Valentine - überarbeitet von Yu_B_Su (Kaiba im Wald) ================================================================================ Kapitel 1: (This is) The Beginning ---------------------------------- Hi, wie ihr seht, habe ich diesmal kapys gebildet, was mir schwer fiel, und normalerweise sind sie auch nciht allzu lang, nur der Vorspann ist etwas länger ... viel spaß beim Lesen! „Herr Kaiba, der Brief an die Plastik OHG muss noch fertig werden!“, tönt die Stimme meiner Sekretärin aus dem Telefon. Die Plastik OHG, ausgerechnet die. Ich freue mich riesig. Das wird ein großartiger Tag! Es ist Donnerstagmorgen, ich bin übermüdet, unkonzentriert und habe noch ein Meeting sowie zwei Konferenzen vor mir. Es ist Donnerstagmorgen, eine halbe Stunde nachdem ich mein Büro betreten habe. Die halbe Stunde, in der ich mich hinsetze, meinen Kaffee trinke, E-Mails checke und den üblichen Kleinkram erledige - wenn mich nicht gerade so ein „äußerst wichtiges“ Telefon belästigt. Und zu meinem Unglück ist heute nicht nur Donnerstag sondern auch noch Valentinstag! V-A-L-E-N-T-I-N-S-T-A-G! Ein „wundervoller“ Tag für alle Verliebten, ein schlechter Tag für alle Getrennten, aber vor allem ein ertragreicher Tag für die Blumenhändler und Geschenkeläden. Wenn es wenigstens ein profitabler für MICH wäre, dann hätte das ganze wenigstens einen Sinn. Stattdessen werde ich von überall mit Herzen belästigt, die Stadt ist voll mit Rosen und rosafarbenen Gütern jeglicher Art. Alle Menschen laufen gestresst durch die Stadt, um ein Geschenk für ihren „Liebsten“ zu kaufen. Das hält doch keiner aus! Bin ich froh, dass ich NICHT verliebt bin! Dieser Tag wurde doch nur von den Geschäftsleuten erfunden, um die Leute dazu zu animieren, Geld für irgendwelchen Kram auszugeben – Geld, das ihnen dann für meine Produkte fehlt! Vor allem: Liebe! Es gibt einen Tag für die Liebe! Warum ausgerechnet für die Liebe? Liebe ist das sinnloseste, was es auf der Welt gibt! Es gibt nicht einmal eine richtige Definition dafür – Liebe, was ist das? Die Anziehungskraft zweier Menschen? Nein, jeder Mensch fühlt sich von einem Menschen angezogen – manchmal negativ, manchmal positiv! Also die positive Anziehungskraft zweier Menschen? Und was ist mit der Liebe zu einem Produkt? Nein, die Liebe ist die schlimmste Erfindung, die die Menschheit je gemacht hat, denn niemand hat es geschafft, sie zu erklären. Liebe ist relativ, genauso wie die Zeit. Sie hängt von den Umständen ab. Genauso wie die Zeit von der Masse und der Geschwindigkeit und der Energie. Oder wie der Preis von der Nachfrage und dem Angebot. Oder wie jede andere mathematische Gleichung. Sie ist abhängig von Vorzeichen, Variablen, der Umwelt. Nur wenn man eine passende Kombination aus allen möglichen Umständen findet, dann kommt etwas dabei heraus, und je nachdem, welche Kombination und welche Umstände man verwendet, kommt eine andere Art von Liebe heraus. Wenn man Glück hat, entsteht als Ergebnis eine Liebe, die ein Leben lang hält. Und wenn man Pech hat, dann trennt man sich. Oder man wird getrennt. Man wird getrennt. Auseinandergerissen. Getrennt. GETRENNT. Getrennt. Und es ist für mich unverständlich, wie man so etwas feiern kann. Ich verstehe es nicht. Ich hasse ihn, den Valentinstag. Ich hasse ihn aus ganzem Herzen! Und ich hasse diesen Tag! Genervt nehme ich einen Schluck Kaffee und konzentriere mich ganz auf das Aroma. Auch wenn es offensichtlich eine qualitativ minderwertige Lieferung war, beruhigt mich dieses Ritual irgendwie. Ich muss jetzt wieder ruhig werden, gaaaanz ruuuhhhhiiig werden. Ich habe in zwei Stunden eine Konferenz und darauf muss ich mich noch vorbereiten! Und erst recht lasse ich mir den Morgen, MEINEN Morgen, von nichts und niemandem nehmen. Weder von meiner Sekretärin, noch von diesem Brief noch von diesem Valentinstag! Ich drehe meinen Stuhl zum Fenster und genieße den Blick nach draußen. Der Kaffeeduft strömt gemächlich durch meine Nase, meine Augen streifen sanft über die Häuser, mein Herzschlag wird langsam leiser. … … Warum ist mir das nie aufgefallen? … Die vielen Wolkenkratzer? Die Lichter auf den Straßen? Die kleinen Vögel auf den Bäumen unter mir? … Warum habe ich früher nie den Sonnenaufgang beobachtet? … Es ist schön. Ein Wunder der Natur, … wie sie zuerst einen gelben Streifen an den Horizont schickt, als wöllte sie sehen, was auf der Erde los ist, und dann immer schneller nach oben steigt und dabei alles erst in Rosa, dann in ein orange-rotes Farbspiel taucht, als umarme sie die Welt…. Ich breite die Arme aus und schließe die Augen. … Für einen Moment bin ich an einem anderen Ort. Ich atme tief ein. Der Duft der der Bäume strömt durch meine Lungen. Er ist kühl und erfrischend. Ich höre die Vögel zwitschern. Sie singen für mich und für dich ein Lied. Unter meinen nackten Füßen fühle ich das feuchte Gras. Der Tau hat es mit Wasser benetzt, und es ist weich. So weich wie deine Haut. Mit einem fröhlichen Lächeln empfange ich die Umarmung der Sonne. Sie ist so warm, wie eine Decke, die für eine Sekunde alles verschwinden lässt. Die größten Probleme werden winzigklein. Der schlimmste Schlag wird zum liebevollen Kuss. Die tiefste Traurigkeit zu überwältigender Hoffnung… Doch nur für diesen kurzen Moment. Danach steigt die Sonne zum Himmel empor und strahlt ewiggelb auf die Erde. Dann fällt ihr Licht auf die Glasfassaden und blendet mich. Danach tötet ihre zerstörerische Hitze meinen Körper. Und zum Schluss tötet Ihr Untergang auch meine Seele. Doch noch genieße ich diesen Moment, diesen Augenblick des Glücks. Er erinnert mich an dich, an deine Umarmung. Sie sieht anders aus, sie fühlt sich anders an. Der Duft deines Körpers, das Flüstern deiner Stimme, die Berührungen deiner Haut. Sie ist anders als die der Sonne. Aber sie macht mich glücklich. Nicht nur für eine Sekunde, sondern für tausende, und abertausende. Deine Umarmung machte mich selig. Und nun ist sie weg. Ich vermisse sie. Die Sonne hilft mir jeden Tag nur kurz. Ich vermisse deine Umarmung und weis doch, dass sie nie mehr wiederkehren wird. Niemals. NIEMALS. Aber was rede ich hier? Ich habe keine Zeit für so was! Ich habe keine Zeit für Gefühle! Ich habe keine Zeit dafür. Ich muss ein Unternehmen leiten.!. „Herr Kaiba, sind Sie noch dran?“, reißt mich die Stimme meiner Sekretärin aus meinen Gedanken. Was fällt dieser Frau eigentlich ein? „NATÜRLICH BIN ICH NOCH DRAN ODER HÖREN SIE SCHLECHT?“, antworte ich genervt. „A-Aber Sie wirkten irgendwie abwesend ….“, stottert sie. „Ich – abwesend? Ich habe kurz über das nachgedacht, was Sie sagten! Wenn Sie das schon als abwesend bezeichnen, sollte ich mir eine neue Sekretärin suchen! Falls Sie es in Ihrer kurzen Zeit hier noch nicht verstanden haben: Ich, Seto Kaiba, bin der FIRMENCHEF, ich kann es mir gar nicht LEISTEN nicht anwesend zu sein! Und jetzt verschwinden Sie!“, fauche ich sie an und hoffe, dass das Gespräch damit beendet ist. „A-Aber Herr Kaiba, i-ich bezweifle nicht, dass Sie da sind, aber der CEO der Plastik OHG hat gerade angerufen. Er meint, die Stellungnahme müsse morgen bei ihm sein!“, erklärt meine Sekretärin ausführlich. Sie hat noch nicht aufgelegt! Rede ich so undeutlich? Ich sollte mir langsam Sorgen machen…. denke ich resigniert und erwidere noch etwas lauter: „Dann schreiben Sie sie! Sie kennen sich bestens mit der Sachlage aus. Also nehmen sie ihre Eins Zwei Drei 10 kleinen Fingerchen und tippen diesen Brief! Ich habe nämlich keine Zeit! Falls Sie vergessen haben sollten, heute morgen in meinem Terminkalender zu sehen - wovon ich ausgehe - helfe ich Ihnen gerne nach: Ich habe in zwei Stunden ein Meeting mit einem wichtigen Großkunden, um eins eine Konferenz mit den Spielehändlern der Stadt und um fünf folgt die Vorstandssitzung, die Sie unbedingt noch heute einplanen mussten! …“ „A-Aber Herr Kaiba…“ „UNTERBRECHEN SIE MICH NICHT! Ich muss mich auf all diese äußerst wichtigen Termine intensiv vorbereiten und ich habe keine Zeit für die Plastik OHG!“, brülle ich sie an. Ist es denn so schwer zu begreifen, dass ich aus objektiven, und subjektiven, nein, eigentlich nur objektiven Gründen, keine Zeit habe, mich mit diesen Leuten zu beschäftigen? „Herr Kaiba, Sie sind der Chef, Sie fällen die Entscheidung, ob wir dem Zulieferer kündigen oder nicht! - Ich kann Sie ja verstehen, das war in letzter Zeit wirklich etwas viel, die Aktien, die Steuerfahndung, die …“ „VERSTEHEN? Sie können mich überhaupt nicht verstehen, sie sollen nicht mal versuchen mich zu verstehen, was bilden Sie sich eigentlich ein? Denken Sie, in den paar Monaten, die ich Sie hier schon dulde - dulde, wohlgemerkt - hätten Sie mich durchschaut? Sie haben nicht mal einen Hauch Ahnung von mir – und das ist gut so! Mein Innerstes geht nämlich nur mich etwas an – MICH und niemanden sonst! Und erst recht keine kleine Hobby-Möchtegern-Psychologin, die nicht nur ihre Arbeitsstätte zum Versuchslabor auserkoren hat sondern auch noch die Dreistigkeit besitzt, ihren Vorgesetzten, ihren VORGESETZTEN, mit ihren PSYCHO-Taschenspieler-Tricks zu belästigen, was laut meiner Kenntnis nicht zu ihrem Aufgabengebiet gehört. Aber warum rege ich mich überhaupt darüber auf? Wenn Sie ihren Arbeitsvertrag gründlich gelesen hätten, würden SIE vielleicht etwas verstehen: Ich bin der Leiter dieses Unternehmens und Sie meine Angestellte. Sie arbeiten mir zu, organisieren meine Termine und passen auf, dass niemand dieses Büro betritt, ohne sich bei mir angemeldet zu haben. Und ich führe diese Firma, ich habe dieses Unternehmen gegründet; ich diskutiere auf irgendwelchen Sitzungen mit mehr oder weniger freundlichen Kunden, ich treffe die großen Entscheidungen und ich zahle Ihnen am Monatsende Ihr Gehalt. Das ist meine Aufgabe und das ist Ihre Aufgabe, mehr nicht! Und wissen Sie, was das schlimmste daran ist? Sie benutzen dieses Wort, von dem Sie nicht mal im Ansatz wissen, was es bedeutet, um mir zusätzliche Arbeit zu übertragen, die SIE ohne Problem allein erledigen könnten – wenn Sie denn Lust hätten! Es geht Ihnen nicht um meine Person sondern um Ihre Kaffeepause, die Sie gern über den ganzen Tag ausdehnen würden, aber da muss ich Sie enttäuschen: ich lasse mir weder die Seele „analysieren“, noch sinnlose Arbeit aufdrängen, also reden Sie hier nicht dumm rum sondern machen Sie sich an die Arbeit!!!“, brülle ich und knalle den Hörer auf die Gabel. Diese Sentimentalität geht mir so auf die Nerven, besonders, wenn sie derart dahergeheuchelt ist! Niemand, NIEMAND kann mich verstehen. Und das ist gut so. Nur du, … ja… du,… du konntest mich verstehen. Du konntest in meine Seele hineinsehen. Du hast sie mit deinem Schlüssel geöffnet, als wäre es das einfachste der Welt. Nur du konntest mein Innerstes erkennen, und auch wenn es paradox klingt, ich wusste, dass du es niemals verbreiten würdest. Meine Seele blieb in deiner eingeschlossen und würde nie von irgendjemand anderem gesehen werden. Du hast sie beschützt. Du hast sie vor der Außenwelt geschützt. Du hast sie nicht ausgenutzt. Aber das ist lange her. So lange her …. Und ich bin immer noch in dir eingeschlossen - aber du bist weg. Du bist verschwunden und wirst nie mehr zurückkommen. Nie mehr. Nie mehr….Oh, langsam werde ich noch sentimental. Nein, das darf ich nicht! Ich muss dagegen ankämpfen! Ich kann es mir nicht leisten, auch nur für eine Sekunde weich zu werden! Aber … ich … ich kann es nicht. …. Aber ich muss! Ich muss es verdrängen! Wenn ich jetzt nachgebe, dann ist alles verloren. Es hat mich damals fast das Leben gekostet, und die KaibaCorp auch. Aber vor allem mich. Ich habe gelitten… NEIN! Mein Herz ist fast zersprungen… NEIN! Es, es war so …. Schrecklich, nur schrecklich! Ich habe keine Zeit für so etwas, ich muss ein Unternehmen leiten. Meine Firma, die KaibaCorp. Ich habe sie aufgebaut und will sie niemals untergehen sehen. Und dafür muss ich jeden Tag hart arbeiten. Jeden Tag. Und ich kann es mir nicht leisten, während der Arbeit auch nur für den Bruchteil einer Sekunde an etwas anderes zu denken. Aber aus irgendeinem Grund quälen mich die Gedanken. Was hast du nur mit mir gemacht? Klingeling! reißt mich das Telefon erneut aus meinen Gedanken. Sofort steigt die Wut wieder in mir hoch. Hatte ich dieser inkompetenten Person nicht gesagt, sie solle mich in Ruhe lassen? Versteht sie selbst solche einfachen Anweisungen nicht?, frage ich mich und hole tief Luft, um ihr ein letztes Mal laut und deutlich die Meinung zu sagen. Doch die Person am anderen Ende ist schneller: „Herr Kaiba, wie lange soll ich noch auf meine Stellungnahme warten?!“, schreit mich eine männliche Stimme an. Sie ist extrem laut und wenn ich nicht wüsste, dass es einer meiner wichtigsten Lieferer ist, würde ich zurückbrüllen, aber leider können die neuen Hologramm-Projektoren nicht ohne die Teile der Plastik OHG fertig gestellt werden. Also nehme ich den Atem, der eigentlich für meine Sekretärin bestimmt war, und puste ihn mit einem soweit wie möglich fröhlichen „Guten Morgen, Herr Kunststoff!“ aus. „Guten Morgen? Das nennen Sie einen guten Morgen?! Ich nenne so etwas Schlamperei! Seit vier Wochen warten wir nun schon auf die Bestätigung der Vertragsverlängerung und Sie haben sich immer noch nicht gemeldet! Wie lange soll ich noch warten?“, fragt er immer noch sehr aufgebracht. Er sollte aufpassen, dass er nicht irgendwann an einem Herzinfarkt stirbt, denke ich und antworte: „Es tut mir sehr leid, Herr Kunststoff, aber in den letzten Wochen hatten wir sehr viel zu tun. Die Änderung der Einfuhrbeschränkungen führte zu erheblichen Neuplanungen im gesamten Unternehmen. Wir konnten Ihnen bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht antworten.“, und das ist nicht gelogen. Es war wirklich eine harte Zeit: nur weil irgendwelche Politiker mit irgendwelchen Situationen, von denen sie sowieso keine Ahnung haben, nicht zufrieden sind, verschärfen sie einfach die Import-Vorschriften und wir haben die Probleme! „Aber Herr Kaiba, das verstehe ich sehr gut, aber verstehen Sie doch bitte auch uns: Sie sind unser wichtigster Kunde, wir verkaufen ihnen jährlich Millionen von Rohteilen, ohne Sie geraten wir in arge Zahlungsnöte.“, ist das mein Problem? „Herr Kunststoff, ich verstehe Sie sehr gut, das Schreiben wird morgen bei Ihnen sein.“, sind Sie jetzt beruhigt oder wollen Sie mich noch weiter belästigen, ich habe zu tun! „Sie haben sich verändert, Herr Kaiba. Früher musste ich auf Ihre Antworten nur wenige Tage warten, jetzt sind es vier Wochen. Sind Sie sicher, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist?“, jetzt fängt er auch noch an! Nur mit Mühe kann ich mich beherrschen. „Ja, Herr Kunststoff, es ist alles in Ordnung. Machen Sie sich keine Sorgen.“, sage ich und suche mit den Augen den Raum nach dem Ordner „Gutes Geschäftsdeutsch“ ab. Das wird wohl noch etwas dauern. Wenn der Alte erstmal anfängt hört er so schnell nicht wieder auf …. „Herr Kaiba, verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber Sie sind noch so jung, erst 21, und leiten schon so eine große Firma. Es ist völlig normal, dass Sie mal eine Pause brauchen. Kommen Sie, machen Sie eine Woche Urlaub und lassen Sie Ihren Vizechef, diesen … Yami Muto, die Geschäfte leiten. Er scheint sehr qualifiziert zu sein.“, ich brauche keinen Urlaub! Und eher sitzt Mokuba auf diesem Stuhl als dieser Besserwisser Yami Muto! „Herr Kunststoff, es ist wirklich alles in Ordnung. Ich brauche keine Pause. Belasten Sie sich nicht mit einer Person wie mir, kümmern sie sich lieber um Ihre Kinder, ihr Sohn liegt doch schon seit ein paar Wochen im Krankenhaus.