fremdgeher ist. Hat Apophis ihn verführt?“

„Mehr oder weniger“ gestand er ihm zu. „Mama, bitte. Ich hab dir das im Vertrauen erzählt. Lass dir nicht anmerken, dass du es weißt. Ich weiß, dass du Tea liebst, aber trotzdem. Bitte.“

„Die Hoffnung auf ruhigere Zeiten kann ich mir dann wohl in die Haare schmieren“ meinte er und sah ihn enttäuscht an. „Und ich dachte, mit der Zeit wird das Leben ruhiger.“

„Bei allen, nur bei uns nicht“ lächelte Tato entschuldigend. „Du weißt ja.“

„Ja“ seufzte er. „Irgendwas ist ja immer ...“
 


 

Chapter 17
 

„Onkel Tato?“ Er blickt langsam auf, als er diese Stimme hörte. Gerade war er in einem Gespräch mit Seto vertieft und hatte keinen zusätzlichen Besuch erwartet.

Und eigentlich war Seto froh, dass Sareth und Phoenix sich eben aus dem Staub gemacht hatten, um zu den anderen zurückzugehen. So wollte er die Gelegenheit nutzen und das ein oder andere Thema antasten, bei welchem er lieber keines der Kinder dabeihaben wollte. Aber mit Sethans Erscheinen musste er das wohl auf später verschieben.

„Was?“ fragte Tato kalt zurück. „Im Moment wohne ich hier oder willst du jetzt plötzlich auch noch über mein Zimmer bestimmen?“

„Nein“ antwortete er und kam vorsichtig ganz herein. „Oma, bist du so lieb und lässt uns einen Moment allein?“

„Bleib ruhig sitzen“ sagte Tato sofort dagegen. „Wir haben uns gerade unterhalten. Kannst du nicht später wiederkommen?“

„Nein“ war wieder seine Antwort und sein leuchtend unnatürlicher Blick bekam einen besonderen Glanz. Einen traurigen. Ihm standen die Tränen in den Augen. „Ich möchte gern jetzt mit dir sprechen.“

„Was willst du denn?“ Das klang zwar schon ein wenig entschärft, aber noch lange nicht einladend. Eher als wüsste Tato, dass er gerade etwas harsch gewesen war, es aber nicht einsah, sich dafür zu entschuldigen.

„Ich ... ich möchte dich bitten“ begann er vorsichtig und sah ihn verletzt an. „Bitte sei nicht so gemein zu mir.“

„Überleg mal, wer hier gemein ist“ warf er zurück. „Ich sage meiner Tochter, sie soll Zuhause bleiben und du nimmst sie einfach mit. Du stellst vor ihr meine Autorität infrage.“

„Aber es war mit Mama so abgesprochen“ verteidigte er sich schwach. „Warum änderst du so plötzlich deine Meinung?“

„Als ich gegangen bin, hab ich dir gesagt, ich will, dass sie Zuhause bleibt“ wiederholte er nur wieder. „Es ist nicht korrekt, wenn du mich vor ihr infrage stellst.“

„Es tut mir leid“ hauchte er und senkte seinen feuchten Blick. „Aber was soll ich denn machen?“

„Was ist denn los, Sethan?“ Seto war da etwas einfühlsamer, zumal er in diesem Zwist nicht wirklich drin steckte. Er konnte Tatos Sorge verstehen. Der wollte nur seine Tochter beschützen. Aber er meinte, auch Sethan verstehen zu können. Noch hatte er es nicht genau fragen können, aber die Wahrscheinlichkeit, dass Sareth große Magie besaß und er sie brauchte, war doch sehr wahrscheinlich. Und weil er hier dem scheinbar Schwächeren den Rücken stärken wollte, erhob er sich und ging zu ihm, legte ihm den Arm um die Hüfte. „Was willst du Tato denn sagen?“

„Ich will mich rechtfertigen“ antwortete er mit laut bebender Stimme und gestikulierte seinen Onkel wild an. „Warum willst du mich nicht verstehen? Warum bist du plötzlich gegen mich?“

„Ich bin nicht gegen dich. Aber ich muss ja nicht alles gutheißen, was du tust.“

„Ich hab doch keine Wahl! Was würdest du denn an meiner Stelle machen?“

„Ich bin ja nicht an deiner Stelle. Du bist doch viel toller als ich.“

„HÖR AUF!“ schrie er ihn verletzt an und sein Blick bettelte geradezu nach Verständnis. „Ich weiß, dass ich jünger bin als du. Verdammt, ich bin erst 23! Ich bin fast noch ein Kind! Kannst du dir nicht mal vorstellen, wie ich mich fühle?“

„Nein“ erwiderte er abweisend. „Du bist doch ein hochgeborenes Wesen. Selbst wenn ich wollte, könnte ich mich nicht in dich einfühlen.“

„Warum tust du das?“ Jetzt weinte er doch und Seto fühlte, wie er am ganzen Körper zu beben begann. Der mächtigste aller Könige hatte also auch eine menschliche Seele und fürchtete sich vor dem, was die Zukunft für ihn bereithielt. Er war gar nicht so cool wie er vorgab. „Ich hab noch lange nicht deine Reife, deine Erfahrung. Aber jeder erwartet, dass ich die Welt rette. Andere in meinem Alter gehen auf Partys und amüsieren sich und ich muss König spielen. Mich hat nie jemand gefragt, ob ich das machen will.“

„Du scheinst aber sehr darin aufzugehen“ gab er wertfrei zur Antwort. „Es ist doch super, wenn man so wichtig ist.“

„Ich finde das nicht super“ weinte er. „Ich hasse es. Viel lieber wäre ich ein Durchschnittjugendlicher mit einer Durchschnittfamilie und einem Durchschnittsjob. Mich hat nie jemand gefragt, ob ich ein göttergleiches Wesen sein will.“

„Kommt dir das nicht bekannt vor?“ versuchte Seto seinen Sohn zu erinnern. Auch Tato hatte geäußert, dass er viel lieber durchschnittlich und normal wäre. Konnte er sich denn nicht wenigstens da in den jungen Sethan einfühlen? Seto wusste nicht genau, weshalb der sonst so gelassene Tato plötzlich so aggressiv reagierte. Auf den Sohn seiner eigenen Schwester, seiner Pharaonin. Und auch nicht, warum der so abgeklärt und positiv scheinende Sethan plötzlich so verletzt war. Ganz anscheinend waren da wohl schon Sachen gelaufen, über die Seto einfach nichts wusste.

„Sethan, du sollst die Welt retten. Nicht ich“ erklärte er trocken. „Mich hat auch niemand gefragt, ob ich hierauf Bock habe. Aber jeder hat nun mal seine Pflichten.“

„Ich weiß.“ Er versuchte seine Stimme zu beruhigen, aber wirklich gelingen, tat es ihm nicht. „Ich versuche auch, meine Pflicht wahrzunehmen. Aber ich brauche Hilfe. Die Hilfe von Sari. Die Hilfe von Nando. Die Hilfe von Narla, von allen. Und vor allem brauche ich deine Hilfe. Verdammt, ich bin doch gar nicht reif für so etwas. Ich habe riesige Angst vor dem, was kommen wird. Aber ich darf das niemandem zeigen. Ich bin der Stärkste von uns. Ich hab mir das nicht ausgesucht, aber wenn ich nicht zuversichtlich bin, wird es auch kein anderer sein. In mir drin, fühle ich mich nicht wie der größte Pharao, der mächtigste Gott aller Zeiten. Aber alle erwarten, dass ich mich so benehme. Was soll ich denn tun? Wenn wir hier scheitern, wird auch unsere Zukunft sterben. Dann ist es egal, wo Sari sich aufhält. Als Priester meiner Mutter warst du mir immer ein Vorbild. Aber jetzt, wo ich dich am meisten brauche, da machst du es mir so schwer. Ich kann verstehen, dass du sauer auf mich bist, weil ich deine Autorität unterwandert habe. Ich kann auch verstehen, wenn es dir schwer fällt auf jemanden zu hören, der so viel jünger und unreifer ist als du. Aber was soll ich tun? Sag mir, was ich tun soll!“

„Sethan ...“

„Ich brauche dich, Onkel Tato“ schluchzte er. „Ich hab Angst, dass ich versage. Davor, dass mein Plan nicht aufgeht. Aber ich will die Welt beschützen, die Menschen darauf und alle, die ich liebe. Ich will Gutes tun, aber ich kann das nicht alleine. Ich brauche dich ... bitte sei für mich da. Ich weiß, du bist nicht mein Priester, aber auch ich brauche jemanden, der mir den Rücken stärkt. Mama kann nicht hier sein ... bitte steh du mir an ihrer statt bei.“

„Weiß deine Mutter, dass du mit so unsicheren Gefühlen aufgebrochen bist?“ Selbst Tato schien überrascht über diese emotionalen Worte zu sein. Auch wenn er es hinter einer tonlosen Maske verbarg, sah man doch ein wenig Verwirrung durchscheinen.

„Nein“ antwortete er leise. „Ich hab doch keine andere Wahl. Wenn ich zeige, wie viel Angst ich habe ... du weißt, was ich für ein Schisser bin.“

„Du bist kein Schisser“ meinte er fest. „Du warst doch der Erste, der sich beim Bungee freiwillig gemeldet hat.“

„Das war kein Kunststück, sondern Vertrauen. Du hättest mich ja aufgefangen.“

„Hätte ich nicht“ sagte er kalt. „Du weißt, dass ich nicht fliegen kann.“

„Aber ich weiß, du hättest mich aufgefangen“ flüsterte er. „Bitte ... überwinde dich und lass mich dir vertrauen. Schluck runter, was dich stört und stärke mir den Rücken. Ich gebe mir Mühe, stärker zu sein als ich bin. Und vielleicht kannst du dir Mühe geben und ein bisschen von deinem Stolz ablegen.“ Und damit verlangte er wirklich viel. Tato war ein sehr stolzer, ein geradezu eingebildeter Mensch. Das abzulegen und einen Jungen als mächtiger anzuerkennen, sich von ihm etwas sagen zu lassen, fiel ihm sicher schwerer als jedem anderen.

„Okay.“ Nach einem kurzen Überlegen stimmte er dennoch zu. Aber er wäre nicht Tato, wenn er nicht Gegenforderungen stellen würde. „Aber nur unter einer Bedingung.“

„Und welche?“ Seine Stimme war von Hoffnung erfüllt, aber auch von Unsicherheit, ob er dies Forderung erfüllen konnte.

„Ich will, dass Sareth unverletzt nach Hause zurückgehen kann“ forderte er klar.

„Ob unverletzt oder nicht, kann ich dir nicht garantieren“ erwiderte er. „Aber ich will versuchen, sie besonders zu beschützen. Ich weiß, wie wichtig sie dir ist.“

„Versprich es mir“ forderte er vehement. „Und wenn es Tote gibt. Selbst wenn ich sterbe. Ich will, dass du sie am Ende nach Hause bringst. Und wenn sie die Einzige ist, die zurückkehrt. Ich will, dass sie hier lebend rauskommt.“

„Ich verspreche es dir“ nickte er und wischte sich die Tränen fort. „Auch wenn es nicht viel bringt. Wenn wir hier scheitern, nützt ihr auch eine Rückkehr in die Zukunft nichts. Aber wenn das die Bedingung für deine Loyalität ist, dann werde ich sie erfüllen.“

„Gut dann.“ Tato erhob sich, stützte sich auf seinen Stock und kam langsam die wenigen Schritte auf ihn zu, um ihn ruhiger anzusehen. „Solange du mir versprichst, meine Tochter zu beschützen, kämpfe ich für dich wie für meine Schwester.“

„Ich beschütze sie“ versprach er deutlich. „Ich verspreche es dir.“

„In Ordnung. Komm her, du Schisser.“ Er breitete seine Arme aus und Sethan hatte sich schneller angeschmiegt, als er gucken konnte. „Wenn ihr was passiert, ist unser Pakt gestorben. Verstanden?“

„Ja“ hauchte er und drückte sich an ihn. „Danke, Onkel Tato.“

„Schon gut. Und ab jetzt keine Schwächeleien mehr.“

„Nein ...“

„Sei ein Mann.“

„Ja ... Onkel Tato ...“

Seto erkannte, dass sie vielleicht mit ganz falschen Erwartungen an Sethan gedacht hatten. Er war als so groß und mächtig prophezeit worden, dass man insgeheim glaubte, einen Übermenschen vor sich zu sehen. Vielleicht war er das sogar, aber nicht so, wie man es erwartet hatte. Er war selbst erst ein Jugendlicher und er hatte Angst davor, die in ihn gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen. Er stand unter großem Druck. Er sollte die kleine Armee der Mächtigen in eine Schlacht gegen den dunkelsten aller Götter und seinen verblendeten Sohn führen und einen fast aussichtslosen Streit beenden, der seit Jahrmilliarden tobte. Dabei war er selbst erst 23 Jahre. Seine Zweifel waren vollkommen verständlich. Jeder hätte Zweifel, dieser Sache gewachsen zu sein. Und dann kam jemand wie Tato, der es verstand, anderen Leuten das Leben schwer zu machen. Jemand, der immer versuchte, seine eigenen Interessen durchzusetzen. Man musste ihn nicht gegen sich haben, um in einem Kampf zu wanken. Schlimm genug war es schon, ihn nicht sicher auf seiner Seite zu wissen. Und bei Tato wusste man nie genau - der hatte seinen eigenen Kopf. Aber in einem solchen Kampf musste Sethan sich einfach auf ihn verlassen können. Es ging schlechter ohne ihn. Doch wenn Tato eines war, dann war er ein Mann der Ehre. Wenn er etwas versprach, dann hielt er sein Wort. Und er hielt sich an einen geschlossenen Pakt. Solange Sethan seine Tochter schützte, würde er die Priesterschaft für ihn übernehmen. Und das bedeutete, ihn und seine Entscheidungen vollkommen anzuerkennen und danach zu handeln. Für jemanden, der so viel jünger und unerfahrener war als er selbst. Am Ende fiel es beiden nicht leicht, einen solchen Pakt zu schließen. Aber es machte vieles einfacher.

Seto seufzte schwer und stellte sich hinter Sethan, schlang seine Arme um ihn und umarmte ihn von der anderen Seite. Dieses junge Überwesen schien es wahrlich nicht leicht zu haben. Hierher zu gehen und einen Kampf zu kämpfen, den außer ihm niemand bestehen konnte, die Zeit zu beeinflussen und gleichzeitig allen etwas recht zu machen ... für einen jungen Menschen war das wirklich ein schweres Los. Das wäre es auch für jeden anderen.

„GRUPPENKUSCHELN!“ Und als Yami das sah, hopste er sofort herein und quetschte sich irgendwo dazwischen. Ob er da reinpasste oder nicht, war ihm ziemlich egal. Wo gekuschelt wurde, wollte er mitmachen. „Wollen wir uns nicht lieber hinlegen? Auf Dauer wird das ungemütlich“ schlug er irgendwo zwischen Setos Ellenbogen, Sethans Knie und Tatos Kinn gedrückt vor. Nicht nur stören, sondern auch noch Ansprüche stellen!

„Was willst du schon wieder?“ grummelte Seto und löste sich beleidigt. Und damit löste sich auch die gesamte Runde auf. Genug geschmust für den Moment.

„Du kannst so nett sein, du Engel“ murrte Yami zurück. „Ich bin das hol-mal-die-anderen-Kommando. Wir warten alle, dass uns mal jemand erzählt, wie’s weitergeht.“

„Ich glaube, das weiß eh nur einer“ meinte Tato und sah Sethan mit offenen, geklärten Augen an. „Also, walte deines Amtes und führe uns.“

„Hör auf. Das hört sich komisch an, wenn du so redest“ sah er beunruhigt an ihm hinauf.

„Dir kann man auch nichts recht machen. Da will ich mal nett sein und du ...“

„Also, ich hab irgendwie auch Angst vor dir, Tato“ gestand Yami und nahm Sethan scherzend in den Arm. „Er ist doch echt gruselig, oder?“

„Ach. Und warum?“ brummte Tato als sie sich gemeinsam auf den Weg hinaus machten.

„Tja, einfach nur so“ lachte Yami. „Du bist noch viel unheimlicher als Seto manchmal.“

„War das ein Kompliment oder eine Beleidigung?“ brummte der dann von der anderen Seite.

„Was wäre denn für mich vorteilhafter?“ überlegte Yami und sah nachdenklich die Decke an. „Was meinst du, Sethan? Wenn ich sage, das war ein Kompliment, dann nuschelt Seto wahrscheinlich irgendwas Unverständliches und redet die nächste Stunde gar nicht mehr mit mir. Und wenn ich sage, dass das eine Beleidigung war, dann wird er versuchen, mir irgendwelche schrecklichen Dinge anzutun. Wobei ...“

„Du stehst doch auch schreckliche Dinge“ schmunzelte Sethan.

„Stimmt“ schmunzelte der zurück. „Du auch?“

„Na ja ... nicht so sehr, um ehrlich zu sein. Ich hab’s lieber friedlich.“

„Bist du schwul?“

„Öhm ...“

„YAMI!“ machte Seto ihn wütend an und griff ihn am Kragen, um ihn von dem armen Jungen wegzuziehen.

„Was denn?“ quengelte der in diesem kalten Griff. „War doch ne ganz normale Frage.“

„Nein, das war eben keine normale Frage.“

„Also, ich bin bi“ erzählte er frei heraus. „Ich mag Männer und Frauen. Aber am meisten mag ich Seth. Seto ist aber auch geil. Und Yugi erst ... hmmmm. So, jetzt bist du dran.“

„Lass ihn in Ruhe damit“ schimpfte Seto und schubste ihn nach vorn. Er konnte ihn ja nicht ewig festhalten.

„Also?“ Und schon klebte er wieder an Sethans Seite. „Bist du auch anders oder ganz normal hetero? Mit wem hast du schon alles und wann?“

„Noch gar nicht“ gab er freizügig zu.

„Wie ... noch gar nicht?“ Das war eine Formulierung, die kannte Yami nicht. Man musste doch alles mal gemacht haben.

„Na ja. Weißt du ... ich bin noch Jungfrau.“

„Buff“ uffte er dann und sah ihn planlos an. „Echt? Mit 23 noch? Noch nie Sex gehabt?“

„Nein, noch nie“ lächelte er sanft.

„Noch nicht mal geknutscht?“

„Nein. Ich warte auf den richtigen Menschen. Auf denjenigen, der mir alles bedeutet.“

„Ach, so einer bist du“ stellte er enttäuscht fest. „So ein Romantiker.“

„Wenn du es so ausdrücken willst, Ati. Bist du sehr enttäuscht?“

„Na ja, ein bisschen schon“ gab er seufzend zu. „Ich dachte, du erzählst mir mal ein bisschen was nettes. Aber na gut ...“ Und da er jetzt Tato leuchtend ansah, zog der schon mal langsam den Kopf ein. „Und du, Tato? Wie ist es so mit deinem Sex?“

„Lass das“ raunzte Seto ihn von der Seite an. „Hör auf mit deinen Fragen.“

„Ach, sei ruhig. Du bist uninteressant“ lachte er. Was Seto so an Sex hatte, wusste er aus erster Hand. Da musste er nicht mal fragen, das erzählte Yugi ihm immer brühwarm. „Tato, erzähl mal. Was macht ein Mann wie du mit seiner ganzen Manneskraft?“

„Meinen Blick auf andere Dinge wenden als auf unnützes Rumhuren“ entgegnete er und sah ihn drohend an. „Zum Sexhaben ist die Jugend da. Irgendwann sollte man auch mal erwachsen werden, Atemu.“

„Ne ziemlich traurige Einstellung finde ich das“ antwortete er enttäuscht. „Hast du denn gar keinen Spaß mehr in deinem Leben?“

„Es gibt anderes als immer nur dem nächsten Fick hinterherzulaufen. Du solltest dich lieber auf Sachen konzentrieren, die wirklich wichtig sind. Dann wäre Seth vielleicht jetzt woanders.“

„Tato. Bitte.“ Jetzt musste Seto ihn mal anmahnen. Yami war nun mal jemand, der seine Trauer hinter Scherzen verbarg. Der sich niemals in seinem Elend auflösen wollte. Aber ihm solche Vorwürfe zu machen, war gemein. Es war nicht seine Schuld, dass der größte und gefährlichste Feind aus ihren eigenen Reihen kam.

„Schon gut. Danke, Seto“ dankte Yami und wand seinen Blick von Tato ab nach vorne. „Auch wenn es dich nicht interessiert, Asato. Ich habe seit über einem Jahr mit keinem anderen mehr als mit Seth geschlafen. Vielleicht ist er deshalb fortgegangen, weil ich ihn zu sehr eingeengt habe. Denn Treue definiert jeder anders. Und die eigene Definition von Zuneigung ist das Wichtigste im Leben. Denn Mut zum Individualismus ist, denke ich, einzig und allein wirklich erwachsen. Und man sollte sich immer treu bleiben, um jemand anderen im Herzen zu halten.“

Das nahm selbst ihm den Wind aus den Segeln. So fröhlich und herzlich und aufdringlich Yami sich auch gab, so tief und vernünftig waren auch seine Gedanken. Und ihm Gedankenlosigkeit vorzuwerfen, wurde seiner Art bei Weitem nicht gerecht.
 

„Da seid ihr ja endlich!“ Gut, dass sie eben in die Küche zurückkamen und damit das alte Thema beendet war. Joey war schon ganz gespannt. „Und? Was sollen wir jetzt machen? Wen schlagen wir als nächstes in die Flucht?“

„Na, immer ruhig bleiben“ ermahnte Narla ihn und schubste ihn zurück auf seinen Stuhl.

„Aber ich wüsste jetzt eigentlich auch gern wie es weitergeht“ gestand Sharesa. „Ich meine, wollen wir sitzenbleiben und warten bis Seth endlich kommt oder wie hast du dir das gedacht?“

„So ähnlich hatte ich das wirklich im Kopf“ gestand Sethan ehrlich.

„Da kannst du aber wohl lange warten“ meinte Yami. „Der war schon zur letzten Mondphase nicht hier. Dann kommt er übermorgen auch nicht.“

„Das meinte ich auch nicht“ sprach er weiter und nahm sich sein angebrochenes Glas Cola vom Tisch. Wohl auch, um sich ein bisschen daran festzuhalten. „Egal, was passiert. Es wird da passieren, wo wir sind. Deshalb möchte ich, dass ihr eure Sachen packt und mit mir verreist.“

„Verreisen?“ hakte Noah nach. „Etwa sofort?“

„Ich weiß, dass du Termine hast, Onkel Noah“ erwiderte er mit offenem Blick. „Aber vielleicht kannst du es einrichten.“

„Ich weiß nicht. Wie lange sollen wir denn wegbleiben?“

„Ich weiß es nicht. So lange, wie es eben dauert.“

„Also ...“

„Noah“ unterbrach er ihn ruhig. „Du bist vielbeschäftigt, das weiß ich. Aber wir können niemanden zurücklassen. Es ist doch so: Egal, wo ein Kampf stattfindet, er geschieht immer dort, wo wir sind. Die Schatten suchen gezielt nach uns. Wenn ein oder zwei Leute allein zurückbleiben, wären sie leichte Opfer. Und die Schatten werden immer stärker, da die Engel immer weniger werden. Somit sind nicht nur wir, sondern auch unsere Umgebung betroffen. Deshalb sollten wir an einen Ort gehen, wo wenige Menschen sind und wo ein Kampf nicht so große Schäden anrichten würde. Nur dort können wir uns wappnen und die Pharaonen die nötige Kraft in der Abgeschiedenheit sammeln.“

„Und wo willst du hin?“ fragte Narla. „Es gibt doch auf der Erde kaum noch Orte, wo keine Menschen sind. Vielleicht noch in der Wüste, im Regenwald oder irgendwo in abgelegenen Bergen.“

„Nein, nicht an solch einen Ort“ verneinte er. „Ich weiß nicht, wie lange unser Aufenthalt dort dauern würde. Es könnte eine Woche sein, aber auch ein Jahrzehnt oder mehr. Wenn wir wirklich beispielsweise nur ein Jahr irgendwo im Urwald verbringen, sind wir viel zu geschwächt. Außerdem muss auch die Kaiba Corp. irgendwie weitergeführt werden. Ohne das Geld aus der KC werden uns viele Türen geschlossen, was nicht passieren darf. Wir brauchen die Macht, welche das Kapital mit sich bringt. Also brauchen wir mindestens einen Internetanschluss und den gibt es nun mal nur in besiedeltem Gebiet. Außerdem soll auch unsere Motivation durch eventuelle Menschenleere nicht gemindert werden, was höchstwahrscheinlich geschehen würde, wenn wir uns völlig zurückziehen.“

„Du hast dir darüber wohl schon viele Gedanken gemacht, was?“ stellte Marie fest.

„Mehr als das“ lächelte er. „Ich habe uns bereits einen Ort ausgesucht. An einem abgeschiedenen Fjord in Norwegen. Die Temperaturen sind dort erträglich und es gibt in der Nähe nur ein kleines Dorf, welches man mit dem Boot erreicht. Außerdem ist die Natur einmalig schön. Ich bin mir sicher, ihr werdet es mögen. Auch wenn es sehr abgeschieden ist und wir absolut unter uns sein werden.“

„Und wie sollen wir da wohnen?“ wollte Tea vorsichtig wissen. „Ich will nicht meckern, aber diese Fjorde sind doch meistens unberührte Schutzgebiete. Mit Kleinkindern, Babys und einer Schwangeren in Zelten zu wohnen ... na ja, das wäre nicht so einfach.“

„Nein, wir werden nicht campen. Um Rahs Willen“ lachte er. „Ich habe ein paar Bungalows angefordert. Es gibt sogar die Möglichkeit, Wasser mit Solarkraft warm zu machen. Und Strom gibt es im Notfall auch aus dem Generator. Es lässt sich dort aushalten.“

„Und wie hast du das angemietet?“ fragte Tristan neugierig. „Du bist doch nicht mal ne Stunde hier.“

„Das Land gehört uns Mutos“ erklärte Sethan und sah Tato versichernd lieber noch mal an. „Tut es doch, oder?“

„Ja“ nickte der. „Ich habe es in Mamas Namen gekauft, sobald ich hier war. Gustav war sehr kooperativ und hat es sofort umgesetzt. Ursprünglich war es ein Privatbesitz im Naturschutzpark, aber jetzt gehört es uns und es ist sofort bezugsfertig.“

„Also, was du machst, das machst du richtig, Onkel Tato“ lächelte er beruhigt. „Dank dir.“

„Schon gut, Kleiner.“ Tja, ab und zu tat er eben doch mal, was man ihm sagte. Das sollte man sich im Kalender eintragen, damit man diesen denkwürdigen Tag nicht irgendwann wieder vergessen hatte.

„Aber Sethan?“ fragte Sareth leise.

„Ja, Schätzchen“ lächelte er zurück. „Ich hab’s nicht vergessen. Keine Sorge.“

„Warum? Was denn?“ fragte Joey interessiert.

„Wir wollen noch zu Opa fahren“ erklärte sie schnell. „Das hat Sethan mir versprochen. Bevor wir kämpfen, gehen wir noch Opa besuchen. Also Ururopa.“

„Ach ja, du sagtest so was“ erinnerte Yugi sich. „Wann wolltest du denn aufbrechen, Sethan?“

„Am liebsten vorgestern?“ antwortete er vorsichtig. Auch wenn das jetzt etwas überstürzt kam, aber nun, wo sie komplett waren, gab es keine Zeit mehr zu verlieren.

„Na ja, wir haben unsere Taschen ja noch nicht ausgepackt“ meinte Jonny. „Also kann’s gleich weitergehen. Aber den alten Opa Muto möchte ich irgendwie auch gern mal sehen. Seto erzählt ja immer so viel von ihm.“

„Aber nicht alle auf ein Mal“ bat Yugi. „Opa ist zwar noch ganz rüstig, aber das wäre vielleicht etwas viel Aufregung.“

„Dann machen wir es doch so“ schlug Seto vor. „Ich hole die Kinder aus dem Kindergarten ab und packe unsere Taschen. Und die anderen packen auch ihre Taschen. Unsere Gäste gehen in der Zwischenzeit Opa besuchen und heute Abend fahren wir dann los.“

„Möööp, ganz schlecht“ schmunzelte Yugi. „DU fährst mit zu Opa und ICH werde die Kinder abholen und die Taschen packen.“ Wobei die Betonung wahrscheinlich auf dem Taschenpacken lag. Denn wenn Seto packte, hatten sie hinterher das halbe Haus im Frachtraum und die Hemden waren trotzdem geknittert. Seto hatte viele Talente, aber Taschenpacken gehörte eindeutig nicht dazu. „Ich kann Opa ja aus dem Auto anrufen und ihn schonend vorwarnen, dass ihr kommt.“

Yugi hatte eben noch immer die Besten Ideen. UND er kannte seine Pappenheimer.
 


 

Chapter 18
 

„ONKE NOOOOAAAAAH! IS WILL EIN GNUUUUUUUTS!“ Als Tato hereinstürmte, wusste jeder, dass der Rest der Truppe nun auch endlich eingetroffen war.

Der kleine Drache war die Treppen zum Flugzeug noch gar nicht ganz hereingeklettert, da schrie er schon, dass er geknutscht werden wollte. Und Noah war da immer ein, seiner Meinung nach, dankbares Opfer.

„Na, du Kuschelterrorist“ seufzte er und fing den Mini auf, setzte ihn auf seinen Arm, ließ sich von den kleinen Armen umfangen und seine frisch gepuderten Wangen küssen. Ohne ausreichend Kuscheln kam er ja doch nicht wieder weg. Selbst ein Onkel Noah war da lernfähig und begann irgendwann sich mit seinem Schicksal anzufreunden. Irgendwas würde ihm doch fehlen, wenn er das Kampfgnuutsgeschrei des Minidrachen nicht mehr hörte.

„Wir waren Opa besuchen“ erzählte Nini als sie ihm direkt hinterherlief und bei Joey auf dem Schoß landete. „Er hat sogar Schokotorte gehabt. Eigentlich war die ja für Yoshimoto, weil der morgen Geburtstag hat, aber Opa sagte, dann muss er eben eine neue machen. Wir haben auch alles aufgegessen. Weißt du, dass Opas Schokotorte die beste der Welt ist? Keiner kann die so gut wie er. Papa vielleicht ein bisschen, aber irgendwas ist da anders. Papa sagt, in dem Rezept steht alles drin, aber Opa sagt, da steckt Liebe drin und die kann man nicht in Packungen kaufen. Papa macht ja auch seine Liebe in den Kuchen rein, aber das ist ja dann Liebe von Papa und nicht von Opa. Deswegen schmeckt Opas Torte ein ganz kleines bisschen anders. Ist doch eigentlich logisch, oder?“

„Guten Tag, Ilani“ nickte Joey ihr grinsend zu.

„Bonjour, Joey“ lächelte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Erst erzählen, dann kuscheln. Das war bei Tato sonst andersrum.

„Ihr habt also Opa die Torte weggefuttert, ja?“ fragte Tristan, als auch die anderen so nach und nach hereinkamen. „Habt ihr wenigstens was mitgebracht?“

„Nini hat’s doch schon erzählt“ meinte Yami und fläzte sich gemütlich auf den schönen Sessel. „Es ist nichts übrig geblieben.“

„Wenn du dabei warst, kein Wunder“ muckschte Mokuba und streckte Noah deprimiert über den Zweisitzer seine Füße entgegen.

„Mokuba, setz dich anständig hin“ wies Seto ihn zurecht, als der hinter Tato in den Flieger stieg. „Wir wollen gleich starten.“

Aber er war ja auch der große Bruder. Also murrte Mokuba nicht mal, nahm die Beine herunter und setzte sich aufrecht hin. Den Gurt legte er sich auch schon zurecht. Tja, kleine Brüder blieben eben immer kleine Brüder.

„War es denn schön?“ fragte Marie als Phoenix sich einen Platz direkt bei ihr suchte.

„Ja“ lächelte er leise. „Opa Salomon ist wirklich ein lieber Mensch. Genau wie Seto immer erzählt.“

„Ja, Mama. Wirklich.“ Balthasar setzte sich zu ihrer anderen Seite und sah auch ganz glücklich aus. „Er meint es wirklich total gut mit allen. Die ganze Zeit war er am Herumlaufen und hat uns mit tausend Dingen versorgt, damit es uns bei ihm auch ja gut geht. Erst als Yugi kam, konnte der ihn zwingen, sich mal hinzusetzen. Und Seto hat bei ihm ja wohl gar keine Durchsetzungskraft.“

Der hörte das zwar, aber murmelte irgendwas in die andere Richtung. Es gab Dinge, da hatte er sich langsam seine Kommentare abgewöhnt. Wenn er sich aufregte, schaukelte das manchmal die Sache nur unnötig hinauf. Und dass er sich gegen Opa nicht durchsetzen konnte, war niemandem neu.

„Und Asato auch“ erzählte Phoenix leise und wurde ganz rot auf den Wangen. „Opa hat ihn ständig abgeknutscht und er hat gar nichts dazu gesagt. Obwohl er das eigentlich nicht mag.“

„Schnall dich an, Phoenix. Wir starten gleich“ warf der ihm etwas dunkel herüber. Übersetzt sollte das wohl heißen, dass er sich jeden weiteren Kommentar verkneifen sollte. Tato war eben auch ein Opfer höherer Pädagogik.

„Sind dann jetzt alle an Bord?“ fragte der Pilot, welcher als Letzter in die Maschine stieg. Ein freundlich aussehender, etwas älterer Herr. Eine kleine Wampe und einen dunkelgrauen Vollbart. Und in der hellgrauen Uniform, welche die Angestellten des Außendienstes der Kaiba Corp. in den letzten Jahren zunehmend trugen.

„Ja, wir sind alle komplett, Captain“ lächelte Noah ihn an. „Und wir haben alles, was wir brauchen.

„Sehr gut.“ Er schloss die schwere Tür hinter sich und verriegelte sie fachmännisch mit drei festen Hebeln. „Dann schnallen Sie sich doch bitte schon an. Wir werden unsere Starterlaubnis wohl sofort bekommen.“

„Na, dann komm mal her, du Räuber!“ Yugi fischte sich den kleinen Tato auf den Arm, der dann auch umgehend quengelte und sich in seiner Freiheit eingeschränkt fühlte.

„Nein! NEEEIIIN! Papa! Manno! Bei Onke Noah bleiben! Bring mis wieder surück!“

„Nichts da. Du kommst jetzt in den Kindersitz, damit wir starten können.“

„Nein! Is will nis in Tinnasits! Das is doof! Is bin kein Kind mehr! Is bin soon awacksen! Is kann selba fliegen!”

„Das dauert noch ein paar Jahre bis du selbst fliegen kannst, Minidrache“ belehrte Yugi und schnallte ihn trotz des Protestes in seinem Kindersitz fest.

„Nein! Manno, Papa!“ schimpfte er und haute ihm auf den Fingern rum. „Lass das! Alter Swede, lass das do mal! Das is voll doof! Du masst mis peinlis!“

Yami fand das nur köstlich und amüsierte sich prächtig. „Hast du das gehört, Yugi? Du machst ihn peinlich, Mann!“

„Guck mal, Tato. So schlimm ist das gar nicht“ tröstete Nini und krabbelte ganz selbstständig in ihren eigenen Kindersitz, der direkt neben seinem stand. Sie war ja leider etwas klein für ihr Alter und da bestand Papa Yugi darauf, dass sie beim Starten und Landen im Kindersitz saß.

„Du bis ja au ein Mädsen“ guckte er sie beleidigt an. „Mädsen sind soon peinlis geborn!“

„Selber peinlich.“ Jetzt war sie auch beleidigt. „Wenigstens kann ich meinen Kindersitz auch alleine zumachen. Guck?“ Klack und das Ding saß. War ja auch nicht schwer, denn im Gegensatz zu Tato, hatte sie nur einen Becken- und keinen Kreuzgurt. „Ich bin nicht peinlich.“

„Tato, bitte“ ermahnte Yugi, als der ihn wohl eben ziemlich fies gekniffen hatte und er kurz zurückzuckte. „Das tut doch weh. Nach dem Starten darfst du dich wieder abschnallen.“

„Manno! PAPA!“ Tato kriegte gleich nen Koller hier! Aber je fester er Papa auf die Finger haute, desto ungemütlicher wurde sein Gurt. Kleine Drachen ließen sich doch so leicht nicht zähmen! „Lass das, Mann! Geh ma weg! Is will in den dooßen Sitz ohne Fessel!“

„Das sind doch keine Fesseln, Tato.“ Endlich war auch Seto da und unterstützte seinen Mann mal beim Kinderzähmen. Er kniete sich zu ihm und hörte schon, wie die Triebwerke angelassen wurden. „Schau mal“ wies er nach hinten. „Der große Tato hat sich auch angeschnallt. Das ist cool.“

„Gar nis“ antwortete er und verschränkte skeptisch seine Arme vor dem Bauch. Irgendwann würde das Überkreuzen schon klappen. „Du weiß ja gaa nis, was kuhl is. Du bisja soon so lange unten, Mama.“

„Wie bitte?“ Da fiel ihm doch gleich alles aus dem Gesicht. „Tato, wer bringt dir so einen Quatsch bei?“ Und der Schuldfinger zeigte direkt auf ... „Y a m i !!!“

„Oh oh” guckte er der erschrocken zurück, griff ganz weit nach links und klaute dem überrumpelten Phoenix die Brille von der Nase. „Leute mit Brillen schlägt man nicht.“

„Und Leute mit Kindern verpfeift man nicht“ grummelte Seto zurück. „Wir sprechen uns noch.“

„Kann ich meine Brille wiederhaben? Bitte?“ Ohne konnte er ja so gut wie nichts sehen. **Gruß an meine Beta. Na, wo steht das Kamel auf dem Balkon? ^^**

„Warte noch ...“ Yami beobachtete ganz genau wie Seto sich neben Yugi setzte und sich auch gleich anschnallte. „Jo, danke für den Schutz.“ Dann erst konnte er ruhigen Gewissens die Brille zurückgeben. Wenn Seto angekettet und sicher in Yugis Handgepäck verstaut war, war die größte Gefahr gebannt. Außerdem setzte sich der Flieger auch schon in Bewegung.

„Bist du dir sicher, dass wir die Kinder mitnehmen sollten?“ bangte Joey, der seine Tochter lieber bei Narla in den Armen wusste. Für sie und Theresa war der sicherste Platz noch immer bei Mama, auch wenn sie hier in ihrem etwas überdimensionierten Hartschalensitzen steckten und pennten.

„Seit wann hast du Angst vorm Fliegen?“ schaute Yugi ihn überrascht an.

„Nein, nicht deswegen“ erklärte er. „Aber wenn es wirklich so gefährlich ist, wie Sethan sagt, dann sollten wir die Minis doch lieber irgendwo in Sicherheit bringen. Oder nicht?“

„Am sichersten sind Kinder immer bei ihren Eltern. In den meisten Fällen zumindest“ versuchte der zu rechtfertigen. „Und wenn wir wirklich etwas länger bleiben? Du möchtest doch sicher nicht, dass Joey dich nicht mehr erkennt, wenn du irgendwann zurück bist.“

„Kann is setz wieder raussteigen?“ wollte Tato quengelnd wissen. „Das Sitzen snürt meine Inttelens ein.“

„So ein Unsinn. Wer sagt denn, dass Sitzen deine Intelligenz einschnürt?“ meinte Seto und zeigte mal zum Fenster raus. „Guck mal, Tato. Wenn du rausguckst, siehst du gleich, wie der Boden weggeht.“

„Gaa nis“ guckte er ungläubig zurück. „Der Boden is immer da.“

„Na, dann lass dich mal überraschen. Guck.“

„Ich will auch gucken“ forderte Nini und lehnte sich zu Tato rüber, um mit ihm zusammen rauszusehen. „Das war damals auch so lustig. Das kribbelt im Bauch, wenn man fliegt.“

„Tato erinnert sich gar nicht mehr daran, wie fliegen ist. Damals als wir aus Paris kamen, war er noch viel zu klein“ lächelte Yugi, der seine kleine Familie einfach nur liebte. Seto war so süß mit den Kleinen.

„Genau wie unser Tato.“ Als Jonny das sagte, hörten die anderen schon den nächsten Fettnapf heransausen. „Der hat auch vergessen, wie man fliegt.“

„Jonny“ sah Sharesa ihn mahnend an und schüttelte den Kopf, worauf der junge Wheeler dann auch etwas kleiner wurde. Tato sah zwar zum Fenster heraus und tat so als hätte er das nicht gehört. Aber wenn es nicht am veränderten Licht lag, dann waren seine Augen feucht. Das war ein Kommentar, der wehgetan hatte.

„AAAAAAAAAAAAAAAHHHHHHHHHHHHHH!“ Dafür kreischte Risa ganz außer sich, als sie auch aus dem Fenster guckte und fasziniert war von dem Kribbeln im Bauch und dem Ausblick, dass der Boden tatsächlich verschwand. „Mama! Tuck! Da! Da! Tuck ma! Mama!”

„Ja. Schön, mein Schatz“ lächelte sie und hielt ihr Haar zurück, wenn sie sich nach vorn lehnte. „Das ist fliegen, Mäuschen.“

„Das ist wie fliegen, dis einfa su lieben!“ sang der kleine Tato fröhlich drauf los. „Is spür dis su vermissen, dis einfa su güssen!“ Nicht schön, aber selten.

„Ja. Super, Tato“ lachte Nini und wuschelte ihm fröhlich durchs Haar. „Du bist ein guter Sänger.“

„Is weiß“ brüstete er sich stolz. „Is bin eine Sahnpasta.“

„Nein, nicht Zahnpasta“ belehrte sie fachmännisch. „Ein Superstar.“

„Aso. Na gut. Das bin is au” meinte er nebenbei und guckte wieder nach draußen. Ob nun Zahnpasta oder Superstar - Tato fand sich immer toll.

„Du? Großer Tato?“ guckte Nini ihn neugierig an. „Kannst du denn auch singen?“

„Nein“ meinte der und sah weiter teilnahmslos aus dem Fenster.

„Doch, kannst du“ sprach Sareth und kuschelte sich an seinen Arm. „Immer wenn ich traurig bin, dann singst du mein Lieblingslied.“

„Ist das schlimm, wenn du jetzt mal ein bisschen traurig bist?“ fragte Nini schlau wie ein Fuchs. „Dann kann der große Tato auch mal was singen.“

„Ja, Tato“ meinte auch Yami interessiert. „Sing uns mal was vor.“

„Ich bin keine Jukebox, okay?“ giftete der zurück. „Macht doch ne CD an, aber lasst mich mit eurem Scheiß in Ruhe!“

„Is will raus, Mann!“ Und den kleinen Tato ließ das dann doch relativ unberührt. Singen war ihm egal, aber gefesselt sein nicht. Zumal Rausgucken jetzt auch schnell langweilig wurde, wenn man nur Wolken sah. Der zappelte in seinem Sitz und riss an dem festen Gurt. Auf Stillsitzen hatte er keinen Bock. „Manno, lass mis weg! Das is alles voll doof!“

„Weißt du, was wir jetzt machen, Tato?“ beschloss Yugi und pulte ihm die Schnalle auf. „Ich hole dich jetzt raus und dann gehen wir schön Heia machen, ja?“

„Neeeeeeiiiiiiiin“ jammerte er und bekam ganz feuchte Augen. „Nis Heia. Is will nis slaafen.“

„Aber du bist doch schon ganz müde, Schatzi“ meinte Papa und setzte ihn sich auf den Arm. Wenn er begann, so herumzuquengeln, war das ein eindeutiges Zeichen, dass er bettreif war.

„Papa, is bin nis müde. Nene muss au nis innie Heia gehen.“

„Ja, Yugi. Lass ihn doch noch ein bisschen aufbleiben“ bat Jonny. „Ich finde den kleinen Tato echt knuffig.“

„Aber er ist ja schon ganz quengelig“ meinte auch Seto und übernahm den Kleinen, der eigentlich viel müder war, als er zugeben wollte. „Wir haben nebenan ein paar Ruheräume. Eigentlich für die Crew auf langen Flügen. Was meinst du, Tato? Hm? Wollen wir uns ins Bettchen legen und ein bisschen kuscheln?“

„Vielleist“ guckte er ihn skeptisch an. „Muss is Sääähne putsen?“

„Nein, heute ausnahmsweise mal nicht.“

„Dann will ich auch mitkommen und kuscheln“ beschloss Nini und heftete sich an seine Versen. „Willst du auch mitkommen, Risa? Mit Papa kuscheln?“

„Papa tusseln“ wiederholte sie und sah fragend an Mokeph hinauf. „Papa tusseln?“

„Nein, mit meinem Papa“ erklärte Nini, hoppelte zu ihr rüber und nahm sie an die Hand, womit Mokeph auch schon ihren Sitzgurt öffnete. „Schön kuscheln mit Tato und Papa Seto und mir?“

„Mit Nene tusseln. Nä, Papa?“ guckte sie weiter fragend an ihrem eigenen Papa hinauf. Es war ja auch nicht ganz leicht, wenn so viele Männer Papa hießen.

„Ja. Geh mal mit, Schätzchen. Geh mit Nini kuscheln“ lächelte er und gab ihr einen kleinen Kuss. „Und schlaf gut, Prinzessin.“

„Slaaf duut, Sesse“ winkte sie mit ihren kleinen Händen und ließ sich von Nini mitziehen. An der Hand gehen konnte sie ja schon ganz gut. Nur allein klappte das noch nicht so gut. Aber man lernte ja noch.

„Aber schlaf du nicht auch ein, Liebling“ lächelte Yugi.

„Warum?“ guckte der zurück.

„Weil du immer einschläfst beim Kuscheln. Und ich vermisse dich hier ja auch.“

„Ooooooh“ freute er sich und kam ganz schnell wieder zurück, um ihm einen Kuss zu geben. Er war doch so weichherzig und er wollte ja nicht, dass Yugi ihn vermisste.

„Is will aba nis ins Bett. Is no nis sekks“ beschloss der kleine Tato. Noch versuchte er, sich irgendwie aus dieser Schose herauszumanövrieren.

„Nein, es ist schon gleich halb neun“ belehrte Yugi. „Du bist doch schon ganz müde. Das sieht man in deinen Augen.“

„Dann mass is die Augen eben su. So“ beschloss er und kniff die Augen zusammen. Aber dann riss er sie wieder auf und starrte Papa böse an. „Du willst mis reinlegen. Is ma die Augen NIS su. So slau bin is au.“

„Tato, jetzt wird hier nicht diskutiert“ beschloss Seto und nahm Yugi mal den schwarzen Peter weg. Sonst war Yugi immer der Strengere von beiden, aber vielleicht sollten sie doch auch langsam anfangen, sich gegen Tato zu verschwören, bevor dessen Dickkopf noch schlimmer wurde. „Guck mal, Nini und Risa sind schon vorgegangen. Die kuscheln schon ohne dich.“

„Is geh nis ins Bett“ bekräftigte er und verschränkte böse seine kleinen Ärmchen. Jedenfalls versuchte er es, aber sie waren noch nicht lang genug, womit er doch eher lustig aussah, wenn er ständig seinen Bauch umarmte und Mama imitierte. „Der gooße Tato isja au nis innie Heia. Is bin au Tato, also muss is au nis ins Bett.“

„Ich bin aber auch müde“ eröffnete der, küsste seine Tochter und stützte sich auf seinen Stock, um sich zu erheben. „Lass mal, Mama. Ich bringe die Kinder ins Bett. Bleib du bei Papa.“

„Du bis ein Kolbenswein“ guckte der kleine Tato ihn böse an, als er langsam herüberkam.

„Tato“ ermahnte Seto ihn jetzt ernsthaft. „Kollegenschwein sagt man nicht. Wo hast du so böse Worte her?“

„Is rede gar nis mehr mit dir, Mama“ muckschte er und guckte in die andere Richtung. „Immer muss is nur ins Bett dehn. Und der gooße Tato is setz au doof.“

„Ich weiß, Kleiner“ seufzte und ließ ihn sich auf den freien Arm geben.

„Du musst aber jetzt wirklich nicht Babysitter spielen“ bat Seto.

„Kein Problem. Wie gesagt, ich bin wirklich ein bisschen müde“ seufzte der große, doofe Tato. „Und hier passiert bis zur Landung in ein paar Stunden doch eh nichts.“

„Na ja, dann danke“ nickte er und nahm ihn kurz in den Arm. Irgendwie schien der große Tato nicht nur körperlich, sondern auch seelisch müde zu sein. Und das hier war doch ein guter Vorwand, sich ein wenig aufs Ohr zu legen.

„Schlaf gut, Papa“ verabschiedete Sareth ihn lieb. „Ich darf noch aufbleiben?“

„Natürlich. Aber auch nicht mehr so lange“ lächelte er zurück. „Und irgendwer muss doch auf Laertes aufpassen, damit sein Abendgesang heute mal ausbleibt.“

„Hast du das gehört?“ tippte sie den Vogel an, der bis eben dösend auf ihrer Lehne gesessen hatte und jetzt verwirrt zu ihr aufsah. „Nicht singen heute Abend.“

Er gab einen gurrenden Ton von sich und ließ sich den Kopf kraulen. Mal sehen, ob er da noch Lust zum Singen bekam.

Der große hatte sich inzwischen mit dem kleinen Tato darangemacht, den beiden Mädchen zu folgen und sich ein paar Stunden schlafen zu legen. Nur noch ein etwas wehleidiges „Tsössi und dute Nacht, alter Swede“ war noch zu hören, bevor sie sich in den Nebenraum flüchteten. „Hab dis do lieb, Mama ...“ Also doch. Tato hatte ihn eben doch lieb. Er war nun mal einfach etwas mürrisch, wenn er müde wurde.

„Ich mache mir Sorgen um ihn“ gestand Seto, der sich selbst wieder zu Yugi kuschelte, wo er sofort in den Arm genommen wurde. „Tato ist so traurig und er versucht, es zu verstecken. Warum redet er denn nicht mit uns?“

„Würde mich wundern, wenn ihr den geknackt bekommt“ meinte Balthasar frei heraus. „Zuhause ist er auch so. Mal macht er den Dicken, an dem keiner vorbeikommt und dann ist er wieder total niedergeschlagen. Das sind Stimmungen, die kommen und gehen.“

„Trotzdem“ meinte er leise und lehnte sich betrübt an Yugis Schulter. „Er muss doch nicht alles in sich reinfressen. Das geht doch nicht ewig gut.“

„Er kann es aber nicht anders“ meinte Dakar, dessen Stimme so beruhigend gelassen war, als er sich schon die nächste Zigarette anzündete.

„Das ist aber keine Entschuldigung“ war Setos Meinung. „Haben wir ihn denn so schlecht erzogen, dass er kein Vertrauen hat?“

„Nein, das hat mit Erziehung nichts zu tun, sondern mit Herz“ sprach er ruhig. „Sari kann euch ein Lied davon singen. Asato ist immer offenen Ohres für alle, aber wenn es um ihn selbst geht, ist er sehr verschlossen. So war er aber nicht immer. Als ich ihn damals kennenlernte, war er ein anderer Mensch. Erst nachdem seine Frau und sein Sohn gestorben sind, ist er so geworden. Er lastet sich selbst die Schuld für ihren Tod an und das hat sein Selbstbewusstsein erschüttert. Es fällt ihm schwer, darüber zu sprechen. Nicht, weil er uns nicht vertraut, sondern einfach, weil ihm dann seine eigene Schwäche bewusst wird. Und Schwäche ist etwas, was er sich nicht leisten will. Seine größte Angst ist es, dass jemand seiner Tochter etwas antun könnte. Er beschützt sie so sehr, dass er sie einengt. Aber das will er sich nicht klarmachen.“

„Dakar“ mahnte Sharesa leise. „Sari sitzt hier.“

„Ich sage ja nichts, was sie nicht auch weiß“ meinte er und sah sie mit seinen tiefschwarzen Augen an. „Oder, Prinzessin?“

„Ich möchte auch schlafen gehen“ beschloss sie daraufhin und nahm Laertes erst vom Sitz, bevor sie aufstand.

„Hey“ bat Dakar leise und hielt sie sanft am Arm fest, als sie an ihm vorbeiging. „Ich wollte nichts sagen, was dich verletzt. Tut mir leid, Sari.“

„Ich will nur nicht hören, wie du über Papa redest. Das ist mir peinlich“ gestand sie und nahm ihn überraschend in den Arm. Sie schien ihn nicht als gruselig oder dunkel zu empfinden, obwohl er auf Fremde so wirkte. Für sie war er ein Freund. Er drückte sie zurück und ließ sie dann wieder los, damit sie gehen konnte.

„Ich begleite dich“ bot Phoenix an und erhob sich ebenfalls. „Hier gibt es doch bestimmt mehrere Schlafräume, oder?“

„Klar“ zeigte Noah den Gang entlang. „Quasi jede Tür nach den ersten zweien. Da sind Badezimmer und Küche drin. Sucht euch was aus.“

„Danke, Spatz“ blickte sie traurig an ihm hinauf.

„Na komm. Legen wir uns auch etwas hin. Gute Nacht, zusammen.“ Er legte ihr den Arm auf die Schulter und verschwand mit der Kleinen und den allgemein erwiderten „Schlaft gut“’s in der gegenüberliegenden Tür. Dort, wo noch ein leerer Raum war, denn zu Tato und den Kindern wollten sie sichtlich nicht.

„Meine Güte“ sang Yami als die zwei dann weg waren. „Was ist denn nur bei euch los? Total gedrückte Stimmung.“

„Zuhause ist es sonst nicht so schlimm“ erklärte Sharesa. „Aber hier können wir uns nicht ausweichen. Und weil ihr ja wohl auch was über uns wissen wollt, kommt mit den Erzählungen eben auch der Schmerz wieder hoch. Und das verbreitet schlechtere Stimmung als eben Zuhause. Jetzt wird alles aufgewühlt, was wir eigentlich lieber vergessen würden.“

„Dann erzählt ihr uns doch etwas“ bat Yami neugierig. „Wir haben jetzt genug Zeit. Also klärt uns auf, damit wir nicht ständig im Dunkeln tappen.“

„Könnte etwas schwer werden, 38 Jahre in wenigen Minuten zu erzählen“ meinte Dakar mit dem nächsten Zigarettenzug.

„Wir haben ja auch ein paar Stunden Zeit“ bat Seto trotzdem noch mal und hob seine Hand, an welche Lady sofort ihren Kopf schmiegte. Da wartete sie doch nur drauf, dass sie auch endlich gekrault wurde. „Bitte, erzählt uns, was Tato passiert ist. Mit dem fröhlichen Jungen, wie wir ihn kennen, hat er doch kaum noch etwas gemeinsam.“

„Du machst dir Sorgen“ stellte Dakar schlicht fest. „Merkwürdig. Erst wenn man den kleinen Tato sieht, erkennt man, wie schnell man sich an seine Lethargie doch gewöhnt.“

„Ich hab eher das Gefühl, dass Sari unter seiner Stimmung leidet“ meinte Yugi etwas vorsichtiger. „Ich will nicht sagen, dass er ein schlechter Vater ist, aber ... seine bedrückte Art, scheint sie zu verunsichern.“

„Es verunsichert sie nicht nur, sie leidet darunter ganz extrem“ erklärte Sethan. „Sie ist eine Tochter des Seth und besitzt große Macht. Aber sie kann sich selbst nicht entfalten, weil sie Angst hat, sie könnte etwas falsches tun und ihren Vater damit verletzen.“

„Erzähl uns davon“ bat Seto inniglich. „Sag uns, was wir verhindern können.“

„Auch wenn er mich dafür in Teufels Küche jagt“ seufzte Sethan mit einem verzweifelten Lächeln. „In Ordnung, ich versuche mal, das Leben meines Onkels in Kurzform zu bringen. Ihr gebt ja sonst keine Ruhe.“ Er nahm die Wasserflasche entgegen, die Sharesa ihm wie den anderen herüberreichte und erzählte langsam, während er sie aufschraubte. „Den Kleinen kennt ihr ja und er hat sich eigentlich gut entwickelt. Tato war schon immer ein Dickkopf und sehr von sich selbst überzeugt, fast egoistisch eitel. Er ist mit fünf Jahren in die Schule gekommen und hat mit elf seinen Abschluss an der Uni gemacht. Das ist ihm nicht ganz leicht gefallen, weil er trotz seiner hohen Begabung doch noch immer ein Kind war und auch eine kindliche Psyche besaß. Aber Gleichaltrige konnten mit ihm nie mithalten und er wusste das. Ihr habt ihm angeboten, dass er ganz normal zur Schule geht, auch um ihm keinen so großen Druck auszusetzen. Aber er hat sich gegen kindische Freunde und für seine eigene Förderung entschieden und ich glaube, er hat das nie bereut. Er hat auf Kontakt zu Gleichaltrigen nie viel Wert gelegt. Er hatte zwar einige Freunde, aber Bildung hat ihn mehr gereizt. Mit 13 hat er in Wirtschaftswissenschaften promoviert und mit 14 in Sozialwissenschaften.“

„Ein Doppel-Doktor“ staunte Mokuba. „Mit 14 war Tato schon zweifacher Doktor?“

„Sein Potential wurde eben anders erfasst und ausgebaut“ meinte Sethan dazu schlicht. „Das war vielleicht auch gar nicht so schlecht, denn später hat er die Berufslaufbahn relativ ruhen lassen. Nachdem er mit 14 zum zweiten Mal die Uni abgeschlossen hatte, wollte er in den Vorstand der KC, aber seine Eltern waren dagegen, ihn jetzt schon arbeiten zu lassen. Tato sollte nicht schon als Kind ins harte Business gehen, denn er hatte vielleicht die fachliche Reife, nicht aber auch die psychische. Das hat ihn natürlich ziemlich gewurmt und deshalb hat er angefangen, zu rebellieren. Das war schon immer so, dass er sehr empfindlich reagiert, wenn er nicht das bekommt, was er will. Er hat so gut wie jedes Verbot übertreten, was man ihm gestellt hat. Er hatte mit 14 geraucht und kurz vor seinem 15. Geburtstag ersten Sex mit Mädchen, obwohl es ihm verboten war. Grenzen waren ihm völlig schnurz, er wollte nur sein eigenes Ding machen. Dass er in seiner Magie ein Meister ist und schon immer war, brauche ich wohl nicht zu sagen. Aber auch seine übersinnlichen Fähigkeiten hat er zu seinem eigenen Vorteil genutzt. Er wollte einfach provozieren, um jeden Preis. Er hat es so weit getrieben, dass er mit 16 sturzbesoffen und mit ausgebreiteten Flügeln in einem Bordell gefunden wurde.“

„Bitte?“ Yugi und Seto machten wohl die größten Augen von allen. Ihr Tato? „Haben wir ihn so schlecht ...?“

„Nein, lass mich ausreden“ bat Sethan gleich und erzählte ruhig weiter. „Natürlich hat das einen Heidenärger gegeben. Seto hat die Erinnerungen aller gelöscht, welche ihn gesehen hatten. Die Polizei besaß ein Videoband, welches Onkel Noah inklusive Kopien zum Glück vernichten konnte. Mit viel Geld konnte einiges wiedergutgemacht werden. Aber Tato hat so viel Ärger bekommen wie noch nie zuvor. Immerhin war das Vertrauen zu ihm damit sehr angeschlagen. Es hat Zuhause einen riesigen Streit gegeben, seine Magie wurde geblockt und er hat Ausgehverbot bekommen. Das Schlimmste war aber wohl, dass seine Väter ihm gezeigt haben, wie enttäuscht sie von ihm waren, aber er hat es spontan nicht verstanden. Eine kleine Wendung brachte es erst, als er sich mit Seto gestritten hat. Er hat ihn beschimpft und einige verletzende Dinge gesagt. Dass ja nicht jeder so ein Psychopath sei, so ein schwuler Softie und weinerliches Weichei und was weiß ich noch alles. Er hat es so weit getrieben, dass sein Vater nicht mehr mit ihm gesprochen hat. Er hat geweint und ist ihm von da an tagelang aus dem Weg gegangen. Tato hatte es zu weit ausgereizt.“

„Und dazu gehört wohl einiges“ meinte Joey mit Seitenblick auf Seto. Tato musste wirklich ganz tief aus den Vollen geschöpft haben, wenn Seto die Kommunikation zu ihm abbrach. Da hatte ihn sein Sohn wohl extremst verletzt.