“, versuche ich so gütig wie möglich, fast schon überfreundlich, vom Thema abzulenken. Hoffentlich erregt DAS bei ihm erst recht keine Sorgen. „Mein Sohn ist vor einem halben Jahr aus dem Krankenhaus entlassen worden, Herr Kaiba,“, Mist, das war nicht so gut, „Und es macht mir keine Umstände. Ich meine, ich kann Sie ja verstehen, zuerst die Aktien, dann die Steuerfahndung…“, jetzt platzt mir der Kragen! Ist Verstehen etwa das Wort des Tages oder warum hat jeder das Bedürfnis, mich zu verstehen? Ich bin wütend. Sehr wütend. Wie eine Supernova, die sich erst zusammenzieht und dann explodiert brülle ich ihn an: „Sagen Sie mal, haben Sie vielleicht bei meiner Sekretärin einen Hobby-Psychologie-Kurs absolviert? Die hat nämlich vor fünf Minuten exakt das Gleiche gesagt! Und ich werde Ihnen jetzt auch exakt das Gleiche sagen wie ihr zuvor: Maßen Sie sich nicht im Geringsten an, mich auch nur ein bisschen verstehen zu wollen, denn das werden sie niemals tun können! Ich bin Seto Kaiba, ich leite diese Firma, mehr müssen Sie nicht verstehen! Und selbst wenn ich jemanden bräuchte, der mich verstünde, würde ich sicher nicht Sie fragen und jetzt verschwenden Sie nicht noch mehr meine Zeit!“, krachend knalle ich den Hörer auf den Tisch. Das hat gereicht, hoffe ich. Und das tut es offenbar, denn eine ganze Weile höre ich nichts. Gar nichts. Keinen einzigen Ton. Bis er mit viel Mühe einen Rest Kraft zusammenkratzt und langsam, fast sterbend, ich bin ja so poetisch!, zwei kleine Sätze zu Stande bringt: „Bitte schicken Sie die Stellungnahme heute raus. Auf Wiedersehen, Seto.“, Auf Wiedersehen, Herr Seelenklempner, denke ich und lege den Hörer auf. Warum denken alle Leute, sie müssten sich um mich kümmern? Ich kann mich um mich selbst kümmern! Ich brauche niemanden, der mich bemitleidet, der meint er müsse etwas für mich tun. Nur du…, du wusstest, wann es mir schlecht geht, du hast es immer sofort gespürt. Du hast dann immer deinen Arm um mich gelegt, mir mit dem Zeigefinger über die Nase gestrichen und meine Wange geküsst. Und dann hast du immer gesagt: „Alles wird gut!“. Es klang mal mitfühlend-traurig, mal witzig-fröhlich, je nachdem. Aber es hatte immer so einen hoffnungsvoll-enthusiastischen Nachgeschmack. Und egal was, es wurde alles gut. Allein durch deine Nähe wurde alles gut. Aber jetzt bist du weg. Und mir geht es gut. Mir geht es hervorragend. Mir ging es nie besser! Und gerade weil es mir nie besser ging als jetzt, hebe ich den Hörer ab, um meiner Sekretärin nochmals klar und deutlich zu sagen, dass sie den Brief an die Plastik OHG schreiben soll. Doch am anderen Ende ist nur ein lautes Tuten zu hören. Wahrscheinlich telefoniert sie wieder mit ihrem Freund, denke ich. Während der Arbeitszeit! Genervt lege ich auf, checke meine Mails und probiere es erneut. Immer noch nichts. Schlimm genug, dass sie private Telefonate nicht lassen kann, jetzt verbringt sie damit auch noch Stunden. Sie ist wohl nicht ausgelastet, ich sollte ihr noch etwas mehr geben. Doch es nützt nichts, ich habe weder Zeit noch Lust noch auch nur einen Hauch von Laune. Du machst mich ganz sentimental! Ich vermisse dich. Fünf Minuten später probiere ich es zum dritten Mal. Wieder nichts. Ich habe es satt, mich darüber aufzuregen! Also bleibt mir nichts anders übrig, als mich selbst an die Arbeit zu machen. Ich nehme den dicken Aktenordner auf meinem Schreibtisch und lese das Schreiben, das meine Sekretärin draufgeheftet hat …. Sie wollen die Preise erhöhen, wegen gestiegener Transport- und Energiekosten … „Innerhalb des letzten Jahres ist der Benzinpreis um ein Drittel gestiegen, die Kosten für Strom und Wasser haben sich sogar verdoppelt. Deshalb ist der derzeit vereinbarte Preis aus unserer Sicht nicht haltbar…“ Zwanzig Prozent wolle sie mehr verlangen?! Glücklicherweise hat sie wenigstens eine Kostenrechnung erstellt! … Naja… Ich denke nach und rechne und überlege…. Nach einer Weile öffne ich genervt das Schreibprogramm und suche nach der passenden Vorlage. Mist, unser EDV-Mann muss sie alle gelöscht haben! Das kann doch nicht sein! Ich greife zum Hörer, doch dann fällt mir ein, dass seit der EDV-Tagung vor zwei Tagen die gesamte Mannschaft mit Grippe im Bett liegt. Das kann doch nicht wahr sein, heute ist echt nicht mein Tag! Dass ich hier auch alles allein machen muss! Doch es hilft nichts. Ich öffne ein Neues Dokument und denke nach. Was muss ich jetzt tun? Ich krame in meinem Gehirn und finde schließlich ein paar Notizen von der Manager-Schulung vor vier Jahren. Zuerst die Seitenränder einstellen: oben 4,5 cm, links 2,41 cm, rechts 1 cm und unten 2 cm. Danach in der ersten Zeile in Schriftgröße 8 die Adresse der KaibaCorp: Kaiba Coperation Tokyo Street 3 42517 Domino Dann in der nächsten Zeile in Schriftgröße 11 die Adresse der Plastik OHG: Plastik OHG Herrn Friedrich Kunststoff Polyethylenallee 15 10013 Malefiz In Zeile 18 der Betreff, fett formatiert: Stellungnahme zur Vertragsverlängerung Zwei Zeilen frei, danach die Anrede, eine Zeile frei, dann der Text: Sehr geehrter Herr Kunststoff, hiermit .. beantworte ich Ihre Stellungnahme … nein, Quatsch, beantworte ich Ihr Angebot zur Vertragsverlängerung und –änderung …. nein, das entspricht nicht dem Stil der KaibaCorp …. nehme ich Stellung …, nein, das geht irgendwie auch nicht … Mist! … Vielleicht sollte ich doch lieber die altmodische Variante wählen und den Text erst mal mit der Hand schreiben. Das ist eine gute Idee! Ich nehme das Stifte-Etui, das links neben meinem Stiftehalter liegt, und öffne es. Bedächtig nehme ich meinen Füller heraus. Er ist azurblau und hat als Verzierung einen eisblauen Drachen. Den Weißen Drachen mit eiskaltem Blick. Meinen Drachen. Mokuba hat ihn mir zu meiner Ernennung zum Firmenchef geschenkt. Auf den Griffel hat er eingravieren lassen: „Man sollte stets an sich arbeiten“, und den Deckel „Viel Erfolg“. Sehr schlicht, aber ich freue mich, wenn ich es lese, weil ich dann immer an seinen fröhlichen Blick denken muss. Er hat sich soviel Mühe gegeben und sich sehr gefreut, als er mir den Füller überreichte. Und wenn ich die dritte Zeile – natürlich nur heimlich - lese, läuft mir manchmal eine Träne aus dem Auge; er hat auf der Innenseite des Deckels nämlich selbst noch etwas eingeritzt: „Ich habe dich lieb. Mokuba“. Seine Handschrift ist krackelig, aber er hat es mit viel Liebe geschrieben. Ich wische mir die nächste Träne aus dem Auge. Ja, unsere Verbindung ist einzigartig. Ich passe auf ihn auf und er auf mich. Wenn ich Hilfe brauche, ist er immer da, und wenn er Hilfe braucht, ich meistens auch. Wir hatten nur uns und auch wenn wir irgendwann jemand anders finden werden, werden wir uns immer noch haben. Das Band zwischen uns ist unkaputtbar. Niemand kann es zerstören. Nicht mal du konntest es. Aber das wolltest du auch nicht. Du wolltest ihn nicht von seinem Platz in meinem Herzen verdrängen sondern friedlich neben ihm koexistieren. Doch dazu kam es nicht. Ich werde schon wieder sentimental. Wenn das so weitergeht, bin ich morgen noch nicht fertig! Aber heute scheint ein besonderer Tag zu sein. Ich nehme meine Füller und ein leicht gräuliches Blatt Papier. Das ist umweltfreundlicher und man hat nicht dieses erdrückende Weiß vor seinen Augen. Nachdem ich getestet habe, ob mein Füller auch schreibt, nehme ich einen großen Schluck Kaffee und schreite zur Tat: to be continued ... ich danke meiner Umwelt! Kapitel 2: 2. Moyen Age, 1. L'introduction ------------------------------------------ Kapitel 2 – Moyen Âge Kapitel 2.1 – L’Introduction Sehr geehrter Herr Kunststoff, ich nehme Stellung zu der beabsichtigten Vertragsänderung und –verlängerung. Ich bin sehr enttäuscht von dir (… Ihnen sehr dankbar). Trotz der schönen Zeit (… widrigen Umstände) war die Tragödie unaufhaltbar (…es uns immer möglich, die Preise stabil zu halten). Aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo wir Dinge verändern müssen. Ob wir nun gezwungen (… von Gesetzeswegen gezwungen) werden oder ob wir es freiwillig tun, weil uns die äußeren und inneren Umstände dazu treiben ( …weil wir die Existenz unseres Unternehmens nicht gefährden wollen), kommt irgendwann der Moment, in dem wir uns von alten Dingen ( … Ansichten) trennen und neue begrüßen müssen. Dieser Zeitpunkt ist, auch wenn ich es sehr bedauere, (…nun) gekommen. Ich habe gründlich (… unter Berücksichtigung aller möglichen Fakten) darüber nachgedacht und meinen Entschluss aufgrund folgender Argumente getroffen: Ich vermisse dich. Ich weis nicht, ob du das hören möchtest, aber vor ein paar Monaten, davon gehe ich aus, hättest du es gern gewusst. Wenn du es hören oder lesen könntest, würde es dich mit Sicherheit erfreuen. Ich vermute, nicht, weil es in dir ein positives Gefühl auslöste, mich leiden zu sehen. Nein, so ein Mensch warst du, davon gehe ich aus, nicht. Auch wenn du das andere Leute vielfach Glauben machen wolltest. Doch ich habe vor ein paar Monaten die harte Schale, die dich umgab, durchbrochen, genauso wie du meine durchbrochen hast. Ich habe DICH gesehen. Und es freute dich sicher zu hören, dass du jemandem doch etwas bedeutest. Du hast mir oft erzählt, dass es niemandem etwas ausmachte, wenn du einfach weg wärest, weil alle Menschen in dir nur den Dieb sähen, welcher ihnen etwas stiehlt. Aber ich habe dich kennengelernt und ich weis, dass du nur in einem Punkt Recht hattest: du bist ein Dieb. Du stiehlst den Leuten Gegenstände. Aber meistens sind sie ihnen gar nicht so wichtig, wie sie scheinen. In vielen Fällen sind sie nur sauer, weil du es gewagt hast, ihnen etwas zu tun, ohne das sie es wollten, egal ob es schlussendlich gut für sie war oder nicht. Aber so sind die Leute. Oberflächlich und teilweise unheimlich gefühlvoll. Sie fühlen alles, Wichtiges und Unwichtiges. Aber das weist du sicherlich, vermute ich, darüber haben wir oft geredet, damals. Damals… am Haus … mitten im Wald … auf einer Lichtung … es scheint mir heute sehr komisch, fast unglaubwürdig, wenn ich mich an unsere erste Begegnung erinnere. Es begann alles damit, mich Mokuba in den Urlaub schickte. Ja, das klingt witzig, und als du es zum ersten Mal hörtest, habe ich ein Grinsen in deinem Gesicht gesehen, aber es war nötig. Ich war total überarbeitet. Die Kaiba Cooperation ist mein Lebenswerk. Ich wollte und will sie keinesfalls verlieren. Und dafür arbeitete ich Tag und Nacht. Ich weis gar nicht mehr, wie es angefangen hatte, aber ich glaube es war das Zerplatzen der letzten Ausläufer der „Bubble“, der künstlich angetriebenen Wirtschaft. Auf einmal waren alle, Unternehmer, Kunden, Zulieferer, panisch und stürzten in die Krise. Auch die KaibaCorp hatte viele Probleme und nur mit viel Mühe konnte ich sie wieder aus den roten Zahlen retten. Mir wurde dabei bewusst, dass die KaibaCoorp immer auf in Gefahr sein würde, und dass wir nicht allein verantwortlich für das Unternehmen sind, sondern auch viele äußere Einflüsse, wie das neue Einfuhrgesetz. Alle unsere Arbeit würde irgendwann vergebens sein, dachte ich, und dieser Gedanken wird mir auch heute immer wieder bewusst. Aber ich bin kein Mensch, der resigniert, ich schreite lieber zur Tat und tue alles, um die Firma so gut wie möglich auf die nächste Krise vorzubereiten. Und deshalb arbeitete ich damals Tag und Nacht. Ich war morgens um sechs Uhr im Büro und habe es erst weit nach Mitternacht verlassen. Nebenbei habe ich mich noch um Mokuba gekümmert, mit ihm Hausaufgaben gemacht, er ist immer zu mir in die Firma gekommen, er ist sehr beliebt bei allen. Ich habe fast den ganzen Tag gearbeitet und am Anfang konnte ich meine Pause noch genießen; ich habe für fünf Minuten nicht an die Firma gedacht, es hat mich sogar interessiert, was in Yamis Clique passiert, ich war bestens informiert über Wheeler und seine zum Scheitern verurteilten Annäherungsversuche May gegenüber. Aber mit der Zeit verkürzten sich meine Pausen stetig. Ich habe das zuerst gar nicht realisiert, doch sie waren immer häufiger von den Gedanken an die Firma bestimmt. Ich konnte niemals abschalten, die Augen schließen. Immer öfter begannen selbst meine geschlossenen Lider zu flimmern. Ich konnte nicht mehr richtig schlafen, meistens bin ich nach der Arbeit noch eine Runde in den Stadtpark gegangen, in der Hoffnung, ich würde Ruhe finden, ich könnte die kühle Abendluft genießen. Aber sie war nicht mehr kühl, sie war genauso stickig wie die verbrauchte Luft im Büro. Das Rascheln der Blätter, welches mich als Kind sehr fasziniert hatte, wurde von dem Lärm in meinem Kopf übertönt. Die Fetzen der Gespräche, das Piepsen des Computers, das Rattern der Drucker und Kopierer, das mir bei der Arbeit fast lautlos vorkam, weil ich mich schon so sehr daran gewöhnt hatte, war, nach deren Ausschalten unheimlich laut und raubte mir den Schlaf. Am Anfang dachte ich, dies würde wieder verschwinden, ich wäre einfach nur etwas überarbeitet, aber es wurde immer schlimmer. Und während ich abends wach lag, hatte ich vormittags das Bedürfnis zu schlafen. Aber ich musste meine Firma retten! Der Gegensatz zwischen den Anforderungen und meinen Fähigkeiten wurde für mich immer unerträglicher. Aber am schlimmsten von alledem war das Licht. Ich hasste es: der Sonneaufgang, welcher mich aus dem wenn überhaupt leichten Schlaf riss und einen neuen, grausamen Tag ankündigte, die gleißende Mittagssonne, die mich blendete und mir die Konzentration raubte, der Sonnenuntergang, der mir anzeigte, es wäre Zeit zu schlafen, was ich nicht konnte! Und dann das künstliche Licht! Das war das schlimmste: die Lampen stachen mir in die Augen, das Flimmern des PCs war im ganzen Raum zu sehen, selbst wenn es dunkel war, all diese kleinen Lämpchen auf Anzeigen und so weiter leuchteten und leuchteten ständig. Sie sorgten dafür, dass es niemals Nacht wurde. Sogar im Winter, wo es ja schon sehr früh dunkel wird, war es hell. Aber nicht nur in meinem Büro, in der ganzen Stadt! Tausende Ampeln, Millionen von Straßenlaternen, Milliarden von Leuchtreklamen, alles. Ich versuchte, diese Bilder- und Lichterflut zu verdrängen, ich zog die Gardinen zu, ich schloss die Augen. Aber selbst dahinter konnte sie dringen. In der tiefsten Dunkelheit war alles hell erleuchtet. Ich bemerkte das, habe es aber nie richtig realisiert. Bis Mokuba eines Morgens in mein Büro kam und zu mir sagte: „Seto, so geht es nicht weiter! Du brauchst Urlaub! Du arbeitest den ganzen Tag und siehst total krank aus!“. Ich habe mich sehr gewundert, so erwachsen hatte er noch nie mit mir gesprochen. Aber er hatte Recht und fügte wieder normal hinzu: „Ich will nicht, dass du irgendwann so tot in der Ecke liegst wie mein Hamster!“ „Ok“, antwortete ich und ich fühlte mich erlöst. Es kam mir ein paar Minuten später sehr komisch vor, was ich in diesem Moment getan hatte. Es kommt sehr selten vor, dass ich Angelegenheiten so vorbehaltlos zustimme, besonders, wenn sie mein Bruder erklärt. Ich hielt ihn für naiv und traute ihm keine richtigen Entscheidungen zu. Vielleicht hatte mich Mokubas erwachsene Art zu sprechen dazu gebracht, redete ich mir ein. Heute, aus der Ferne betrachtet, weis ich, dass das nur der Anfang vieler Situationen war, in denen ich handelte und mich kurze Zeit später fragte, was ich da getan hatte. Aber innerhalb dieser fünf Minuten erfüllte ein Gedanke meine wirklich kranke Seele, dem ich nur zustimmen kann: Er sagt die Wahrheit. Und manchmal braucht es einen Anstoß von außen, weil man ihn sich selbst nicht geben kann. Es ist wirklich ungewöhnlich; ich habe so viele Entscheidungen von mir aus getroffen, ich habe so viele Hürden allein übersprungen, aber für diese brauchte ich Hilfe. Aber das war gut. Mokuba hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, dass ich so schnell zustimmen würde und antwortete verdattert: „Ja?“ und ich wiederholte meine Zustimmung: „Ja.