„Aber du sagtest, es war eine Wendung“ hakte Noah nach.

„Nur eine kleine, aber immerhin“ verdeutlichte er. „Opa Yugi hat mit ihm gesprochen und ihm erzählt, was mit ihm passiert ist ... von seiner Kindheit. Weshalb er eben auf bestimmte Dinge, anders reagiert. Und weshalb ihn seine harten Worte so verletzt haben.“ Welche er hier anscheinend nicht noch mal breittreten wollte. Seine Vergangenheit kannte Seto selbst gut genug. „Danach tat es Tato so leid, dass er wohl sogar laut geweint hat. Er ist zu ihm gegangen, hat sich entschuldigt und um Verzeihung für seine Taten und für seine harten Worte gebeten. Von da an, hat er sich mehr zusammen gerissen und sich an Absprachen gehalten. Aus Reue. Weil er wusste, dass er seinen Vätern Unrecht tat, wenn er sie beschimpfte. Das hat aber nichts daran geändert, dass er den Frauen hoffnungslos verfallen war und sich von niemandem verbiegen ließ. Seine Eltern behandelte er seitdem immer mit fast übertrieben großem Respekt, selbst heute noch. Aber sonst niemand anderen. Es hat nicht lang gedauert und er war wieder der alte Partygänger - nur mit dem Unterschied, dass er sich etwas bedeckter hielt, was gewisse Dinge anging. Er legte von da an mehr Schwerpunkt auf seine musischen Begabungen als auf seine intellektuellen Fähigkeiten. Er wurde professioneller Eiskunstläufer im Herreneinzel und ist insgesamt fünf mal in Folge Weltmeister geworden, zwei Male davon bei Olympia und später hat er noch drei mal Gold geholt, als schon seine Kinder geboren waren. Außerdem ist er Flötist geworden und hat als Teeniestar die klassische Musik zu einem neuen Trend gemacht. Aber viel lieber war er dann mit seiner Rockband unterwegs, in welche er seine Flöte eingebracht hat. Er hat ganze Stadien gefüllt und außerdem hat er sich als Bildhauer einen Namen gemacht. Ton, Stein, Holz, einfach alles hat er in Form gebracht. Sein größtes Meisterwerk steht in Eis gemeißelt mitten am Nordpol und ist das Bildnis eines weißen Drachen, der über zweihundert Meter hoch ist. Er war ein Künstler, der sämtliche Rekorde gebrochen hat. Inklusive seiner Anzahl an weiblichen Fans, die ihn auch ‚näher’ kennen gelernt haben ... wenn ihr versteht. Er wurde ein Verführer, ein Weiberheld und ein Künstler. Ein Leben, was sich wohl jeder wünscht.“

„Aber er hat Risa geheiratet“ warf Tea fragend ein.

„Ja, das hat er“ nickte Sethan mit einem Lächeln. „Sie hat ihn vollkommen verändert. Trotz seiner steilen Kunstkarriere, welche so viel Feingefühl erforderte, war er ein schrecklich eingebildeter, selbstverliebter Kerl, der zu anderen immer herblassend und ungerecht sprach. Obwohl er damals wirklich ein großer Egoist war, hat sie ihm auf einer Feier ihre Liebe gestanden. Er aber hat sie vor allen Anwesenden laut ausgelacht und ist mit einem Fan abgezogen, hat sich lieber mit anderen Mädchen die Nacht vertrieben. Sie hat Monate mit gebrochenem Herzen Daheim gesessen bis sie irgendwann auf das Drängen der Mädchen Zuhause eingegangen ist, sich auch andere Männer anzusehen. Und das war der Knackpunkt“ schnippte er lachend. „Er ist so rasend eifersüchtig geworden, dass er ihr fast liebeskrank den Hof gemacht hat. Er hat sie mitten in der Schule mit Rosen überschüttet, hat ihr Liebeslieder geschrieben, ihr Gesicht in Übergröße an Hauswände gemeißelt, Radiodurchsagen gemacht, den Nachrichtensender gestürmt, er war total durchgeknallt. Die verrücktesten Sachen, ihr könnt es euch nicht vorstellen. Er hat sogar seine Fans dazu aufgefordert, Lichterketten zu bilden, damit sie ihn anhört. Er konnte es einfach nicht ertragen, dass sie sich einem anderen als ihm zuwenden wollte. Er schwor ihr die ewige Treue und überhaupt. Innerhalb von kurzer Zeit wandelte er sich komplett.“

„Schon komisch, oder?“ meinte Nika skeptisch. „Erst so ein selbstverliebter Weiberheld und dann die Essenz des Romeo?“

„Onkel Tato war schon immer ein extremer Charakter. Und ich sagte doch. Er konnte es noch nie haben, wenn er nicht das bekam, was er wollte“ lächelte Sethan, als ob ihn das entschuldigen könnte. „Es war ihm egal, ob er sich zum Affen machte. Wenn er etwas wollte, dann wollte er es. Und je weniger er es bekommen konnte, desto mehr wollte er es. Egal, was es war. Und er wechselt nun mal von einem Extrem zum anderen. Aber Risa hat ihn zappeln lassen. Und als sie sich endlich erweichte, stellte sie harte Bedingungen.“

„Na, das hoffe ich doch“ nickte Narla entschieden und wurde alsbald mit verdutzten Blicken bombardiert. „Was denn?“ guckte sie ebenso zurück. „Das steht ihr doch nur zu, was zu fordern. Er hat sie immerhin verletzt, wenn er sie ausgelacht und verspottet hat.“

„Ja ja“ meinte Joey und schüttelte den Kopf. „Und dann? Musste er sie heiraten?“

„Er musste ihr etwas versprechen“ erklärte Sethan. „Er hat immer nach dem Motto gehandelt, dass er nur ein Mal lebt und deshalb nichts versäumen will. Er wollte niemals etwas auslassen. Man lebt ja nur ein Mal. Das musste er für sie umformulieren. Er hat ihr das Versprechen gegeben, niemals wieder etwas zu tun, was ihm später leid tun könnte. Sonst ist er ja immer wie eine Dampfwalze überall durchgefegt, ohne Rücksicht auf Verluste. Für sie aber hat er darauf geachtet, was er tut, mit wem und weshalb. Er hat angefangen nachzudenken über sein Handeln“ erzählte er und das klang ganz logisch. „Das war die Reife, die seine Väter an ihm immer vermisst hatten. So begabt er auch war, er war ein Kindskopf. Aber für Risa ist er erwachsen geworden. Nicht seine Bildung musste erwachsen werden, sondern seine Gefühle. All die Schulbildung konnte bei ihm nicht das erreichen, was er wirklich brauchte. Und dazu brauchte er Risa.“

„Und zur Belohnung hat sie ihn geheiratet“ schwärmte Tea. „Was für eine schöne Liebesgeschichte.“

„Ja, sie hat den Drachen gezähmt“ lächelte Sethan zurück. „Nach einer kurzen Bewährungszeit hat sie sich heiraten lassen. Er war zwar noch immer ein Rebell, der sich nur schwer unterordnen konnte, aber seitdem machte er Unterschiede zwischen den Menschen. Seine Familie begann, einen fast heiligen Status für ihn zu bekommen. Es tat ihm leid, dass er die Menschen, welche ihm nahe standen, so verletzt hatte. Und er wurde dankbar für die Tatsache, dass er trotz seines teilweise sehr verletzlichen Benehmens mit offenen Armen nach Hause zurückkehren durfte und niemals ein anklagendes Wort hörte. Im Nachhinein war klar, dass diese Phase wichtig für ihn war, um sich selbst zu finden. Für jemanden, der alles kann und dem alle Wege offen stehen, kann auch das sehr erdrückend sein.“

„Inwiefern?“ fragte Tristan genauer. „Das finde ich nicht bedrückend, wenn man die Freiheit hat, alles zu tun, was man will. Wenn es weder an Bildung noch an Geld scheitert.“

„Doch, genau das stelle ich mir sehr beängstigend vor“ versuchte Noah seine Meinung zu erklären. „Stell es dir bildlich vor. Du hast sämtliche Waffen, sodass dir niemand jemals etwas antun kann. Du hast Unmengen an Geld und alle Wege stehen dir offen. Du kannst tun, was immer du willst. Die ganze große Welt gehört dir. Wohin willst du dann gehen? Es gibt nichts mehr, wofür du dich anstrengen musst, weil dir alles in den Schoß fällt. Und du hast niemals Angst, dass du die Menschen verlierst, die du liebst. Liebe ist für dich eine Selbstverständlichkeit. Für ihn muss es sich angefühlt haben, als wäre er ein Kind inmitten eines Süßigkeitenladens in Größe des Mount Everest. Du hast so viel, dass du gar nicht weißt, wo du anfangen sollst. Da ist es doch klar, dass er gewaltsam die wenigen Türen öffnet, die ihm Widerstand bieten. Einfach um zu sehen, wie stark er wirklich ist und wo die Grenzen sind. Was nützt dir die ganze Welt, wenn du keinen Stadtplan hast? Und inmitten dieses Süßigkeitenladens sieht er einen Korb Gemüse. Etwas, was er nicht kennt und niemals hatte. Etwas Ungewöhnliches in seiner Welt. Und dieser Korb steht unter Verschluss, als wäre er nicht für ihn bestimmt. Natürlich ist ihm da alles andere egal und er will nur noch das eine. Verstehst du, was ich meine?“

„Und Risa war so gesund für ihn wie nichts anderes“ nickte Sethan. „Er hat sie vergöttert und ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Sie war die erste Frau, die ihm Kontra gegeben hat, für die er sich anstrengen musste. Sie hat das Beste aus ihm herausgekitzelt und ihm gefiel das. Kurz nach der Hochzeit hatte er endlich die psychische Reife, dass er in die KC-Leitung geholt wurde und damit ging für ihn ein Traum in Erfüllung. Damals war er knapp 24 Jahre alt. Seine Kunst wurde Hobby, andere Frauen und Partys interessierten ihn gar nicht mehr. Er lebte nur noch für seine Familie, seine Freunde und für seinen Beruf. Er ist vom Jungen zum Mann geworden und knapp ein Jahr nach seiner Hochzeit wurde er das erste Mal Vater. Als Tadashi Salomon Muto geboren wurde, hat er geweint vor Freude und Stolz. Endlich hatte er etwas gefunden, was ihn seelisch erfüllte und auslastete. Leisten konnte er vieles, aber wirklich ausgefüllt wurde er durch das, was ihn forderte. Und nichts fordert einen so sehr wie zwischenmenschliche Beziehungen und die Verantwortung für ein kleines Leben. Als sein Sohn ein Jahr alt wurde, zog Tato mit seiner kleinen Familie aus der Villa aus. Nicht weit weg, aber er wollte seine eigene Existenz gründen und sich als Familienvater beweisen. Er kaufte für Risa und Dashi ein Haus etwas außerhalb der Stadt, etwa eine Autostunde entfernt. Nicht zu weit weg von der Großfamilie, seinen Eltern und den anderen, aber genug Platz, um sich selbst zu entfalten. Nur Mama zog zu ihm, da sich beide gar nicht voneinander trennen mochten. Aber sonst war Tato wohl froh, sein eigenes Leben gründen zu können. Dort wurde drei Jahre später auch Sari geboren und Tato war auf dem Höhepunkt seines Lebens. Ich erinnere mich daran, dass ich ihn niemals glücklicher gesehen habe. Ich bin eine Weile mit Dashi und Sari aufgewachsen, als wären wir richtige Geschwister. Und es war eine tolle Zeit. Mama und ich waren sehr glücklich und Risa auch. Und Tato damals auch. Er hat viel gelacht, war enthusiastisch und schrecklich verliebt. Er war zufrieden und wunschlos glücklich. Bis dann all sein Glück in sich zusammenbrach. Und das war das erste Mal, dass ich die Schattenseiten eines Lebens sah.“

„Und wie ist das passiert?“ fragte Yami besorgt. „Wenn er doch so stark und so glücklich und so vernünftig war ... warum sind Sari und er jetzt alleine?“

Sethan seufzte und nahm noch einen Schluck von seinem Wasser. Das Kommende stimmte ihn traurig, betrübt und wohl auch mitleidig. „Er machte Risa ein Geschenk“ begann er langsam. „Sie wünschte sich eine Ballonfahrt am Strand entlang. Also mietete er ihr einen riesigen Ballon mit Fahrer, fast so groß wie ein Zeppelin. Ein gigantisches Teil. Bei ihm musste immer alles überdimensioniert sein. Er überraschte sie mit seiner Idee und damit sie hinterher eine schöne Erinnerung hatte, wollte Joey mitkommen und einen Erinnerungsfilm machen. Einen ganz altmodischen mit richtigem Filmband in schwarzweiß, denn Risa liebte diese alten Filme vom Band. Aber wie Joey so war, kam sie zu spät. Risa und die Kinder waren schon eingestiegen und Tato half seinem Püdelchen mit der alten Videoausrüstung, die ja nun nicht eben so handlich war wie eine moderne. Während die beiden noch schleppten, startete der Ballon ohne sie. Tato ärgerte sich natürlich unbändig, zumal er nicht hinterherfliegen konnte, weil der Ballonfahrer kein Eingeweihter war. Aber er wollte zum Landeplatz fahren und seine Familie dort wieder in Empfang nehmen. Als er und Joey im Auto dem Ballon folgten, hörte er dann mit seinen feinen Drachenohren einen panischen Schrei und da hielt ihn nichts mehr. Er flog hinauf zum Ballon und ... sein Sohn war bereits tot.“

„Was?“ Das fragte zwar Yami, aber denken tat es jeder. „Warum?“

„Seitdem hat Onkel Tato einen unbändigen Hass auf Seth ... deinen Seth“ erzählte er mit gedämpfter Stimme. „Seth tötete einst einen Mann, der Kinder hatte. Dessen jüngster Sohn hatte seine Hexenkräfte geerbt und zog aus, sich an allen Hohepriestern zu rächen, sie auszulöschen. Er hatte lange gewartet und Tato war ihm in die Falle gegangen. Dieser Mann war ein Klingenhexer, er konnte alles mit seinen Gedanken wie mit Klingen durchstoßen. Angefangen hatte er bei seinem Sohn, um ihn hinauf zu locken und als Tato da war, hatte er schon Sari in seinen Fängen. Da sie auch ein Drache ist und somit eine potentielle Priesterin, wollte er sie als nächstes töten und dafür sorgen, dass der Vaterdrache es mit ansah. Es entbrannte ein kurzer Kampf, in welchem der Ballon Schaden nahm und abstürzte. Tato schaffte es, sich Risa und Sari zu greifen und den toten Körper seines Sohnes mitzunehmen. Den Attentäter ließ er oben zurück, während er seine Familie selbst herunterflog. Aber auf diesem Wege, schoss der Hexer seine Gedanken auf ihn und zerfetzte seinen linken Flügel. Tato stürzte kläglich ab.“

„Aber er hat es überlebt“ plädierte Mokuba. „Wie kann das sein? Wenn die Flügel Schaden nehmen, bedeutet das den sicheren Tod. Eigentlich dürfte er dann gar nicht mehr am Leben sein.“

„Du hast Recht“ erwiderte er ruhig. Auch wenn er wusste, dass er hier eine schreckliche Geschichte erzählte, musste er doch die Ruhe bewahren. „Als Tato auf dem Boden aufschlug, war er halb tot. Sein linker Flügel war bis auf einen kleinen Stumpf, ein paar Knochensplitter und Hautfetzen völlig abgerissen, aber er drehte sich mit letzter Kraft seines verbleibenden Flügels gen Boden, damit seine Frau und seine Tochter weicher landeten. Dort lag er dann im Sterben und konnte nicht mal mehr mit Risa sprechen. Er wäre auch ganz sicher qualvoll verendet, wenn Risa nicht ihr Leben gegen seines getauscht hätte.“

Er machte nur eine kleine Atempause, aber das war schon zu viel.

„Wie soll das gehen?“ fragte Tea aufgewühlt. „Sie ist doch keine Hexe oder etwas ähnliches. Wie kann sie ihr Leben einfach so tauschen?“

„Durch ein Gebet“ erwiderte er selbst berührt. „Sie weinte und betete zu Rah. Mit ihrem ganzen Herzen flehte sie ihn an, ihren geliebten Mann nicht sterben zu lassen. Die Welt brauchte ihn, die junge Pharaonin brauchte ihn und ihre gemeinsame Tochter brauchte einen Vater, der sie besser verstehen konnte als eine unmagische Mutter es könnte. Risa sah sein Leben als bedeutsamer an. Rah sprach zu ihr und spendete ihr Trost. Zuerst war er dagegen, ihn zu retten, da dies ein tiefer Eingriff ins Schicksal gewesen wäre. Aber ihre Tränen und ihre Liebe rührten ihn und ließen ihn gegen seine eigenen Gesetze handeln. Er konnte Tato nicht selbstlos retten, da er diese starke Kraft nicht von der Erde abzweigen konnte. Aber er konnte sein verlöschendes Leben gegen etwas Gleichwertiges tauschen. Gegen das Leben einer liebenden Frau. So blieb das Gleichgewicht der Energien erhalten. Er nahm Risas Leben und gab es dem jungen Hohepriester. Er schenkte ihm einen Falkenflügel aus goldenen Lichtfedern als Ersatz für seine verlorene Drachenschwinge. Da Tato der seelische Sohn eines Pharaos war und kein gewöhnlicher Drache, half ihm das Gold, seine verlorene Seelenenergie mit Risas Lebensenergie auszugleichen und damit weiterzuleben. So starb Dashi durch einen Anschlag und Risa als Opfer für den Mann, den sie liebte. Doch Tato lebt seit dem Tag in dem Gedanken, seine Familie verraten zu haben. Er gibt sich selbst die Schuld dafür, dass es soweit gekommen ist und er leidet darunter, dass er selbst noch lebt. Und er hat sich geschworen, Rache zu nehmen.“

„Rache an Seth?“ fragte Yami besorgt. „Aber er kann doch nichts dafür, wenn ...“

„Dieser Hexer war wegen des Priesters Aleseus Halbwaise“ verdeutlichte Sethan ernst. „Tato gibt Seth die Schuld daran, dass sich dieser Sohn ungerechtfertigt an Unschuldigen rächt. Und er gibt sich die Schuld, dass er es nicht verhindern konnte. Er sucht Schuld, wo es nur geht.“

„Aber es macht ihn anscheinend nicht glücklicher“ seufzte Yugi, dem ganz schwer ums Herz wurde. Sein Tato ... sein süßer Sohn ... er konnte sich sein Leid vorstellen. Er wusste, was es bedeutete, einen geliebten Menschen zu verlieren, allein für die gemeinsamen Kinder sorgen zu müssen und jemanden zu suchen, dem man die Schuld dafür geben konnte. Im Zweifel immer sich selbst.

„Dann ist das also der Grund für das alles“ kombinierte Marie. „Deshalb humpelt er so schlimm. Er kann mit nur einem Flügel keine Balance halten.“

„Ja, der Lichtflügel hat kein Eigengewicht“ erklärte Sethan. „Sein Drachenflügel aber wiegt einige Kilo. Auch wenn diese Flügel nur in seiner Seele existieren, haben sie doch Auswirkungen auf seinen Körper. So wie jede Seele immer körperliche Auswirkungen hat. Deshalb braucht er seinen Stock, weil er auf Dauer einen Rückenschaden bekommen würde. Und seine Karriere als Eiskunstläufer ist damit auch beendet gewesen. Doch Freude an der Kunst findet er seit dem Tod der beiden eh nicht mehr. So wenig, wie er an allen anderen Dingen noch Freude empfindet.“

„Deshalb trägt er auch immer schwarz, oder?“ fiel Nika auf. „Das hab ich schon beobachtet. Er trägt nur schwarze Kleidung. Als würde er Trauer tragen.“

„Ja, das tut er. Er trauert nun seit mittlerweile seit fast zehn Jahren“ seufzte Sethan mit schwerem Kopf. „Er gibt sich Mühe, es zu verbergen, aber es ist zu stark. Jeder, der sich länger mit ihm unterhält, sieht seine Verzweiflung. Seine Familie war sein Leben, seine Erfüllung. Und nun ist Sari alles, was ihm noch geblieben ist.“

„Und ich hab mich schon gefragt, warum sie so verschlossen ist“ stellte Mokuba da fest. „Ist es, weil sie sich auch Vorwürfe macht?“

„So ähnlich“ erzählte Sethan weiter. „Sari ist eine starke Magierin und in ihr trägt sie die Macht von vier Drachen. Aber sie fürchtet sich davor, etwas zu tun, was ihren Vater verletzen könnte. Er passt fast übertrieben fürsorglich auf sie auf, er hat Probleme, sie loszulassen. In ihrem Alter von zwölf Jahren sollte sie eigentlich schon lange fliegen können, aber sie schafft es nicht mal, ihre Flügel auszubreiten. Auf der einen Seite will sie endlich erwachsen werden, aber auf der anderen Seite will sie ihren Vater nicht allein lassen. Sie ist im Zwiespalt mit sich selbst und Tato ist ihr keine große Hilfe. Wenn sie älter und stärker wird, wird sie irgendwann ihre Freiheit suchen und er befürchtet, dass sie ihm dann entgleitet und ebenfalls allein lässt. Die beiden verbindet ein so festes Band, dass es fast schon eine Fessel ist. Ihr habt doch gesehen, wie zornig er war, dass ich sie mit hergebracht habe. Sari ist eine starke Kämpferin und hat viele Fähigkeiten. Aber sie zögert davor, sich weiterzuentwickeln. Und er verteidigt sie wie ein Bluthund. Jeder, der es wagt, ihm reinzureden, verfeindet sich mit ihm.“

„Deshalb können wir da nur schwer eingreifen“ erzählte Sharesa. „Sobald wir ein falsches Wort sagen, droht er damit, fortzugehen. Es gab ein paar Mal einen Vorstoß von Seto und Yugi, mit ihm zu sprechen. Aber als es ernst wurde, packte er seine Taschen und war nur unter größten Anstrengungen vom Gehen abzuhalten. Er ist eben noch immer ein verbohrter Dickkopf.“

„Herrje ...“ Mit einem Seufzen lehnte Yugi sich zurück und atmete durch. „Das sind ja keine tollen Zukunftsaussichten.“

„Können wir nicht irgendwas machen?“ sorgte Seto sich und sah Yugi ratsuchend traurig an. „Wir können doch nicht zulassen, dass unser Tato ... dass er so traurig wird.“

„Ich glaube, auch Eltern stoßen irgendwann mal an ihre Grenzen, Liebling“ gestand er sich schweren Herzens ein. „Außerdem sind die anderen nicht hier, um Tato zu helfen, sondern um die Welt zu retten.“

„Dann willst du es nicht mal versuchen?“ warf er ihm enttäuscht vor und ließ zur Strafe seine warme Hand los.

„Das habe ich nicht gesagt. Reg dich nicht gleich so auf“ bat er umso sanfter zurück und entgegnete seinem funkelnden Blick mit betonter Ruhe. Dass besonders Seto die Trauer seines Sohnes aufwühlte, war verständlich. „Aber auch ein Vater kann seine Kinder nicht rund um die Uhr beschützen. Und wenn doch, ist das auch nicht der richtige Weg. Dann würden wir mit ihm dasselbe tun wie er mit Sari. Wir können Tato nicht einsperren. Wir können nur für ihn da sein und ihn auffangen. Wir können ihn aber zu nichts zwingen.“

„Doch, das können wir“ bestand Seto darauf und ballte seine Fäuste. „Wir haben ihm was zu sagen und er soll gefälligst auf uns hören. Was er tut, ist doch nicht gut. Es ist in Ordnung, traurig zu sein, aber wenn er damit Sari auch noch schadet und sein eigenes Leben gefährdet, hört der Spaß auf.“

„Aber mit dem Kopf durch die Wand zu wollen, ist nicht der richtige Weg, mein Herz“ sprach er und legte seine Hand zurück auf sein Knie, während er ihn liebevoll anblickte. „Du weißt doch selbst, wie es ist, wenn man in Trauer und Verzweiflung versinkt. Wenn das Leben fast sinnlos scheint. Was unseren Tato belastet, das sind schwere Depressionen. Da kannst du nicht mit Befehlen und Anweisungen gegen angehen. Was du dafür brauchst, sind warme Worte und viel Geduld. Wir müssen ihm erst zeigen, dass er es selbst wollen muss. Er muss sein Leben selbst ändern wollen und nur dann können wir ihn unterstützen. Genauso wie du damals erst einsehen musstest, dass auch dein Leben noch einen Wert hat. Genauso wie du muss Tato erst wieder Vertrauen fassen und den Willen zum Kämpfen finden. Er muss sich öffnen und bis er das tut, müssen wir ihm zeigen, dass wir da sind. Und bis er so weit ist, sehen wir, was wir für unsere Enkelin tun können. Ich denke, es ist noch nicht alles verloren. Er hat sich vielleicht aufgegeben, aber wir haben das nicht. Oder siehst du das anders?“

„Nein ...“ Er senkte seinen Kopf und es brauchte nur einen kleinen Zug, damit er niedersank und sich in den Arm nehmen ließ. Seto war nun mal leicht verletzlich und es war schwer für ihn, wenn er seinen Sohn so niedergeschlagen und ohne jede Hoffnung ansehen musste. Er wollte etwas dagegen tun. Am liebsten sofort. Aber er musste in dieser Situation mehr auf Yugis Spürsinn vertrauen, denn der hatte schon mehr als nur eine Seele gerettet. Und er wusste, wie man mit verletzten Drachen umgehen musste. Immerhin hatte er auch Setos Leben in den Griff bekommen, da wusste er sicher auch, was das Beste für seinen Sohn war. Aber wusste der Yugi in der Zukunft das denn nicht auch?
 


 

Chapter 19
 

Als sie am Ende eines langen Fluges auf dem Boden aufsetzten und die Treppe aus dem Flugzeug hinunter auf den asphaltieren Platz stiegen, machte sich doch zusehends Verwirrung breit. Das Klima war warm, geradezu heiß. Der Himmel zeigte nicht eine Wolke und ein trockener Wind wehte an dem erschreckend kleinen Terminal vorbei, welcher mehr eine Holzhütte war. Der einzig sichtbare Flughafenangestellte war der, welcher die Treppe ans Flugzeug gebracht hatte und sich dann auch wortlos wieder von dannen machte. Rundherum keine anderen Menschen zu sehen, keine Fluggeräte oder sonstiges. Und um diesen verlassenen Flughafen herum nur trockener Sandboden mit verdorrtem Gestrüpp. Das hier war doch nie und nimmer der kühle, grüne Norden Europas!

„Ich werde den Piloten feuern“ meinte Seto ganz definitiv.

„Ja, der hat wohl die Karte nicht gelesen“ meinte auch Tristan, als der sich hier so umsah. „Wo sind wir gelandet?“

„Das kenne ich! Das kenne ich voll!“ jubelte Nini als sie Tristan sogleich auf die Schultern kletterte, um besser in die Ferne sehen zu können. „Das ist die große Sandkiste am Arsch der Welt. Nä, Joey?“

„Aas“ grinste der kleine Tato von Setos Armen aus.

„Na“ mahnte der sofort und sah ihn dunkel an. „So was sagt man nicht, Asato.“

„Sag das nis immer!“ guckte er ebenso dunkel zurück. „Du solls nis Atato saagen.“

„Und du sollst nicht Arsch sagen.“

„Setz hassdu au Aas gesaagt“ grinste er triumphierend und schlug ihn mit einem frechen Griff an die Nase. Hatte er seine Mama doch beim Schimpfen ertappt.