“. Eine Stille trat ein und es war für mich sehr amüsant, sein Gesicht zu sehen: die Mundwinkel gerade, die Augen leicht aufgerissen, die Stirn in Falten. Das ist sein typischer Gesichtsausdruck, wenn er nicht weis, was er sagen soll. Egal, ob er mir mal wieder eine schlechte Note beichten will, ob ich ihn trotz Hausarrest beim Treffen mit seinen Freunden erwischt habe oder eben in solchen Situationen, wenn ich ihn mit meinen Reaktionen überrasche. Nachdem ich ihn eine Weile so dastehengelassen habe, fragte ich ihn belustigt: „Und, wohin willst du mich schicken, Herr Reiseleiter?“, denn ich ging davon aus, dass er sich darüber sicherlich Gedanken gemacht hatte. Wenn Mokuba mir in einem ähnlich ist, dann in diesem Punkt: was er macht, macht er richtig. „Äh .. ja natürlich …“, sagte er langsam aus seiner Verblüffung erwachend, „Wir haben ein Haus organisiert, mitten im Wald, total idyllisch. Weit und breit keiner, der dich bei deiner Entspannung stören wird!“. „Was?!“, antwortete ich leicht verärgert, „Ihr wollt mich in die Pampa schicken?“, ich hatte zwar mit nichts gerechnet, aber wiederum auch nicht mit einem verlassenen Häuschen mitten im Nirgendwo! „Nein, nicht in eine baumlose Grassteppe!“, sagte er lachend. Schule ist ja so schlimm!, „Dort sind ganz viele Bäume, alles ist sehr grün, hat Yamis Großvater gesagt!“ „Yamis Großvater? Was hat dieser schleimige Besserwisser damit zu tun?“, fragte ich sauer. Das ist jawohl die Höhe! „Ihm gehört das Haus.“, erwiderte Mokuba und bereitete den Hundblick vor. Das kann doch nicht sein! „Was will er dafür?“, fragte ich immer noch sauer. „Gar nichts, wirklich. Yami hat nur zufällig gesehen, dass es dir nicht gut geht, und da hat er mich gefragt, was los ist und da habe ich ihm erzählt, dass du nur noch arbeitest.“, erklärte Mokuba. Was geht es diesen besserwisserischen Schleimer an, wie es mir geht? „Schön Mokuba, hast du vielleicht dem Rest der Belegschaft auch schon davon erzählt?“, fragte ich nun etwas wütend und überlegte fieberhaft, was Yami wohl dazu bringen würde, seinen Großvater um das Ferienhaus zu bitten. „Seto, Yami will dir doch nur helfen, früher habt ihr euch doch immer so gut verstanden.“, versuchte Mokuba die Wogen zu glätten und da mir immer noch kein Grund eingefallen war, antwortete ich trocken: „Ich muss dich korrigieren: wir haben uns noch nie gut verstanden, ich war nur früher etwas weicher!“ „Aber Seto…“, erwiderte er. Mokuba ist manchmal so kindlich, so naiv … aber ist eben noch jung und leitet keine Firma, dachte ich und dann fiel mir ein: Firma leiten, natürlich, das ist es, das will Yami! „Mokuba,“, fragte ich, „Du hast doch sicher daran gedacht, die Prokura umtragen zu lassen?!“ „Was? Nein, habe ich nicht, warum sollte ich?“, wunderte er sich und schien nicht zu verstehen, was ich meinte. „Weil er während meiner Abwesenheit, die sicher mindestens eine Woche dauern wird, die absolute Macht über die KaibaCoorp hat! Er kann machen, was er will!“ „Aber Seto, er wird schon nichts Schlimmes machen! Außerdem hat er gar nicht die „absolute Macht“, das hast du mir doch gestern für die Schule erklärt, erinnerst du dich nicht mehr: als Prokurist darf Yami fast alles machen, Waren einkaufen, Waren verkaufen, Kredite aufnehmen usw. er darf nur keine Grundstücke verkaufen – aber was sollte es für einen Sinn haben, unsere Geschäftsgrundstücke zu verkaufen? Außerdem hast du ihn doch extra im Handelsregister eintragen lassen und Frau Salute hat gesagt, dass Behörden immer ganz lange brauchen…“ Mist, er hat Recht, aber der Gedanke, Yami an der Spitze MEINER Firma zu haben, gefällt mir trotzdem nicht! Wenn ich da bin, habe ich ihn wenigstens unter Kontrolle… überlegte ich und erwiderte schließlich geschlagen: „Gut, dann bleibt er eben Prokurist, aber du passt gut auf, dass er nichts macht, was ich nicht verlangt habe!“ „Toll Seto!“, sagte er und fügte schnell und fast beiläufig hinzu: “Du wirst übrigens morgen früh abreisen, die Koffer packen wir, du musst nichts machen, nur da sein! Und jetzt…“, er sah mich mit einem leichten Grinsen an und legte den Finger auf die Taste, mit der man den Computer herunterfahren kann, „wirst du Schluss machen und dich nur noch Yami widmen!“, er drückte die Taste nach unten. „Was?! Was machst du da?“, fragte ich verdutzt. Das ist jawohl die Höhe! Dass mich mein eigener Bruder quasi rausschmeißen will! Mal ganz abgesehen davon, dass er einfach eine Reise organisiert, ohne es mir auch nur anzukündigen!, dachte ich. Wenn ich damals nicht so am Boden gewesen wäre und mein Bruder vor mir gestanden hätte, ich weis nicht …. Auch wenn Du natürlich weist, dass ich ihm nichts getan hätte, aber in diesem Moment … „Du musst Yami noch erklären, was er machen muss, er kennt sich doch gar nicht so gut aus und du musst ihm zeigen, wo welche Ordner stehen!“, erklärte Mokuba ernst. „Mokuba, ich habe zu tun, ich habe noch einen Haufen Arbeit vor mir, ich habe keine Zeit für diesen Besserwisser!“, sagte ich laut. „Danke für das Kompliment!“, hörte ich plötzlich eine Stimme an der Tür. Yami! Dieser Schleimer! War ja klar! „Was machst du denn hier? Willst du mich eigenhändig aus meiner Firma schmeißen?“, fragte ich wütend. „Nein, das hatte ich nicht vor.“, meinte er beschwichtigend und ich traue ihm zu, dass das nur gespielt war, „ Kaiba, du denkst immer gleich das Schlechte…“ „Was in deinem Fall eindeutig berechtigt ist!“, dieser Typ bringt mich auf die Palme! „Kaiba, ich bin hier, weil Mokuba gesagt hat, dass du mir noch wolltest, womit ich mich in den nächsten Wochen beschäftigen soll. Meine letzte Vertretung ist doch schon länger her…“, erklärte er. „Glücklicherweise.“ „Kaiba, jetzt hör doch mal einen Moment auf, nur an mich zu denken, sieh dich doch mal an:“, er kam näher und beugte sich über den Tisch: „Du bist total überarbeitet. Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geguckt? Deine Augen“, er fuhr mir mit seinem Finger meine Augenhöhlen entlang, „sind total eingefallen, du siehst aus, als würdest du gleich umfallen. Und deine Lippen..“, er fuhr mir mit dem gleichen Finger über mein Lippen, erst oben, dann unten, „sind total spröde, merkst du das nicht? Und der Rest deines Körpers ist auch total ausgemergelt…“, ich sah ihm verblüfft in die Augen. Was machte er da? Wollte er mich demütigen, was das eine Anmache oder machte er sich womöglich wirklich Sorgen um mich? Eine Weile war ich sprachlos. Aber irgendwann hatte ich sie wieder gefunden und funkelte ihn böse an: „Fass mich nicht an! Heb dir die Fummelei für deine kleine Freundin auf!“. Yami sagte nichts und grinste mich nur an. Idiot! Das ist der Grund, weshalb ich ihn so hasse! Mokuba mochte diese gespannte Stimmung überhaupt nicht, er ist ein Mensch, der keine Konflikte mag, egal ob er involviert ist oder nicht, und er versucht immer, mit allen Mitteln sie zu verhindern: „Seto, Yami will dir doch nur helfen! Und jetzt genieß deinen letzten Arbeitstag – und ich will nichts hören, wenn ich draußen bin!!!“, sagte Mokuba und ging zur Tür. „Und denk daran: morgen um sechs geht es los!“ Ich sah Yami mit einem einschüchternden Blick an und verbrachte den Rest des Tages damit, ihm zu erklären, was er wo findet. Wie groß so ein Büro ist! Ich habe Dinge, Kulis, Akten gefunden, die ich schon längst verschollen glaubte! Es eröffnet doch ganz neue Ansichten, wenn man mal nicht alles selber macht. Yami war ein erstaunlich cleverer Mensch, er verstand und versteht schnell und viel. Mittlerweile ist unser Verhältnis besser, ich glaube, das habe ich auch dir zu verdanken, du hast mir die Augen geöffnet und mir klar gemacht, dass man jeden nicht gleich verurteilen soll. Irgendwann am Nachmittag waren wir dann fertig und Yami schaffte mich nach Hause. Ich habe erst vehement protestiert, ich dachte, dass war wieder einer dieser nicht ganz eindeutigen Annäherungsversuche, aber Mokuba überzeugte mich, dass er nur verhindern wollte, dass ich zurück in die Firma fuhr. Obwohl ich trotzdem denke, dass es Berechung war, denn wie der Zufall es wollte, hatte mein eigener, fürsorglicher Bruder keine Zeit, mich nach Hause zu bringen … Am nächsten Morgen wachte ich auf und hatte schon so ein komisches Gefühl. Ich wusste nicht, was mich erwartete, und wenn ich heute so darüber nachdenke, ich hätte nie gedacht, dass das passieren würde, was passiert ist. Dass ich dich treffe. Aber soweit bin ich noch nicht. Das ist auch eine Eigenschaft, die du mir hinterlassen hast: die Dinge nicht schnell abzuhandeln, sondern sie wirken zu lassen, sie zu genießen. Und ich hoffe, du genießt den Weg, den ich gehe, und der irgendwann auf dich trifft … Ich hatte jedenfalls keine Ahnung, ich wusste auch nicht viel, nur, dass es ein Haus im Wald war, dass man ein paar Minuten laufen muss, um es zu erreichen und dass dort weder fließend Wasser noch Strom vorhanden war. Es war also ganz abgeschieden. Einerseits freute ich mich darauf, einmal etwas anderes zu sehen, andererseits waren meine Gedanken immer noch bei Yami und meiner Firma. Würde er sie wirklich leiten können? Würde er sie leiten können, ohne mich zu hintergehen? Würde sich Mokuba allen versorgen können? Aber trotz dieser Fragen, die in meinem Kopf herumflogen, war ich fröhlich. Das Tageslicht war immer noch grell, aber ich konnte es leichter ertragen und der Lärm in meinen Ohren war auch leiser. Ich duschte und roch zum ersten Mal seit langem, dass mein Duschgel einen Duft hatte. Ich wusste nicht, welchen, aber es roch. Mokuba hatte mir Frühstück gemacht, sonst mache ich das immer für ihn. Er hatte mir eine große Schale Müsli mit Milch auf den Tisch gestellt, meine Lieblingsbrötchen – Wallnussbrötchen – vom Bäcker geholt und sogar Orangen frisch ausgepresst. Und das morgens um fünf! Um die Zeit träumt er sonst immer. Sehr erlebnisreich, ich höre ihn rufen. Aber das ist mein Bruder – der mich mit einem fröhlichen „Guten Morgen, Seto!!!“ begrüßte. „Guten Morgen!“, lächelte ich zurück und strubbelte ihm liebevoll durch seine Haare. Gemeinsam setzten wir uns an den Tisch, aßen und sprachen eine lange Zeit kein einziges Wort. Es war so still. Einfach still. Es war komisch, weil mein Bruder am Frühstückstisch sonst immer ohne Pause redet und mir erzählt, was er am Tag zuvor erlebt hat. Wer sich mit wem streitet, welche Lehrer er nicht leiden kann, welche Arbeiten heute geschrieben werden … Aber an diesem Morgen sagte er erstmal nichts. Vielleicht war er noch zu müde, oder er wollte mir den Morgen so angenehm wie möglich machen. Vielleicht fand er aber auch die Stimmung schön. Nach einer Weile, ich hatte gerade mein Müsli aufgegessen, fragte er dann vorsichtig: „Seto?“ „Ja?“, antwortete ich ruhig und irgendwie freudig. „Freust du dich schon?“ „Naja … tja …“, zögerte ich, „wenn ich nicht wüsste, dass meine Firma für die nächsten drei Tage in den Händen dieses schleimigen Besserwissers Yami Muto sein wird, unsere Auftragslage schwierig ist und der Mantel-Konzern mit seinen fünfzig Milliarden Yen immer noch nicht die die Pfoten von MEINEM Unternehmen lassen kann …“ „Seto, jetzt lenk nicht vom Thema ab! Yami schafft das schon! Also: mal abgesehen von all diesen Dingen, die sicher nicht passieren werden - freust du dich?“ „Naja .. die Fahrt … der Stau … aber wenn ich es mir recht überlege: ganz allein, niemand, der mich mit seinen ständigen Anrufen nervt, keine unfähige Sekretärin, kein Straßenlärm … ich glaube, ich freue mich.“ „Echt?“ „Ja.“ „Das ist schön, Seto.“ Ich lächelte ihn an und wir schwiegen wieder. Es kam mir damals so komisch vor, wie sehr sich mein Bruder um mich sorgte. Er machte sich wirklich Gedanken darüber, wie es mir ging. Ich denke, ich bin in diesem Moment langsam aus einem Schlaf erwacht, ohne, dass ich es wirklich realisierte. Nicht nur ich war für meinen Bruder verantwortlich sondern auch er für mich. Das war beruhigend. Ich hatte zwar vorher gewusst, dass unter der Kletterbrücke im Kindergarten nicht die unendliche Tiefe lauerte, aber erst in diesem Moment bemerkte ich, dass nur zwei Meter unter mir eine Sandgrube lag, die mich auffangen würde, wenn ich fiele. Aber wirklich loslassen, dass konnte ich damals noch nicht, das habe ich erst durch dich gelernt. Jedenfalls haben wir nach diesem kleinen Dialog wieder geschwiegen und uns angelächelt. Einfach nur angelächelt und kein einziges Wort mehr gesprochen. Es war ein schöner Morgen, der beste Morgen seit langem. Kein Laut war zu hören, kein Piepen irgendwelcher technischen Geräte, kein Telefonklingeln, nicht mal das Ticken der Uhr. Wir saßen einfach nur da und haben uns angelächelt. Mokuba hat sich so gefreut. Und ich habe mich gefreut. Ich hatte sogar richtig Appetit und habe alles aufgegessen. Er hat ganz große Augen gemacht. Bei dir war es ähnlich: wir haben auch dagesessen und uns angelächelt. Aber ich habe kaum einen Bissen heruntergekriegt. Du hast mich einfach so fasziniert, dass ich nichts essen konnte. Du hast mich nur durch deine Liebe ernährt. Komisch, damals konnte ich nichts essen, weil du DA warst, jetzt kann ich nichts essen, weil du NICHT DA bist. Ich vermisse dich. Irgendwann war es halb sechs und Mokuba stand auf, um meine Koffer zu holen. Ich zog meinen Mantel an und knöpfte ihn zu. Dann trafen wir uns in der Vorhalle und er gab mir ein Stück Papier. „Eine Zugfahrkarte?“, fragte ich verwundert. „Naja, wenn man eine Reise macht, muss man mit dem Zug fahren, das gehört dazu, Seto! Wenn wir mit der Klasse wegfahren, fahren wir auch immer mit dem Zug!“, erklärte mir mein kleiner Bruder. Kein Taxi, Mist. „So,“, fuhr er nach einer Weile fort, „Hast du auch wirklich alles? Den Koffer, das Zugticket und ein Handy für den Notfall, NOTFALL, Seto!“, ist mein Bruder wirklich noch so jung?, fragte ich mich. Er wirkte so alt … „Ja, habe ich“, erwiderte ich und umarmte ihn, „Mache keinen Unsinn, schreibe gute Noten und passe auf Yami auf, ok?“, sagte ich lächelnd. „Und du erhole dich gut!