„Tja, wo könnten wir wohl sein?“ rätselte Jonny in weiser Ahnung. „Sand, Sonne, Hitze ... schwer zu erraten. Hundert Punkte sind zu angeln.“

„Wir sind in Ägypten“ sprach Tato und zog mit seinem dunklen Ton sämtliche fragende Blicke zurück auf sich. Zumal er mit seiner Ernsthaftigkeit dem fröhlichen Jonny ziemlich den Spaß verdarb. „In der Nähe von Gashe, um genau zu sein.“

„Gashe?“ fragte Yami überrumpelt und scharbte mit seinem Fuß forschend über den Boden. Das war gar kein richtiger Asphalt. Es war eher eine Art zementartige Lehmmischung und die Farbe war auch kein richtiges Grau, sondern eher sonnengeblichenes Gelb. „Ist das hier der Tempelboden vom Nut-Palast?“

„Du hast es erkannt“ nickte Sethan lächelnd. „Eigentlich werden diese Überreste erst in 20 Jahren entdeckt, aber wir haben Tato gebeten, dass er gleich bei seiner Ankunft den Sand fortblasen lässt und hier einen provisorischen Flugplatz einrichtet. Ich finde es faszinierend, dass ihr Ägypter damals schon einen Baustoff kanntet, der die Landung eines Großflugzeuges aushalten kann.“

„Viel eher finde ich es faszinierend, was du in der kurzen Zeit mit einem Laptop und ner Internetverbindung anstellen kannst“ meinte Noah bewundernden Blickes zu Tato hinauf. „Gibt es noch irgendwelche Überraschungen, die du geplant hast? Ich meine ... Yami?“ Er unterbrach seine Fragen, als Yami still und heimlich auf den Boden sank, seine Hände auf den geblichenen, flachen Boden legte und den Kopf senkte. „Ist dir nicht gut?“

„Der schöne Tempel“ flüsterte er traurig, als Yugi sich zu ihm kniete und ihn in den Arm nahm. „Früher war das hier ein Prachtbau. Und heute ist der Festplatz nur noch ein flaches Flughafengelände. Was ist aus den Türmen geworden? Aus der großen Halle? Aus den Ställen und wo ist die hohe Tempelmauer? Und der bunte Marktplatz? Wo sind all die Priester, die Händler und die Wüstenkinder? Es ist nichts mehr übrig ...“

„Es tut mir leid, dass wir den Tempel deiner Mutter auf diese Art nutzen“ entschuldigte Sethan, der das wahrhaft aufrichtig meinte. Es tat ihm wirklich leid, denn er wusste, wie wichtig einem Ägypter seine Tempel waren. Besonders ein solcher Gigantenbau, der heute unter dem Sand verschüttet nur noch in Ruinen lag. Und besonders Atemu, dessen Vater seiner Königin einst diesen heiligen Palast zum Zeichen seiner Liebe errichtete. Und heute war davon nur noch ein flaches Steinfeld geblieben, was früher ein Platz für rauschende Feste war.

„Hier auf diesem Stein haben meine Eltern getanzt. Einst stand hier der zweitgrößte Palast im ganzen Reich ... das alles hat meiner Mutter gehört“ erzählte er mit bebender Stimme.

„Ich weiß.“ Auch Sethan kniete sich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Yami weinte nicht, aber seine Augen waren tränengefüllt. Es war aufwühlend an einen Platz zurückzukehren, welchen er früher ganz anders gekannt hatte. „Aber, Atemu, alles ist vergänglich. Der Bau existiert vielleicht nur noch als langes Feld unter dem Sand, aber deine Erinnerungen halten ihn lebendig. Er hat seinen Zweck erfüllt und musste dann gehen. So wie die Menschen, werden Bauten geboren und sterben. Sei nicht traurig.“

„Du kannst das nicht verstehen“ hauchte er und lehnte sich traurig gegen Yugi, der sich seine Trauer auch nur vorstellen konnte. Yami hatte in einer Welt gelebt, welche untergegangen war. Verschüttet unter Sand.

„Doch, verstehen kann ich es“ tröstete Sethan und suchte seinen Blick, um ihn ein wenig zu trösten. „Ich kann verstehen, dass du Heimweh hast und dass es dich schmerzt, deine Paläste zerstört zu sehen. Aber du musst die Kraft finden, stark zu bleiben. Du darfst deinem Priester keine so starke Waffe in die Hand geben, für dich die Welt zurückzudrehen. Du musst ihm die Stirn bieten, damit die Welt deines Hikaris nicht untergeht und dieselbe Chance behält wie sie auch deine Welt hatte. Nämlich die Chance, sich weiterzuentwickeln und neue Welten hervorzubringen.“

„Aber ein bisschen traurig sein, darf er doch wohl“ bat Yugi und drückte seinen Yami tröstend an sich. „Warum hast du uns überhaupt hergebracht?“ fragte er dann schlicht weiter. „Doch sicher nicht, um Yami zu zeigen, dass sein prächtiger Festplatz nun als Landebahn dient.“

„Nein, sicher nicht“ schüttelte er den Kopf. „Es tut mir auch leid, dass wir genau hier Halt machen. Aber es ließ sich wegen der drängenden Zeit leider nicht verhindern.“

„Gashe ist der letzte Ort vor dem alten Grab“ versuchte Noah dem auf die Spur zu kommen. „Bis vor fünf Jahren war hier ein kleines Dorf in der Nähe, aber die letzten, wenigen Bewohner sind fortgezogen, da die Brunnen ausgetrocknet sind. Jetzt liegen hier nur noch ein paar verlassene Hütten.“

„Und woher weißt du das?“ staunte Joey.

„Weil ich ab und zu mal mit Marik telefoniere“ antwortete er. „Er war ganz erleichtert, dass die Menschen gegangen sind, denn jetzt ist rund um das Grab rein gar nichts mehr. Erst in über 60 Kilometern gibt es das nächste Dorf. Aber Fahd Adh kennen wir ja schon. Ich denke mal, dass die Leute aus Gashe sich wohl dort angesiedelt haben.“

„Vielleicht“ brummte Seto, der sich jetzt schon den schnell trocknenden Schweiß aus der Stirn wischte. „Was wollen wir hier denn? Ins Grab oder nicht?“ Das hieß übersetzt wohl eher: ‚Scheiße, ist das warm hier. Ich hasse mein Leben.’

„Du hast es erfasst“ lächelte Sethan ihn beschwichtigend an. „Aber du kannst auch gern im klimatisierten Flugzeug bleiben. Es dauert nicht lange.“

„Was willst du denn da überhaupt? Ich dachte, du wolltest nach Norwegen, wo es schön kühl ist.“

„Nur ein ganz kurzer Besuch“ versprach er mit einem neckischen Zwinkern. Er wusste, dass es Seto hier viel zu warm war und er da immer etwas mürrischer wurde als sonst. „Ich hab noch etwas zu erledigen und dann können wir sofort weiter.“

„Ich find’s gut“ beschloss Balthasar frei heraus. „Ich bin gespannt, wie es dort wohl aussieht.“

„Ich glaube, in so einem Grab verändert sich nicht viel“ meinte Mokeph aus Erfahrung. „Dort hat sich seit 5000 Jahren nichts verändert.“

„Oh, das ist nicht ganz richtig“ musste Yami da doch berichtigen. „Es gibt einen Notstromgenerator und andere, kleine Hilfsmittel. Früher zum Beispiel gab es kein batteriebetriebenes Radio und einen Satteliten mit Internetverbindung hatten die Grabwächter auch nicht.“

„Aber sie müssen ja auch irgendwie mit euch in Kontakt bleiben“ meinte Fernando und sah mit vorgehaltener Hand in den Himmel. „Haben wir überhaupt Schutzkleidung gegen die Sonne mit?“

„Natürlich nicht“ schüttelte Sharesa ihren schwarzen Kopf. „Selbstverständlich hat Sethan uns ja nicht vorgewarnt, dass wir in die Wüste fliegen.“

„Wie gesagt, könnt ihr gern auch da bleiben“ betonte er nochmals. „Ich muss wirklich nur ganz kurz hin. Dauert nicht mal drei Minuten und zu Fuß ist man auch in vier Stunden am Grab.“

„Dann mal frohes Laufen“ meinte Jonny. Klang nicht so, als hätte er da große Lust zum Mitkommen.

„Marik hat aber versprochen, uns Strandbuggys hinzustellen“ meinte Sethan und sah Tato fragend an. „Hat er doch, oder?“

„Ich denke mal, die stehen da hinten in der Hütte“ nickte er ein paar hundert Meter nach vorn, wo ein recht altes Holzhüttchen stand. „Mehr als sechs konnte er uns aber nicht anbieten.“

„Na, das reicht doch auch“ meine Sethan nickend. „Auf jedem Buggy können zwei mitfahren und alle müssen ja nicht mitkommen. Ist vielleicht auch gar nicht schlecht, wenn jemand aufs Flugzeug und die Kinder aufpasst.“

„Is pass auf!“ meldete klein Tato sich sofort. „Is bin ein duuter Aufpasser. Nä, Mama?“

„Heißt aufpassen, dass wir hier bleiben müssen?“ war Ninis kleine Sorge. „Ich will aber Odions neue Freundin sehen, wenn wir ins Grab gehen. Die ist so lieb am Telefon. Und ich will Marik knuddeln. Marik ist ein hübscher Mann.“

„Ich glaube, Seto und die Kinder bleiben am besten hier“ vermutete Yugi, wenn er seinen Ehemann so ansah. Der stand gerade mal ein paar Minuten in der Sonne und schüttete bereits lauter Unglückshormone aus. Nicht nur, dass er keine passende Kleidung mit sich führte, sondern innerlich war er schon auf den kühlen Norden eingestellt. Sand und Hitze gehörten nicht zu seinen liebsten Hobbys.

„Und wenn wir hier weiter rumstehen, schaffen wir gar nichts mehr“ murrte Tato von der anderen Seite. Er schien die Hitze etwas besser zu vertragen, auch wenn er nicht gerade begeistert aussah.

„Ja, wie ist das denn eigentlich?“ fragte Joey und sah ihn rätselnd an.

„Was?“ giftete Seto zurück. „Was soll wie sein? Drück dich klarer aus, wenn du schon quatschen musst.“

„Dass du dich hier unwohl fühlst, weiß ich ja“ winkte er den schimpfenden Drachen ab. „Aber Seth hat sich in so einer heißen Umgebung immer wohl gefühlt. Wie ist denn das beim Wind? Hat der auch so eine typische Landschaft?“

Als wäre er gar nicht angesprochen, antwortete Tato darauf nicht. Er setzte nur seinen Blick gegen Joeys und gab keinerlei Auskunft. Warum auch? Die Frage an sich war ihm schon zu blöd.

„Am liebsten Städte und Menschen“ antwortete Dakar für ihn. „Der Wind hat keine Heimat, aber er braucht Bauten und Wesen, die er umwehen kann, ohne festgehalten zu werden. Aber gern mit Zugang zu freien Flächen, eben wie Wüsten aus Sand und Wasser. Der Wind ist heimatlos. Eher ein Träger für andere Elemente. Was wäre ein Sandsturm oder eine Sturmflut ohne Sturm? Deshalb sind Windmagier meistens flatterhafte, aufbrausende Männer, die aber eigentlich nie alleine sein mögen.“

„Sonst noch ein Horoskop?“ zischte Tato ihn an.

„Sei doch nicht gleich so aufbrausend“ meinte Balthasar. „Dakar hat nur auf eine ganz normale Frage geantwortet. Reg dich ab, Alter.“

„Du ...“ Doch bevor Tato seinen alten Zwist mit dem Feuersohn aufnehmen konnte, quasselte Nini schon wieder dazwischen.

„Du? Sari?“ fragte sie die von Tristans Schultern herunter. „Du bist doch auch so ein Drache, oder?“

„Dragge!“ rief Tato und zeigte auch noch auf sie. „Dragge. Weiß is. Nä? Mach ma GROOAAAARRRR! Du uns is, nä? Und Mama und Tethi. Und no ein Tethi. Gibs ganz viele, nä?“

Sie wusste darauf gar nichts zu sagen. Das Thema schien ihr peinlich zu sein und sie stand da etwas einsam zwischen Sharesa und Phoenix. Wäre ihr Papa neben ihr gewesen, hätte sie sich wohl versteckt.

„Darüber habt ihr uns ja noch gar nichts erzählt“ bat Noah ganz lieb und trat ein paar Schritte zur Seite, um seinen Arm um sie zu legen. „Darf ich dich fragen, ob du auch ein Element hast?“

„Die Erde“ antwortete sie zaghaft und sah zu ihm hoch. „Die Erde ist wie das Eis. Aber dunkler, verschlossener, sagt Opa. Opa sagt auch, die Erde ist schwerer in Bewegung zu bringen. Aber wenn sie sich erst bewegt, dann sind das entfesselte Kräfte.“ Vor welchen sie anscheinend mehr Angst hegte, als ein eventueller Feind. Sie war also wirklich das letzte, ausstehende Element. Jetzt waren alle vier Elemente auf der Erde vertreten. Das Feuer, der Wind, die Erde und das Eis als Vertreter des Wassers. Alle vier ... ob das eine Bedeutung hatte oder nur zufällig so geschah?

„So, genug geplauscht jetzt“ beschloss Tato, trat dazwischen und schirmte seine Tochter ab. Genau so wie die anderen es berichtet hatten. Er ließ nichts und niemanden an sie heran, was schädlich oder unruhig wäre. Er wollte nicht, dass sie ihre Kräfte fand und in einen gefährlichen Kampf zog. Er wollte sie nicht auch noch verlieren. „Du bleibst hier bei Oma und hilfst ihm bei den Babys, okay?“

„Aber ich wollte auch mit zum Grab“ bettelte sie mit großen, dunkelblauen Augen ihren großen Übervater an. „Ich wollte so gern sehen, wie Marik in jung aussah.“

„Ich bringe dir ein Foto mit. Wir sind doch gleich wieder zurück.“

„Lass sie doch mitgehen, Tato“ versuchte Yugi ihn zu überreden. „Es dauert doch nicht lange und ...“

„Und ich sage, sie bleibt hier“ unterbrach er ihn fest. In seiner Erziehung ließ er sich nicht reinreden, von niemandem.

Und Yugi sah es auf sich zukommen. Das würde ein großes Stück Arbeit werden, seinen verängstigten Panzer zu knacken.
 

Die sechs Strandbuggys bekamen sie schnell verteilt. Selbstverständlich bekam Sethan einen, den er sich jedoch von Yami fahren ließ, der immer vornan der Schnellste sein wollte. Selbst wenn Joey ihm immer wieder sagte, dass dies hier kein Rennen war und sich insgeheim eher darüber ärgerte, dass er und Jonny zusammen nicht mal halb so schnell fuhren und regelmäßig zusammen mangels gutem Fahrstil im Sand landeten. Balthasar wollte ja auch gern ein bisschen wilder fahren, aber da der seinen etwas ängstlicheren Bruder auf dem Rücksitz hatte, ließ er es mit den Rennen doch lieber ganz ausbleiben. Ebenso wie Dakar und Sharesa sich ein Gerät teilten. Sie hätte sich ja gern ein Wettrennen mit Yami geliefert, aber dann hätte Dakar seine Zigarette nicht in Ruhe rauchen können und daran zu denken, dass er das Steuer abgab, war auch nicht. Tato bestand da von Anfang an auf seinen eigenen Fahrerplatz und wollte auch niemanden hinten draufhaben. Einfach weil er es so wollte und Punkt. Den letzten Buggy verlosten dann die restlichen Willigen unter sich und das große Los zogen Mokeph und Tristan. Zwar wollte Fernando auch gern mit, Nika hätte nicht nein gesagt und Yugi hätte den Grabwächtern auch gern einen Besuch abgestattet. Aber das Los hatte entschieden und so mussten nur noch Tristan und Mokeph sich darum streiten, wer denn nun fahren durfte. Man einigte sich also darauf, dass Tristan hin und Mokeph zurückfahren durfte und das nächste Mal wurde der Besuch einfach nicht so spontan geplant, damit sie wieder den schönen Reisebus nutzen konnten. Auch wenn Sethan immer wieder betonte, dass so viel Begleitung nicht nötig war, weil er ja nur ganz kurz etwas erledigen wollte, aber der Weg nach Ägypten war ja leider so weit, dass sie ihre Freunde untertage nicht häufig zu Gesicht bekamen und entsprechend groß war damit auch der Ansturm.

Kaum hatte Joey seine Wasserflasche leer gemacht und klagte im Minutentakt über Durst, hatten sie die Ruinen des Außengrabes auch schon erreicht. Außer den paar verfallenen Steinbauten mitten im Sand deutete nichts darauf hin, dass hier überhaupt etwas lag. Und da dieses Grundstück in mehreren Hektar ein altes Erbgut der Ishtars war, blieben sie glücklicherweise auch vor Forschern verschont. Denn die uralte Familie war zwar in den Akten eingetragen, aber es gab keine Kontaktdaten, sodass nicht mal eine Möglichkeit in Aussicht stand, eine Grabungserlaubnis zu bekommen. Und im Zweifelsfalle würde sich schon ein einflussreicher Freund finden, der seine schützende Hand über das unterirdische Geheimnis legte. So mächtig war der Name Kaiba allemal.

Sie stellten ihre Buggys im Schatten einer sandumwehten Wand ab und streckten sich nach der holprigen Reise.

„Boah, Alter ey“ schwitzte Jonny und rückte sich seine übertrieben große Sonnebrille zurecht. „Bin ich froh, wenn wir erst mal im Kühlen sind.“

„Glück, dass Seto nicht mit ist. Der hasst diese sonnigen Reisen und hätte uns nur die Ohren vollgequakt“ meinte auch Joey.

„Aber Sonne bei Drachen ist doch was Schönes“ grinste Yami in zweideutiger Richtung auf Tato, um den mal etwas aus der Reserve zu locken. „Oder, Tato? Wollen wir uns ein bisschen zusammen sonnen und mal gucken, was passiert?“

„Reicht, wenn du mir sagst, wann ich dich wenden soll“ antwortete der trocken. Selbst wenn er den Spaß verstanden hatte, fand er die Idee jetzt weder lustig noch ansprechend.

„Du bist humorlos“ warf er ihm beleidigt vor.

Doch darauf bekam er dann gar keine Antwort mehr. Stattdessen zog der Griesgram sich lieber seine Schuhe aus, um besser stehen und laufen zu können. Nicht nur, dass es barfuß angenehmer war, sondern mit seinem Stock konnte er im Sand auch nicht wirklich gut laufen. Da brauchte er wohl mehr Bodenkontakt.

„Aber wie es aussieht, werden wir schon erwartet“ wies Tristan sie auf die bereits geöffnete Bodenluke in der Nähe eines zerfallenen Unterschlupfes hin. Normalerweise war diese immer verschlossen und unter dem Sand versteckt, aber nun stand sie einladend offen.

„Komisch“ fiel Mokeph da sofort auf. „Warum ist die denn offen, ohne dass Wachen hier oben sind?“

„Vielleicht lüften sie ja nur aus“ versuchte Balthasar zu beruhigen. „Wir sollten nicht gleich in Panik ausbrechen.“

„Trotzdem ist es ungewöhnlich“ meinte Yami. „Gehen wir mal rein und schauen, ob wir jemanden finden. Ich hab nämlich auch Durst.“

„Und wir gehen ein Foto von dem jungen Marik machen, was?“ zwinkerte Balthasar seinem Brüderchen zu. „Sonst macht Sari uns die Hölle heiß.“

„Na kommt, Jungs“ beschloss Sharesa und schritt mutig voran. Wie ein zerbrechliches Mädchen benahm sie sich nicht gerade, reiste sogar freiwillig in nur männlicher Begleitung durch die Wüste. Aus ihr hätte wirklich problemlos auch ein Junge werden können.

Und die Jungs folgten ihr auch ebenso freiwillig. Aus dieser Hitze herauszukommen und sich für die Rückfahrt vielleicht etwas Wasser und Schutzkleidung geben zu lassen, war doch eine ebenso gute Aussicht wie endlich in die kühle Erde hinabzusteigen. Ausgerechnet zur Mittagshitze unvorbereitet durch die Wüste zu reisen, war eh eine Schnapsidee.

Sie waren nur wenige Meter vor der Bodenluke, als sie jedoch vor Schrecken stoppten. Es kam ihnen jemand entgegen, den sie hier ums Verrecken nicht erwartet hätten.

Seth.

Er stieg ruhigen Schrittes hinaus in die brennende Sonne und wer vermutet hatte, ihn als nächstes geschwächt oder verzweifelt zu sehen, wurde eines Besseren belehrt. Das Gegenteil war der Fall. Er sah blendend aus. Kräftiger noch als das letzte Mal, er hatte seine Höchstform wiedergefunden. Auch seine pseudomoderne Kleidung hatte er abgelegt und trug wieder sein altes Priestergewand. Selbst seinen ursprünglichen Silberschmuck an den Armen und Beinen trug er wieder und sogar am Hals prangte ein glänzender Silberring, obwohl er es immer unangenehm fand, wenn ihn jemand oder etwas am Hals berührte. Doch er sah genau aus wie im alten Ägypten und damals gehörte dieser Schmuck zu seinem ehrenhaften Stand. Nur eben mit dem Unterschied, dass er nun erwachsener wirkte durch sein langes Haar und den feinen Bart. Und auch seine Augen hatten sich verändert, als er aufblickte und den unverhofften Besuch sah. Sein Blick war hart geworden, spitz funkelnd und unergründlich tief. Die Sanftheit und Besonnenheit war aus ihm gewichen und glichen nun eher denen eines Drachen auf Jagd. Er sah gesund aus aber nicht besonders fröhlich.

„Atemu.“ Aber seine Lippen wandelten sich zu einem Lächeln, als er ihn erblickte. Den Rest würdigte er nicht mit Aufmerksamkeit.

Yami hatte einen Moment gezögert, aber dann schritt er entschlossen auf ihn zu, ballte seine Fäuste und erdolchte ihn mit einem strafenden Blick noch beim Näherkommen. „Sag mal, was ist in dich gefahren?“ schimpfte er ihn an und blieb fest vor ihm stehen. „Du verschwindest einfach so und ich ...“

„Bitte sei nicht böse mit mir“ lächelte er ihn sanft an und legte seine heißen Hände an Atemus ohnehin schon roten Wangen. „Ich habe dich sehr vermisst, mein Pharao.“

„Das meine ich nicht!“ Er schob langsam seine Hände weg und musste sich zusammenreißen, um beherrscht zu bleiben. „Ich weiß mittlerweile, was deine kryptischen Worte zu bedeuten haben. Und ich verbiete dir, deine Pläne noch in irgendeiner Form weiter zu verfolgen. Ich will, dass du ab jetzt nicht mehr von mir weichst und mich bei allem was du tust um Erlaubnis bittest. Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht mehr vertrauen, Aleseus.“

„Wenn das so ist“ sprach er mit sanfter Stimme weiter. „Ich bitte darum, meine Majestät küssen zu dürfen.“

„Nein! Ich will, dass du mich ernst nimmst!“ schimpfte er. „Verdammt, Seth! Warum benimmst du dich so? Wer hat dir ins Hirn gepustet?“

„Bitte sei ganz ruhig“ bat er, fasste ihn am Kinn und beugte sich langsam zu ihm herab. „Schimpf nicht mit mir. Ich liebe dich, Atemu.“ Und seinen Kuss bekam er doch. Er legte ihm seine Lippen auf, seinen Arm um die Schultern und zog ihn zu sich heran. Seine Zunge hatte noch immer dieselbe Hitze und Yami musste feststellen, dass Seth nicht fremdgesteuert wurde. Wäre er unter Hypnose oder besessen, hätte er es in seinem Kuss gespürt. Aber er war er selbst. Alles, was er tat, tat er aus freiem Willen heraus. Ebenso wie er ebenso nach einem Kuss verlangte wie früher. Und es war gemein. Yami liebte ihn und er wusste das. Er liebte es, ihn zu küssen, in seinen Armen zu liegen. Ihn zu schmecken, seine Hitze zu spüren und ihm einfach nahe zu sein. Die Zeit, in welcher sie nicht zusammen waren, wurde lang und lang und immer länger. Aber dieser neue Seth machte ihm auch Angst. Nein, Angst war das falsche Wort, denn wirklich fürchten tat er ihn nicht. Viel eher machte es ihn besorgt. Als wäre Seth vom Wahnsinn befallen. Nicht ein solch ‚harmloser’ Wahnsinn wie Yugi ihn aus Trauer empfunden hatte. Eher ein Gefühl, dass sein treuer Priester sich auf den Gedanken versteift hatte, sich an der ganzen Welt für seine verletzte Ehre rächen zu wollen.

„Seth, bitte“ flüsterte Yami, als sie sich nach dem Kuss in den Armen lagen. Er an seine Brust geschmiegt, hörte sein schlagendes Herz und seinen tiefen Atem, spürte seine starken Arme um sich. Es könnte alles so schön sein. „Bitte komm endlich zur Vernunft. Komm mit nach Hause. Niemand wird dir Vorwürfe machen. Komm mit nach Hause und lass uns über alles in Ruhe sprechen. Lass mich dir helfen.“

„Nein, du hast schon genug getan, geliebter Pharao“ antwortete er ihm mit tiefer, rauchiger Stimme. „Jetzt werde ich dir ein Zuhause schaffen, in welchem wir beide glücklich leben werden. Du wirst sehen. Ich werde dir die Welt zu Füßen legen.“

„Ich will das alles nicht“ bat er, drückte sich ein paar Zentimeter fort und sah an ihm hinauf. „Bitte hör mir zu, Aleseus. Ich will, dass du mit mir kommst und deine Pläne ruhen lässt. Was du vorhast, will ich nicht. Verstehst du das? Ich w i l l es nicht.“

„Du wirst es wollen, das weiß ich. Wenn erst alles perfekt ist, wirst du mir dankbar sein. Ich weiß es.“

„Hör mir doch zu!“ versuchte er so deutlich wie möglich zu sagen. „Ich will es nicht.“

„Ich weiß, dass du jetzt im Augenblick dagegen bist, Atemu“ lächelte er ihn an als wäre er ein kleines, ahnungsloses Kind. „Aber dein Blick ist getrübt von dieser schmutzigen Zeit. Wenn ich erst alles neu geschaffen habe, wirst du es für gut befinden. Das weiß ich. Ich werde dir dein Leben zurückgeben.“

„Aleseus, hör mir doch zu! Versteh es endlich!“ Er fasste seine Handgelenke und war angehend verzweifelt. Was musste er denn noch tun, damit seine Worte ankamen?

„Verzeih, ich habe nicht damit gerechnet, dich hier anzutreffen.“ Sein Lächeln wollte nicht weichen. Als sei alles in bester Ordnung so schien er guter Dinge zu sein. Erschreckend. Er war im Begriff, die ganze moderne Zivilisation zu vernichten und sprach darüber so beruhigend, fast schon vorfreudig. „Ich muss noch viel tun. Aber ich werde bald zu dir kommen und gemeinsam werden wir die Nacht zum Leben erwecken. Dann haben wir ausreichend Zeit, unsere Sehnsüchte zu stillen. Ich verspreche es dir, Atemu. Bald sehen wir uns wieder.“

„Du kannst jetzt nicht einfach gehen!“ Er hielt ihn gerade noch am Arm fest, bevor er sich ganz von ihm entfernt hatte. „Seth, bitte lass es nicht zu einem Kampf kommen! Sieh doch, wer gegen dich steht.“ Er wies auf die anderen, welche es bis jetzt nicht gewagt hatten, einzuschreiten. Selbst Sethan besah sich das alles von einer noch beobachtenden Position aus. „Es sind unsere Kinder aus der Zukunft. Sie sind gekommen, um deine Pläne zu vereiteln. Seth, wie soll das ausgehen? Willst du etwa gegen deine eigenen Söhne kämpfen? Lass es nicht so weit kommen! Bitte! Alle sind gekommen, um dich zu stoppen. Es wird einen Kampf geben, wenn du nicht zur Vernunft kommst!“

„Ich weiß, Atemu“ lächelte er ihn beruhigend an. Das alles schien ihm weder neu, noch schien es ihn zu erschrecken. Wenn er wirklich mit seinem dunklen Göttervater im Bunde stand, hatte der ihn sicher bereits eingeweiht über das, was vor sich ging und was ihm drohte. „Sei bitte unbesorgt. Es wird alles seinen besten Weg gehen. Wir werden wieder glücklich sein.“

„Ich bin glücklich, so wie es ist. Hörst du meine Worte? Ich will nicht, dass sich etwas ändert.“

„Und damit du eine unveränderte Welt vorfindest, werde ich für dich kämpfen. Ich werde dir ein Denkmal setzen, Atemu. Dir und meiner unendlichen Liebe zu dir. Hab noch ein wenig Geduld. Unser Reich ist ewig.“ Er schenkte ihm noch einen Kuss auf die Stirn und ließ ihn so stehen.

Yami selbst war so perplex, dass er sich kaum bewegen konnte. DAS war nicht der Seth, den er kannte. Er war wahnsinnig! Er war besessen von dem Gedanken, für seinen Pharao etwas Gutes zu tun. Sein Seth hätte so etwas nie getan. Sein Seth war genügsam, vernünftig und besonnen. Ein bisschen wild war er immer schon, aber er stellte sein ruhiges Verständnis und seine Vernunft über alles. Aber was er nun plante, war ein verrücktes Unterfangen.

Wer hätte geahnt, dass er als Hohepriester einst der stärkste Feind des Pharaos werden würde?

„Vater, warte bitte.“ Balthasar fasste sich ein Herz und sprach ihn nicht nur an, sondern ging auf ihn zu, bevor er fortgehen konnte.

Seth stoppte auch und blickte sich nach ihm um. Auf diesen jungen Mann, der ihm zum Verwechseln ähnlich sähe, hätte er nicht diese grauen Stahlaugen. Aber den Mut, den hatte er geerbt. Er war das Kind, welches er um jeden Preis nun früher hatte zeugen wollen. Auch wenn er es noch um Dunkeln ließ, wofür er ihn so nötig brauchte.