“, gab er zurück. Das war ein sehr emotionaler Moment. Ich hatte das Gefühl, weinen zu müssen, aber ich tat es nicht. Mokuba umso mehr. Schon seine Umarmung war so fest, dass er mich fast erdrückt hätte. In ihr waren seine ganze Hoffnung, seine Freude und sein Schmerz vereint, und als er nach einigen Minuten seinen Kopf von meinem Mantel löste, hinterließ er einen großen, nassen Fleck. Man sieht ihn heute noch, das Salz in seinen Tränen hat die Farbe etwas verblassen lassen. Damals habe ich meine Gefühle in einer kleinen Schatulle eingeschlossen und versucht, mir nicht viel anmerken zu lassen, aber durch dich sind sie alle nach draußen geflogen und aus heutiger Sicht betrachtet war es einer der schönsten Momente meines Lebens. Eine Umarmung kann soviel sein und stellt zwischen zwei Menschen eine Vereinigung her, ohne, dass sie wirklich vereint sein müssen. Es gibt viele Arten sich zu vereinigen, aber ich glaube, die Umarmung ist von all diesen Arten die universellste und gleichzeitig die gefühlvollste. Und für mich war jede Vereinigung mit dir, ganz gleich welcher Art, wunderschön. Kapitel 3: 2 Moyen Age, 2. Le trajet ------------------------------------ So, das erste Dritte geht los! Die französischen Titel sind tw. nur Wort-für-Wort Übersetzugnen aus dem WB, also nicht böse sein. Viel Spaß beim lesen! Kapitel 2.2 – Le trajet Ich fuhr mit der Straßenbahn zum Bahnhof und wartete. Warten – ich hasste Warten – auch wenn ich das heute anders sehe, damals war es eine Qual für mich. Da verschwendet man nur sinnlos Zeit, dachte ich. In diesen fünf, zehn, zwanzig Minuten könnte man soviel machen – telefonieren, eine Akte lesen, ein Antwortschreiben verfassen … Und was tut man stattdessen – man wendet sich sinnlosen Freizeitbeschäftigungen zu: Bücher lesen – habe ich Zeit dafür? – Musik hören – habe ich Zeit dafür?, Leute beobachten – muss ich mir das Elend von heute angucken?. Mir kam das alles so unnütz vor. Erst als ich in den Zug stieg, realisierte ich langsam die Menschen, das Umfeld, und mit ihm, auf was ich mich da eingelassen hatte. Wann war ich das letzte Mal mit dem Zug gefahren? Ich konnte mich nicht erinnern. Der Zug war ziemlich voll, viele Familien schienen in den Urlaub zu fahren, klar, es war ja Freitag, wie ich jetzt bemerkte. Schön! Trotz langer Suche fand ich keinen Einzelplatz, nirgendwo hatte ich meine Ruhe, überall wurde gequengelt, geschrieen, gebrüllt, da hätte ich auch gleich in Domino bleiben können! Und so blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf einen Platz am Fenster zu setzen und mich möglichst von allem abzuschotten. Routiniert kramte ich in meiner Manteltasche, in der ich normalerweise immer mein Handy aufbewahre. Die Aufnahme der Vorstandssitzung von letzter Woche würde hoffentlich das BÄH! WÄH! ÄH! der anderen Menschen übertönen. Ich zog mein Handy aus der Tasche, und öffnete das Menu „Medien“ – aber – der Ordner war leer! Für einen Moment war ich wie erstarrt. Was war passiert?! Hatte ich womöglich meine gesamten Aufnahmen gelöscht?! Nein, ich mache so etwas nicht – nicht ICH! Panisch durchsuchte ich das ganze Handy, aber nirgendwo fand ich etwas! Was war hier los?! Hatte Yami gestern heimlich die Handys ausgetauscht? Nein, ich habe gestern Abend noch mit Frau Pevauzee telefoniert! Hatte ich heute Morgen in meiner auslassenden Stimmung voller Freude und ohne Nachzudenken den kompletten Handyspeicher gelöscht?! Nein, ich mache NIE etwas ohne Nachzudenken, ich habe immer die Kontrolle über mich, ich mache keine Fehler, ich lösche nicht den Speicher meines Handys! Aber was dann?! Was, wenn plötzlich alle meine Daten verschwunden sind?! Die Sicherheitskopie liegt auf meinem Laptop in meiner Villa! Weit weg von hier! Ich bin verloren! Meine Geschäftskontakte, alle Aufnahmen, alle SMS – wie soll ich nur ohne dieses Gerät überleben? Ich war äußerlich zwar äußerst gefasst, aber innerlich total aufgewühlt. Meine Erlösung bzw. des Rätsels Lösung fand ich in einer kleinen SMS, die mit einem leisen Flötensolo ankam: „Hallo Seto, tut mir leid, dass ich deine SIM-Karte ausgetauscht habe, aber ich weis doch, dass du sonst nur arbeiten würdest. Schöne Ferien! Dein kleiner Bruder Mokuba.“ NEIN! Das kann doch nicht sein! Mein eigener Bruder! Ich kann ja verstehen, dass er will, dass ich meine Ruhe habe, aber deswegen kann er mich doch nicht von der modernen Zivilisation abschotten!! Denkt er etwa, nur weil er mein kleiner Bruder ist, könnte er sich so etwas erlauben? (obwohl ich natürlich innerlich wusste, dass er das nicht nur denkt, sondern auch weis). Wütend knautschte ich meinen Mantel zusammen, was leider auch dem kleinen Mädchen mir gegenüber auffiel. Und wie kleine, nervige Kinder sind, hat sie nach meinem Mantel gegriffen, ihn auseinander gezogen und zusammengedreht und auseinander gezogen und zusammengedreht, als hätte sie sonst keine Beschäftigung! Das war zuviel: „Pfoten weg!“, brüllte ich sie an – doch anstatt aufzuhören, sah sie mich erst mit großen Augen an und fing dann an zu schreien. WÄH! Ich wollte sie auch anschreien, was ihr einfalle, meinen schönen, selbst erarbeiteten Mantel zu beschädigen, doch der Blick ihrer Mutter verhinderte das. Sie erinnerte mich an Herrn Kunststoff: sehr dick, sehr groß, ihre Erscheinung war wirklich, selbst für mich, beängstigend und wenn ich auch nur einen Ton gesagt hätte, wäre ich vermutlich nicht lebend aus dem Zug gekommen. Und so ging die ganze Zugfahrt weiter: umringt von nervigen Kindern und ihren überforderten Eltern, die es nicht schafften, diese kleinen Nervensägen ruhig zu halten, die Akten, die ich mir mitgenommen hatte, um zu arbeiten, und die in einem Geheimfach in meinen KOFFER lagen, welcher zurzeit auf dem Gepäckfach über mir lag, die Tatsache, dass es ohnehin viel zu laut war, um auch nur eine Zeile zu lesen, die Natur, die eintönig an mir vorbei trödelte, nur flaches Land, Felder, Himmel, weiße Häuser mit roten Dächern, kaputte Bahnhöfe, nichts, gar nichts. Es war einfach nur schrecklich! Der Wendepunkt kam als ich gerade genervt über die ausweglose Situation die Augen verdrehte. Dabei entdeckte ich plötzlich, in all dem Getümmel, ein Wort: Meister-Dieb. Es stand auf einer Zeitung, die der Mann schräg gegenüber las. Ein Meister-Dieb, ein MEISTER-Dieb, was machen die schon wieder für einen Trouble! Der Meisterdieb ist doch in Wirklichkeit nur ein winziger Kleinkrimineller, dachte ich. Der einzige, der den Begriff Meister wirklich verdient hat, bin ich! Aber trotzdem reizte mich die Schlagzeile und etwas Sinnvolles zu tun hatte ich auch nicht. Also las ich sie: Meister-Dieb schlägt wieder zu! In der gestrigen Nacht hat der mysteriöse Einbrecher, der seit Wochen Domino terrorisiert, erneut zugeschlagen. Der Täter brach in die Villa der Familie Graf T. von W. im Süden der Stadt ein und stahl Schmuck und Geld im Wert von mehreren tausend Euro. „Er, er hat mir die Kette meiner Großmutter gestohlen. Sie war ein Erbstück!“, berichtet Frau Gräfin W. von T. stockend unter Tränen. Auch ihr Mann, Graf T. von W. ist erschüttert: „Das isst sischer das Werg des Wäisn Keenischs“. Der 73-jährige, der mehrere bedeutende Gemälde wie den „Bill“ von Tokio Hotel oder die „La!“ von Fee besitzt und einige seiner Werke vor kurzem in der Einkaufsgalerie „Am Zentrum“ ausstellte, hat auf die Ergreifung des Täters ein Kopfgeld von einem Euro ausgesetzt. Doch wer ist dieser äußerst mysteriöse Dieb? Viel ist nicht bekannt über das geheimnisvolle Wesen. Einige Zeugen berichteten, es habe weiße Haare. Deshalb gab die Polizei dem Täter den Namen Weißer König. Außerdem hinterlässt er am Tatort immer eine Krone aus Sand. Trotz zahlreicher Hinweise aus der Bevölkerung tappt die Polizei noch immer im Dunkeln. „Das Problem ist, dass der Weiße König kein typisches Opferschema aufweist, er bricht nicht nur bei vermögenden Leuten ein, sodass man hinter ihm einen modernen Robin Hood vermuten könnte, sondern bestiehlt selbst die Ärmsten der Armen.“, erklärt Polizeihauptkommissar Takagi ratlos und sein Kollege Mori ergänzt: „Wir können die Bevölkerung nur warnen: Verschließen Sie Türen und Fenster, verstecken Sie Ihre Wertsachen und vor allem: bewahren Sie Ruhe! Der Täter könnte bewaffnet sein, wir wissen nicht, ob er als nächstes nicht einen Menschen tötet! Wenn Sie ihn sehen, verhalten Sie sich unauffällig. Ein Menschenleben ist mehr wert als so ein Schnickschnack!“. Trotz dieser beruhigenden Worte bricht langsam Panik in der Bevölkerung aus. Uns erreichten schon tausende Briefe verzweifelter Bürger. Deshalb: Wenn Sie wissen, wer der Täter ist, dann rufen sie unter der unten genannten Nummer der städtischen Polizei an. Die Presse ist unmöglich. Da raubt irgendso ein Typ ein paar Häuser aus und schon ist die ganze Stadt in Aufruhr! Der Aktienkurs meiner Firma, der sollte Aufruhr verursachen, aber so ein kleiner Dieb?! Der ist doch in Wirklichkeit ein kleines armes Würstchen, das durch seine Taten Aufmerksamkeit erringen will! Und außerdem: soll er doch machen was er will, was interessiert mich das Unglück anderer Leute? Kann ich etwas dafür, wenn sie unfähig sind, auf ihren Wertsachen aufzupassen? Nein! Das sind doch alles nur Angeber! Haben nie gearbeitet, aber bekommen Weinkrämpfe, wenn man ihnen ihr Geld oder ihre „Wertsachen“ klaut! Das ist total übertrieben! Gut, dass kein kleiner Dieb meine Firma klauen kann, dachte ich und obwohl mich diese ganze Sache überhaupt nicht interessierte, reizte sie mich irgendwie, ich weis auch nicht warum. Manche Leute würden es Schicksal nennen, aber ich fand es nur anziehend. Ich hatte sowieso nichts anderes zu tun. Wenn man sechs Stunden durch die Pampa fährt und an jedem Wald- und Wiesenbahnhof hält, was soll man da auch machen, als sich an irgendwelchen sinnlosen Dingen festzuhalten? Wobei sich dieses Ding als gar nicht so sinnlos herausstellte … Die Fahrt dauerte ewig und als ich am Bahnhof angekommen war, stand ich erst einmal im Wald. Sinnbildlich und wirklich, denn der Bahnhof war nicht nur alt sondern auch verlassen. Der Putz bröckelte von den Wänden und im Schalterhäuschen war vermutlich vor Jahrzehnten das letzte Mal jemand gewesen. Als ich aus dem Bahnhof trat, folgte der nächste Schock: es war keine einzige Straße zu sehen. Nur ein kleiner Weg führte irgendwohin. Aber um mich herum nur Bäume. Überall. Schön, wie soll ich von hier bitte zur Villa kommen?, fragte ich mich. Es gab eigentlich nur zwei Wege nach draußen: Bahnschiene links, Bahnschiene rechts. Ich wählte den dritten und so musste ich erstmal durch den Wald laufen. Mokuba hatte mir glücklicherweise eine Karte gegeben, sonst hätte ich mich verirrt. Aber ein paar Minuten waren das sicher nicht! Und schon nach wenigen Metern war mir klar, dass das ganz sicher kein Erholungsurlaub sondern die schlimmste Zeit meines Lebens werden würde: es war ja schön genug, dass ich mit meinem Trolley über die erdigen Waldwege voller kleiner Hügel und Löcher und Zweigen, die sich in den Rädern meines Koffers verfingen, laufen musste, und das stundenlang. Und dass monoton nur grünes Gras, grüne Bäume, grünes Moos, braune Wege, graue Steine und schwarze Vögel und bunte Vögel zu sehen waren. Aber dass ich dann so schnell und so schmerzhaft mit der Natur Bekanntschaft machen musste, war zuviel: Ich lief gerade an einem Bach entlang und dachte darüber nach, welche meiner Akten ich als erstes bearbeiten sollte, als ich plötzlich stolperte und hinfiel. Meine Nase berührte unsanft den dreckigen Waldboden, ich musste husten. Aber das war noch nicht alles: zu allem Überfluss sprang mein Koffer auf und der Wind, der hier mitten in der Pampa wehte wie er wollte, pustete meine wichtigen Unterlagen einfach weg! Was fiel diesem blöden Wind ein, meine Blätter durch die Luft zu wirbeln? Das waren wichtige Geschäftsunterlagen! Doch das war noch nicht der Höhepunkt; wie ein Verkäufer, der sein Warenpaket zusammenstellt und im vermeintlichen Wohle des Kunden immer mehr hineinpackt, wollte die Natur mir noch einen Gefallen tun und so wehte der Wind meine Blätter direkt in den Bach, der sie durchnässte und wegtrieb. Ich versuchte noch, sie zu retten, sprang hinein, aber sie rutschten mir immer wieder aus der Hand! Mir gelang es zwar, einige doch noch zu fangen, aber bei ihnen war die Tinte verlaufen! Billigqualität! Ich griff immer und immer wieder danach, aber nach vielen erfolglosen Versuchen musste ich schließlich realisieren, dass es keinen Sinn hatte. Keuchend stieg ich aus dem Wasser, um meinen Weg fortzusetzen. Da lief ich nun, total durchnässt, mit Schlamm bespritzt, die Haare zerzaust, mit einem kaputten Koffer und Schmutz im Gesicht! Toll! Aber es half nichts. Ich wundere mich, warum ich in diesem Moment nicht auf die Idee kam, mein Handy aus der anderen Manteltasche zu kramen und Mokuba anzurufen, damit er mir ein Taxi schickt, dass mich so schnell wie möglich wieder nach Hause bringt. Vielleicht hatte ich den Wald, die Ruhe, schon nach diesen wenigen Minuten lieben gelernt, auch wenn mir das zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht klar war. Aber wenn ich heute daran zurückdenke, löst schon diese Szene in meinem Kopf ein tiefes Wohlbefinden in mir aus. Vielleicht liegt es aber auch in Erwartung dessen, was kommen wird. Vermutlich eine Mischung aus beidem. Das tiefe Glücksgefühl beim Anblick der ewiggrünen Bäume und Sträucher war aber, als ich wie ein Häufchen Elend, nein, wie ein feuerspuckender Drache, den kleinen Wanderweg entlanglief, überhaupt nicht vorhanden. Ganz im Gegenteil: auf meinem stundenlangen Irrweg durch den scheinbar unendlich tiefen Wald habe ich einige Sträucher, Pflanzen und Tiere abgerissen, plattgetreten, weggeschossen. Was nicht passt, wird passend gemacht, dachte ich. Wenn die Natur so gemein ist und mich all diese Qualen durchleiden lässt, dann soll sie auch die Konsequenzen tragen! Der Mensch ist die höchstentwickelte Spezies und herrscht über die Natur! Und im Gegensatz zu mir arbeitet die Natur nicht stundenlang in irgendwelchen Büros, also hat sie mir gefälligst zu gehorchen! Kapitel 4: 2. Moyen Age, 3. La première nuit a la Villa ------------------------------------------------------- Das erste Aufeinandertreffen der Zukünftig-Liebenden'! Kapitel 2.3 – La première nuit a la Villa Ich weis nicht mehr, wie lange dieser Weg gedauert hat, da ich irgendwie meine Uhr verloren hatte. Erst als mir die Sonne auf den Kopf brannte, realisierte ich, dass es schon nach Mittag sein musste. Und noch immer war weit und breit kein Haus zu sehen. So irrte ich weiter. Als die Sonne langsam anfing milder zu werden und sich der Tag dem Ende näherte, fand ich endlich auf einer Lichtung eine kleine Villa. Sie war etwas verfallen und stammte vermutlich aus dem 19. Jahrhundert. Der gelbe Putz war mit einem grauen Schleier überzogen und in den schmutzigen Fenstern brach sich das Licht. Ich blieb kurz stehen und betrachtete das Haus. Es wirkte komisch. Trotz seinem verblichenem Äußeren schien es sich in seine lebendig-grüne Umgebung einzufügen. Nicht wie ein Wolkenkratzer umringt von Alleen. Sondern … wie zwei Seelen, die im Einklang sind. Ich war überwältigt. Obwohl meine Wut immer noch sehr groß war. Vorsichtig betrat ich den Garten. Er war nicht durch einen Zaun von seiner Umwelt getrennt, sondern ging nahtlos in sie über. Vermutlich war er früher nur wenige Meter groß gewesen und hatte sich dann ungehindert ausgebreitet. Kein Stein lag ihn im Weg. Ich war verwundert und beängstigt zugleich. Nichts schützte die Bewohner vor den Tieren oder den Menschen, die hierher kamen. Als sollten sich ihre Gedanken frei entfalten können. Vorsichtig ging ich die steinerne Treppe hinauf und betrat die kleine Veranda. Auch sie war seit Jahren nicht mehr benutzt worden, die Möbel waren alt und mit einer dicken Staubschicht überzogen. Die Rollen meines Koffers hinterließen ihre Spuren. Ich suchte in meinen Manteltaschen nach dem Schlüssel, doch ich fand ihn nicht. Mokuba hatte auch nichts davon gesagt… Was hatte das zu bedeuten? Ich öffnete meinen Koffer, der ja eigentlich schon offen war, und räumte ihn aus. Dabei sah ich auch gleich, was Mokuba mir eingepackt hatte: ein paar Hemden, ein paar Hosen, ein Paar Hausschuhe, Handtücher, eine Tüte mit Obst und Gemüse. Mehr nicht – keine Uhr, kein Radio, nicht mal ein Akkuladegerät für mein Handy! Immerhin hatte er an Zahnputzzeug gedacht! Aber mehr war da nicht. Auch kein Schlüssel! Ich wurde langsam verzweifelt. Wie soll ich ohne Schlüssel in ein Haus kommen?, fragte ich mich und stand eine Weile ratlos vor der Tür. Irgendwann fiel mir dann ein, dass Leute ihren Haustürschlüssel meist unter der Fußmatte, im Blumentopf oder in einem kleinen Geheimfach aufbewahren. Ich sah mich um und stellte fest, dass keine der drei Möglichkeiten zutraf: eine Fußmatte war nicht da, die Blumentöpfe befanden sich vermutlich im Garten in der Erde und von einem Geheimfach war nichts zu sehen! Genervt lehnte ich mich mit dem Kopf gegen die Tür – und plötzlich ging sie auf! Endlich! Ich bin im Haus! ICH BIN IM HAUS! Meine Freude war für wenige Sekunden grenzenlos - bis ich realisierte, dass man ein Haus ohne Schlüssel schlecht abschließen kann. Ich war den Gefahren hier draußen schutzlos ausgeliefert. Wenn tatsächlich jemand kommen würde, könnte ich mich nicht im Haus einschließen, eine Bande Krimineller, Penner, spielende Kinder, jeder konnte ungehindert in mein Haus eindringen! Aber es dämmerte schon und so war ich letztendlich glücklich, nicht draußen, in der Wildnis, übernachten zu müssen. Das wäre mein Untergang gewesen! Ich nahm meine Sachen und ging ins Haus. Ein grauer Schleier lag in der Luft, überall waren Spinnenweben. Es war komisch. Die Möbel waren alt, in jeder