„Du bist Balthasar, nicht wahr?“ fragte er als sein Sohn ihn erreichte und fest anblickte.

„Ja“ nickte er. „Und das ist mein Bruder Phoenix.“ Obwohl er auf ihn wies, nahm Seth seinen Blick nicht von dem stärkeren, dem besseren Sohn. Genau wie die anderen es aus der Zukunft berichtet hatten. Phoenix existierte für ihn scheinbar gar nicht.

Seth lächelte und strich ihm über die Wange. Fast eine liebevolle Geste, wenn auch etwas distanziert.

„Bitte lass uns nicht gegeneinander kämpfen“ eröffnete Balthasar ihm mit entschlossener Stimme. Auch wenn er sich sicher gern in seine väterlichen Arme fallen lassen würde, so hielt er doch nur seine zaghafte Berührung aus. „Wir können deine Pläne nicht gutheißen und werden dich nicht unterstützen. Bitte tu, was Atemu dir sagt und mach nicht weiter. Bleib bei unserer Mutter und sei uns ein Vater. Wir brauchen dich mehr als die Welt es tut.“

„Sorge dich nicht“ tröstete er ihn beinahe väterlich. „Du wirst deinen Platz im neuen Reiche finden, mein Sohn. Noch bist du jung und naiv, aber du wirst verstehen lernen.“

„Wenn dich zu verstehen, bedeutet, dir zu folgen und die Menschheit auszulöschen, bleibe ich lieber naiv!“ Es war ihm egal, ob sein Vater stärker war oder leicht reizbar. Es war ihm auch gleich, ob er in einem Kampf gegen ihn bestehen konnte. Mut hatte er in jedem Falle und er würde für seine Ideale eintreten. Genau wie Seth änderte er seine Meinung nur schwer. Und in einer neuen alten Welt zu leben, konnte er sich kaum vorstellen und wollte es auch gar nicht. „Was wir brauchen, ist ein Vater. Du hast uns gezeugt, also steh auch zu deiner Verantwortung. Es ist grausam, wenn ein Vater seine Söhne ignoriert. Spatz und ich wollen keinen Vater, wie du ihn hattest.“

Doch da wandelte sich die streichelnde Hand und nach einem lauten Klatschen fiel Balthasar in den Wüstensand. Seth hatte ihn geschlagen für seine freche Äußerung.

„Maße dir nicht an, über meinen Vater zu sprechen“ wies er ihn zurecht und sah auch dann auf ihn herab, als Phoenix zu ihm gelaufen kam und ihm auf die Beine helfen wollte, was sein Bruder aber auch ganz allein schaffte.

„Balthasar hat aber Recht“ bat er mit seiner hellen, weichen Stimme und seine grauen Augen füllten sich mit Tränen. „Bitte ignorier uns nicht. Die Welt braucht keine neue Ordnung, sondern wir brauchen einen Vater. I c h brauche einen Vater.“

„Was du brauchst, ist kein Vater, sondern jemanden, der sich erbarmt, dich von deinem Leiden zu erlösen“ entgegnete er kalt und spätestens da verstand Yami, dass sein Seth nicht mehr derselbe war. Seinem Sohn so etwas zu sagen. Ihm so das Herz zu zerstören und ihm zu zeigen, dass er ungewollt war. Auch wenn Seth von seinem eigenen Vater dasselbe erfahren hatte, durfte er es dennoch nicht an seine Söhne weitergeben. Der Seth, den er kannte, der hätte sich liebevoll um seine Kinder gekümmert. Doch aus dem weisen Priester war ein wahnsinniger Weltfeind geworden.

„Jetzt reicht es! Was bist du nur für ein Vater?!“ Und das rief Tato auf den Plan. Für ihn waren die beiden wie seine eigenen Kinder. Sein Sohn war gestorben und er hatte in den Zwillingen einen Ersatz gefunden. Und als ein solcher Ersatzvater würde er nicht zulassen, dass ihnen jemand wehtat. Weder körperlich noch im Herzen.

„Was willst du denn, Sato?“ lachte er ihn fast aus als der ohne Stock etwas schief auf ihn zukam. „Mach dich nicht lächerlich.“

„Wer sich hier lächerlich macht, bist ganz allein du“ erwiderte er und stellte sich schützend vor die beiden Jungs. „Im Gegensatz zu dir, sorge ich nämlich für deinen Nachwuchs, du Rabenvater.“

„Doch auch nur, weil du Ersatz für deinen toten Sohn suchst“ reizte er ihn ohne Skrupel. „Du konntest ihn nicht beschützen und suchst jetzt nach einer Buße. Was du hast, sind keine Vater- sondern Schuldgefühle. Mein Sohn hat eine große Zukunft vor sich im Gegensatz zu deinem.“

„Du hast zwei Söhne, du Arschloch“ zischte er. „Was ist nur aus dir geworden? Sieh dich doch mal an. Nichts bist du mehr. Du hinkst der Zeit hinterher und schaffst es nicht, dich anzupassen. Nichts außer bemitleidenswert bist du noch.“

„Sieh du dich doch an“ grinste er. „Für was hältst du dich? Du säufst, lässt deine Familie sterben und nimmst dir fremde Kinder als Ersatz. Wenn hier jemand bemitleidenswert ist, dann du. Du flügellahmer Möchtegern.“

Noch bevor jemand anderes sich einmischen konnte, trat Sethan dazwischen. Und sich zwischen zwei rivalisierende Drachen zu stellen, war nicht ungefährlich. Zumal Tato gerade drauf und dran war, einen echten Kampf anzuzetteln, wenn Phoenix sich nicht an ihm festkrallen würde.

„Seth, bitte“ versuchte auch Tristan auf ihn einzureden. „Komm zur Vernunft. Warum redest du so, Mann? So bist du doch eigentlich gar nicht.“

„Wirklich, du bist nicht mehr derselbe“ meinte auch Mokeph, der sich sogar neben ihn stelle und ihn am Arm berührte. „Was ist aus meinem wunderbaren, großen Bruder geworden? Wo ist unser Sethi, der auf uns aufpasst und uns mit seinem vernünftigen, weisen Wissen zur Seite steht?“

„Da wende dich getrost an Seto, mein Bruder“ funkelte Seth zurück.

„Seto kann dich aber nicht ersetzen“ argumentierte Tristan. „Ja, vielleicht kennt er die Götterwelt, aber er ist nicht du! Er ...“

„Lass es. Das hat keinen Sinn“ bat Sethan ruhig und blickte warnend mit seinen schimmernd surrealen Augen an Seth hinauf. „Ich warne dich nur dieses eine Mal, Aleseus. Nimm Abstand von deinen Plänen oder unser nächstes Treffen wird ein Kampf, den du nicht gewinnen kannst.“

„Und wenn du doch so stark bist, warum hältst du mich dann nicht jetzt auf?“ wollte er von ihm wissen. Auch wenn er nicht gerade so klang als würde er diesen gegen ihn schmächtigen Jungen als mächtiger ansehen.

„Ich weiß, mein Vater hat dir viel Wissen gegeben“ antwortete er ruhig. „Aber es gibt Dinge, die weiß nur ich.“

„Na, wenn das so ist“ lächelte er spöttisch und trat ein paar Meter zurück, wand seinen heißblauen Blick dann zurück auf Atemu, der den Rest nur noch hilflos verfolgt hatte. Er konnte es einfach nicht fassen, was mit seinem treuen Priesterchen geschah. „Atemu“ sprach er in einem verliebt ruhigen Ton. „Ich komme bald zu dir. Du wirst sehen. Es wird sich alles zum Guten für uns wenden. Wir werden wieder zusammengehören. So wie früher.“

„Warum tust du uns das an?“ hauchte er mit aufsteigenden Tränen.

„Ich liebe dich“ verabschiedete er sich, deutete eine Verneigung an und schon toste der Sand um ihn zu allen Seiten. Er schlug ein paar Mal kräftig mit seinen mattweißen Schwingen, erzeugte eine Menge Wind und verschwand dann in Richtung der Sonne. Fort, um weiter seine Pläne zu verfolgen und seinen Pharao so glücklich zu machen, wie er es früher war.

„VERDAMMT! HÖR MIR DOCH ENDLICH ZU!“ schimpfte Yami, ließ sein Puzzle aufleuchten und schickte ihm wie Blitze so helle Lichtsäulen hinterher. Es sah aus als würde er ein Lasso nach ihm auswerfen. Er wollte nicht, dass er ging. Er wollte, dass er blieb und sich zur Vernunft bringen ließ.

Für gewöhnlich war dies die einzige Macht, die einen so starken Magier augenblicklich niederringen konnte und es hatte bisher immer funktioniert. Nur dieses Mal nicht. Selbst geschockt, musste Yami beobachten wie seine Macht scheinbar an ihm abprallte, gen Boden fiel und noch in der Luft verglühte. Genau wie damals als er ihn nicht aufhalten konnte, vom Balkon zu fliehen. Als wäre es gar nichts. Diese Lichtfesseln hatten ihn bisher immer aufgehalten, waren etwas woraus er nicht entkommen konnte. Und nun? Nun war es als hätte es sie nie gegeben. Die ursprüngliche Kraft des Pharaos war wirkungslos. Mit einem Mal.

„Ich konnte ihn nicht aufhalten“ klagte er, als er seine Freunde ansah. „Ich kann ihn einfach nicht aufhalten! Er ist wahnsinnig! Ich kann sagen, was ich will! Warum funktioniert es nicht? Was ist mit meiner Macht? Ich kann ihn nicht aufhalten!“

„Doch, das kannst du“ tröstete Sethan mit ruhiger Stimme. „Und du wirst auch bald wissen, wie.“

„Aber er ist wahnsinnig!“ rief er voller Tränen.

„Aber du bist es nicht. Und das ist es, was zählt.“

„Ich bin völlig machtlos! Ich kann nicht ...“

„Hey, Alter.“ Joey legte ihm seine Hand auf die Schulter und nahm ihn dann tröstend in den Arm. „Ist doch alles okay. Wir schaffen das schon. Wir haben bisher doch immer alles geschafft.“

„Aber da hieß unser Gegner auch nicht Aleseus“ weinte Yami und nässte Joeys Schulter langsam ein. „Warum er? Warum ausgerechnet er? Hätte Seth sich nicht einen anderen suchen können, der gegen mich kämpfen soll? Warum er? Warum ausgerechnet er?“

„Weil die Hohepriester die natürlichen Feinde ihrer Pharaonen sind“ fand Sethan die passendste Erklärung. „Aber man muss seinen Gegner nicht töten, um ihn zu besiegen. Man muss ihn nur genug lieben.“ **Für die Detektive unter euch: Das war ein Hinweis. ^^**

„Und warum hast du ihn jetzt einfach so gehen lassen?“ warf Jonny ihm vor. „Wir hätten uns ne Menge Arbeit gespart, wenn du die Sache jetzt beendet hättest.“

„Wie gesagt, es gibt Dinge, die weiß nur ich“ zwinkerte er froher Dinge aufgelegt. Aber dann sah er Tato an, der noch immer in den Himmel blickte und vor Wut leise schnaubte. „Und dir danke ich, Onkel Tato“ sagte er leise. „Du hast dich zurückgehalten. Ich weiß, dass dir das sehr schwer gefallen ist.“

„Das nächste Mal mache ich ihn kalt“ zischte er und drehte sich beleidigt um. Mit seinem einseitig belasteten Rücken humpelte er auf die noch immer geöffnete Luke zu und sonderte sich ein Stück von der Gruppe ab. Es war ihm wirklich schwer gefallen, nicht auf Seth loszugehen. Er gab ihm noch immer Mitschuld an dem Tod seiner Frau und seines Sohnes. Hätte Phoenix sich nicht an ihm festgehalten, wäre es sicher anders gekommen.

„Ach, Mann. Da haben wir uns ja wen ausgesucht, was?“ seufzte Yami und legte dem armen Phoenix seinen Arm um die Hüfte. Der sah auch so aus als wolle er jeden Moment weinen. Immerhin hatte sein Vater ihn mit seinen Worten und seiner Ignoranz tief verletzt. Dabei sehnte er sich so sehr nach seiner Wertschätzung.

„Ich hab ihn mir nicht ausgesucht“ flüsterte er mit bebender Stimme. „Warum kann er mich nicht lieben? Ich kann doch nichts dafür, dass ich so bin.“

„Hey, du bist gut so wie du bist, Spatz“ meinte Jonny. „Lass dir von ihm nichts einreden. Der hat doch keine Ahnung.“

„Eben“ tröstete ihn auch Balthasar. „Du bist ein topp Fighter, da kann sich so mancher noch ne Scheibe abschneiden. So don’t worry, Brother.“

„Du hast ja auch leicht reden ... du mit deiner Kraft“ flüsterte er zurück und trat lieber einen Schritt zur Seite, um sich an Sethans Arm zu hängen.

„Na, dann kommt mal ins Kühle, ihr Hitzköpfe“ seufzte Sethan die anderen an und führte sie Tato hinterher hinab ins kühle, dunkle Grab. Balthasar seufzte nur tief und versuchte schon gar nicht mehr, seinen Bruder zu trösten. Egal, was er sagte, es würde immer das falsche sein ...
 

Im Inneren der dunklen Katakomben war zuerst gar niemand zu sehen. Wahrscheinlich war alles noch in hellem Aufruhr und woanders unterwegs. Sicher hatte auch Seth hier mehr gewollt als nur kurz mal ein Teechen trinken.

„Wow, es hat sich echt nichts verändert“ stellte Sharesa zuerst mal fest.

„Aber leben will ich hier unten ja auch nicht“ meinte Jonny. „Echt mal. Grabwächter wäre kein Job für mich.“

„Dafür gibt es ja auch die Ishtars“ sprach Dakar ganz ruhig. „Also, Sethan. Was genau willst du hier?“

„Da entlang“ zeigte er und ging auch gleich voran. Er schien genau zu wissen, wo er hinwollte und wo es lag. Und das war wichtig. Immerhin war das hier ein großes Labyrinth, in welchem sich selbst Eingewiesene manchmal verliefen.

Sie gingen die dunklen, leicht feuchten Gänge entlang, atmeten die kalte Luft und bogen mal hier und mal dort ab. Einige der Gänge waren kahl und schroff oder glatt geschliffen und mit Fackeln behängt. Nicht mal alle Fackeln waren angezündet. An manchen Ecken war es stockduster und umso anders fühlte man sich, wenn man plötzlich im die Ecke wieder ein paar prächtige Gänge hatte. Diese waren dann reich geschmückt mit Gold an den Wänden, feinen Zeichnungen in tausend Farben, mit gewebten Teppichen behangen oder kunstvoll mit Kerzen beschienen.

„Für ein Grab ja nicht schlecht“ staunte Jonny mit großen Augen. „Ich meine, die Ägypter haben ja echt Sinn für Grabmähler was?“

„Die meisten Pharaonen haben ja mehr geprotzt“ erklärte Mokeph. „Ich meine, die Pyramiden sind ja wirklich reines Geprotze. Eigentlich sind die Gräber dafür gedacht, den Körper des Verstorbenen zu bewahren, damit er im Jenseits weiterleben kann. Und der viele Schmuck und die Kunst sind das, was man im Jenseits besitzen soll. Dies aber überall zur Schau zu stellen, ist Angeberei. Oder, Atemu?“

„Das war bei uns anders“ erinnerte er sich. „Meine Vorfahren haben alle unterirdische Gräber, um vor Grabräubern sicher zu sein. Ich weiß nicht mal, wo genau mein Großvater überhaupt begraben liegt. Als Kind war ich bei seiner Beisetzung und weiß, dass seine Grabkammer reich geschmückt war. Sie wurde nur geöffnet, um ihn zu Großmutter zu legen. Aber danach wurde alles zugeschüttet und es gab nur wenige Eingeweihte. Meist waren die Eingeweihten sehr alte Männer mit todbringenden Krankheiten, die mit ihrem Geheimnis bald verstarben und sich durch die Arbeit am Königsgrab einen Platz in Rahs Reich erhofften. Die Grabräuber waren schon damals die größte Gefahr für das jenseitige Leben. Deshalb sind die Pyramiden wohl auch alle geplündert. Aber diese Dinger wurden erst Jahrhunderte nach mir erbaut. Uns wäre es nie in den Sinn gekommen, ein so offensichtliches Grab zu bauen.“

„Aber das hier ist ja mehr als nur ein Grab“ sprach Mokeph. „Normale Gräber sind nicht so weit verzweigt und haben eigentlich auch keine Wächter, die über Generationen darin leben. Hier liegt doch noch etwas anderes als nur dein Körper.“

„Was heißt denn ‚nur’ mein Körper?“ schaute Yami ihn an.

So war das zwar nicht gemeint, aber bevor Mokeph sich noch erklären konnte, huschte ein Gespenst vorbei. Sie waren gerade an einer Abzweigung angekommen, als direkt vor ihnen ein weißer Schein von links nach rechts wuselte.

„Hey, Marik!“ rief Tristan, der ihn wohl gerade noch erkannt hatte.

„WAS?!“ Okay, er hatte sie aber wohl nicht gesehen. So hörte man ein paar noch schnellere Schritte und gerade als sie um die Ecke biegen wollten, war er auch schon wieder zurück zu ihnen gekommen.

Er war etwas aus der Puste, strich sich sein platinblondes Haar zurück und ordnete sein Grabgewand, welches nicht wirklich weiß, sondern eher beige war. „Was macht ihr denn schon hier? Ich dachte, ihr kommt erst morgen.“ Da fielen ihm auch die anderen ins Auge, die er nicht kannte. Und er zwinkerte doch ein paar Mal. „Und wer seid ihr alle?“ Speziell als er Tato anblickte, der seinem Vater ja nun zum Verwechseln ähnlich war, wenn auch ein paar Jahre älter. Aber er schüttelte erst mal den Kopf, verneigte sich und küsste Yami die Hand, wie es sich doch so gehörte. „Herzlich willkommen. Schön, dich gesund wiederzusehen, mein Pharao.“

„Hallo Marik“ lächelte Yami und damit waren die wichtigsten Formalitäten auch erst mal erledigt. „Darf ich dich vorstellen?“

„Ja, bitte“ nickte er und sah die anderen wieder fragend an. Er wusste zwar, dass einige vorbeikommen würden, aber auf das hier war er nicht gefasst gewesen.

„Na gut. Also, das ist Besuch aus der Zukunft. Etwa 38 Jahre entfernt von hier.“

„Okay ...“ Das musste er erst mal so hinnehmen. Hörte sich zwar relativ abstrus an, aber wenn Yami ihm das so ehrlich sagte, hatte er daran nicht zu zweifeln. „Aber Seto hat in seiner Mail gar nichts davon erwähnt.“

„Das ist mein Verschulden“ outete Tato sich alsgleich. „Die Mail war von mir. Ich hab nur Mamas Account benutzt. Entschuldige, bitte.“

„Ähm ...“

„Das ist Tato“ half Yami dem überrumpelten Oberhaupt der Grabwächter lachend auf die Sprünge. „Und die beiden Wuschel dort sind Sharesa und Dakar. Die Kinder von Tea und Mokeph. Das dort ist Jonny, der Sohn von Joey und Sara. Die beiden Jungs da sind Balthasar und Phoenix, die Zwillinge von Seth und Marie. Und der hübsche Bursche hier“ zeigte Yami. „Das ist Sethan.“

„Herrje ... entschuldigt, aber ich ...“ Und vor Verlegenheit musste er sich doch mit einem Lachen entschuldigen. „Sorry, ich bin etwas überrascht.“

„So ging es uns auch“ meinte Joey. „Aber man gewöhnt sich ganz schnell daran.“

„In Ordnung. Darf ich?“ Er streckte Sethan respektvoll seine Hand entgegen und hauchte einen Kuss darauf, als er auch seine gereicht bekam. „Wie darf ich dich ansprechen? Prinz oder Pharao?“

„Korrekter Weise nur Prinz. Gekrönt bin ich nämlich nicht“ lächelte er als Marik sich wieder erhob. „Aber Sethan reicht. Bitte frei von Etikette, ja?“

„Danke“ lächelte er zurück und trat auch noch einen Schritt zur Seite, um sich ebenfalls vor Tato zu verneigen. Aber ihm hob er seine Hand nur entgegen, ohne ihn zu küssen. Musste wohl auch eine altägyptische Begrüßung sein.

„Schön, dich zu sehen, Marik“ brummte auch Tato und legte ihm die Hand ans Kinn, um ihn wieder hinaufzuziehen. Manchmal waren solche Begrüßungen eben doch aufschlussreicher als ein Handschlag.

„Und was kann ich für euch tun?“ fragte er dann frei heraus. „Wisst ihr ... wir hatten eben einen ebenfalls etwas überraschenden Besuch.“

„Ich weiß. Wir haben ihn draußen getroffen“ meinte Tristan, denn es war klar, von wem Marik sprach. „Hast du eine Ahnung, was er hier wollte? Ich meine ... er ist merkwürdig, oder?“

„Merkwürdig ist untertrieben“ war auch seine Meinung. „Ich weiß nicht, was er hier wollte. Natürlich ist uns jeder Hohepriester immer willkommen, aber so unangemeldet, waren wir doch etwas überrumpelt. Er hatte es auch ziemlich eilig. Er war nur kurz hier und hat nicht viel gesprochen. Zuerst war er in der Grabkammer und hat sich seinen alten Schmuck, sowie einige Kleidung zurückgeholt. Dann ist er in den Katakomben verschwunden und eben rief meine Schwester nach mir. Wir wissen nicht genau, was er getan hat.“

„Er hat sich Kleidung geholt?“ fragte Jonny skeptisch nach. „Ist denn die Kleidung, die seit 5000 Jahren in der Grabkammer liegt nicht schon lange unbrauchbar?“

„Nein, gar nicht“ schüttelte er den Kopf. „Wir tauschen sie alle zehn Jahre gegen neue aus. Ebenso wie wir alle zehn Tage frische Speisen in den Vorraum stellen.“

„Oh, das könnt ihr aber abstellen“ bat Yami. „Ich wusste nicht, dass ihr das immer noch macht. Seth und ich sind doch beide lebendig.“

„Ja, wissen wir“ lächelte er. „Aber es ist doch so üblich, um eure Seelen zu versorgen. Und ich will mir nicht vorhalten lassen, die alten Gebräuche nicht zu pflegen. Sonst hätte Aleseus mich wohl persönlich gerufen, wenn ihm etwas sauer aufgestoßen wäre. Aber er hat nichts gesagt. Die frische Kleidung war ja immerhin seinem jetzigen Körper angepasst. Aber ein Lob gab es nicht“ seufzte er und fuhr sich erneut das Haar aus dem Gesicht. „Aber wie gesagt, was ...“

„Marik!“ rief eine weibliche Stimme über den Flur. Ishizus Stimme. „Wo bist du denn? Wir brauchen dich, um ...“

„Halt doch mal die Klappe, du blöde Zicke!“ shoutete er zurück. Aber jeder, der sich im ersten Moment über den Ton wunderte, wunderte sich auf den zweiten Moment nicht mehr. Marik würde seine große Schwester niemals so anschreien. Malik hingegen schon.

„Hallo, alte Krampfader“ lachte Joey. „Was geht ab?“

„Gar nichts“ kämpfte Marik ihn auch schon wieder zurück und atmete tief durch.

„Och Mann“ grinste Yami. „Ich hätte mich gern ein bisschen mit ihm unterhalten.“

„Mit dem kannst du dich derzeit nicht unterhalten. Der hat seine Tage“ meinte Marik entnervt. „Es ist schrecklich. Er und Ishizu kotzen sich nur noch an, wenn Odion nicht ständig dazwischensteht. Wird Zeit, dass er bald wieder zurück ist.“

„Warum, wo ist er denn?“ wollte Yami wissen, als Marik nickte und sie gemeinsam seinen Weg weitergingen.

„Einkäufe in Fahd Adh erledigen. Hätte ich gewusst, dass heute so viel los ist, hätte ich ihn nicht gehen lassen.“

„Und seine Freundin? Pama?“

„Pama ist natürlich mitgegangen“ schmunzelte er. „Die beiden sind doch unzertrennlich. So hab ich meinen Bruder noch nie erlebt. Seit sie hier ist, scheint er richtig zufrieden und ausgeglichen. Ich freue mich für ihn.“

„Und bei dir?“ wollte Joey neugierig wissen. „Irgendeine Frau in Aussicht?“

„Ich bin ja froh, wenn ich überhaupt mal Aussicht hätte. Eigentlich wollte ich demnächst für einige Wochen verreisen und verschiedene Ausgrabungsstellen besuchen, die das Forschungsministerium bewilligt hat. Um zu sehen, ob sie nicht irgendetwas mitnehmen, was uns gehört. Hauptsächlich Schriftrollen oder wichtige Gegenstände aus der goldenen Epoche. Die sollten lieber bei uns sein als in Besitz der Regierung. Aber ich werde wohl doch Odion schicken. Ich meine, derzeit kann ich hier schlecht weg.“

„Du bist aber sehr pflichtbewusst“ meinte Tristan. „Sei doch mal ehrlich. Ist es nicht etwas belastend, Tag um Tag hier zu sein und keine Möglichkeit zu haben, eine weibliche Bekanntschaft zu machen?“

„Es ist nicht ganz leicht, aber die Pflicht geht vor“ seufzte er doch ein wenig bedrückt. Immerhin war er auch ein junger Mann, der gern gewisse Erfahrungen machen würde. „Wenn es an der Zeit ist, wird Rah mich bedenken. Das hoffe ich zumindest.“

„Davon bin ich überzeugt“ tröstete Yami.

„Das darfst du auch sein“ lächelte Sethan. „Marik, in unserer Zukunft hast du nämlich eine tolle Tochter, die deinen Platz einnimmt. Falls dir das ein Trost ist. Du sorgst also durchaus für einen Nachfolger.“

„Eine Tochter?“ schaute er überrascht auf. „Aber es ist unüblich, ein weibliches Oberhaupt zu haben.“

„Tja“ lachte er und zuckte mit den Schultern. „Ich kann dir nur sagen, dass du es so beschlossen hast und sich die Pharaonen damit einverstanden erklärten.“

„Marik!“ Da tauchte ein junges Mädchen mit tiefschwarzem Haar im schlichten Laken vor ihm auf, stutzte aber als sie den ungewöhnlichen Besuch sah. Sie machte ganz große Augen und ließ fast die Fackel fallen, welche sie mit sich trug.

„Begrüße den Pharao“ flüsterte er ihr zu und sofort kniete sie sich ausgesprochen tief vor Yami.

„Ich grüße den Pharao Atemu und sein Gefolge“ sagte sie folgsam, auch wenn ihre junge Stimme bente.

„Sehr schön. Gut gemacht, Nirapai“ lobte er sie und hob sie vorsichtig wieder vom kalten Boden auf. „Was möchtest du denn von mir?“

„Ishizu sucht dich“ erzählte sie ihm aufgeregt. „Sie sucht dich in allen Gängen. Du sollst schnell in den Westkreis kommen.“

„Wenn du sie siehst, sag ihr, ich bin schon unterwegs“ bat er, klopfte ihr auf die Schulter und schon lief sie weiter ihrer Wege. „Sie ist die Nichte von Ephrat“ erklärte er gleich beim Weitergehen. „Ihre Eltern sind bei einem Erdbeben vor zwei Monaten umgekommen. Ephrat bat darum, sich um sie kümmern zu dürfen und da wir derzeit niemanden entbehren können, blieb ihm nur die Möglichkeit, sie hier herein zu holen oder in ein Waisenheim zu geben. Er hat sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, denn wenn sie erst hier ist, kann sie nicht so einfach wieder gehen. Aber nun ist sie hier und lebt sich langsam bei uns ein. Für sie tut es mir leid, aber für uns ist es gut, denn wir brauchen Kinder, die sich ans Grab binden lassen. Wir sollten uns rechtzeitig über die nächste Generation Gedanken machen.“

„Ephrat ist der Grabdiener mit der Narbe am Arm, oder?“ meinte Tristan sich zu erinnern.

„Ein sehr zurückhaltender, aber freundlicher Mann“ nickte er. „Seine Mutter war schon damals im ... oh je.“ Da sah er die Bescherung, als er um die Ecke trat. Es war ein Gang, der auf den ersten Blick völlig verwüstet schien. Die Wände wie aufgebrochen und es waren überall Steinbrocken zu Boden gefallen. Als wäre hier jemand mit einem Presslufthammer durchgelaufen und hätte wahllos mal hier und mal dort etwas zerstört. Was den Blick des Familienoberhauptes aber am meisten fesselte, war die Tür ganz am Ende. Scheinbar hatten dort einst zwei Säulen gestanden, wovon aber eine umgestürzt und die andere stark beschädigt schien. Die überbreite, überhohe Tür stand weit offen und zeigte in ihrem Inneren nichts als schwarz. Es war aber kein Schatten, sondern schlicht unbewegliche Dunkelheit als würde darin eine sternenlose Nacht herrschen. Man konnte es nicht beschwören, aber es waberte ein dunkler Hauch am Stein entlang. Nicht sichtbar, aber wie ein Wind, wie eine Ahnung beschlich es einen, je näher man kam.

„Jetzt wissen wir ja wohl, was Seth hier getrieben hat“ meinte Jonny. „Er ist hier durchgewütet.“

„Nein, das war nicht er. Jedenfalls nicht alles“ vermutete Marik und hielt Balthasar an der Schulter fest, damit er nicht weiterging, worauf auch die ganze Gruppe stehen blieb.

„Er hat die Schattentore geöffnet“ stellte Yami fest, was aber eindeutig eher an Marik gerichtet war.

„Dann sieht es im Ostgang sicher nicht anders aus“ befürchtete der. „Verdammt, warum tut es so was?“

„Viel eher wüsste ich gern, wo er diese Macht her hat“ fragte er sich. „Die Tore zu öffnen, vermag nur ein Pharao oder derjenige, der die Erlaubnis hat. Also nur Yugi, du und ich. Nicht mal unsere Hohepriester haben eine ausgesprochene Erlaubnis.“

„Aber weißt du, wer sie noch öffnen kann?“ schaute er ihn böser Ahnung an.

„Jemand, der vom besitzenden Gott beauftragt ist“ antwortete Yami ihm ebenso unheimlich. „Dann hat er die Tore für den Gott Seth geöffnet. Wenn das so ist, lassen sie sich vor der nächsten Mondfinsternis nicht schließen. Wann ist denn die nächste?“

„In drei Jahren. So ungefähr, denke ich“ antwortete Marik. „Dann muss ich den Bereich solange absperren lassen bis ich einen Weg finde, sie wieder zu schließen. Bevor Mächte auf die Erde kommen, die hier nicht hingehören ... oder umgekehrt.“

„Wer sagt denn, dass du sie schließen musst?“ mischte Sethan sich ein und wurde nicht nur von Marik, sondern auch von Yami mit einem mehr als fragenden Blick bedacht.

„Natürlich müssen wir die Schattentore wieder schließen“ argumentierte der alte Pharao. „So eine Verbindung sollte es nicht geben. Du weißt wohl nicht, was sonst passieren kann.“

„Was denn?“ fragte Jonny freimütig heraus. „Ich sehe da nur eine offene Tür.“

„Hier im Grab liegen mehr Geheimnisse als zu vermuten wäre“ erklärte Sethan und zeigte, dass er durchaus sehr wohl bescheid wusste. „Dieser Ort hier ist eine Verbindung zwischen der Erde und dem Götter-, sowie Totenreich. Genau deshalb liegt hier auch das Grab des goldenen Pharaos. Und dies dort“ nickte er wissend nach vorn. „Dies ist viel mehr als nur eine offene Tür. Dies ist die Tür des Westens und sie führt durch die Welt der Schatten hindurch und in die Unterwelt des Gottesreiches des Seth. Ebenso wie die Tür des Ostens durch das Schattenreich hindurch direkt in seinen Himmel führt. Wenn sie geöffnet bleibt, können die Götter des Seth leichter ihre Macht auf der Erde ausüben oder eventuell gar selbst in einem eigenen Körper niederfahren. Vorausgesetzt, dass genug Schattenübergewicht auf der Erde herrscht, was derzeit eindeutig der Fall ist.“

„Dann will der Gott Seth, dass unser Seth die Türen öffnet, damit seine Götter auf die Erde können?“

„Ich denke, das ist nur mehr ein Nebeneffekt“ vermutete Sethan. „Es geht um die Macht, die er dadurch ausüben kann. So können die Schatten leichter auf die Erde und wieder zurück. Es stärkt sie, ähnlich wie in ihrem eigenen Schattenreich. Denn Schattenreich und Erde nähern sich dadurch an. Er erreicht dadurch einfach mehr Einfluss und kann die Pläne seines Sohnes leichter unterstützen.“

„Dann war es gar nicht mein Fehler“ bemerkte Yami, der langsam nachkombinieren konnte. „Ich wollte ihn zurückhalten. Doch obwohl meine Fesseln ihn bisher immer seiner Kraft beraubt haben, konnte er sie einfach abschütteln als wären sie nichts. Es ist, weil das West- und das Osttor geöffnet sind. Es schwächt meine Macht und stärkt die des dunklen Seth.“

„Und der hält eine schützende Hand über seinen Sohn“ nickte Sethan. „Mit Kraft kannst du ihm derzeit nicht beikommen.“

„Aber wie denn dann?“ wollte er verzweifelt wissen. „Wenn er meine Worte nicht versteht und meine Macht ihn nicht übertrumpft? Wie soll ich ihn denn noch aufhalten, die Zivilisation zu vernichten? Wie soll ich das machen, wenn die Macht des Pharaos nichts mehr wert ist?“

„Das ist das Rätsel, welches du lösen musst“ antwortete Sethan gelassener als es der Situation entsprach. „Wir sind auch nicht hier, um gegen Seth zu kämpfen, sondern um die Zukunft zu verändern. Und deshalb möchte ich das Süd- und das Nordtor öffnen.“

„Das wird doch aber etwas viel“ gab Marik skeptisch zu bedenken. „Lass uns lieber noch warten und bei nächster Gelegenheit diese Tore wieder schließen. Das wird das Gleichgewicht auch wieder herstellen.“

„Ohne Engel können wir das Gleichgewicht niemals wirklich wieder herstellen. Deshalb müssen wir auch Atemu und Yugi in Sicherheit bringen“ argumentierte er dagegen. „Außerdem möchte ich dich bitten, die Tore nicht zu schließen. Ich möchte, dass alle vier Tore geöffnet bleiben.“

„Bitte, was?“ Marik war erschrocken. Alle vier Tore offen halten? Das wäre wie eine Verschmelzung von Götter- und Menschenwelt. Es hatte seinen Grund, weshalb die Tore seit ihrer Schaffung geschlossen blieben und streng bewacht, sowie geheim gehalten wurden. Sie alle vier zu öffnen, schien ihm unverantwortlich.

„Ich denke, so langsam solltest du uns in deine Pläne einweihen“ bat Yami. „Alle vier Tore zu öffnen und offen zu halten, ist auf Dauer zu viel. Nicht nur für die Erde, sondern auch für uns Pharaonen. Wir sind ohne Engel eh schon schwer belastet, aber nun auch noch zusätzlich nicht nur die Energie der Erde, sondern auch noch die Ausläufe der beiden Gottesreiche zu lenken, das halten wir nicht lange durch.“

„Es soll ja auch nicht für lange sein“ beruhigte er und blickte ihn bittend an. „Bitte vertraue mir, Atemu. Wenn mein Plan aufgeht, wird die Erde durch mich eine Chance erhalten, wie es sie nie wieder so geben kann.“

„Und wenn dein Plan nicht aufgeht?“ fürchtete er.

„Dann werden wir alle mit der modernen Welt kläglich zugrunde gehen“ lächelte er unpassend fröhlich. Das waren ja keine tollen Aussichten.

Es breitete sich ein kurzes Schweigen aus nach dieser Äußerung. Anscheinend hatten nicht mal Sethans Begleiter eine Ahnung davon, was genau er plante. Und es war schwer, jemandem zu vertrauen, der so undurchsichtig war. Sicher, er war Ninis Sohn und insofern einer von ihnen. Aber er war auch der fleischliche Sohn des dunklen Seth und insofern ein begabter Verführer. Es war nicht sicher, ob er wirklich für oder gegen sie kämpfte und diese Ungewissheit und Verschwiegenheit machte es nicht leichter, ihm zu vertrauen.

„Sethan“ sprach Yami mit fester Stimme. „Bitte schwöre mir, dass du nichts vorhast, was gegen unsere Interessen ist. Dass du nicht für deinen Vater arbeitest.“

„Ich arbeite weder für Vater, noch für Rah, noch für euch. Nur für das, was ich als richtig empfinde“ antwortete er. „Aber was ich dir versprechen kann, ist, dass ich die Opfer so gering wie möglich halten will. Ich will weder Menschen töten, noch Dunkelheit bringen. Was ich will, ist Frieden und euer Vertrauen.“

„Ich glaube ihm. Wenn dir das hilft“ meldete sich Tato nach langer Schweigsamkeit zugunsten seines Neffen. „Sethan ist vielleicht nicht gerade durchschaubar und noch sehr jung, aber ich glaube ihm seine Worte. Und deshalb bitte ich für ihn, dass auch ihr ihm glaubt und ihm vertraut.“

„Danke, Onkel Tato“ erwiderte er, fasste seinen Arm und lächelte an ihm hinauf. Diese Worte bedeuteten ihm viel. Tato ergriff selten für jemanden ein gutes Wort und es war eine große Wohltat, einen mächtigen Mann wie ihn auf seiner Seite zu haben. Zumal das Verhältnis zu ihm wegen der neuen Machtverhältnisse eh ein wenig angespannt war. Aber er gab sich alle Mühe, ihm ein guter Leih-Priester zu sein.

„Na gut“ seufzte Yami besiegt. „Wenn Tato das sagt, dann lasse ich dich mal schalten und walten. Ich denke, das wird auch in Yugis Sinne sein.“

„Dank dir, Atemu“ nickte er und wand sich dann wieder an Marik. „Dann lass bitte die Tore offen, ja?“

„Natürlich. Wenn der Pharao es so möchte“ antwortete er mit Seitenblick auf Yami. Letztlich war er als Grabwächter ähnlich wie ein Hohepriester immer dem regierenden König unterwiesen.

„Dann lasst uns rüber gehen und danach zurück zum Flugzeug, bevor die anderen uns als vermisst melden.“

„Und wohin rüber?“ wollte Jonny wissen und trabte Sethan fröhlich hinterher.

„Rüber zum Nordtor und dann zum Südtor“ antwortete er.

„Wenn du zum Nordtor gehst, gehe ich zum Südtor“ bot Yami an. „Wenn jeder eines öffnet, sind wir schneller durch.“

„Das ist eine gute Idee“ stimmte er dankbar zu. „Treffen wir uns dann gleich am Eingang wieder?“

„Jupp. Bis gleich!“ Und schon wanderte Yami in die entgegengesetzte Richtung. Tore öffnen konnte er auch locker.

„Warte, ich komm mit dir!“ beschloss Joey und hoppelte ihm nach.

„Du kannst auch gern mit den anderen gehen“ lachte Yami, als alle anderen in Richtung Norden davonzogen.

„Ich möchte aber bei dir bleiben. Schließlich bist du ja irgendwie der Pharao zu dem ich eher gehöre. Oder was meinst du?“

„Sehe ich auch so“ schloss sich auch Mokeph an, der sich in letzter Sekunde auch eher dazu entschlossen hatte, mit Yami zu gehen und den beiden nachlief. „Du bist unser Pharao, also bleiben wir an deiner Seite. Sethan hat seine eigene Begleitung.“

„Ja, ist schon irgendwie komisch“ überlegte Joey mit nachdenklichem Blick auf den Boden. „Hättet ihr gedacht, dass wir mal unsere eigenen Kinder als Erwachsene treffen? Ich finde, das fühlt sich merkwürdig an. Aber das kann ich denen ja nicht so sagen.“

„Ich glaube, sie wissen schon, dass wir uns daran erst gewöhnen müssen“ meinte Mokeph. „Ich hab mich gestern ausgiebig mit Sharesa unterhalten und sie sagte, dass es natürlich auch für die anderen ungewohnt ist. Uns kennen sie nur als ältere Leute und sehen uns hier so jung. Ich glaube, die Situation ist für alle nicht leicht.“

„Zumal ihr ja beide ganz eigenartige Verstrickungen habt“ vermutete Yami. „Dass Joey noch mal wieder mit Sara zusammenkommt, lässt sich im Moment gar nicht denken und ...

„Nein, gar nicht!“ betonte der noch mal emsig. „Ich liebe Narla total. Für Sara sind null Gefühle da. Also so Freundschaft schon, aber nicht s o l c h e Gefühle.“

„Solange Narla dir das glaubt, ist doch alles okay“ lächelte Yami. „Sie scheint damit ja ganz gut klarzukommen. Und Jonny ist dir wirklich ziemlich ähnlich. Ich mag ihn.“

„Ich mag ihn irgendwie auch“ kratzte er sich verlegen am Kopf. „Aber schon irgendwie komisch, dass wir im Moment ziemlich gleich alt sind.“

„Sie dir doch Tato an. Der ist sogar noch älter. Oder dein Dakar“ blickte er auf Mokeph. „Ich will dich nicht beleidigen, er ist wirklich okay, aber ... findest du nicht, dass er etwas merkwürdig ist?“

„Ich weiß nicht ...“

„Na ja, er hängt total an Tea dran“ war selbst Joey schon aufgefallen. „Außerdem hat er ganz merkwürdige Augen. Sie sind so schwarz wie deine, aber manchmal, wenn er so abwesend schaut, schimmern sie so leicht gelb. Mal ehrlich, glaubst du, dass der von Tea ist? Ich finde, er benimmt sich eigenartig. Nett, aber eigenartig.“

„Was ich merkwürdig finde, ist, dass er Magier zu sein vorgibt“ beteiligte sich auch Yami an der allgemeinen Mutmaßung. „Du bist doch Hexer, Mokeph. Es ist so gut wie unmöglich, als Hexer einen Magier zu zeugen können. Umgekehrt ist das eher der Fall, wenn überhaupt. Zumal du und Tea doch sonst nur sechs Mädchen zustande bekommen haben, wovon nur eine Hexe geworden ist. Dakar fällt aus dem Schema doch arg heraus.“

„Vielleicht hast du ja später mal was mit ner anderen Frau“ rätselte Joey. „Die muss dann aber Magierin sein. Oder, Yami?“

„So viel später kann das dann aber nicht sein“ meinte der. „Dakar ist 37. Haben die anderen doch erzählt. Wenn sie also 38 Jahre aus der Zukunft kommen, ist er bereits gezeugt oder wird es in Kürze sein. Tea hat aber gerade mal vor acht oder neun Wochen ihr Baby zur Welt gebracht. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie jetzt schon wieder schwanger wird, ist doch relativ gering. Also kann es sich nur um eine Magierin handeln. Aber wir kennen gar keine. Vielleicht aus dem Zirkel eine.“

„Entweder ein Seitensprung oder Samenraub“ schlug Joey vor. „Mokeph legt ne Magierin flach oder es wird wie bei Seth, dass ihm einer sein Sperma klaut.“

„Das funktioniert nicht“ schüttelte Yami seinen Kopf. „Das würde mit Seths Sperma auch kein zweites Mal klappen. Das ist nur der aller erste Erguss eines Magiers. Es sei denn, Mokephs Gift wirkt irgendwie konservierend. Aber so gut kenne ich mich da nicht aus.“

„Könnt ihr damit bitte mal aufhören“ schlug er dann doch mal dazwischen. „Ich liebe Tea und ein Kind mit einer anderen Frau kommt gar nicht infrage! Niemals! Ich würde niemals etwas tun, was sie verletzt!“ Auch wenn er genau wusste, dass es nur eine Möglichkeit geben konnte, wie er einen Sohn hätte zeugen können. Die Frau damals, sein Einmalfick. Ein einziges Mal nur und er wusste jetzt schon kaum noch wie sie aussah. Verdammt, aber er war nun mal fruchtbar und die Wahrscheinlichkeit, dass er sie zudem noch ohne Verhütung geschwängert hatte, war ziemlich hoch. Aber davon durfte Tea niemals etwas erfahren. Sie wäre verletzt und würde weinen und ihn zum Teufel jagen. Vielleicht war das der Grund, weshalb der große Dakar so sehr an ihr hing. Aber war diese Frau damals wirklich Magierin gewesen? Hätte er das nicht gespürt? Verdammt, wo kam dieser Mann mit den gelb schimmernden, schwarzen Augen her?

„Ist ja gut, reg dich nicht gleich so auf“ beruhigte Joey, der eigentlich mehr Angst vor juckendem Ausschlag hatte, den man beim Mokephärgern gern mal bekam. „Wir überlegen doch nur. Wir fragen Dakar einfach nachher.“

„Das werdet ihr schön sein lassen!“ regte er sich nur noch weiter auf. Wenn sie ihn fragten und diese Sache an Teas Ohren drang. So einen Trubel wollte er nicht und konnte ihn derzeit auch nicht gerade gebrauchen. Sie würde sehr verletzt sein, wenn sie erfuhr, dass er eine andere Frau gepoppt hatte.

„Ganz wie du willst“ beruhigte Yami ihn mit eindeutigen, geradezu blinkenden Fragezeichen im Gesicht. „Ist ja letztlich deine Sache. Aber früher oder später kommt Tea eh auf die Idee, ihn zu fragen.“

„Dann können wir ihn doch auch jetzt schon fragen.“

„Joseph! Nein!“ fauchte er jetzt ziemlich angefressen. „Du hältst dich da raus. Hast du mich verstanden?“

„Regt euch nicht auf, Jungs. Wir sind da“ sagte Yami, blieb stehen und wies auf eine Tür vor ihnen.

„So schnell?“ war Joey doch überrascht.

„Im Gegensatz zu dir kenne ich die kürzesten Wege hier“ schmunzelte er. Ja, Yami kannte sich hier unten aus. Man konnte stundenlang herumlaufen, ohne an einen Ort zwei Mal zu kommen. Aber man konnte auch in wenigen Minuten vom Einen Ende bis zum anderen gelangen. Man musste nur die richtigen Abbiegungen kennen.

„Hey, das hier kenne ich!“ zeigte Joey verblüfft auf die einzige Tür, die hier noch vor ihnen war. **An alle, die mich gefragt haben, was das im letzten Teil für eine Tür war, die Joey entdeckt hat. Jetzt habt ihr die Lösung. ^^**

Auch an dieser Tür waren zwei Säulen angebracht, wie bei der Tür des Seth. Nur im Gegensatz zu dem zerstörten Westgang konnte man hier noch die fein eingemeißelten Hieroglyphen erkennen und in der Mitte von allem das alles überragende Zeichen des Sonnengottes Rah. Ganz schlicht gehalten, aber kunstvoll mit viel Liebe in den Stein gehauen. Genau hier hatte er gestanden und versucht, sie zu öffnen. Aber er hatte es nicht geschafft und nun wusste er auch, weshalb. Normalsterbliche konnten ohne Erlaubnis solch eine Tür nicht öffnen.

„Woher kennst du denn das hier?“ schaute Yami ihn an.

„Ich bin hier mal irgendwann vorbeigekommen, als ich mich verlaufen hab“ erklärte er aufgeregt. „Die Tür hat mir einen ziemlich fiesen Blitz verpasst.“

„Dann hast du versucht, sie zu öffnen?“

„Na ja ...“ Er wusste ja, dass ungeöffnete Türen im Grab hier ein Tabu waren. Sollte er denn zugeben, dass er trotzdem versucht hatte, dahinter zu sehen?

„Schon okay, du hättest sie eh nicht aufbekommen“ lachte Yami. Das war so typisch Joey. Allein sein Schweigen verriet ihn und mit seiner neugierigen Nase konnte er auch nirgends rausbleiben. Genau aus dieser Neugierde heraus besaß er ja eine Beobachtungsgabe, die manche Leute nur noch staunen ließ. Dass Dakars Augen in anderem Licht leicht gelblich schimmerten, war sicher noch niemandem aufgefallen. Aber eben weil er so neugierig war, stöberte er überall ein Geheimnis auf. Genau das war es ja, was Seto so nervte.

„Was wäre denn passiert, wenn ich weiter gedrückt hätte?“ wollte er dennoch neugierig wissen.

„An dieser Tür wahrscheinlich gar nichts“ lächelte Yami. „Ein paar Schmerzen vielleicht, aber nichts Bedrohliches. An Seths Tür hätte das anders ausgesehen. Kennst du die Geschichte des Grabwächters, der davon mal tot umgefallen ist?“

„Was? Nein!“ Schock! Tot umgefallen? Na, da hatte er ja Glück, dass er sich zu Rahs Tür verlaufen hatte und nicht woanders hin.

„Das war Mariks Ururururururgroßonkel Phiachdemto.“

„Wie viele Urs waren das jetzt?“

„Etwa 280 Jahre ist das jetzt her“ erklärte Yami. „Also noch gar nicht mal so lange. Er war damals nicht selbst das Oberhaupt, sondern der Bruder der Frau des Oberhauptes. Er hat versucht, das Osttor zu öffnen. Beim ersten Mal brach er sich den Arm. Als er wütend gegen die Tür trat, vergiftete er sich und war tot, bevor er ganz auf den Boden fiel. Die Flüche, die darauf liegen, haben ihn getötet. Und der große Seth ist gütig, wenn er ein Mal warnt.“

„Aber das ist doch ziemlich gefährlich!“ argumentierte Joey. „Ich meine, wenn da ein Kind vorbeikommt und ...“

„Dann darf da eben kein Kind vorbeikommen“ sagte Yami ganz hart. „An den Wänden sind genügend Warnhinweise. Deshalb muss jedes Kind hier die alten Hieroglyphen lernen und wissen, wo es hindarf und wo nicht. Und sich vor allem daran halten, keine verschlossenen Türen zu öffnen. Absperren ist nicht drin, weil dann der Energiefluss verändert würde. Du kannst das Böse nicht wegsperren, sondern du musst es ebenso akzeptieren wie das Gute. Das muss jeder Grabdiener und jeder Grabwächter lernen.“

„Und wenn die Kinder das nicht lernen?“

„Dann gehören sie nicht hier her“ antwortet Mokeph für ihn. Als alter Ägypter war seine Toleranz da auch eingeschränkt. Wenn ein Kind an solch einem heiligen Ort nicht gehorchte, dann durfte es auch nicht hier sein. Da konnte ja jeder Dahergelaufene im alten Grab arbeiten - eben das durfte nicht sein. Für sozial eingestellte Menschen wie Joey durfte so etwas nicht sein. Für alte Ägypter jedoch war es eine Selbstverständlichkeit. Hart, aber so wurden die alten Mächte geschützt.

„Ich finde das ungerecht“ meinte Joey persönlich beleidigt. „Man kann doch nichts dafür, wenn man neugierig ist.“

„Doch, leider schon. Wenn man’s nicht unter Kontrolle hat“ klopfte Yami ihm brüderlich auf die Schulter. Er war da ja auch so ein Kandidat, der Probleme mit Geheimnishaltung hatte. Nur mit dem Unterschied, dass das bei einem Pharao noch immer anders aussah. „Aber lass uns mal zur Tat schreiten, bevor Sethan noch schneller ist als wir. Wir alten Leute wollen uns doch nicht blamieren, oder?“

„Yami, aber eins noch“ hielt Joey ihn kurz auf, bevor er auf die Tür zuging. „Hier bricht doch gleich nicht auch alles zusammen, oder?“

„Rah ist nicht Seth“ lächelte er beruhigend und drehte sich nach vorn, um das Tor zu öffnen. Das war auch Antwort genug. Rah war zwar nicht weniger mächtig, aber wesentlich weniger furchteinflößend. Vor Rah brauchte man keine Angst haben und sicher auch nicht vor seinen Türen.

Und das bestätigte sich auf eine Weise, die Joey fast schon wieder enttäuschte.

Hatte er doch damals noch einen warnenden Blitz abbekommen, drückte Yami nur gegen die Tür und diese ließ sich anstandslos öffnen. Kein Leuchten, kein Knarren, nicht mal kräftiges Schieben. Gar nichts. Sie ließ sich einfach so ohne Widerstand aufmachen. Völlig unspektakulär. Er legte nur seine Hand darauf und schob ein bisschen und schon war alles vorbei. Unspannend.

„Jetzt seid ihr enttäuscht, oder?“ lachte Yami die beiden glotzenden Gesichter an.

„Na ja, ein bisschen schon“ gab Mokeph ehrlich zu. „Ich dachte, wir sehen vielleicht ein kleines Lichtschauspiel oder so was.“

„Ja, Mann. Drüben fegt voll die Lawine durch und hier nicht mal ein gruseliges Knarren. Was ne Verarsche“ meinte auch Joey. Er wurde von der Tür verkloppt und Yami bekam nicht mal nen Schrecken. War das ungerecht oder was?

„Na ja“ schmunzelte er. „Ich darf das ja auch.“

„Und was ist da jetzt hinter? Auch das Schattenreich?“ fragte er frei heraus und hoppelte auf die offene Tür zu. Und was sah er da? Genau. Unerwarteter Weise rein gar nichts. „Ne Wand“ beantwortete er sich die Frage selbst. Direkt hinter der Tür war eine schlicht beige, flache Wand. Keine Bemalungen, keine Zeichen, kein Leuchten, gar nichts. „Wie langweilig.“

Tja, nicht alle weltbewegenden Dinge waren laut und spektakulär.

Auf die kleinen, leisen Dinge kam es manchmal an.
 


 

Chapter 20
 

Die zweite Landung jedoch brachte die Gruppe genau dorthin, wo sie auch tatsächlich planten, hinzugehen. Also keine weiteren Überraschungsbesuche in der Wüste.

Der Flughafen jedoch war nicht wesentlich größer als der in Gashe. Jedoch war die Piste hier etwas befestigter, es gab mehr Mitarbeiter und sogar ein kleines Abfertigungsterminal. Zivilisation war also nicht ganz so fern.

Etwas fern jedoch lag noch ihr Endziel. Vom Flugzeug aus ging es in zwei größeren Hubschraubern weiter. Sie flogen etwa drei Stunden über kleine Städte, über Meer, Küsten und Seen und sahen viel grün, grün, grün. Je länger sie flogen, desto grüner wurde die Landschaft. Bei ihrer Endlandung jedoch war die Sonne bereits untergegangen und so war von der Landschaft eher wenig zu sehen. Hauptsache die beiden Piloten in Form von Noah und Seto wussten, wo sie hinflogen und fanden auf ihren vorbereiteten Karten das richtige Ziel. Vom Flughafen aus war nämlich nach Verladen des Gepäcks auf Personal verzichtet worden. Man wollte ungestört sein und letztlich musste man sich immer vor bestimmen Leuten in Acht nehmen. Der Zirkel besaß ein unübersichtliches Netzwerk an Mitgliedern und wenn sie schon irgendwann aufflogen, so musste es ja nicht unbedingt sofort sein.
 

Sie landeten die Hubschrauber etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang und segneten in Gedanken die moderne Technik. Ohne Nachtsichtgeräte und ein ausgeklügeltes Navigationssystem wären sie niemals so sicher am Boden angekommen. Reich sein hatte manchmal noch viel mehr Vorteile als man dachte.

Jedoch so ganz unbeleuchtet landeten sie nicht. Auf dem kahlgeschorenen Grasfeld nahe eines kleinen Sees standen ein paar elektronisch betriebene Lampen und leuchteten ihnen das Feld. Ebenso wie eine Ansammlung von 15 bis 20 kleinen Häuschen aus schlichtem Ziegelstein, von welchen drei um diese Uhrzeit noch beleuchtet waren. Aus der Luft sah das nicht wie ein Dorf aus, eher wie eine Art Wohngemeinschaft.

Nach der sicheren Landung öffneten sie die Türen und plumpsten nach und nach hinaus in die spärlich beleuchtete Nacht. Den Damen und den müden Kindern wurde etwas handfester geholfen und dann erst mal durchgeatmet.

„Seht mal. Die Sterne!“ zeigte Tea fasziniert in den Himmel. Hier, wo die nächste Großstadt so weit weg lag, sah man noch richtige Sterne. Und zwar alle! Nicht nur die großen, sondern selbst die Milchstraße war klar zu erkennen.

„Wie damals in Ägypten“ staunte auch Mokeph nach oben und hielt glücklich seine Frau im Arm. Trotz verstrichener Jahrtausende hatten sich nicht mal die Sternenbilder verändert. Als würde die Zeit am Himmel spurlos vorbeiziehen.

„Papa, wo ist die Venus?“ wollte Nini neugierig wissen und zuppelte weniger müde an Yugis Arm. „Die Venus ist der Planet, wo die Liebe wohnt. Kann ich den sehen? Papa, wo denn?“

„Da, mein Schatz“ half Noah und zeigte weit nach links. „Siehst du die Sterne, die da aussehen wie ein Dreieck?“

„Nein ... wo ist denn ein Dreieck?“

„Dann vielleicht da. Den großen, der so stark leuchtet.“

„Ja ...“ Ja, den sah sie. Den großen.

„Und wenn du jetzt daaaaa rüberguckst“ bewegte er mit der Hand ihren Blick noch weiter nach links. „Siehst du da zwischen den ganzen kleinen Sternen noch einen, der besonders hell und gelb ist?“

„Ja!“ staunte sie mit offenem Mund. „Ist das die Venus?“

„Ja, das ist die Venus.“ Tja, Onkel Noah wusste bescheid.

„Das soll ein Planet sein?“ fragte sie dann doch etwas enttäuscht. „Die Venus ist aber klein. Viel kleiner als der Käsemond. Wo ist denn der Mars? Ist der besser?“

„Der ist genauso klein“ musste Noah sie lächelnd enttäuschen. „Den kann man auch erst nächstes Jahr wieder ein bisschen sehen. Der ist jetzt zu weit weg.“

„Dann gucken wir nächstes Jahr noch mal in den Himmel, nä?“

„Das können wir machen“ wuschelte er ihr übers Haar und nahm dann seine von Tristan aus dem Helikopter gehobene Tasche entgegen.

„Bleiben wir denn lange hier?“ wollte Joey wissen, der ihm ausnahmsweise mal tatkräftig half. „Sind wir überhaupt schon da?“

„Packt nicht zu viel aus“ riet Tato und fischte sich seine Tasche selbst aus dem Lagerraum. „Wir bleiben hier nur eine Nacht und fahren dann morgen mit der Fähre rüber. Komm, Schatz. Ich helfe dir“ sagte er und nahm auch seiner Tochter die Tasche ab, weil die anscheinend selbst ziemlich müde war und sie nicht unbedingt selbst schleppen sollte.

„Fähre? Was für eine Fähre?“ fragte Seto, der auch ganz gern wissen würde, was hier jetzt weiter vorging und wo sie überhaupt genau waren.