Ecke lag die Vergangenheit. Ich war offensichtlich im Wohnzimmer, ein Sofa stand in der Mitte des Raumes, ein Tisch mit vier Stühlen auf der rechten Seite. Einige Sessel standen quer herum. Irgendjemand musste sie verrückt haben, dachte ich, sie stehen frei im Raum, ohne Bezug zueinander. Alles war so einfach gehalten, keiner hatte sich die Mühe gemacht, Bilder aufzuhängen oder Lampen aufzustellen, Irgendetwas. Es waren auch keine Gardinen an den Fenstern, das Licht fiel ungehindert hindurch. Ich war sprachlos. Verwundert ging ich weiter, die Treppe hinauf. Das Geländer war abgebrochen und ich hatte bei jeder Stufe Angst, dass sie unter dem Gewicht meines Koffers und mir zusammenbrechen würde. Aber das tat sie nicht. So kam ich in einen kleinen Flur, von dem nach links und rechts jeweils zwei Zimmer abgingen. Ich betrat das erste. Es war offensichtlich ein Kinder- oder Gästezimmer; es hatte nur ein Bett mit einer schmutzigen, kaputten Matratze, einen Tisch einschließlich Stuhl und einen großen Schrank. Mehr nicht. Das zweite Zimmer war größer und wirkte trotz der Staubschicht komfortabler eingerichtet: ein großes Doppelbett mit einem kitschigen Himmel, ich hasse das!, dessen Vorhänge fehlten, auf jeder Seite eine Kommode, ein Arbeitstisch und ein Schrank, alles aus Holz. Überhaupt, das ganze Haus war, mit Ausnahme des Sofas, anscheinend aus Holz. Aus Natur. Das dritte Zimmer beinhaltete früher ein Atelier, die Staffelei stand neben dem Fenster, eine Mischpalette mit eingetrockneter Farbe lag auf dem Boden, die im Raum verstreuten Blätter verblichen. Wenn ich die Zeit fände, sähe ich sie durch, dachte ich. Zu diesem Zeitpunkt wollte ich noch nicht realisieren, dass ich in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten weder arbeiten noch etwas Ähnliches tun würde. Das vierte Zimmer war genau wie das erste, das ihm gegenüberlag, ein Gästezimmer, es sah nicht anders aus. Alles war komisch; in den Zimmern schien kein Leben zu sein, alles wirkte verlassen, was war das? Und eine Küche oder ein Badezimmer waren auch nicht da, sie müssen unten sein, dachte ich und lief unter dem Rattern meines Koffers die Treppe hinunter. Leichte Panik überfiel mich: was sollte ich ohne Kühlschrank, Herd oder eine andere Feuerstelle tun? Wie sollte ich überleben? Glücklicherweise fand ich im Erdgeschoss eine Tür, die in einen weiteren Raum führte. In ihm befanden sich nur ein Ofen und ein Waschbecken. Das war vermutlich die Küche. DAS war vermutlich die KÜCHE! Ein alter Ofen, kein Geschirrspüler, kein Kühlschrank, nicht mal ein Abfluss! Eine Mischung aus Wut und Verzweiflung überfiel mich: wie sollte ich es hier nur aushalten? Ich hatte nicht viel erwartet, keinen Luxus-Freezer, keine Mikrowelle oder einen Wasserkocher, aber der Lebenstandart in diesem Haus war nicht niedrig, er war auf dem Tiefpunkt, es gab noch nicht mal ein Bad, wie ich zwischenzeitlich feststellte. Nur ein Brunnen mit Pumpe und ein Plumpsklo im Garten! Bin ich hier im Mittelalter?, fragte ich mich. Für einen kurzen Moment dachte ich daran, wieder nach Hause zu laufen, aber diesen Gedanken verwarf ich; die Sonne war schon fast untergegangen, und wenn ich hierhin schon Stunden gebraucht hatte, würde ich vermutlich Tage brauchen, um wieder wegzukommen. Mir blieb nichts anderes übrig, als mit der Situation so gut wie möglich umzugehen, ändern könnte ich sie vor morgen früh sowieso nicht. Also ging ich ins Wohnzimmer, stellte meinen Koffer ab und setzte mich aufs Sofa. Die Federn knarrten laut, es hatte wohl lange keiner mehr darauf gesessen. Aber das war mir egal. Ich setzte mich und atmete die Luft ein. Sie war alt und voller Staub, aber ruhig. Ruhig. Erst jetzt fiel mir auf, dass es im ganzen Haus still war. Nur das Knattern meines Koffers war zu hören gewesen, aber jetzt war es still. Kein Laut drang von irgendwo her. Auch aus mir kam kein einziger Ton. Das Rattern des Kopierers, das Getuschel meiner Mitarbeiter, das Piepsen des Computers, all das war weg. Ich schloss die Augen und genoss die Stille. Sie war wunderschön. Ich atmete tief ein und aus und ein und aus und ein und aus und irgendwann …. wachte ich auf. Ich musste eingeschlafen sein, denn es war dunkel. Routiniert griff ich nach meinem Wecker, um zu sehen, wie spät es ist, aber es war keiner da! Panik stieg in mir hoch. Ich fühlte mich plötzlich sehr allein. Es war keiner da. Zum ersten Mal hatte ich wirklich Angst. Komisch, dass mir etwas, nach dem ich mich so sehr sehnte, plötzlich als Bedrohung erschien. Was würde passieren, wenn tatsächlich jemand hierher kam? Was sollte ich tun? Ich hatte niemanden und mein Handy würde mir auch nichts nützen, so tief, wie ich offensichtlich im Wald war. Ich versuchte mich zu beruhigen, aber es gelang mir nicht, egal, was ich dachte. Wer auch immer kommen würde, ich könnte ihn mit ein paar Tritten außer Gefecht setzen, ich bin groß und kräftig – aber in der Dunkelheit, wenn ich nichts sah? Es würde niemand herkommen, wer sollte sich in so eine verlassene Gegend verirren? – Gerade weil es so eine verlassene Gegend ist, wäre das ein idealer Ort, um sich zu verstecken – und hier würde auch niemand mein Leiche finden, wenn … Soweit wollte ich gar nicht denken! Ich hätte nie gedacht, dass die Dunkelheit mir soviel Angst machen könnte. Mein Herz schlug wie wild, mein Atem schnell, ich zitterte am ganzen Körper, ich hatte das Gefühl, rausrennen, flüchten zu müssen, aber meine Augenlider waren anderer Meinung. Obwohl ich total panisch war, musste ich plötzlich herzhaft gähnen. Wann war mir das zum letzten Mal passiert? Sonst spürte ich immer nur die bleierne Müdigkeit, aber gegähnt hatte ich seit Wochen nicht mehr. Und wieder etwas neues, das ich noch nicht kannte. Ich konnte wirklich müde werden! Dennoch war meine Angst stark. Erschöpft und gleichzeitig wach griff ich in meine Manteltasche und fühlte etwas. Ja, es war da, ich hatte es nicht verloren, das einzige, was mir von meinem „alten Leben“ blieb: ein Foto von Mokuba, meinem Bruder. Ich zog es heraus und drückte es an mein Herz. Ich weis nicht, warum ich auf einmal das Gefühl hatte, es tun zu müssen, aber es beruhigte mich. Es war, als läge Mokuba neben mir. Genauso wie er sich immer in mich kuschelt, wenn er sich bei Gewitter oder nach einem Alptraum fürchtet. Nur war diesmal ich der, der sich fürchtete. Am nächsten Morgen wachte ich auf. Die Sonnenstrahlen blinzelten durch die Fenster und wärmten sanft meine geschlossenen Lider. Eine kühle Luft zog durch das Haus. Ich atmete die Frische und genoss es. Ich fühlte mich gut. Mein Körper war völlig entspannt und weich. Als hätte mich mein Masseurin durchgeknetet. Ich schwebte scheinbar in der Schwerelosigkeit des Morgens. Kein Ton war zu hören, es war ruhig; die Stille, die mir gestern Angst gemacht hatte, war heute schön und angenehm. Ich atmete ein – und atmete aus – und atmete ein – und atmete aus. Ich hob mein rechtes Bein und streckte es in die Luft. Es ging so einfach, nichts schien es nach unten zu ziehen. Ich nahm mein linkes Bein und streckte auch es in die Luft. Und wieder ging es ganz leicht. Dann nahm ich meine Arme und bewegte auch sie in jede erdenkliche Richtung. Nach links und rechts und oben und unten. Ich fuhr in der Luft Rad, ich wedelte mit Händen, ich lies mein Zehen auf einem unsichtbaren Klavier spielen. Ich glaube, ich habe in diesem Moment all die Sportübungen, die ich früher so hasste, mit viel Freude ausgeführt und wenn ich mir das heute vorstelle, muss ich lachen. Es hat echt lustig ausgesehen. Und es war so leicht, so einfach, ohne Widerstand. Anders als zu Hause. Dort war jede Bewegung eine Qual für mich. Meine Knochen waren schwer und hielten sich verkrampft an der Matratze fest. Fast wäre ich den ganzen Tag gekrochen. Aber soweit kam es nie. Ich weis auch nicht warum. Jedenfalls genoss ich diesen Morgen. Und irgendwann stellte ich mir dann die Frage, wo ich war. Ich öffnete gähnend die Augen. Aber anstatt mich panisch umzusehen sah ich die beige Decke über mir. Sie war mit Stuck verziert. Ich fand, es passte sehr gut zu dem Haus, und zu meiner Stimmung, so ruhig, unschuldig, nur weiße Formen, keine komplizierten bunten Muster. Und dann fiel mir ein, dass ich nicht zu Hause war, sondern in der Villa. In der Villa, in die mich Mokuba zum Erholen geschickt hatte. Plötzlich kam mir alles gar nicht mehr so schlimm vor; es waren nicht viele und nur alte Möbel da, aber auf dem Sofa schlief es sich besser als auf meinem teuren Wasserbett. Es gab keinen Herd, aber ich hatte auch keinen Hunger. Und wozu brauchte ich ein großes Bad mit Toilette, Gästetoilette, Dusche, Badewanne, Waschbecken, Gästewaschbecken und anderem Kram, wenn ich doch eigentlich nur Wasser brauchte? Die Vögel riefen mich. Ich lauschte ihrem Zwitschern. Eine Weile. Dann fühlte ich, wie sich meine leichten Knochen mit Energie füllten. Ich war auf einmal wach und voller Tatdrang. Schnell sprang ich vom Sofa auf und ging nach draußen. Die Sonne begrüßte mich feierlich. Sie war noch nicht ganz aufgegangen und tauchte alles in einen orange-roten Schimmer. Die Gräser, die Bäume, alles. Die Luft war hier draußen noch erfrischender als im Haus. Ich sah jeden Grashalm, jedes Blatt, jede Blüte der noch wenigen Blumen. Was waren das noch alles für welche? Krokusse, Tulpen, Maiglöckchen? Ich überlegte kurz, aber als es mir nicht einfallen wollte, lies ich es. Was auch immer das für Blumen waren, sie sahen unheimlich schön aus. Ich weis nicht, warum ich so dachte. Und ich weis auch nicht, warum ich auf einmal das Bedürfnis verspürte, mich auszuziehen und diese Schönheit nicht nur zu sehen, sondern auch zu fühlen. Ich legte meinen Mantel und meine Sachen auf die Veranda und fühlte mich toll. Das Gras unter meinen Füßen war kühl, der milde Wind wehte mir durch die Haare. Glücklich hüpfte ich im Garten umher. Mir war es egal, ob mich jemand dabei beobachtete. Ich roch an jeder Blume und stellte fest, dass sie tatsächlich einen Geruch hatte, auch wenn ich nicht wusste, welchen. Aber sie rochen anders. Nicht nach Parfüm oder Deo und Lufterfrischern. Sie rochen einfach. Ich lief um das Haus herum zum Brunnen und drückte die Pumpe. Sie war alt und es dauerte eine Weile, bis Wasser sprudelte, aber das war unwichtig. Ich tauchte meine Hände ein und benetzte mein Gesicht mit Wasser. Es war so kühl, so erfrischend. Und wieder umwehte mich der Duft der Natur. Ich glaube, dass ich erst kurz nach Mittag langsam ruhiger wurde. Ja, die Sonne hatte meine Haut getrocknet. Von Glückseligkeit erfüllt ging ich ins Haus zurück. Ich kramte in meinem Koffer nach ein paar frischen Sachen, obwohl ich am liebsten nackt herumgelaufen wäre, aber die Kälte war jetzt doch spürbar. Ich zog ein Hemd und eine Hose an und setzte mich auf das Sofa. Ich atmete tief ein und aus. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass dieser Raum ganz besonders war: er war zwar karg möbliert, aber sehr groß und durch die Decke und die Tür abgeschlossen. Hier konnte meine Seele zirkulieren und alles, was draußen war, konnte nicht eindringen. Ich atmete aus und mein Atem verteilte sich im ganzen Raum. Das Zimmer schloss mich von der Flut der Natur ab. Sie war schön, ohne Zweifel, aber auch überwältigend. Sie wirkte so weit, dass ich das Gefühl hatte, ihr schutzlos ausgeliefert zu sein. Der sprichwörtliche Blitz könnte plötzlich einschlagen, aber hier, hier war ich sicher. Ich hatte meine Ruhe. Ich war tatsächlich allein. Allein. ALLEIN! Ich war ganz allein in einem großen Haus! Nicht in meinem kleinen Büro, sondern in einem großen Haus! Haha!, schrie ich laut, Haha-haha!. Ich fühlte mich so gut. Aber irgendetwas fühlte sich gar nicht gut an – und das war mein Magen. Er knurrte laut und grummelte. Ich suchte in den Sachen, die ich quer über den Boden verstreut hatte, nach dem Beutel mit den Früchten und nahm einen Apfel heraus. Herzhaft biss ich hinein und sah mich im Zimmer um. Die Stuckdecke. Die Verzierungen auf den Lehnen der Stühle. Das Muster der Sessel …. Es waren so viele Details zu erkennen, es würde Jahre dauern, sie dir aufzuzählen, aber du kennst einige von ihnen, du warst ja da. Nachdem ich den Apfel aufgegessen hatte, nahm ich eine Orange und schälte sie. Und dann eine Aprikose. Ich hatte richtig Appetit. Das Obst schmeckte so süß und säuerlich zugleich. Jede Frucht schmeckte anders. Wann hatte ich das zum letzten Mal bemerkt? Ich hatte mir Essen doch sonst nur reingeschoben, es zwischen Unterlagen gegessen oder einfach, weil ich Hunger hatte. Mir war es egal, was es war, es musste nur etwas zu Essen sein. Aber jetzt entdeckte ich eine Geschmacksvielfalt, die ich vorher nicht gekannt hatte. Ich kaute es gründlich, um jede Facette zu erschmecken … Schmecken … du hast auch sehr gut geschmeckt …damals … ich fühlte mich … frei, glücklich, schön! Den Rest des Tages war ich damit beschäftigt. Als ich merkte, dass die Sonne unterging, ging ich nach draußen, um sie mir anzusehen. Es war wirklich schön. Unbeschreiblich. So bunt, so hell. Der Tag klang langsam aus, alles legte sich ruhig schlafen, die Blumen verschlossen ihre Knospen, der Wind lies nach. Ich begann zu gähnen und legte mich aufs Sofa. Erstaunlich, dass schlafen und aufwachen nur von der Sonne gesteuert werden. Ich legte mich aufs Sofa und schlief ein. Und dann kamst du. Kapitel 5: Kapitel 2.4 – L’Arrivée du Roi Blance, 1 – Avant l’échange de coups a la joute oratoire -------------------------------------------------------------------------------------------------- Kapitel 2 – Moyen Âge Kapitel 2.4 – L’Arrivée du Roi Blance Kapitel 2.4.1 – Avant l’échange de coups a la joute oratoire Hallo und herzlich willkommen zum nächsten Kapitel, liebe nicht vorhandene Leser! Jetzt kommt es zum ersten Aufeiandertreffen der beiden ... Kontahenten, Mögenden, Liebenden, Anhänger unterschiedlicher Lebensauffassungen, whatever. Kaibas Heilbehandlung beginnt ... so eine Kur ist echt toll. Der Titel ist übrigens ein Wort-Spiel und heißt soviel wie "Vor dem (körperlichen) Schlagabtausch des (verbalen) Schlagabtauschs", passend wären für die beiden Kapis wohl auch Vor-Schlag und Nach-Schlag geworden. In diesem Sinne: An die Worte, fertig, LOS! yu Ich weis nicht, wie spät es war, aber irgendwann wurde ich durch ein lautes Knattern geweckt. Panik überfiel mich. Womöglich hatte sich doch ein Einbrecher hierher verirrt. Oder wer auch immer. Irgendjemand war in mein Haus eingedrungen und ich ihm schutzlos ausgeliefert. In meinem Haus! Ich öffnete die Augen etwas, um zu sehen, wer es wagte und entdeckte eine schemenhafte Gestalt vor meinen Füßen. Sie kroch auf dem Boden und kramte in meinen Sachen. Das verursachte den Lärm. Ich konnte nicht viel erkennen, aber ihr Erscheinungsbild beruhigte mich. Das wenige Licht, das durch den Mond herein kam, färbte ihre Haut hellbraun und der Statur nach zu urteilen war es ein Junge, nicht viel älter als ich. Sein weißes Haar reflektierte das Licht und schimmerte silbern. Weiß. An irgendetwas erinnerte mich das. Weiß … . Das Bild von Yami tauchte auf. Ein Bekannter von ihm sei es, hatte er gesagt … und im Stillen hinzugefügt: „Er ist sehr eigensinnig.“ Weiß... Die Schlagzeile fiel mir wieder ein. Weiß. Weiß! Jetzt wusste ich es. Doch noch bevor ich etwas sagen konnte, stellte sich die Person vor mich und fing laut an zu lachen: „Hahaha, hahahahaha, haha, hahaha, hahahahaha, hahahahahahahah!“ „Pass auf, dass du nicht an deinem Lachen erstickst.“, knurrte ich trocken, doch du hörtest nicht auf. Es erinnerte mich an Wheeler und die schrecklich-primitiven Bösewichte in den grottenschlechten Westernfilmen, die er gerne imitierte. Nach einer Weile war mir dein Lachen so zuwider, dass ich etwas lauter hinzufügte: „Würdest du mir bitte erklären, was hier so lustig ist?“ Du unterbrachst dich und sahst mich an. Dein Blick wollte mich fesseln, doch stattdessen wirkte er nur lächerlich unsicher. Nachdem du mich genug angeguckt hattest, kramtest du in deinen Taschen. „Wird’s bald?“, fragte ich genervt. Ich war müde und dein in meinen Augen unprofessionelles Auftreten machte mich wütend. „Äh …äh..“ räuspertest du dich, nachdem du einen Zettel aus deiner Hosentasche herausgeholt und entfaltet hattest. „Ha-ha – Ich habe dir dein Handy gestohlen!“, riefst du gekünstelt. Es klang, als hättest du diesen Satz vorher lange einstudiert, damit er möglichst stark wirkt. Aber das tat er nicht. Du bist kein guter Schauspieler, du kannst niemand anderes als du selbst sein, und das bewundere ich an dir. Aber in diesem Moment habe ich mich über dein Verhalten sehr geärgert und bemerkte trocken: „Wenn das der Witz sein sollte, über den du die ganze Zeit lachst, sollte ich dich vielleicht über einen Irrtum in Kenntnis setzen: Du hast mein Handy erst gestohlen, wenn du dieses Haus verlassen hast, was wohl in naher Zukunft nicht geschehen wird. Bei deinem Dilettantismus kommst du wahrscheinlich nicht mal bis zur Haustüre! „W-Was?“, stottertest du, blicktest suchend auf deinen Zettel und warfst ihn schließlich weg, „I-Ich .. Ich bin kein Dilettant, Seto, ich bin der Weiße König und ich habe bis jetzt alles bekommen, was ich wollte!“ „Das wundert mich sehr. Veranstaltest du immer so einen Lärm, wenn Leuten ihre Kleinigkeiten klaust?“, fragte ich trocken. Ich dachte, dich mit dieser Taktik mürbe gemacht zu haben, meistens geben die Leute nach ein paar Minuten auf, wenn ich sie mit dieser Abfälligkeit behandele – aber du erwiesest dich als zäh, als stark. Und entgegnetest mir: „Der klägliche Versuch vom Thema abzulenken klappt bei deinen Firmenfuzzis, aber nicht bei mir. DEIN Handy befindet sich in MEINER Gewalt und ich werde gleich damit verschwunden sein!“, doch auch ich gab nicht so schnell auf und fragte ironisch: „Und worauf wartest du noch? Darauf, dass ich anfange zu schreien? „Nein, Seto!“, antwortest du gelassen, „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du rumbrüllen würdest, ich dachte eher an eine Welle aus Beleidigungen und ein paar Sätze à la ‚Gib mir mein Handy wieder, da sind alle meiner Geschäftskontakte drin!’ oder so!“ „Sind sie aber nicht.“, erklärte ich bestimmend. „Was? Habe ich das falsche Handy erwischt…? Nein – du hast nur eines, dieses eine stahlblaue mit dem Weißen Drachen mit eiskaltem Blick auf der Rückseite…“, überlegtest du. „Schon mal daran gedacht, dass man die SIM-Karten austauschen kann?“, sagte ich. „Bin ich ein Handyfachverkäufer?“ „Nein, aber ein ziemlicher Anfänger und um dir gleich die nächste Frage zu beantworten – NEIN, ich habe die richtige SIM-Karte nicht und NEIN, ich werde dir auch nicht sagen, wo sie ist, sonst weckst du am Ende noch die ganze Stadt auf!“ „Ich habe 384 Einbrüche ohne. …“ „Hör auf mit deinem Gerede, es wird langweilig. Sag mir lieber, warum du mein Handy haben willst. Wenn man der Presse ausnahmsweise mal glauben kann, stiehlst du alles: von wertvollen Münzen über bekannte Gemälde bis zu wertlosem Plunder. Du bist also entweder ein kleiner Krimineller mit Sammeltick, der mal ganz groß werden will, oder einfach nur verrückt!“ „Eine dritte Möglichkeit passt wohl nicht in deinen Kopf, Seto?! Wie wäre es mit einem großen Nicht-Kriminellen ohne Sammeltick?“ „Mit anderen Worten: ein Verrückter!“ „NEIN!“ „Ein Krimineller, der sich nicht für einen Kriminellen hält und nur nebenbei klaut, was ihm in die Hände fällt – das ist für mich ein Verrückter!“ „Hör zu, Seto, auch wenn es vielleicht nicht in deine kleine, gefühlskalte, logische Welt passt: ich weis ganz genau, was ich stehle und ich füge Leuten keinen Schaden zu!“ „Doch – du gehst ihnen auf die Nerven!“, das war, denke ich heute, eine der dümmsten Sätze, die ich in meinem Leben gesagt habe. Soviel Leere in einem Satz, und was das schlimmste war: ich hatte ihn nicht einmal ernst gemeint, es war einfach nur ein Konter, mehr nicht, doch für dich war er mehr: „Ich gehe niemandem auf die Nerven, ich helfe ihnen!“ „Und wie?“ „Indem ich stehle!“ „Und warum hilfst du diesen Menschen, wenn du sie beklaust?“ „Das kann ich dir nicht sagen!“ „Gut, dann kannst du ja gehen, aber lass mein Handy da, ich will es nicht so einem Dilettanten wie dir überlassen!“, sagte ich trocken. Das war zuviel. „SAG MAL – HAST DU SIE NOCH ALLE? IST DIR EIGENTLICH BEWUSST, WIE SEHR DU ANDERE VERLETZT?“, brülltest du mich an. Ich glaube, es weniger die Tatsache, dass ich DICH des Hauses verweisen wollte, sondern viel mehr die, dass ich dich RAUSSCHMEIßEN wollte. Dein Gedanke löste irgendetwas in mir aus, aber ich wollte nicht darüber nachdenken, sodass ich versuchte, das Gespräch zu beenden: „Für ethische Diskussionen ist es etwas spät, also verschwinde!“ „Ach, jetzt fällt dir nichts mehr ein? Das ist mal wieder typisch Seto – austeilen kanner, aber im Einstecken eine Niete!“ „Wartest du jetzt etwa darauf, dass ich mich von dir provozieren lasse? Ich sage es dir noch einmal: Verschwinde aus meinem Haus!“ „Dein Haus? DEIN HAUS? Nein, das ist nicht dein Haus!“ „Natürlich ist es mein Haus, ich lebe hier!“ „Aber nur, weil es dich nicht loswerden kann! Wenn diese Villa eine Katze wäre, dann hätte sie dich schon längst wieder ausgekotzt wie einen Haarballen!“, sagtest du, doch ich lies mich davon nicht beirren. Wenn man angegriffen wird und der Gegner auch nur einen Treffer landet, dann sollte man sich möglichst elegant verbarrikadieren, bis sich einem die Möglichkeit zum Gegenschlag bietet: „Wie ich schon sagte: es ist mein Haus!“ „Dein Haus? Nein, dein Haus wäre aus Glas, wenn schon nicht aus Eis. Es wäre ein geometrisch perfektes Haus und auch wenn es schien, als berührte es den Himmel, und überrage alles, wäre es doch nur ein kalter Kristall, der alles Leben auslöscht! Dieses Haus dagegen ist frei, es ist warm, selbst in tiefster Dunkelheit würde auf diese Villa immer noch die Sonne scheinen!“ „Lass das poetische Gequatsche, das taugt ja nicht mal für die BILD! Und selbst darin findet man wahrscheinlich mehr Inhalt als in deinen Phrasen!“ „W-Was?“ „Denn Fakt ist eines: dieses Haus gehört mir und es interessiert mich nicht, wie du das findest. Also?“ „Also was? Ich haue nicht ab, jetzt erst recht nicht!“ „Das glaube ich nicht!“ „Ich aber schon! Oder denkst du wirklich, dass ich mich einfach von so einem Typen wie dir rausschmeißen lasse?“ „Natürlich wirst du das, ich bin der Besitzer dieses Hauses!“ „Irrtum, lieber Seto…“ „Hör auf mich SETO zu nennen!“ „Lieber Seto, das Haus gehört Yugis Großvater!“ „Wer auch immer dir das erzählt hat, es ist egal!“ „Nein ist es nicht!“ „Es ist spät, ich habe langsam keine Lust mehr, mich über dich aufzuregen!“ „Das interessiert mich einen feuchten Kehricht! Meinst du, nur weil du hier drin wohnst, hast du das Sagen? Bestimmst du immer über alles, was man dir anvertraut hat?“ Langsam wurde ich wütend, dieses ganze Gerede traf mich tief und genau deswegen ging es mir auf die Nerven. Mit aller Kraft versuchte ich meinen vermeintlichen Feind, der sich als mein Freund entpuppen sollte, abzuwehren: „Jetzt hör endlich auf!“, doch du warst noch nicht fertig. Ganz im Gegenteil, du begannst dich gerade in Rage zu reden. Ich kenne das von mir, man steigert sich in etwas hinein und wird unsachlich, weil es nur noch darum geht, den Gegner zu vernichten. Auch wenn man vorher einen Kompromiss plante, gerät schlussendlich alles außer Kontrolle. „Du fühlst dich doch nur so stark, weil du etwas besitzt, aber wehe man nimmt dem kleinen Seto sein Spielzeug weg, dann wird er winzig wie eine Kakerlake!“ „Hör auf!“ „Nein, du hast mir nichts zu sagen, nicht du! Du hast schon so vielen Leuten soviel gesagt, jetzt bin ich dran! Wird auch mal Zeit, dass sich einer wehrt!“ „Halt die Klappe!“ „Nicht ausfallend werden, Seto, sonst verlierst du noch deine Macht – oh, entschuldige – das hast du ja schon! Ich wette, du warst als Kind ein kleines armes Würstchen, mit dem niemand spielen wollte, und das seine Traurigkeit nur durch den Neid der anderen bekämpfen konnte!“ „Hör auf, du lächerliche Witzfigur! Maße dir nicht an, mich zu kennen!“ „Ich will dich gar nicht kennen, Seto! Aber wenn jemand auf seiner Stirn die Aufschrift ‚Ich bin ein unfähiges Arschloch’ trägt, dann mache ich mir Gedanken!“ Das war zuviel für mich. Ich sprang auf, um dir eine Faustschlag zu verpassen. Für meine Kindheit. Für deine Beleidigung. Für das etwas, was sich in mir regte. Ich holte aus und schlug zu - doch ich verfehlte dich. Ich versuchte es noch einmal, doch auch diesmal scheiterte ich. Du warst einfach zu trainiert. Ich schlug und trat immer wieder auf dich ein, doch ich traf immer nur die Leere. Mist. Ich dachte, ich sei dir mit meiner Größe überlegen, doch ich hatte mich geirrt. Immer und immer wieder versuchte ich dich zu treffen, ich war wie von Sinnen, es klappte nicht. Paradox war, dass du meine Angriffe zwar abwehrtest, aber nie selbst zuschlugst. Aber das realisierte ich erst später. In diesem Moment war es nur wichtig, dich irgendwie zum Schweigen zu bringen. Du hattest dich in einen Bereich meines Ichs vorgewagt, den ich vor langer Zeit verschlossen hatte und ich konnte diese Tür nur schließen, indem ich dich schlug, zum Schweigen brachte. Aber ich traf einfach nicht. Kein einziges Mal. Meine Kondition war schlecht, bald würde ich kein Kraft mehr haben und aufgeben müssen. Doch plötzlich gingst du ein paar Schritte zurück, sodass ich auf den Boden fiel. „Was machst du da? Komm her!“, schrie ich, doch du standst ganz ruhig da, sahst mir in die Augen und sagtest: „Es ist meine Schuld, entschuldige bitte. Ich wollte nicht, dass es soweit kommt. Also: wenn es dir dann besser geht, dann schlag mich.“ Du standst ganz ruhig da, so groß vor mir. Ich war für einen Moment sprachlos. Verblüfft sah ich dich an. Ich konnte nicht denken, ich war erschöpft und erfüllt von Gefühlen, die ich nicht fassen konnte. Diesen einen Moment hättest du ausnutzen und fliehen können, aber du tatest es nicht. Und dann stürzte ich mich wie ein wildes Tier auf dich. Kapitel 6: Kapitel 2.4.2 – Après l’échange de coups a la joute oratoire ----------------------------------------------------------------------- Kapitel 2.4.2 – Après l’échange de coups a la joute oratoire Das zweite Teilkapitel ... Kaiba kann richtig brutal sein, aber er hat Baku nicht wirklich verletzt, ich denke mal, das würde er bei aller vermeintlichen Schuldigkeit auch nicht zulassen, Baku ist ja clever. Trotzdem isses schon irgendwie krass, dass Gewalt das einzige Kommunikationsmittel ist, dass alle Lebewesen verstehen :-( Viel Spaß beim Lesen! Ich weis nicht mehr, was passierte, ich weis nur noch, dass du, als ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, auf dem Boden lagst, die Augen geschlossen. Blut lief von deiner Unterlippe auf den Boden. Dein Auge war angeschwollen, dein Haar zerzaust. An deinem ganzen Körper sah ich rote Flecken, die sicher bald blau werden würden. Du lagst leblos da. Im ersten Moment dachte ich, du seiest tot und legte vorsichtig meine Hand auf deinen Puls. Dein Herz schlug schwach, aber es schlug. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war erstaunt von mir selbst. Ich schämte mich. Ich hatte einfach jemanden verprügelt. Ich hatte einfach immer wieder auf ihn eingeschlagen, obwohl er sich nicht wehren konnte, oder wollte. Noch nie in meinem Leben hatte ich so die Fassung verloren, und noch nie in meinem Leben hatte ich jemanden so verletzt. Wie konnte es nur soweit kommen? Es war das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass ich mich schlecht fühlte, weil es jemand anderem schlecht ging. Ich beugte mich über dich und flüsterte: „Bakura – Bakura? Ist alles in Ordnung?“, doch du antwortest nicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Was war, wenn ich ihn so hart getroffen hatte, dass er nun im Koma lag und nie wieder aufwachen würde?, dachte ich, Was hatte ich nur getan? Ratlos ging ich im Raum umher. Irgendetwas musste ich tun. Ich hatte den Erste-Hilfe-Kurs nicht belegt, ich hielt es für sinnlos. Jetzt hätte ich ihn gebraucht. Vielleicht sollte ich einfach nur warten, bis er von selbst wieder erwacht?, fragte ich mich, Nein, das kann ich nicht. Vielleicht hat er innere Verletzungen und verblutet ohne Hilfe. Ein Krankenwagen wird sich vermutlich nie hierher finden. Ich war verzweifelt. Selten war ich so verzweifelt. Wenn es um die KaibaCorp ging, verzweifelte ich täglich ein bisschen, aber so eine Angst empfand ich selten. … Doch, als Mokuba eine schlimme Grippe hatte, da hatte ich Angst, aber da wusste ich, was ich tun sollte. Aber hier? Während ich umherlief, hörte ich ein Prasseln. Es regnete. Regen! Das ist es! Ich ging nach draußen und lies mich vom Regen durchnässen. Es war kühl, es war angenehm und es würde dir helfen, hoffte ich. Ich ging wieder ins Haus, zog das Hemd aus und legte es dir auf das Gesicht. Das war das einzige, was ich in diesem Moment für dich tun konnte. Ich holte meinen Mantel von der Veranda, setzte mich mit angewinkelten Beinen auf den Fußboden und legte ihn über mich. Nicht, weil es kalt war, nein, ich hatte gar kein Temperaturempfinden mehr, sondern weil ich das Gefühl hatte, mich verkriechen, verstecken zu müssen. Es war dunkel in meiner kleinen Höhle. Es war ruhig in meiner kleinen Höhle. Und es war niemand da außer mir. Wie konnte es nur soweit kommen? Was hatte er gesagt, das es mich so wütend machte, dass ich auf ihn losging? Was hatte er getan, das mich so verletzte, dass ich ihn verletzte? Im Grunde war er doch selbst schuld – konnte man von einem Opfer eines Einbruchs nicht erwarten, dass es sich wehrte? Aber er hatte mich nicht angegriffen! Aber er hätte verschwinden können, er hätte einfach abhauen können, im Wald, in der Dunkelheit hätte ich ihn sowieso nicht gefunden! Es hat ihn niemand gezwungen, hier zu bleiben, es hat ihn niemand gezwungen, sich mir entgegenzustellen, das war seine Entscheidung! Ich verstehe das nicht! Was mache ich mir da vor? Es war nicht seine Schuld, dass ich ihn verprügelt habe, ich bin auf ihn losgegangen! Warum? – Weil es mich wütend gemacht hat, dass er sich mir entgegenstellte und nicht aufgeben wollte. Ich habe ein sehr luxuriöses Leben, ja, ich kann echt stolz darauf sein. Ich habe keine teuren Autos, ich habe keine 3 Mio. Euro Villa, ich leiste mir kein überflüssigen Schnick-Schnack. Aber ich habe den Luxus, dass ich alles erreiche. Egal, wer mir gegenübertritt, ich kann ihn von meiner Meinung überzeugen. Indem ich einfach schweige, was viele Leute als unangenehm empfinden. Oder indem ich lauter werde, das macht einigen Angst. Oder geschickt meine Körpersprache einsetze, die Arme verschränke, meinen Blick abwende oder den Abstand verändere. Ich muss niemanden bestechen, meine einzigen Argumente sind meine Argumente. Aber hat mich dieser Luxus nicht überheblich gemacht, die Realität verkennen lassen? Ich hielt mich für unantastbar, aber er ließ sich nicht beirren. Er hat für seine Überzeugung gekämpft. Seine Überzeugung. Dass ich ein unfähiges Arschloch sei. Dass ich in meiner Kindheit ein kleines Würstchen gewesen sei, dass sich nur durch Macht Anerkennung verschaffen konnte. Dass ich andere nur verletzte. Das machte mich wütend. Weil er irgendwie Recht hatte. Ja, ich fühlte mich manchmal unfähig. So stark ich auch wirkte, ich hatte immer Angst, dass die KaibaCoorp unterging. Die Firma war das wichtigste in meinem Leben. Und trotzdem geriet sie immer wieder in die Krise. Weil ich äußere Faktoren nicht beeinflussen konnte. Weil ich es nie schaffte, sie darauf vorzubereiten. Weil nichts lief. Und meine Kindheit. Ich hatte keine Freunde, aber ich konnte doch nichts dafür! Mein Vater hat mich und Mokuba so erzogen! Ich war nun mal das Wunderkind, das Schachgenie, ich kann nichts dafür, dass ich deshalb wenig Zeit hatte, ich kann nichts dafür, dass mich die anderen deswegen beneideten. Dieser Mistkerl hat mich zu einem tüchtigen Geschäftsmann ausgebildet, das war ihm wichtig und das ist mir wichtig, auch wenn sich unsere Mittel glücklicherweise erheblich unterscheiden. Ich bin nicht skrupellos, ich gehe nicht über Leichen, ich habe keine kriminellen Geschäfte nötig. Aber ich kann nichts dafür, wenn die anderen das nicht sehen. Wenn sie nicht verstehen wollen, dass ich für Freunde selten Zeit habe, weil ich den ganzen Tag in der Firma bin. Warum regen sie sich auf, dass sie sich nach meinem Terminkalender richten müssten, warum können sie das nicht verstehen? Warum akzeptiert mich keiner wie ich bin? WARUM AKZEPTIERT MICH KEINER? rief ich in die Nacht hinein. Ich würde so etwas nie tun, niemals so aus meinem Ich herausfallen, aber diese Frage brannte in mir und ich konnte sie nur loswerden, in dem ich sie nach draußen schrie. WARUM AKZEPITIERT MICH KEINER? WARUM? brüllte ich immer wieder, bis meine Stimme heiser wurde. Mein Blick fiel auf dich. Selbst du hast mich abgelehnt, sagte ich innerlich zu dir, aber du bist nicht gegangen. Warum? Wenn du mich ablehnst, hättest du dieses Haus verlassen können, niemand hätte dich gehindert. Aber du tatest es nicht. Versuchst du mir zu helfen? Akzeptierst du nicht, dass mich niemand akzeptiert? Ich beugte mich über dich und sah auf deine geschlossenen Augen. „Warum,“, fragte ich flüsternd, „Warum hast du das getan?