Doch da wurde seine Antwort von einem alten Mann verwährt. Eine der Türen eines beleuchteten Hauses hatte sich geöffnet und er trat heraus. Beim Näherkommen sah man viel mehr als nur einen dunkelbraunen Wollmantel, sondern auch, dass er sich das weiße Haar auf seinem Haupt kürzer geschoren hatte, als sein Bart lang war. Er hielt seinen langen Mantel gegen die Nachtkälte fest geschlossen und lächelte breit, als er in seinen ausgetretenen Lederschlappen herüberkam.

„Du musst Gustav sein“ begrüßte Sethan ihn gleich und ging ihm nur zwei Schritte entgegen, bevor der Alte ihn erreichte und ihm die Hand gab.

„Dann seid Ihr Sethan“ lächelte er mit einnehmend großem Mund zurück. „Wir freuen uns, dass Ihr hier bei uns Unterschlupf sucht. Wir hoffen, Ihr hattet eine gute Reise ohne Komplikationen?“

„Ja, alles ist gut verlaufen“ nickte er und stellte ihn dann auch den anderen vor. „Ihr Lieben, dieser stattliche Herr ist Gustav. Er ist der Älteste hier in der Gemeinde und unser Ansprechpartner in allen Belangen. Außerdem ist er über alles eingeweiht und wir können ihm absolut vertrauen.“

„Es ist mir eine Ehre“ lächelte er und verbeugte sich ein Stück. Für seine tiefen Falten, die ein hohes Alter verrieten, schien er noch äußerst rüstig zu sein. Schwer zu schätzen, wie viele Jahre er wirklich auf dem Buckel hatte.

„Du hast aber einen langen Mantel“ begrüßte Nini ihn auf ihre ganz eigene Art, hopste Yugi vom Arm und lief zu ihm hin. „So einen ähnlichen zieht mein Papa auch immer an. Aber der ist dann nicht so dick und so kuschelig. Wo hast du den gekauft? Bei einer Booti oder im Einkaufszentrum?“

„Wir haben hier leider weder eine Boutique noch ein Einkaufszentrum, Prinzessin Ilani“ lachte er sie mit seinen fast weißen Augen an. „Wir machen hier alles selbst. Diesen Mantel hat meine Tochter für mich gemacht.“

„Oh! Du hast eine Tochter?“ strahlte sie. „Wie alt ist die? Kann ich mit ihr spielen morgen? Vielleicht?“

„Meine jüngste Tochter ist 50 Jahre alt und selbst schon Oma.“

„Das ist aber alt ... werden alle Töchter mal so alt? Was meinst du? Ob ich auch mal so alt werde? Vielleicht kriege ich dann ja auch so einen Bart wie du. Mein Opa hat auch einen Bart. Aber dafür hat mein Opa auch noch mehr Haare. Aber du siehst gut aus mit so einer Glatze auf dem Kopf und noch Haare um die Ohren. Ich finde das gut. Wenn ich alt bin, will ich auch mal eine Glatze haben. Aber nur mal gucken, wie das aussieht. Danach kann ich meine Haare ja wieder wachsen lassen oder eine Perücke aufsetzen. Ich hab neulich eine Perücke gesehen mit blauen Haaren. Kannst du dir das vorstellen? BLAU! Das ist für ganz coole Mädchen, die in die Disco gehen. Zu meinem Geburtstag will ich auch mal eine Disco machen mit Musik. Willst du dann auch zu meiner Disco kommen? Du musst aber keine Perücke aufsetzen. Aber kannst du, wenn du willst. Musst du aber nicht. Das ist ja eigentlich auch nicht wichtig. Wichtig bei einer Disco ist aber, dass da ganz viel ...“

„Nini“ seufzte Yugi, war ihr nachgegangen und legte ihr freundlich die Hand auf den Kopf. Das reichte meist schon, um sie zum Schweigen zu bringen.

„Fasse dich kurz“ wiederholte sie streng.

„Genau. Entschuldigen Sie bitte“ bat er dann den alten Mann. „Sie ist etwas zu aufgeweckt. Vielleicht hätten wir sie an Bord lieber nicht schlafen lassen sollen.“

„Aber im Hubschrauber kann man ja nicht gut schlafen. Das ist ja so laut“ meinte Nini ganz logisch. „Aber Tato hat geschlafen. Und Thesi auch. Risa und Feli aber nicht und Joey hat geweint. Also die kleine Joey, nicht der große Joey. Das muss man immer sagen, weil sonst weiß man ja nicht, wer gemeint ist, weißt du? Also ...“

„Fasse dich kurz, Nini.“

„Ja, Papa.“ Und damit war sie dann auch wieder still. Wenn sie aufgeregt war, musste sie einfach reden und sich mitteilen.

„Morgen können wir uns ja noch etwas mehr unterhalten, verehrte Prinzessin“ tröstete der alte Gustav und lächelte den Erwachsenen höflich zu. „Herzlich willkommen in unserem bescheidenen Dorf. Ihr seid sicher sehr müde von der Reise.“

„Ja, wirklich“ sprach Sethan wieder im Namen von allen. „Vielleicht können wir noch etwas essen und dann ins Bett?“

„Natürlich. Es ist bereits alles vorbereitet“ bestätigte der Alte. „Ich bitte schon im Vorwege um Entschuldigung, denn auf so große Gruppen sind wir eigentlich nicht eingestellt. Aber ich hoffe, wir konnten für diese eine Nacht eine Möglichkeit finden, welche Eure Zustimmung trifft.“

„Wir sind anspruchslos und danken dir und deinen Leuten für die kurzfristige Unterstützung und für dein Vertrauen“ gab er mit einer dankenden Verbeugung zurück.

„Nicht doch. Wir sind dankbar, dass wir den Pharaonen und Euch einen Dienst erweisen dürfen. Leider sind derzeit alle für ein paar Nächte zu einer Geburt ausgereist, sodass Ihr mit meiner Frau, meiner Enkelin, mir und ein paar Kindern Vorlieb nehmen müsst. Es kreuzten sich da leider ein paar unserer Pläne.“

„Kein Problem. Wir freuen uns darauf, deine Familie bald kennen zu lernen und sind nicht böse über die Abwesenheit, Gustav. Ich kann nur wiederholen, wie verbunden ich dir bin, dass du mir sofort vertraut hast und uns zur Seite stehst.“

„Ich mische mich ja nur ungern in euren Austausch von Höflichkeiten ein“ mischte Tato sich dennoch ein und drückte seine kleine Tochter unter seinen wärmenden Mantel. „Einige von uns wären ganz froh, ein Bett zu sehen.“

„Natürlich, entschuldige“ besänftigte er ihn ruhig. „Gustav, bist du so nett und zeigst uns unser Quartier? Alles Weitere besprechen wir dann morgen.“

„Selbstverständlich. Es ist gleich hier hinten. Ich hoffe, wir haben die Betten gut abgezählt“ lachte er, drehte sich herum und führte die Gruppe über den Rand des Grasfeldes hin zu der kleinen Haussiedlung, von welcher im Augenblick nur drei Bauten beleuchtet waren. Das Haus, aus welchem er selbst eben gekommen war und zwei andere. Und zu dem Größten davon führte er sie hin. Beim Näherkommen schien es wie eine Scheune auszusehen, aber nicht ganz so heruntergekommen. Man erkannte in der Dunkelheit nicht viel, aber hier schien alles sehr gepflegt zu sein und so auch ihre Unterkunft.

Beim Eintreten erkannte man mehr. Schlicht war es hier und bei Weitem kein Luxushotel. Trotzdem hatte es auf Anhieb einen ganz eigenen, einen ländlichen Charme. In dem großen Bau ohne Zwischenwände waren sehr weit oben ein paar Fenster eingelassen, welche aber durch Regen und Staub verschmutzt waren, sodass man nur schwerlich die Sterne erkennen konnte. Dafür aber den fast vollen Mond, welcher sein schummriges Licht durch die abwechselnd geöffneten Fensterchen warf. Dieses Licht vermischte sich mit dem Licht der Kerzen im Inneren.

Im ganzen Raum standen Betten. An der Stirnseite zwei etwas größere Doppelbetten, ansonsten mehrere Hochbetten mit jeweils einem Schlafplatz oben und unten. Ein bisschen wie ein sehr ländliches Schullandheim aus dem beginnenden, letzten Jahrhundert. Aber die Matratzen sahen nicht aus wie aus Stroh, sondern wie gekauft und neu. Ebenso die Bettwäsche, welche durch den ganzen Raum nach Waschmittel duftete und mit seinem flauschigen Daunen hoch aufgeschlagen war. Mit den vielen Betten schien der Raum fast überladen, aber wie Gustav schon angedeutet hatte, war dieses Dörfchen nicht auf große Besuchergruppen ausgelegt.

Dafür hatten sich die Bewohner aber viel Mühe mit den Schlafplätzen gegeben und auch mit dem Abendessen. In der Mitte standen zwei längliche Tische, auf welchem mehrere Laibe Brot aufgetischt waren. Dazu ein paar Platten mit Fleisch, Fisch und Früchten und kleinere Schälchen mit süß duftendem Kompott. In den runden Krügen waren sicher Getränke. Für so eine große Mannschaft war das natürlich viel Aufwand, aber in der Kürze der Zeit schienen sie ihr Bestes getan zu haben, um diese Scheune einigermaßen wohnlich zu machen.

„Es ist vielleicht nicht das, was Ihr gewöhnt seid“ entschuldigte der Alte, als auch die Letzten nach und nach mit Staunen eintraten. „Aber Ihr müsst wissen, wir sind hier sehr abgeschieden und ...“

„Nein, es ist wunderbar“ unterbrach Sethan ihn dankbar. „Wir werden uns hier sehr wohl fühlen. Bitte richte deinen Leuten unseren Dank aus.“

„Das werde ich gern tun“ nickte er doch etwas erleichtert. „Habt Ihr noch einen Wunsch oder ein anderes Anliegen? Ich würde gern die Lampen draußen ausschalten, bevor unser Generator den Geist aufgibt.“

„Nein, geh nur“ lächelte er. „Wir sehen uns dann morgen früh. Und danke nochmals.“

„Sanitär- und Waschmöglichkeiten sind dort durch die Tür im Nebengebäude“ zeigte er noch kurz zu einer geschlossenen Holztür. „Wenn es irgendwelche Probleme gibt, bitte klopft einfach bei mir. Mein Haus ist das mit der grünen Tür und dem großen Giebel. Das vierte von links, wenn man davorsteht.“

„Wir werden schon alles hinkriegen. Danke, Gustav“ dankte er nochmals und begleitete ihn noch zur Tür.

„Dann wünsche ich Euch eine gute Nacht.“

„Dir auch. Danke.“ Und mit einem letzten Lächeln schloss der Alte die Tür hinter sich und ließ die Truppe allein.

Jetzt hieß es erst mal sortieren und sich in der unbekannten Umgebung einfinden.

„Woher wusste er, dass wir kommen?“ fragte Mokuba, als er seine Tasche auf dem Boden absetzte.

„Ich habe ihm eine Vision geschickt, bevor die erste Gruppe bei euch eintraf“ antwortete Sethan. „Ich dachte, hier ist der beste Ort für uns. Morgen früh reisen wir noch ein kurzes Stück mit dem Boot und dann bleiben wir erst mal. Hier werden wir nur die Nacht überdauern.“

„Du sagtest, dieser Alte ist eingeweiht“ erinnerte Jonny sich. „Wie genau meinst du das? Ist er vom Zirkel, oder ...?“

„Um Himmels Willen, nein“ lachte er. „Gustav lebt seit Generationen hier mit seiner Familie für nur einen Zweck. Glaubt mir, wir können ihm vertrauen.“

„Für welchem Zweck?“ war selbst Tato etwas skeptisch. „Wäre nett, wenn du uns mal aufklären würdest.“

„Der Rest ist eine nette Überraschung“ zwinkerte er. „Aber die kommt später. Jetzt ruhen wir uns erst mal aus.“

„Ich will oben schlafen“ meldete Jonny sich sofort und schmiss seine Tasche aufs nächstbeste Etagenbett. Wer zuerst kam, schlief zuerst.

„Ja, wie ist das überhaupt mit der Bettenverteilung?“ fragte Marie, die sich hier so umblickte. „Hast du da auch irgendwas geplant oder sucht sich jeder etwas?“

„Ich würde mal folgendes vorschlagen“ schmatzte Yami, der sich noch vor einem Bett lieber eine Schüssel mit Fruchtkompott geklaut hatte uns sie genüsslich mit dem Finger futterte. „Wir haben doch zwei große Betten“ zeigte er mit dem verschmierten Fingerchen. „Ich denke, die Paare mit den meisten Kindern sollten das große Bett bekommen. Der Rest sucht sich halt einen Einzelplatz. Das ist mit einem Kind doch auch zu schaffen, oder?“

„Die Idee finde ich auch gut“ meinte Nika. „Dann nehmen Seto und Yugi das eine und Tea und Mokeph das andere große Bett. Und die anderen, so wie ich, nehmen das eine Baby unter den Arm. Das geht schon. Oder, Feli?“

„Feli ...“ Die war schon halb wieder am Schlafen und hing eher müde auf ihrem Arm. Der war es wohl alles ziemlich egal, so lange es warm und in Mamas Nähe war. Die hatte sicher nichts gegen nächtliches Kuscheln.

„Natürlich geht das“ meinte auch Narla und setzte sich auf das Bett, über welchem Jonny sich schon postiert hatte. „Zuhause schläft das Krümelchen ja auch bei uns im Bett. Nicht wahr, Schatz?“

„Und was ist mit mir?“ sorgte Joey sich und blickte seine Frau unverhohlen verzweifelt an. „Soll ich etwa alleine schlafen?“

„Sei nicht so selbstsüchtig. Sonst schläfst du bei mir im Bett“ grinste Yami und nach einem geschockten Block breitete Joey doch schnell seine eigene Tasche neben dem Bett von Narla aus. So wichtig war es ja nun auch wieder nicht.

„Schlafen wir jetzt hier?“ wollte Nini neugierig wissen und krabbelte forschend auf eines der beiden großen Doppelbetten.

„Sieht so aus. Gefällt’s dir?“ lächelte Seto und setzte sich zu ihr. Auch um den leise schnarchenden Tato vorsichtig hinzulegen und ihm die Schühchen auszuziehen, ohne dass er aufwachte.

„Das ist kuschelig. Hier schlafen wir bestimmt gut“ freute sie sich und war auch flugs unter eine der dicken Daunendecken gekrabbelt.

„Danke, Leute“ bedankte Yugi sich, als jeder so nach und nach in den Raum hineinging und sich ein anderes Bett suchte.

„Wofür denn?“ lächelte Sethan. „Dass ich euch ins hinterletzte Eckchen der Welt ohne fließend Warmwasser schleife?“

„Nein. Dafür, dass wir das große Bett haben dürfen. Wir könnten auch ...“

„Jetzt tu mal nicht so“ meinte Yami und krabbelte in das Etagenbett über Tristan. „Zu meiner Zeit wäre es selbstverständlich gewesen, dass der Pharao selbst vor Großfamilien das komfortabelste Bett bekommt. Also bedank dich nicht. Das steht dir zu, Hikari.“

„Dann müssten wir uns ja bedanken“ lachte Tea und zog erst mal der kleinen Theresa ihr Mützchen vom Kopf. „Danke, dass du deinen Platz für uns räumst, Pharao Yami.“

„Aber falls irgendwem mal kalt wird“ grinste er gleich in die Runde.

„Na ja, mit Heizung ist es hier ja eh nicht so weit her“ meinte Balthasar und nahm sich ebenfalls ein oberes Bett über seinem Bruder. Typisch Feuermensch, die mochten es nicht unbedingt gern kühl.

„Soll ich dich wärmen kommen?“ lachte Yami.

„Nur, wenn du dich mit meiner Freundin anlegen willst“ scherzte er zurück.

„Och, jeder Mann sollte mal ein schwules Erlebnis haben. Du weißt gar nicht, was dir entgeht. Ich lasse dich auch oben liegen.“

„Das tue ich eh schon. Haaaaach ...“ seufzte er und machte sich auf seinem oberen Bett ganz lang. „Ist doch gemütlicher als es aussieht.“

„Ein bisschen wie Camping“ meinte Fernando und packte seine Klamotten aus.

Mit einem leisen Knall gingen draußen dann mit einem Mal alle Lichter aus. Das war wahrscheinlich Gustav gewesen, der das elektrische Licht für die Hubschrauberlandung ausgeschaltet hatte. Jetzt gab es nur noch das Licht der Kerzen und das des hellen Mondes.

„Mamaaaa?“ meldete sich der kleine Tato leise, als Seto gerade dabei war, ihm seinen Schlafanzug über den Kopf zu stülpen. Entweder davon oder von dem Knall machte er doch einen Spalt seiner Äuglein auf.

„Was denn, Großer?“ flüsterte er und gab ihm einen lieben Kuss auf die Stirn. „Schlaf weiter, Knutschi.“

„Seehnsen pudsn?“

„Nein, heute brauchst du keine Zähnchen putzen. Dafür morgen zwei Mal“ versprach er. „Schlaf weiter, Tato. Papa passt auf dich auf, okay?“

„Okeee.“ Und damit war er auch so gut wie wieder eingeschlummert.

„Ich mag unseren Urlaub“ beschloss Nini und nahm von Yugi ihr Nachthemd entgegen. „Wenn man keine Zähne putzen muss, finde ich das super.“

„Das wird aber nicht zur Gewohnheit“ stellte Yugi da gleich mal richtig. „Möchtest du noch was essen oder aufs Töpfchen, bevor wir schlafen gehen?“

„Nein, ich bin ohne Wunsch glücklich“ freute sie sich und zog sich auch schon ihr Kleidchen über den Kopf. „So schöne Kuscheldecken haben wir Zuhause nicht. Hier ist das zwar ein bisschen kälter, aber dafür wärmen wir uns wie die Pinguine. Nä, Papa? Wie die Pinguine, nä?“

„Genau, Mäuschen“ nickte Seto und deckte Tato mit der warmen Decke vorsichtig zu. Dem war der Tag wohl auch sehr lang geworden und so aufregend.

„Pinguine wärmen sich nämlich gegenseitig“ erklärte Nini, während im Raum durcheinander alle verschiedene Sachen regelten. Mokuba ging noch mal raus, um nach den Waschmöglichkeiten zu schauen, Narla zog ihr Baby um, Yami plünderte das Büfett, andere packten ihre Sachen aus und zogen sich selbst um oder suchten sich auch noch etwas zu essen. Würde sicher nicht mehr lange dauern und jeder krabbelte müde in die Federn. Und Nini ersetzte das Abendprogramm. „Weil da, wo die Pinguine wohnen, da ist es auch immer kalt. Da schneit es die ganze Zeit und es ist immer Winter. Und deswegen stellen die sich alle immer ganz dicht zusammen. Das hat Papa mir erklärt. Weil dann bleiben immer alle gemütlich warm, auch wenn die ohne Schuhe auf dem Schneeboden stehen. Das macht denen gar nichts. Papa macht das ja auch nichts, aber der mag ja lieber keine kalten Füße. Deswegen ist er ja auch ein Drache und kein Pinguin.“ War doch logisch, oder? „Und die haben ihre Eier immer unter dem Bauch und passen mit den Füßen auf, dass das nicht auf dem Boden liegt und immer warm bleibt, weil sonst schlüpfen keine Babys. Pinguine sind sehr intellent und die sind ein Leben lang treu. Das heißt, die heiraten nur ein Mal im Leben. Süß, nä?“

„Ja, Schatz“ seufzte Yugi und half ihr, das Nachthemd richtig herum anzuziehen. So ein bisschen Hilfe brauchte sie dann eben doch noch.

„So macht ihr das ja auch, nä?“ plapperte sie fröhlich weiter. „Ihr habt ja auch geheiratet und ihr heiratet nie wieder jemanden anderen. Nur ein Mal im Leben und immer treu. Nä, Papa?“

„Jupp“ lächelte Yugi und zupfte ihr die Spangen aus dem Haar. „Ich heirate nie wieder jemand anderen als deinen Vater. Ein Mal reicht mir.“

„Ein Mal reicht dir oder ein Mann reicht dir?“ frotzelte Joey. „Ich würde Seto ja eher nicht heiraten.“

„Dich hat ja auch keiner gefragt!“ meckerte eben der zurück. Jedoch in seiner Lautstärke etwas gedämpfter, damit er die Babys nicht weckte. „Außerdem würde ich dich auch nicht heiraten wollen. Du wärst mir zu anstrengend.“

„Ich glaube, ich bin pflegeleichter als du, Drache“ vermutete er und stopfte sich eine Hand voll Brot in den Mund, während er sich zu Narla aufs Bett kuschelte. „Du kannscht dasch beschtetigen. Ne Schatsch?“

„Wenn du nicht gerade alles vollkrümelst, ja“ warnte sie ihn mit heißem Blick.

„Da ist mir Seto ganz lieb“ meinte Yugi. „Ist euch schon mal aufgefallen, dass er essen kann, ohne zu krümeln?“

„Nur weil er immer gleich alles quer in den Mund schiebt“ lachte Yami. „Großer Mann, großer Mund. Und noch einiges anderes, was groß ist.“

„Was denn?“ fragte Nini gleich neugierig. „Große Hände?“

„Die auch“ musste Yugi schmunzeln. Ja, so ein großer Mann hatte so manch einen Vorteil. Viel zum Lieben dran.

Doch noch bevor die beiden weiter den armen Seto ärgern konnten, sprang Noah mit einem mehr als peinlich schwul kreischenden „AAAAAAHHHHHHHHH!“ sicher zwei Meter zurück und sah so aus als würde er ganz gern noch höher zu Phoenix aufs Bett hopsen.

„Noah!“ atmete der Kleine und hatte sich selbst mindestens genauso erschrocken.

„Was ist denn?“ schaute auch Sareth neugierig, die sich eben mit ihm ein Stück Käse teilte. „Eine Maus?“

„Nein, ne Katze.“ Es fehlte nur wenig und man hätte das Knirschen seiner Zähne bis nach draußen gehört. Dafür ging er aber dann selbst mit einem wütenden Stampfen zur Tür, riss sie auf und brüllte in die Nacht hinein. „MOOKUUBAA!“

„Wiiiiilmaaaa!“ lachte Joey. „Wo ist mein Dinoburger?“

„Halt die Klappe“ schimpfte er und wartete mit trommelnden Händen am Türrahmen.

„Noah, mach die Tür zu“ bat Nika. „Es wird langsam kalt hier drin.“

„MOKUBA KAIBA! TRAB AN HIER! ABER S O F O R T!!!“

„Irks“ machte Seto nur leise und duckte schon mal seinen Kopf. Wenn der ruhige Noah wirklich mal ausflippte, wollte er das eigentlich gar nicht erleben.

„Was denn, Hase?“ erschien Mokuba in der Tür, hatte ein Handtuch im Arm und seinen Bademantel an. „Ich wollte gerade unter die Dusche. Aber Wasser gibt’s nur lauwarm. Zum Glück funktioniert die Heizungstherme mit Holzscheiten. Du musst also nicht noch mal anfeuern, wenn du noch mal reinwillst. Ich bin froh, dass ich das hingekriegt habe. Hast du ...?“

„Komm mal mit, Freundchen.“ Er packte ihn am Arm und zog ihn bis zu dem Flecken, wo er eben meterweit fortgesprungen war. Nämlich zu seiner geöffneten Tasche und wies hinein. „Erklär mir das!“

„Was denn?“ guckte Balthasar von seinem Hochbett herunter. „Ui“ machte er dann doch etwas beeindruckt. „Katze?“

„Kater würde ich sagen“ mutmaßte Noah und strafte seinen Wuschel mit Todesblicken. „Wo ist das Vieh? Ich hab dir gesagt, ich will keine Viecher mitnehmen.“

„Du weißt, dass ich Happy und die Babys mitgenommen habe“ versuchte er sich herauszureden. „Die Kleinen sind doch noch so mini und Happy kann ich doch problemlos mitnehmen. Sie fährt doch sogar Auto mit mir, wenn sie nicht gerade Babys säugen muss. Wir haben doch zusammen ...“

„Ich meine das Monster“ knurrte er. „Wo ist er?“

„Hello?“ fragte er ganz unschuldig. „Wie kommst du darauf, dass ...?“

„Weil ich seine Kotze unter Millionen erkenne“ zeigte er in seine Tasche. „Lange, braune Haare. Die sind weder von Happy noch von den Babys. Wie zum Teufel kann das Vieh mir in die geschlossene Tasche kotzen?“

„Na ja, vielleicht hast du sie offen gelassen, als du dir im Flieger ein anderes Hemd angezogen hast?“

„Nein, ich hab sie zugemacht. Das weiß ich ganz sicher. Außerdem, was heißt hier im Flieger?“

„Ich hab vorhin unsere Taschen im Helikopter verwechselt“ meldete Tristan sich. „Ich wollte eigentlich eine Strumpfhose für Feli holen und hab in der Dunkelheit aus Versehen deine aufgemacht. Ich dachte, ich hätte sie geschlossen ... tut mir leid?“

„Es geht nicht um die Tasche, sondern um den Inhalt und wie der da reinkommt“ zischte er Mokuba giftig an. „Wie kann das Monster mir in die Tasche kotzen, wenn ich dir verboten habe, ihn mitzunehmen?“

„Du hast es nicht verboten“ erwiderte Mokuba leiser. „Du hast nur gesagt, ich soll ihn dir vom Leib halten.“

„Das ist doch identisch! Der Gremlin will mich wahnsinnig machen! Nicht nur, dass er mich ständig anfaucht und kratzt und mir in die Schuhe scheißt! Jetzt kotzt er auch noch meine Sachen voll! Warum immer ich?“

„Ich glaube, du riechst gut“ vermutete Mokuba. „Eigentlich mag er dich.“

„Das beruht aber nicht auf Gegenseitigkeit!“ Noah war echt verzweifelt. Von allen Menschen im Haus hasste Helloween ihn am meisten. Jeden Morgen hatte er neue Kratzer und wenn nicht morgens beim Aufwachen, dann spätestens beim Aufstehen, wenn er auf ihn drauftrat oder ihn irgendwo bei Sachzerstörung überraschte. Von den Kot- und Kotzangriffen mal ganz zu schweigen. Die Beziehung zwischen Noah und Helloween war als Kleinkrieg zu bezeichnen.

„Aber Happy liebt ihn doch. Er ist der Vater ihrer Babys“ verteidigte er ihn zaghaft. Er wusste, dass Noah den Kater eigentlich schon lange im Tierheim wissen wollte. „Und außerdem ist er doch schon ganz zahm geworden. Und er hat kaum noch Flöhe. Ich hab ihn neulich gebadet und nicht einen einzigen Kratzer abbekommen.“

„Abreagiert hat er sich dann an meinen Seidenhemden“ schimpfte er. „Mokuba, ich will, dass du dieses Monster los wirst. Er stinkt, er kratzt, er faucht, er kotzt und er scheißt. Und er pisst in jede Ecke! Mal davon abgesehen, dass alle meine Klamotten voller Haare sind! Ich hasse dieses Tier!“

„Aber er kann doch auch ganz lieb sein“ versuchte er ganz kleinlaut. „Neulich lag er neben mir im Bett und hat sich sogar streicheln lassen. Er hat sogar geschnurrt.“

„Weißt du, was DAS ist?“ meckerte er und schob den Ärmel seines Hemdes hoch. Und dort prangte noch ein wunderbar roter Striemen. „DAS ist sein letzter Bettbesuch bei MIR heute morgen! Das Vieh will mich rausmobben!“

„Noah, das ist doch nur ein Tier“ versuchte Seto es leise.

„Du halt dich da raus!“ schimpfte er und funkelte Mokuba wütend an. „Ich weiß nicht, wie du das Monster bis hier her geschmuggelt hast, aber ich will, dass du ihn mir ab jetzt vom Hals hältst. Inklusive meiner Sachen. Haben wir uns verstanden?“

„Jaaaa“ murrte er und senkte seinen Blick beleidigt auf den Boden. „Soll ich deinen Arm heilen oder ...?“

„Nein, das sind wichtige Beweisstücke“ schimpfte er, griff sich Mokubas Kosmetiktasche und auch das von ihm zur Benutzung gedachte Handtuch, da seine eigenen Sachen ja nun kaum noch zu gebrauchen waren und stampfte auf die Tür zu. „Und meine Sachen darfst du persönlich von Hand waschen, Herr Kaiba.“ Und damit war die Tür zu und Noah unter der kalten Dusche.

„Oh oh“ sagte Yami vorsichtig. „Da hast du aber einen Einlauf bekommen.“

„Ach, der regt sich schon wieder ab“ lachte Mokuba und schien plötzlich gar nicht mehr so betroffen. „So sind Tiere nun mal. Er soll sich mal nicht so haben.“

„Na ja, in deine Tasche reihert der Kater ja auch nicht rein“ meinte Fernando. „Ich kann schon verstehen, dass er sich aufregt.“

„Ach, über sein zerfleddertes Rüschenhemd hat er sich mehr aufgeregt“ sang er fröhlich, schloss Noahs Tasche und schubste sie mit dem Fuß einfach unters Bett. Aus den Augen, aus dem Sinn. War ja nur Noah.