“ „Das wüsste ich auch gern.“, hörte ich plötzlich eine Stimme. Ich war so in Trance, so beschäftigt mit mir und dieser Frage, dass ich deine Antwort gar nicht erwartete. „Was?“, fragte ich und sah verblüfft in deine halb geöffneten Augen. „Ich weis nicht, warum ich dich provoziert habe.“, sagtest du mit einem kleinen Lächeln. Deine Stimme war schwach und schien zu knattern wie ein kaputter Kopierer, aber es schien dir gut zu gehen. „Aber, aber warum hast du dich von mir schlagen lassen? Du hättest einfach abhauen können!“, fragte ich verzweifelt. „Ich wollte, dass du darüber nachdenkst!“, sagtest du immer noch schwach. Es klang nicht lehrerhaft. „W-Was? Du kannst dich doch nicht verprügeln lassen, nur damit du jemanden zum Nachdenken anregst!“, rief ich empört, „Wie kannst du dich nur so für jemanden aufopfern!“ „Ich bin es gewöhnt, Seto! Du musst dir keine Sorgen machen, es geht mir gut, so was passiert andauernd!“ „Ich mache mir keine Sorgen!“, Sorgen! SORGEN – das Wort, was bei mir auf dem Index stand. Sorgen hatten immer etwas mit Gefühlsdusselei zu tun, die ich in meinem Leben, als Firmenchef, überhaupt nicht gebrauchen konnte. Sorgen sorgen nur für Ärger und behindern die Sicht auf das Wesentliche. „Dir gefällt das Wort nicht, oder? Wie wäre es mit ‚Du fragst dich, ob es mir gut geht?’, ist das besser?“, fragtest du ruhig. Dass du in so einer Situation dazu noch Zeit hattest, wundert mich heute sehr. „Du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet!“, sagte ich etwas lauter, was ich eigentlich nicht beabsichtigt hatte. „Doch habe ich: ich bin es gewohnt, dass die ganze Welt auf mir rumtrampelt, das gehört zu mir, und das nehme ich in Kauf.“ „Du hast die Kraft, dich dagegen zu wehren, du kannst die anderen von dir überzeugen, warum übertreibst du es immer? Sieh mich an: es hätte vollkommen ausgereicht - auch wenn ich das nicht gerne sage - mich zu beleidigen und dann zu verschwinden!“, erklärte ich verwundert. Es überraschte mich, dass meine Kälte plötzlich wärmer wurde. „Nein, hätte es nicht.“, erwidertest du bestimmt mit einem Lächeln, „Wenn ich gegangen wäre, dann hättest du dich über mich geärgert, was für ein arrogantes Ding ich sei, wie ich es wagen konnte. Ich habe dich dazu gebracht, die Folgen deines Handelns zu sehen. Oh, das war wohl jetzt etwas kompliziert!“ „Nein!“ „Ich habe deine Frage aber noch nicht beantwortet: Es ist eine Überzeugung, eine Aufgabe. Und dafür kämpfe ich mit allem, was ich habe. Ich kann mich von den Nebenwirkungen nich beirren lassen.“ „Dann geh doch zu einer Hilfsorganisation! Kinder für Afrika, Sänger für Knastis, Schauspieler für das Klima! Es gibt genug Vereine, in denen du etwas tun kannst – und das wäre vermutlich wesentlich ungefährlicher!“, sagte ich. „Für so was bin ich nicht fotogen genug!“, erwidertest du lachend, „Und außerdem: es gibt viele Wege, ein Ziel zu erreichen, und das ist nun mal meiner!“ „Ich verstehe dich nicht!“ „Nehmen wir mal deine Firma: Yami führt sie sicher anders als du…“ „Erwähne diesen Namen nicht!“ „Yami ist ruhig, ist auch bereit Kompromisse einzugehen, dafür erreicht er aber vielleicht weniger. Du dagegen bist aufbrausend, du triffst dich mit deinen Partnern nur im schlimmsten Notfall in der Mitte, lieber auf deiner Seite. Du bist ehrgeizig und allein schon von der Größe und dem Auftreten her … du bist sehr imponierend. Aber ich glaube, wenn deine Firmenfuzzis die Wahl hätten, würden sie lieber mit Yami als mit dir einen Kaffee trinken gehen.“ „Es geht hier auch nicht um Kaffeeklatsch sondern um meine Firma! Und ohne mich wäre sie heute bestimmt nicht Marktführer!“, sagte ich sauer. „Das stimmt vielleicht, aber genau das ist es ja: ihr beide versucht, die KaibaCoorp zu etablieren, du mit harten Fähigkeiten, Yami mit diesen Soft Skills. Deswegen würdest du vielleicht viel Geld in eine Stiftung spenden, Yami würde die Länder bereisen.“ „Ich gebe mein sauber verdientes Geld im Gegensatz zu diesem Besserwisser nicht für so was aus! Sollen sie sich selber raushelfen, ich musste mir auch alles hart erarbeiten!“ „Das war doch nur ein Beispiel! Was hast du eigentlich gegen Yami?“ „Gehörst du etwa auch zu seiner Clique?“ „Uns verbindet etwas, aber wir sind doch zu gegensätzlich, um richtige Freunde zu sein. Yami ist eher gesellig, ich bin gern allein. Außerdem müssen die nur mit der Schule klarkommen, ich mit meinem Leben.“ „Sie wissen nichts von deinem „Nebenjob“?“, fragte ich verwundert. „Hauptberuf, Seto. Nein, sie wissen nichts, wäre vielleicht auch nicht allzu gut, Joey würde sowieso wieder alles ausplaudern, da könnte ich mir auch gleich ein Schild um den Hals hängen!“ Ich musste lachen. Die Vorstellung, dich mit einem Schild um den Hals im Domino zur Rush-Our herumlaufen zu sehen, wie du über die Bürgersteige stolperst und Gemüsestände umrennst … das war, tut mir leid, witzig. Und mit Wheeler hattest du vollkommen Recht. „Lenk nicht vom Thema ab! Was hast du gegen Yami?“, fragtest du mit einem strengen aber gleichzeitig gütigen Unterton. „Die Art, wie er sich benimmt …“ „Weil er dich angebaggert hat?“, fragtest du belustigt. „Woher weist du das?“ „Welche Erklärung willst du hören: die beruhigende, die kuriose oder die nette?“, meine Frage schien dich sehr zu amüsieren. „Macht das einen Unterschied? Außerdem: Du hast mir meine Frage noch nicht beantwortet!“ „Ich, ich … naja… ich hatte es erwartet … weil …“, stottertest du. Es schien, als wolltest du mir irgendwas nicht sagen …, „Die beruhigende ist: Er ist in Yugi verschossen, die kuriose ist, dass er Schauspielunterricht nimmt, eines Tages im Theater auf der Bühne stehen will und dich nur als Versuchskaninchen für die Rolle des Casanova benutzt hat und die nette Erklärung ist: Yami macht sich Sorgen. Er meint, dass er in der Vergangenheit soviel Unheil angerichtet hat, dass er es jetzt wieder gutmachen muss, indem er jedem Menschen hilft.“ „Und du machst das auch. Ich möchte dir eine Frage stellen.“ Seit wann frage ich Menschen, ob ich ihnen eine Frage stellen darf?, dachte ich. Du sahst mich erwartungsvoll und immer noch mit einem Lächeln an, „Wieso musst du mit deinem Leben klarkommen?“ „Du hast gut aufgepasst …“, stammeltest du, „Naja.. wir müssen doch alle mit unserem Leben klarkommen …“ „Versuch nicht auszuweichen, das hat keinen Sinn!“, sagte ich und es klang etwas befehlend. „Naja... Wie ich schon sagte … Yugi & So. müssen Schule Schrägstrich Studium und Freizeit unter einen Hut bekommen… Sie können sich über ihre Lehrer und Dozenten aufregen und gehen danach Hause, machen Hausarbeiten und spielen DuelMonsters und so weiter …“ „Und du?“ „Du gibst nicht auf, oder? Also“, du atmetest tief durch, „Ich bin zerrissen. Auf der einen Seite gibt es meine Aufgabe, die ich unbedingt erfüllen muss. Ich muss meine Coups planen, und ich muss vor allem mit den Konsequenzen leben. Wenn ich in die … Häuser einbreche, dann breitet sich das Leben meiner Opfer vor mir aus … Anhand der Einrichtung, Fotos, Bildern, all diesen kleinen Dingen, kann ich in sie hineinschauen und das ist nicht immer angenehm. Fast jeder Mensch hat mehr oder minder wenige Probleme und die sehe ich alle. Es ist sehr schlimm für mich, aber es ist nun mal meine Aufgabe. Auf der anderen Seite möchte ich ein ganz normales Leben führen, ich möchte ins Kino gehen, malen, das Leben genießen, mich verlieben, ich möchte einfach nur glücklich sein. Aber das geht nicht! Ich kann nicht einmal einfach so durch die Stadt gehen, ohne, dass ich die Menschen sehe, die ich bestohlen habe. Und dann muss ich wieder an ihre Geschichten denken. Man gewöhnt sich nie daran.“, deine Stimme wurde am Ende immer leiser. Du wirktest traurig, verzweifelt, ich glaube, ich habe in deinem Auge sogar eine kleine Träne gesehen. Ja, es war eine Träne. Ich erinnere mich: Ein Sonnenstrahl schien plötzlich durch das Fenster und lies sie glitzern. „Oh, es ist schon Morgen.“, sagtest du und standst auf. Deine Traurigkeit war verflogen, „Ich muss gehen!“ „Was? Du bist verletzt, du kannst nicht gehen!“, rief ich und es wunderte mich, dass ich auf einmal so nett war. „Es geht mir gut, Seto, es geht mir sehr gut, wirklich!“, erwidertest du fröhlich. Ich sah dich verwundert an. Langsam, ganz langsam, begann ich zu realisieren, was passiert war und es lähmte mich. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich sah dich einfach nur an und vor meinen Augen tanzten Fragezeichen. Ich hätte vermutlich den ganzen neuen Tag so dagesessen, wenn du nicht noch etwas gesagt hättest: „Ich habe noch eine Frage: Was machst du eigentlich, wenn du nach Hause kommst?“ „W-Was?“ „Schlaf gut, Seto!“. Du sahst mich lachend an, dein weißes Haar glitzerte in der aufgehenden Sonne. Ohne mir eine Antwort zu geben drehtest du dich um und gingst zur Tür hinaus. Innerlich wäre ich dir gern hinterhergelaufen, aber ich konnte nicht, ich war gelähmt. Kapitel 7: Kapitel 3 - Modern Times, 3.1 Morning has broken, 3.1.1 Like a Bird ------------------------------------------------------------------------------ Kapitel 3 - Modern Times Kapitel 3.1. - Morning has broken – Le lever du matin Kapitel 3.1.1 – Like a bird So, bevor sich Kaiba wieder mit Baku rumschlagen muss, gönne ich ihm noch zwei Kapitel für sich. Warum der dritte Teil auf einmal englische Titel trägt? Grübelt und lasst euch überraschen! :-D Den Titel des jetzigen Kapitels habe ich mir von Nelly Furtados erstem Hit geklaut, ich fand es passte. Es ist etwas skruril, ich hoffe für euch amüsant. Und noch ein Hinweis: gewöhnt euch nicht an die Länge - auch wenn ich hart dran arbeite, werden die Kapis immer länger ... es macht aber auch Spaß, das Knistern zwischen den beiden darzustellen... aber genug gequatscht: Viel Spaß beim Lesen! yu Als ich wieder erwachte, lag ich auf dem Boden. Das Licht schien kräftig durch das Fenster, es musste früher Vormittag sein. Es war warm. Ich fühlte mich selig. Die Luft war so kühl, die Vögel zwitscherten, es war alles wie am gestrigen Tag. Ich genoss es. Alles war gleich. Der einzige Unterschied war, dass ich auf dem Fußboden und nicht auf dem Sofa erwachte. Das war komisch. Aber langsam, während ich noch leicht benommen vom Schlaf in die Sonne blickte, erinnerte ich mich. Du. Deine Worte. Ich. Meine Schläge. Und dass ich, nachdem du gegangen warst, noch eine lange Zeit auf den Knien dagestanden hatte. Gelähmt, ohne denken zu können. Es war überwältigend gewesen. Und ich war auch zu müde. Ich hatte so dagestanden bis ich irgendwann selbst dazu zu müde gewesen und nach vorne gefallen war. Ich lag auf dem Fußboden und dachte nach. Was sollte ich jetzt tun? In meinem Kopf stritten zwei Seiten: einerseits animierte mich die frische Luft dazu, raus zu gehen und im Garten herumzuspringen, jede Minute dieses wunderbaren Ereignisses auszukosten, andererseits hattest du mir eine Frage, eine Aufgabe gestellt, die ich lösen musste. Das Bild zweier Mitarbeiterinnen tauchte auf. Sie zogen beide verzweifelt an einem Lottoschein und schrieen sich dabei an. Bis der Lottoschein irgendwann in der Mitte zerriss. Als ich das sah, wurde ich sehr wütend und brüllte sie an. Ich weis nicht mehr, was ich genau sagte, aber es ging darum, dass sie sich auf der Arbeit um ihre Arbeit und nicht um einen Lottoschein kümmern sollten. Komisch, dass ich mich an solche Dinge erinnerte. Ich fühlte mich jedenfalls wie der Lottoschein und überlegte. Schlussendlich siegte meine sportliche Seite und ich ging raus um herumzuspringen. Es war schön, es war kühl, es war nass. Aber schon bald verdrängten die Gedanken an dich die schöne Leere in meinem Kopf. Doch es war anders als sonst: selbst wenn ich zu Hause war, ein Buch lesen wollte, schwirrten immer die Gedanken an die Arbeit in meinem Kopf herum. Ich konnte mich nicht auf das Buch konzentrieren. Mein Kopf war verstopft. Ja, verstopft. Ich mag das Wort nicht, auch wenn es eigentlich passt. Yami hatte einmal gespottet: Kaiba, die Arbeit verstopft dir ganz schön den Kopf! Besserwisserischer Schleimer! Aber in diesem Moment schienen meine Bewegungen und meine Gedanken zu kooperieren. Mit jedem Sprung, mit jedem Atemzug, mit jedem Rufen erschien ein neues Wort in meinem Kopf. SAG – MAL - KOMMA - WAS – MACHST – DU – EIGENTLICH - KOMMA - WENN – DU – NACH – HAUSE – KOMMST - FRAGEZEICHEN SAG – Sprung mit geschlossenen Beinen, MAL – Arme in den Himmel gereckt, KOMMA – Juchu!, WAS – Sprung mit gespreizten Beinen, MACHST – Armkreisen vorwärts, DU – Hopserlauf, EIGENTLICH – Armkreisen rückwärts, KOMMA – Juchu!, WENN – Radschlag, DU – Mühlkreisen, NACH – Ansprungrolle, HAUSE – Rückwärtsrolle, KOMMST – Arme nach oben, FRAGEZEICHEN – JA!!! Ich glaube, du bedauerst es gerade, dass keine Aufnahme davon existiert. Jedenfalls half es mir. Mit jeder Bewegung tauchten Gedanken auf und verschwanden wieder. Ich konnte gar nicht so schnell denken. Und immer wieder stellte ich mir die Frage: Ja, was mache ich denn, wenn ich nach Hause komme? Ich wollte eine Antwort finden, sie fassen und festhalten, aber da sie mir immer wieder entglitt, setzte ich mich schließlich auf die Treppe – und weg waren sie. In meinem Kopf war plötzlich Leere. Stattdessen musste ich keuchen. Das war ich nicht gewöhnt. Ich trieb sonst nie Sport, woher sollte ich auch die Zeit dazu nehmen? Aber das war nur eine nebensächliche Nebenwirkung. Wichtiger war die Tatsache, dass ich nicht mehr denken konnte. Während ich sonst immer absolute Ruhe benötigte, um einen Gedanken zu fassen, die genialsten Strategien, Worte, Taten zu entwickeln, behinderte mich diese Stille jetzt. Ich musste einen Kompromiss finden. Also legte ich mich in das Gras und tat so, als würde ich in der Luft Radfahren. Mit jedem Pedaltritt wurden meine Gedanken nach vorne getrieben und wie bei einem Fahrraddynamo als Strom gespeichert. Tja, was mache ich, wenn ich nach Hause komme? Ich ziehe Schuhe und je nach Witterung auch Ober-Mantel aus, setze mich ins Wohnzimmer und trinke eine Tasse Tee, während ich darüber nachdenke, was heute passiert ist, welche Aufgaben ich erledigt habe und welche ich morgen noch machen muss. Danach bereite ich mich auf den nächsten Tag vor, wünsche Mokuba eine gute Nacht, egal ob er schläft oder nicht, und gehe ins Bett. Und am nächsten Morgen stehe ich auf, trinke meinen Kaffee und lese dabei den Wirtschaftsteil der Zeitung, wünsche Mokuba einen schönen Schultag und dann gehen wir gemeinsam aus dem Haus. Was denkt er denn, was ich tue? Einen Yoga-Kurs besuchen? Wie Yami mit meiner Clique ins Kino gehen und sich sinnlose Filme angucken? in Diskotheken zu ohrenschädlicher Musik tanzen? Habe ich Zeit dazu? NEIN! Was denkt er eigentlich, wer er ist? Stürmt einfach so ein MEIN Haus, hält mir Vorträge über MEIN Leben und ist selbst nichts weiter als ein kleiner, mieser Dieb? Im Gegensatz zu diesem Besserwisser bin ich vollkommen zufrieden mit meinem Leben! Sicher, ich habe keine Zeit für Freunde, ich bin den ganzen Tag in der Firma, aber ich bin glücklich so. In mir kämpfen keine zwei Seiten, ich habe nur eine! Und mir geht es gut! Mir ging es nie besser! Ich könnte jederzeit zurückfahren und so weitermachen wie bisher! Das dachte ich. Kapitel 8: Kapitel 3.1.2 – Lovely Handy --------------------------------------- Kapitel 3.1.2 – Lovely Handy So, nächstes Kapitel. Zuerst den angebrochene Morgen von Cat Stevens (I love it!), jetzt das geliebte Handy, ausnahmsweise ohne Songtitel, es klang einfach gut. Ja, Handys sind an allem Schuld, allen voran an der Weltwirtschaftskrise! Kaiba geht auf Abwehrhaltung... die wird er noch aufgeben... und die Comedian Harmonists waren echt toll, genauso wie die Morgenstimmung aus der Peer Gynt Suite - ideal, um runterzukommen und für Matheaufgaben :-D PS: zur Moldau: 1. Irgitt! 