„Aber jetzt mal wirklich, kleiner Bruder“ fragte Seto neugierig. „Wie hast du Hello bis hier her geschmuggelt, ohne dass jemand was merkt?“

„Ich bin doch gut, was?“ grinste er und griff in seine eigene Tasche nach der Haarbürste. „Jetzt ist er aber mit seiner Familie sicher verstaut. Ich hab extra die Heizung für die Babys angelassen.“

„Du weißt aber schon, dass die Batterie davon schnell leer geht und wir dann nicht mehr fliegen können?“

„Nein, nicht im Heli“ meinte er beiläufig. „Im Waschraum neben der Heizungstherme. Da hab ich bis morgen das Körbchen hingestellt. Was meinst du, warum ich als erstes wieder raus bin? Ich will doch nicht, dass die Kleinen sich einen Schnupfen holen und ...“

„MOOOOKUUUUBAAAA!“ Noahs Schreien war noch über Meilen zu hören. Sicher war er auf das Monster im Waschhäuschen gestoßen ...

„Ich glaube, ich schlafe heute Nacht lieber getrennt“ lachte er und hüpfte auf das letzte, freie Hochbett. Er hatte da mehr Mitleid mit sich als mit dem armen Hasen ...
 

Es dauerte noch eine knappe Stunde, aber dann waren alle im Bett verschwunden. Die Lichter wurden bis auf eine Notkerze gelöscht, der fast volle Mond schien romantisch durchs Zimmer herein und draußen war kaum mehr zu hören als das leise Säuseln des Windes durch die Baumkronen. So ließ es sich doch gemütlich einschlafen, selbst wenn es nicht ganz so komfortabel war wie Daheim. Und als dann noch das leise Schnorcheln von klein Tato dazukam, dämmerte jeder langsam mit einem Schmunzeln weg. Solange die Kinder gut schliefen, sollte es der Rest doch auch können. Nur als dann später mit einem Mal ein lautes Sägen einsetzte, trübte das die romantische Stimmung ein wenig bei denen, die noch nicht ganz schliefen. Während so kleine Atmer von Baby-Tato ganz süß klangen, war das ausgewachsene Schnarchen des großen Tato eine echte Qual. Tja, alle Kinder wurden eben irgendwann mal erwachsen. Damit musste man leben.
 

Nur ein Kind hatte noch Probleme mit dem Erwachsenwerden.

Es war am sehr frühen Morgen als sich der Himmel ein wenig bezog und das helle Licht des Mondes von der Nacht trennte. Eigentlich nicht weiter schlimm, aber da auch noch die Kerze im Zimmer zwischenzeitlich abgebrannt war ...

Yugi wachte auf von irgendeinem komischen Gefühl. Er schlug vorsichtig die Augen auf und konnte es erst nicht einordnen. Was genau war es denn, was ihn geweckt hatte? Alles war ganz ruhig, der Morgen dämmerte noch lange nicht, der Wind hatte sich gelegt und Tato schnarchte, dass die Hütte bebte. Dieser Stein in seinem Bauch ... vielleicht war es doch das ungewohnte Hefebrot, das er zum Abendbrot hatte. Er wollte sich gerade wieder umdrehen, als er neben sich ein leises Keuchen hörte. Komisch? Seto schnarchte doch sonst auch nicht. Er lauschte noch einen Augenblick, aber es kam nichts. Alles wieder ruhig. Also kuschelte er sich vorsichtig an seinen Liebling heran, passte auf, dass er ihr Baby nicht zwischen ihnen zerquetschte und schmiegte sich an seinen Arm. Da vernahm er ein zweites Keuchen mit einer leisen Stimme gemischt. Das war ungewöhnlich, wenn nicht sogar besorgniserregend. Seto redete nachts nur im Schlaf, wenn er einen intensiven Traum hatte. Aber irgendwie ... es mischte sich mit diesem merkwürdigen Gefühl in ihm drin. Das waren nun bereits zwei Ungewöhnlichkeiten und damit zu viel.

„Liebling?“ fragte er leise, richtete sich auf und suchte mit der Hand nach seinem Gesicht. „Alles okay bei dir?“

Als seine Antwort aber nicht mehr war als ein Wimmern, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die einzige Kerze im Zimmer war abgebrannt, der Mond schien nicht mehr und in ihrer Hütte war es stockdunkel. Das war kein Schnarchen, was ihn geweckt hatte. Seto war wach!

„Ach, du Scheiße!“ Sofort nach seinem leisen Fluch sprang er auf, aus dem Bett heraus und suchte nach der Tasche des nächstbesten Rauchers. Mokuba schlief nur zwei Betten weiter und der hatte doch bestimmt ein Feuerzeug irgendwo.

„Yugi?“ murmelte Yami verschlafen in die Dunkelheit hinein. Der hatte wohl einen leichten Schlaf heute. „Was machst du?“

„Ich suche ein Feuerzeug“ antwortete er möglichst leise, um nicht alle zu wecken.

„Willst du rauchen?“ Auch Yami stieg nicht sofort dahinter. Yugi war doch sonst auch kein Nachtwandler.

„Nein“ erwiderte er schnell als er Mokubas Tasche unter dem Bett herauszog und nur hoffte, dass es wirklich seine war und er nicht gleich in Noahs Katzentasche hinein langte. „Seto hat eine Attacke.“

„Hmwas?“ rieb Yami sich müde die Augen. „Was für ne Attacke?“

„Eine Panikattacke.“

Da sagte es auch bei ihm Klick. Natürlich! Es war stockdunkel und wenn Seto da wach wurde, bekam er natürlich Angst. Die Dunkelheit war etwas, womit er sich nie hatte anfreunden können. Er war ein starker Mann, aber hatte schreckliche Angst im Dunkeln. „Warte, ich helfe dir.“ Grundsätzlich ne gute Idee, Yami - nur an der Durchführung haperte es ein wenig. Er wollte aufstehen und herunterkrabbeln, verfehlte aber die einzige Sprosse des Bettes, plumpste herunter, stieß das wenige Geschirr vom Tisch und mit dem Scheppern war jetzt sicher auch der Letzte wach. Zumal sofort irgendein Baby abfing zu plärren und sein übriges zum nächtlichen Weckdienst tat. Sogar das laute Schnarchen endete, was garantierte, dass auch Tato wach war.

„Was ist denn los?“ fragte Marie und hatte die zündende Idee. Sie nahm einfach ihr Handy, klappte es auf und hatte genug Licht, um die Szenerie zu beleuchten.

„Super, gib mal her.“ Yugi kannte da auch kein Bitte mehr. Er schnappte ihr das Ding aus der Hand und fand so ein paar Zigaretten schon auf dem Tisch liegen. Wem auch immer sie gehörten, es war auf jeden Fall ein Feuerzeug da. Genau das nahm er sich, lief im Schein des Handys zurück und entzündete mit schnellen Händen die Petroleumlampe auf dem von Yami geräumten Tisch. Sofort wurde es hell im Zimmer und zeigte einen wachen Yami der im übrig gebliebenen Abendbrot auf dem Fußboden wühlte.

„Mann, Yami ... Yugi“ rieb sich auch Tristan verschlafen über die Augen. „Was macht ihr denn für’n Terz hier?“

„Ja, Mann. Ist doch noch gar nicht morgens“ murmelte auch Joey müde und langte rüber ins andere Bett, wo Narla gerade seine schreiende Tochter beruhigte. „Yugi, weißt du eigentlich wie früh es ist, Alter? Mach das Licht aus.“

Aber dafür hatte der gerade gar keine Zeit. Er stellte die Lampe so hoch es ging und erhellte sogar willentlich den gesamten Raum mit vergleichsweise grellem Licht.

Neben Yami, der sich den Po reibend vom Boden aufrappelte und sich den Arm mit irgendwelchen Resten übergossen hatte, sah man, wie Yugi sich sofort zurück aufs Bett setzte, an Setos Nacken griff und ihn mit einem kräftigen Ruck ein Stück höher legte. Unglaublich, dass er, obwohl er viel kleiner war, den Großen einfach so bewegen konnte. Er kannte einfach die richtigen Handgriffe. Und sein Liebling sah wirklich zum Fürchten aus. Seine Augen blutunterlaufen, seine Lippen schon bläulich und sein Gesicht so aschfahl wie Papier. Er starrte mit aufgerissenen Augen ins Nichts und tat außer einfach nur steif sein nicht viel. Nicht mal richtig atmen wie es schien. Er war völlig panisch und gelähmt vor Angst. So hatte man ihn seit Jahren nicht gesehen.

„Liebling, ganz ruhig“ sprach er ihm zwar liebevoll, aber fest genug zu, um seiner Stimme Stärke zu verleihen. „Sieh mich an. Hörst du mich? Sieh mich an. Ganz ruhig, Liebling. Du bist nicht allein.“

Doch Seto reagierte kaum. Er starrte weiter ins Nichts mit einem Blick, in welchem schiere Panik herrschte. Seine blauen Augen vernebelt vor Angst in einer eigenen Welt.

„Was ist denn los?“ wollte Nini durchgewuselt wissen. Das Problem war, dass eben auch die Kinder wach geworden waren und natürlich wissen wollten, was da vor sich ging. Doch wenn Nini und Tato ihren Papa so sahen, würden sie einen Schrecken fürs Leben bekommen.

„Nichts.“ Yami machte seine lautstarke Attacke sofort wieder gut, indem er sich geistesgegenwärtig die beiden unter die Arme krallte und mit samt Bettdecke hinaus schleifte. „Wusstet ihr eigentlich, dass Graspflücken mitten in der Nacht großes Glück bringt?“

„Niiii~iiiissss!“ Tato wollte lieber im Bett bleiben, aber der wurde einfach mitgenommen. Sein Glück war ihm da ziemlich wurscht. Er wollte im warmen Bettchen bleiben und nicht spazieren getragen werden.

„So ein Quatsch“ meinte Nini etwas verwirrt über den plötzlichen Weckruf und den nächtlichen Ausflug auf Yamis Armen. „Lass mich runter.“

„Nein, wirklich“ betonte der, während er beide gegen sämtlichen Widerstand mitnahm. „Aber nur, wenn man an einem fremden Ort ist. Das haben wir in Ägypten früher immer gemacht. Das bringt großes Glück in Liebe und Beruf.“ Und weg waren sie. Manchmal hatten Yamis bunte Einfälle eben doch was märchenhaft Gutes.

„Was ist denn passiert?“ fragte Mokuba, der sich ganz schnell zu seinem großen Bruder aufs Bett setzte und ihm die Hand auf die Stirn legte. „Weil es so dunkel war?“

„Denke ich mal“ antwortete Yugi selbst etwas aufgewühlt. „Keine Ahnung, wie lange er schon so ist. Erst mal muss er wieder richtig atmen.“ Solch eine schlimme Attacke hatten sie lange nicht mehr gehabt. Aber Yugi wusste noch, wie er ihn wieder zurückbekam. Er schob seinem Liebling das Hemd hoch, legte ihm beide Hände auf die kalte Brust und versuchte, seine Energien zu spüren. Aber fließen tat da nicht mehr viel. Eher fühlte es sich an wie eingefroren, fest, geradezu hart. In solchen Momenten blieb sein ganzes Leben einfach stehen. „Ganz ruhig. Dir kann nichts passieren“ sprach er ihm weiter beruhigend zu. „Du bist in Sicherheit. Spürst du meine warmen Hände? Atme ganz leicht ein. Ganz vorsichtig. Hörst du meine Stimme?“ Aber noch tat sich da nichts. Er war völlig verkrampft, steif und regte sich nicht ein Stück.

„Seto, hey“ sprach auch Mokuba leise und nahm sanft seine eiskalten Ohren, um sie zwischen seinen warmen Fingerspitzen zu stimulieren. „Ganz ruhig, Großer. Alles ist okay. Keine Sorge.“

Ein lauteres Wimmern war die erste Antwort und es bedeutete, dass immerhin genug Luft dafür da war. Im zweiten Zuge begann er langsam zu zittern, was noch mehr ein gutes Zeichen war, da sich dadurch seine Muskeln wieder regten. Wenigstens schien er ansprechbar, auch wenn er nicht antwortete. Yugis Energielösung zeigte ihre ersten Effekte.

„Gut so. Ganz langsam“ bestärkte der ihn und drückte liebevoll seine warmen Hände auf die feste Haut. „Versuch zu atmen. Hörst du mich? Es ist alles in Ordnung. Alles in bester Ordnung. Du bist in Sicherheit. Ganz ruhig.“

„Her khommth nhichth whiedher ...“ keuchte Seto und sein Zittern steigerte sich schnell in ein krampfendes Beben. „Her khommth nhichth ... her khommth nhichth …”

„Ganz ruhig bleiben, Liebling.“ Was auch immer gerade in seinen Kopf vorgehen mochte, es war auf jeden Fall nicht real. „Du bist in Sicherheit. Ganz ruhig. Sieh mich an, mein Herz. Sieh mich an ...“

„Aaahhh ... nheeiiihn ... nheeiiihn ...“ Er ließ sich einfach zur Seite fallen und entzog sich diesen Berührungen, er hustete und hustete und hustete seine verkrampften Lungen frei. Wenigstens sein Atem war wieder zurückgekehrt, aber er zitterte noch immer am ganzen Körper und sein Denken war auch noch irgendwo anders.

„Können wir irgendwas tun?“ wollte Fernando vorsichtig wissen und war schon dabei, aufzustehen und herüberzukommen.

„Nein, kommt bloß nicht alle her“ bat Yugi und winkte ihn gleich wieder zurück. Ebenso wie den großen Tato, der sicher auch gern irgendwas tun wollte. Doch wenn jetzt auch noch alle aufstanden und sich um ihn scharrten, würde Seto nur noch mehr Panik kriegen. Zwei Leute reichten doch.

„Nein, wirklich“ betonte Mokuba noch mal, als Dakar trotzdem aufstand und sich anschickte, zu ihnen zu kommen. „Nicht alle rüberkommen jetzt.“

„Schon okay“ murmelte der nur und ließ sich nicht abhalten. Er stieg über die heruntergestoßenen Reste des Abendessens und kniete sich vor das Bett.

„Er hat doch schon genug Angst“ bat Mokuba, als müsste er seinen hustenden, bebenden Bruder vor ihm beschützen.

„Dakar. Wehe du tust Mama weh“ drohte Tato mit funkelnden Augen. „Pass auf oder wir kriegen tierisch Ärger miteinander.“

„Ich weiß“ beruhigte er und legte nur seine Hand an Setos freie Hüfte, welche in dem hellen Feuerlicht ein Stück seiner schönen Zeichnung, ein Stück des aufwändig gestalteten Falkenflügels zeigte. Mehr tat er zwar nicht, aber nach nur wenigen Sekunden wurde das Husten leiser und auch das Krampfen am ganzen Körper nahm langsam ab. „Nur ein leichtes Nervengift“ erklärte er, noch während Yugi seinen Mund öffnete. „Es senkt den Blutdruck und entkrampft die Muskeln. So fällt ihm wenigstens das Atmen leichter.“ Und mit Seitenblick auf den beobachtenden Sohn ergänzte er noch kurz: „Es tut ihm nicht weh.“

„Danke“ sagte Mokuba perplex, als Dakar seine Hand wieder fortnahm. „Warum bist du da nicht früher drauf gekommen?“

„Bei festgefahrenen Energien verteilt sich das leichte Gift nicht schmerzlos. Das ist der Nachteil bei Magiern“ meinte er und stand schon wieder auf, um selbst zurück ins Bett zu gehen. „Nur aufstehen sollte er jetzt für zwei oder drei Stunden lieber nicht. Könnte sein, dass seine Beine nachgeben.“

„Papa, ist alles okay mit ihm?“ wollte der große Tato lieber wissen und sah besorgt hinüber. Auch wenn er direkt daneben lag, konnte er ja leider nicht viel tun, wenn schon zwei an ihm dran waren.

„Wird schon wieder“ beruhigte er und legte sich neben seinen Liebling, um einen Versuch zu starten, in seine Augen zu sehen. Mittlerweile lag der nämlich nur noch hechelnd da und tat nicht mal mehr ein Zucken. Vollkommen gelähmt von dem Gift und den schlimmen Gefühlen in sich drin. „Liebling, alles okay bei dir?“ sprach er ihn vorsichtig an. „Bleib ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung. Du musst keine Angst ...“

„Er khommt nhicht whieder ...“ keuchte er leise vor sich hin, hatte seine Augen aufgerissen und sah panisch in Yugis Gesicht, auch wenn er ihn wohl nicht wirklich sah. Dakar konnte vielleicht seinen Körper zur Ruhe zwingen, nicht aber seinen Geist.

„Keine Angst, es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit“ sprach er ihm wieder gut zu, doch es war, als kämen seine Worte gar nicht an.

„Mhir ist khalt“ atmete er und bewegte sich nicht ein Stück. „Es ihst khalt ... so khalt ... so khalt ... ich erfrhierhe ... ich stherbhe ...“ Doch wirklich gruselig war der panische Blick, den er Yugi entgegenbrachte. Er blickte ihn an, sah ihn aber nicht. Er sprach, ohne zu wissen, was er eigentlich sagte.

„Nein, du stirbst nicht“ beruhigte er und strich ihm zärtlich durchs Haar, zog die Bettdecke sanft über seinen Körper. „Es ist alles in Ordnung. Es ist schön warm. Hörst du? Ich bin doch hier. Du frierst nicht. Es ist schön warm unter der Decke. Ich wärme dich.“

„Ich whill stherbhen ...“ bettelte er leise und schloss seine Augen, kniff sie schmerzhaft zusammen. „Bhitte, lhieber Ghott ... lhass mhich stherbhen ... ich whill stherbhen ... es isth so khalt ... er khmommth nhichth mher ... lhiebher Ghotth, pass auf Mhokhuba aufh ...“

„Was redest du denn da?“ schüttelte Yugi seinen Kopf und streichelte ihm warm über die Wange. „Komm zu dir, Liebling. Wir sind hier. Hörst du? Alles ist in Ordnung.“

„Mhokhuba ... pass aufh Mhokhuba aufh … pass aufh ihhhn aufh … lhiebher Ghott ... bhitte ... bhehüthe hihn ...”

„Er halluziniert“ versuchte Mokuba zu erklären. „Früher, wenn Gozaburo ihn bestraft hat, hat er ihn eingesperrt. Manchmal im Kühlhaus, im Dunkeln, tagelang. Einige Male hatte ich auch Angst, dass er ihn da nie wieder rausholt. Wenn man tagelang im Dunkeln sitzt und friert, verliert man doch fast den Verstand. Deshalb hat er doch so Angst im Dunkeln. Das kommt nicht von unserer Mutter, sondern von Gozaburo.“ Ihm damals noch weitere Traumata mitzugeben, war nicht schwer. Gozaburo hatte ihn manchmal tagelang nicht nur im Kühlhaus eingesperrt, das war Seto gewohnt - nein, er hatte ihn von Mokuba getrennt und in ihm damit die schlimmste aller Ängste geweckt. Die Dunkelheit war ihm zuwider, weil er dann ganz allein war und niemanden bei sich hatte. Dunkelheit bedeutete Einsamkeit, Gefangenheit, Kälte und wahnsinnige Verlassensangst.

„Das ist doch vorbei, Liebling“ versprach Yugi, legte sich ganz nahe an ihn heran und versteckte den ausgekühlten Kopf zwischen seinen Armen. Wenigstens war es gut zu wissen, dass er ihn anfassen konnte, ohne es schlimmer zu machen. Eigentlich war Seto nach jahrelanger Therapie und viel Liebe kein Nervenbündel mehr. Aber wenn seine weichen Stellen zu lange traktiert wurden, brach er zusammen. So eben, wenn er plötzlich im Dunkeln lag. Die Dunkelheit war eine Angst, die er bisher nicht besiegen konnte und die Wahrscheinlichkeit, dass er jemals so weit kam, war verschwindend gering. Hier würde er immer Hilfe brauchen. Jemanden, der ihm klar machte, dass ihm die Dunkelheit nicht alles wieder wegnahm. „Es ist alles in Ordnung, mein Herz. Du musst keine Angst mehr haben. Ich bin doch hier. Ich liebe dich.“

„Er khmommth nhichth mhehr ...“

„Wir beide bleiben für immer zusammen. Weißt du noch? Erinnerst du dich noch damals als wir im Sommer in Paris eine Rohrverstopfung hatten?“ Yugi redete einfach drauflos, einfach nur, um ihn seine Stimme hören zu lassen. „Weißt du noch, was wir gemacht haben, weil es so heiß war und am Sonntag keine Handwerker zu kriegen waren? Jean und Sylvie waren nicht da und wir konnten nicht duschen. Wir hatten kein Wasser. Erinnerst du dich, was wir da gemacht haben? Du und ich?“

„Es ihsth so khalth ... so khalth ... ich whill stherben ... lhieber Ghott ...“

„Es war schon morgens fast 30 Grad heiß und du konntest gar nicht so viel trinken, wie du geschwitzt hast“ redete er beruhigend weiter, legte so viel Sanftheit in seine Stimme und senkte sie, damit sie wohlig in Setos Ohren klingen möge. „Du warst die ganze Zeit am mosern und arbeiten wolltest du auch nicht. Du kannst dich bei Hitze ja nicht konzentrieren und es war so heiß. Du warst ungenießbar und das stundenlang. Wegen des fehlenden Wassers konnten wir nicht mal duschen. Das hat dich total aufgeregt. Es war so heiß. Ganz heiß war es. Erinnerst du dich, wie heiß es war? Weißt du noch, was wir gemacht haben? Na? Erinnerst du dich?“

„Sommher ...“

„Ja, im Sommer. In Paris. Unser erster Sommer, Liebling. Weißt du noch? Wie heiß es war und als wir kein Wasser mehr hatten? Was haben wir da gemacht?“

„Whir ...“

„Genau, wir beide. Wir zusammen“ lächelte er. So langsam schien sein Gerede ja Früchte zu tragen. „Wir sind raus gegangen. In den Park. Alles war grün und die Bäume haben ein bisschen Abkühlung im Schatten gebracht. Wir sind ein wenig gegangen. Wir haben einen Spaziergang gemacht. Hand in Hand. Und dann hatten wir großes Glück. Weißt du noch, warum?“

„So heiß ... khein Wasser ...“

„Es war so heiß und wir hatten kein Wasser. Genau. Du erinnerst dich. Wir sind rausgegangen in den Park und was stand da? Weißt du noch, was da stand?“

„Brunnhen ... ein Brunnhen ... schönhes Whasser ...“

„Ein Brunnen mit schönem Wasser. Genau“ lächelte er aufbauend und sprach weiter in einer ruhigen Tonlage mit ihm. „Und da sind wir baden gegangen. Das war schön, nicht wahr? Es war ganz heiß und das Wasser hat gut getan. Alle Leute haben geguckt, aber das war uns egal. Ein paar Leute sind sogar mit reingesprungen, weil es so heiß war. Und dann haben wir Brote gegessen und im Schatten gelegen. Und was haben wir gemacht? Weißt du das noch?“

„Nhein ... Küsschen ...“

„Ja, wir haben uns Küsschen gegeben“ lobte er und gab ihm ein ebensolches auf seine Stirn, welche mit kaltem Schweiß bedeckt war.

„Whir haben gebadhet ... und dann ...“

„Und was dann?“ ermutigte er ihn weiter. „Was ist dann passiert, nachdem wir baden waren? Erinnerst du dich?“

„Es whar ... es hat gehregnet ... so einh Scheiß ...“

„Ja, so ein Scheiß“ lachte er. „Da geht man baden und was passiert? Es regnet. Mitten im Sommer. Wir können echt Pech haben, was?“

„Hich bhin ... ein Phechvogel ...“

„Ja, du bist ein Pechvogel“ seufzte er und kuschelte sich ganz dicht an ihn, womit auch die anderen, die alle wach waren, ein wenig aufatmen durften. Ja, ihr Seto war nun mal ein Pechvogel. Und eben auch alle anderen, die durch ihn eine ziemlich kurze Nacht hatten. „Aber ich liebe dich.“

„Yugi ...“ schluchzte er und begann leise zu weinen. Die aufgestauten Gefühle einer solchen Angstattacke mussten ja irgendwie raus und er war einfach zu aufgewühlt, um sie zurückhalten zu können. Aber er wusste, dass Yugi ihn liebte und er sich bei ihm ausweinen durfte, wenn er sich schlecht fühlte. „Dhu verlässth mich nhicht. Bhitte, du lässt mhich nicht allheine.“

„Nein, ich lasse dich nicht allein, Liebling. Ich liebe dich doch.“

Ja, aber lieben taten sie ihn trotzdem. Auch wenn er dieses Mal nicht nur Yugi den Schlaf raubte.

Kapitel 21 - 25

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Kapitel 26 - 30

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Kapitel 31 - 35

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Kapitel 36 - 40

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Kapitel 41 - 45

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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Gepo
2012-01-28T17:24:32+00:00 28.01.2012 18:24
Hach, mir geht ein Herz auf ^v^
Ich habe vor nunmehr... vier Jahren, glaub ich ô.o ... den letzten Teil gelesen. Auf einer Seite, die es heute schon gar nicht mehr gibt. Ich habe seitdem öfters mal gesucht, aber die Story nie wieder gefunden. Und sie hier, es gibt sie und sie ist weiter gegangen ^.^
Das freut mich sehr!
Die Bezeichnung Teil 14.1 hat mich aber stark zum Lachen gebracht XD Ich habe noch nicht weiter gelesen, aber ich freue mich schon darauf ^.^

Dieser Teil passte erstmal wunderschön an die letzten. Ich finde es faszinierend, wie sich dein Schreibstil in all den Jahren nicht groß geändert hat. Und dass du immer noch mit derselben Leidenschaft schreibst wie zu Beginn ^.-
Ich fiebere mit, ob und wie sie Seth retten werden. Und ob sich der Gott Seth wirklich weiterhin als "der Böse" erweist. Ich glaube ja immer noch an das Gute in ihm. Ich bin auch sehr gespannt, wie das mit Tato und Phönix läuft... immer mehr vermuten ja schon, was da läuft. Wie wird Tea auf Mokephs Geständnis reagieren?
Ich mag es auch sehr, wie Ra und Sethos sich aus den meisten Dingen raushalten. Sethan währenddessen stört mich gewissermaßen... ich mag Leute mit Überkräften meistens nicht. Auch wenn du betonst, dass er doch erst 21 ist, agiert er sehr kompetent und seine Ausbrüche zwischendurch wirken auf mich eher etwas... falsch. Er ist nicht authentisch. Seth, Seto, Yami, Yugi - das sind alles ziemliche Übermächte, aber sie sind dabei menschlich. Man findet Bezug zu ihnen durch ihre Mängel. Sethan währenddessen wirkt bis auf seine wenigen Ausbrüche ziemlich allglatt.
An sonstiger Kritik bleiben mir nur ein paar Rechtschreibfehler, Formulierungsfehler in den kurzen Sätzen auf anderen Sprachen und einige wenige fachliche Fehler. Der einzige, der mich so störte, dass ich mich immer noch an ihn erinnern kann, ist, dass du dissoziative Identitätsstörungen öfter mal mit dem Wort "schizo" belegst. Schizophrenien sind eine völlig eigene Krankheitsklasse, die mit gespaltenen Seelen nicht das geringste zu tun haben.
Ansonsten freue ich mich, dass es weiter geht und werde mich jetzt an den nächsten Teil machen ^.^ Halt die Ohren steif und viel Spaß beim Schreiben!

Deine Gepo
Von:  AngelKris
2009-08-31T15:53:21+00:00 31.08.2009 17:53
Ich kann nur sagen : WOW!
Bin gerade fertig mit allen Teilen.
Dein Schreibstil ist wirklich klasse! Man kann sich in alles super gut bildlich reinversetzen.

Ich freu ich schon auf die Fortsetzung!

Bye
AngelKris
Von:  AngelKris
2009-08-31T15:52:26+00:00 31.08.2009 17:52
Ich kann nur sagen : WOW!
Bin gerade fertig mit allen Teilen.
Dein Schreibstil ist wirklich klasse! Man kann sich in alles super gut bildlich reinversetzen.

Ich freu ich schon auf die Fortsetzung!

Bye
AngelKris
Von: abgemeldet
2009-03-02T20:36:56+00:00 02.03.2009 21:36
bEIL DICH BITTE BEIM SCHREIBEN:
ich freue mich riesig auf das nächste Kapi.
l.g bec
Von: abgemeldet
2009-01-21T20:42:40+00:00 21.01.2009 21:42
Hm... ich hätte auch ne Frage... o_ò Versteh ich da snu richtig un des Ganze is mit dem Teil hier noch ga nich beendet? Ich meine, wie un wo gehts denn dann weiter?

Ach übrigens... Echt tolle Geschichte :D Sich so viel ausdenken zu können *__* Mein Herz geht richtig mit ^^'

Nyo...

lg

-Ich x'D
Von: abgemeldet
2008-07-28T20:35:33+00:00 28.07.2008 22:35
Sag mal hat es einen bestimmten Grund, das das kleine blonde Kind inzwischen drei verschiedene Augenfarben hat? Erst Grün... dann Braun und jetzt Grau...? ô_ô *leicht verwirrt*

Und hast du jetzt vor Göttervater Seth auch als Mensch auf die Erde zu holen, so wie Rah alias Amun-Re?
Und wenn ja was machste dann mit den beiden auf der Erde?
Sie normal alt werden und sterben lassen wie als hätten sie ein "ganz normales neues Leben"? oder schickst du sie (wie auch immer du das anstellen willst) wieder zurück sobalt frieden eingekehrt ist?

joa das wären so Fragen, die mich noch interessieren würden neben denen, die du schon angesprochen hast xD
Also ich freu mich auf den nächsten Teil der wird bestimmt genauso spannend wie alle anderen Teile auch <3

mit freundlichen Grüßen

~Apophis~


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