2. Ich hasse es 3. Wo ist die Tüte? PS2: zum Thema Morgenmusik: hat wirklich ein Lehrer bei uns gemacht, bezweifle aber, ob Heavy Metal zum Frühstück wirklich förderlich war …) PS3: Isses so besser und regelkonform? Viel Spaß beim Lesen! Plötzlich kam ein Windstoss. Er blies mein Hemd auf und war sehr kalt. Ich bekam eine Gänsehaut. Und auf einmal fing ich an zu lachen. Einfach so. Ich lachte einfach. Es war so schön. Ja, mir ging es nie besser. Komisch. Aber meine Wahrnehmung war so von Wut und Ärger über dich gestört, dass ich es erst heute so empfinde. Damals machte mich dieser Windstoss sehr sauer, sodass ich, nachdem ich gelacht und mich darüber gewundert hatte, laut fluchte: „Hab ihr noch alle Tassen im Schrank?“, ich wusste nicht, wen ich beleidigte, meinte aber, denke ich, alles, „Geht es euch gut?! Das ist ja wohl die Höhe! Erst schickt ihr mich in die Pampa, dann bekomme ich mitten in der Nacht Besuch von so einem Dilletanten-Dieb und jetzt schenkt ihr mir auch noch einen eiskalten Tornado! Wollt ihr mich umbringen?!“ Wütend stand ich auf und ging die Treppe hinauf. Mit einem lauten Poltern trat ich die Tür ein. Zu meinem, späteren, Glück schlug sie zwar krachend an die Wand, sprang aber nicht aus den Angeln. Ich hatte Lust, das ganze Haus zu zertrümmern. Gerade ging ich auf das Sofa zu, um es zu zerstören, als mein Blick auf das Handy fiel. Da lag es. Das Ding. Das kleine Etwas, wegen dem ich den ganzen Ärger hatte. Ein teures, wenn auch nicht das neuste, Mobiltelefon. Ein Mobiltelefon. Mein Mobiltelefon! Mokuba hat vielleicht die SIM-Karte ausgetauscht, aber er hat sicher nicht daran gedacht, auch den Telefon-Speicher zu löschen … und deshalb werde ich mich jetzt hinsetzen und etwas arbeiten! Es wäre schön, wenn Er jetzt da wäre, dachte ich, dann könnte er sehen, dass es mir gut geht! Dass mich die Arbeit glücklich macht! Er hat vielleicht diese Gefühlsdusselei nötig, aber ICH nicht! Ich nahm das Handy in die Hand und betrachtete es. Das wollte ich eigentlich nicht, aber es passierte einfach. Ich betrachtete es von allen Seiten und fand, dass es schön war. Die stahlblaue Hülle, die elfenbeinfarbenen Tasten, die ganze Form. Es war nicht rund, aber trotzdem lag es gut in der Hand und es hatte Gummistreifen, damit es mir nicht aus der Hand rutschte. Ja, es ist schön. Es ist gut möglich, dass er es nur haben wollte, weil es so schön ist. Moment mal – seit wann finde ich Dinge schön?, dachte ich plötzlich und erschrak. Aber dieser Gedanke verflog, als ich versuchte, die Tastensperre zu lösen. Es fiel mir zuerst nicht ein und ich probierte einige Male, bis ich schließlich die richtige Tastenkombination herausfand. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich das normalerweise täglich mindestens hundert Mal tat, während ich es in diesem Augenblick zum ersten Mal seit zweieinhalb Tagen versuchte. Ich klickte mich durch das Menu, das zum Glück selbst erklärend war. Ich hätte mich sonst nicht zurechtgefunden. Trotzdem hatte ich noch etwas Routine inne, denn schon nach kurzer Zeit wurden die Tasten, die ich vorher mühselig suchte, fast blind gedrückt. Auch an das Licht, das mir so grell und kalt vorkam, gewöhnte ich mich schnell. Irgendwie beruhigte mich das alles. Meine Wut war verschwunden. Ich fühlte mich geborgen, der Welt und vor allem dir und deinen Worten nicht mehr schutzlos ausgeliefert. Ich klickte die Vorstandssitzung an und setzte mich auf das Sofa, um sie mir anzuhören. Meine Stimme erklang laut und verzerrt. Konzentriert lauschte ich der Eröffnung, aber irgendetwas fehlte. Ich griff nach etwas, aber es war nicht da. Ich öffnete etwas, aber es war nicht da. Mir fehlte etwas. Und nach einigem Überlegen wusste ich, was es war: Zettel und Stift! Panisch erwachte ich aus meiner Ruhe und sah mich um. War unter den Stühlen vielleicht etwas? Lag in irgendeiner Nische vielleicht ein Stückchen Papier, fand sich in einer Rille im Fußboden womöglich ein Stift? Ich legte das Handy behutsam auf das Sofa und ging umher. Doch es war nichts zu finden. Nirgendwo. Ich war verzweifelt. Wie sollte ich nur ohne die Möglichkeit zu aufzuschreiben arbeiten? Ich habe täglich an so viele Dinge zu denken, so viele verschiedene Sachen zu tun, ich muss mir einen Zettel mit allem Wichtigen machen! Das kann doch nicht sein! Ich durchsuchte meinen Koffer, doch auch hier war nichts. Ich verzweifelte. Was soll ich tun?, dachte ich erneut, Ich habe keine Alternative – entweder ich höre mir die Vorstandssitzung an und schreibe mit oder ich lasse es. Aber das kann ich nicht! Mir geht es gerade so gut, ich will jetzt nicht aufhören! Ich will nicht mehr in dieses andere Leben zurückkehren. Ich will nach Hause, zu meinen Akten! Diese ganze Natur, dieses ganze Grün, es erdrückt mich, es verwirrt mich, ich will nach Hause in mein geordnetes Leben. Ich will nicht mehr an Ihn denken!, dachte ich, auch wenn ich kurze Zeit später sehr enttäuscht von mir war. Wie konnte ich nur so verzweifeln? Es gehört zu meiner Persönlichkeit, dass ich, egal ob ich verliere oder gewinne, nie die Fassung verliere. Wenn ich einen Sieg erringe, gebe ich meinem Gegenspieler nur ein mildes, manchmal abschätziges Lächeln. Und wenn ich verliere, verdunkeln sich kurz meine Augen und dann überlege ich, wie es weitergeht. Ob es sich lohnt, weiterzukämpfen oder ob eine Akzeptanz der bessere Weg ist. Das einzige, was mich meine Fassung verlieren lässt, sind unfähige Mitarbeiter und Joey Wheeler, dessen Dummheit vermutlich dreimal so hoch ist wie unser jährlicher Umsatz, und der liegt bei … 502,7 Mrd. Yen (ca. 4,57 Mrd. EUR) … wir sind wirklich gut, zwar schlechter als letztes Jahr, aber in Anbetracht der ganzen Gesetze, die uns behindern, ein zufrieden stellendes Ergebnis. Jedenfalls ist es UNMÖGLICH, dass ich verzweifle. Also: tief durchatmen, Augen auf, klarer Blick und weiter geht es. Wenn ich nichts zu schreiben habe, dann muss ich mir eben alles merken! Ich startete die Aufzeichnung, die ich vorher gestoppt hatte, erneut und schloss die Augen. Zahlen … Umsatzerlöse … Dividende … zweikommairgendwas … Gewinne … Aufwendungen … Marktanteil …. die Aufnahme lief, aber ich hörte nicht zu. Sie schien einfach in ein Ohr rein und aus dem anderen wieder herauszukommen…. Ich hörte, doch verstand nichts. … Was hatte Herr Okuyama gerade gesagt? … Wie hoch war die Dividende letztes Jahr? Wer spricht da gerade? Bei welchem TOP (TagesOrdnungsPunkt) sind wir? … Das kann doch nicht wahr sein! Bin ich etwa unfähig, mir ein paar Worte zu merken?, fluchte ich laut. Was ist nur mit mir los? Ich war wirklich sehr sauer und wurde noch wütender, als zu dem monotonen Rauschen, in das sich die Vorstandssitzung in meinem Kopf verwandelt hatte, noch ein anderes Geräusch hinzukam. Es war ein Pfeifen, ein hoher Ton, der sich dann immer weiter steigerte. Was war das nur? Dieser süßliche Ton, vermutlich eine Horizontalflöte oder so, löste tiefe Abscheu in mir aus. Dieses fröhliche, „locker-leichte“ wie Mokuba es nannte, hasste ich. Es war so realitätsfern. Warum die Welt schönreden wenn sie in Wirklichkeit grausam und zerstörerisch ist? Man sollte sie so darstellen, wie sie ist und das können am besten Streichinstrumente! Eine Violine, ein Kontrabass … diese Instrumente waren für die Welt geschaffen worden! Und nicht dieser weiche, süßliche Kram! Aber durch mein Denken hörte die Musik nicht auf, ganz im Gegenteil, sie wurde lauter. Was war das nur? Ich überlegte und versuchte mich an alle Stücke zu erinnern, die ich jemals gehört hatte. Es war ein klassisches Musikstück und kein Kaufhauspop wie er in den Straßen Dominos zu finden ist, und es hat etwas … ruhiges … fließendes … in der Grundschule, was hörte ich da nur? … Peter und der Wolf … naja … diese ganzen Kinderlieder … Bilder einer Ausstellung … ganz interessant, aber für so kleine unintelligente Kinder wie den Rest meiner Klasse doch etwas überfordernd … und … Die Moldau! DIE MOLDAU! Mein absolutes Lieblingsstück! Dieses strenge Streicher-Thema ist fantastisch! Endlich mal ein Stück, das das Leben nicht rosarot zeigt, sondern auch seine strengen Seiten widerspiegelt! – Aber das war auch nicht das, was ich hörte … Mittelstufe … was spielte mir dieser unfähige Ignorant von Lehrer, der den ganzen Stoff aus den Büchern ablas, immer vor? … Peter und der Wolf … für alle, die es noch nicht kannten … Die Moldau … wie immer einmal jährlich, aber immer wieder toll … Beethoven und Mozart … schön, bis auf Die Zauberflöte mit ihrem Märchenblabla … und diese alten deutschen Schlager aus den 20iger Jahren zur Kulturwoche … was war das noch gleich? Martha, es brennt ja … oder Kazuya, jetzt ist das Paket da .. Veronika der Lenz ist da? .. nein! Von den Komischen Harmonien oder so … doch das könnte es sein: diese leichte Harmonie … obwohl … es klingt nicht wie ein Lied, bei dem sich alles wiederholt, sondern doch wie in klassisches Stück, das sich steigert … Oberstufe …. da war doch was … ja, wir waren in der Oper … ich ging nur mit, weil es förderlich fürs Geschäft war, aber .. wir waren in … Peer Gynt .. GENAU! Die Peer Gynt Suite von Edvard Grieg! Daraus war es .. Solveigs Hochzeit? nein, es war kraftvoller … In der Halle des Bergkönigs? bis auf den Lärm am Schluss auch ein tolles Stück, aber das ist es auch nicht … es war etwas, was damals jeden Morgen durch das Schulhaus tönte, um die Denkleistung der Schüler zu verbessern (Anm. d. A.: hat wirklich ein Lehrer bei uns gemacht, bezweifle aber, ob Heavy Metal zum Frühstück wirklich förderlich war …) …. Morgen … Morgenmusik .. Morgenklang .. MORGENSTIMMUNG! Das war es! Dieses Lied störte nicht nur meinen schönen Vormittag sondern ging mir auch fürchterlich auf die Nerven! Diese sinnlose, schöne Morgenstimmung … Moment: SCHÖN? Ist das das Wort des Tages? Für ihn ist das vielleicht schön, aber nicht für mich! Ja, dieser dämliche Dilettanten-Dieb hört sicher gern solche Musik, sie ist „ruhig“ und „fließend“ und eben „schön“! Habe ich Zeit dazu? NEIN! Habe ich Nerven dazu? NEIN! Wie ich jetzt auf einmal auf dich kam, weis ich nicht … Was macht er eigentlich den ganzen Tag? In einer marktbeherrschenden Firma arbeitet er sicher nicht! Wahrscheinlich liegt er faul in der Ecke, bemitleidet sich selbst oder genießt das Leben und geht abends durch die Straßen, um in die Häuser anderer einzubrechen! Es sei seine Aufgabe … Natürlich! – Erzählen kann er viel, aber in Wirklichkeit weis er nicht im Geringsten wie es ist, täglich mehr als zwölf Stunden zu arbeiten! Und wie sehr er doch leidet – ich könnte mich totlachen! Im Gegensatz zu ihm bin ich für Leute verantwortlich, ich muss täglich viel tun, um sie zufrieden zu stellen, damit wir Marktführer bleiben! Er dagegen arbeitet, wenn man es so nennen kann, nur für sich selbst. Jetzt mal abgesehen davon will er „glücklich“ werden, sich „verlieben“, er will MALEN! Wer braucht denn schon solchen schöngeistigen Kram? Glücklich werden ist erstrebenswert, da gebe ich ihm Recht, aber ich bin schon glücklich, wenn er es nicht ist, trage ich dafür keine Schuld! Aber verlieben, VERLIEBEN! Ich verwende meine Zeit lieber für sinnvolle Dinge als für diese ganze Gefühlsdusselei. Man hofft und dann „neckt“ man sich, man muss sich den ganzen Tag nur mit der Frage beschäftigen „Liebt er/sie mich auch?“, man muss viel Geld ausgeben um die Erwartungen des anderen erfüllen und nach ein paar Monaten stellt sich heraus, dass der andere einen doch nicht liebt und die ganze Mühe und vor allem das ganze Geld vergebens ist! Ich habe das mit Wheeler und May miterlebt: diese gespielte, beiderseitige Ablehnung, sie haben sich viel gestritten und das nur, weil keiner der beiden zugeben wollte, dass sie ineinander verliebt waren! Und als Wheeler sich dann hoffnungslos blamierte und es ihr gestand, hat sie, trotz der Tatsache, dass sie ihn auch liebte, Angst bekommen, weil sie ihre Freiheit nicht verlieren und sich an Wheeler binden wollte – was ich verstehen kann: wer würde sich schon mit Wheeler einlassen? – und seitdem läuft er ihr immer hinterher! Habe ich Zeit dafür – NEIN! Und malen – was hat das denn für einen Sinn? Es gibt zu wenige richtig gute Künstler, die sehr viel Geld verdienen können, und zu viele Dilettanten, die mittellos in ihrem Atelier vor sich hin malen, in der Hoffnung, eines Tages mal „ganz groß“ zu werden! Malen ist eine brotlose Kunst! Besonders jetzt, wo der Markt einen gelben Klecks auf weißem Papier wesentlich höher bewertet als ein ansehnliches und realistisches Landschaftsbild! So was würde ich mir nicht mal im Traum ins Wohnzimmer hängen! Aber bitte, wenn er malen will, dann soll er es machen, mit seinen kriminellen Coups „verdient“ er anscheinend genügend Geld! Und an alledem ist nur dieses kleine, billige Ding schuld! Ich hatte mich in Rage geredet und mich immer mehr in meine Wut hineingesteigert und war kurz davor, das Handy auf dem Boden zu zerschmettern. Ich machte dieses winzige Mobiltelefon, das eigentlich nicht einmal für seine „Geburt“ etwas kann, für alles verantwortlich, was mir durch den Kopf ging: Du, deine Worte, die mich verwirrten, wütend machten, die ich nicht verstand, und dass ich darüber nachdachte, was ich nicht wollte, die Tatsache, dass ich nicht arbeiten konnte, das Wetter, dass ich mitten in der Pampa in diesem Haus saß und verloren war, alles. Dass ich mich unmerklich begonnen hatte mich zu verändern. Der Raum kam mir in diesem Moment auf einmal so klein, so eng vor. Es schien, als würde er meine Worte reflektieren und die Situation nur noch schlimmer machen. Ich trat zur Tür hinaus auf die Terrasse – und sofort kam mir ein warmer und gleichzeitig kühler Windhauch entgegen. Es musste kurz geregnet haben, ein Sommergewitter vielleicht, denn die Luft war frisch und an den Grashalmen hingen Wassertropfen. Aber die Sonne schien. Ich sah zum Himmel, betrachtete das Blau und die Wolken und fühlte mich frei. Genauso wie heute Morgen. Ich hätte Worte in den Himmel schreien können und sie wären nie wieder zu mir zurückgekehrt. Wieder musste ich lachen, aber diesmal störte es mich nicht. Alle meine Gedanken waren plötzlich weggeblasen von diesem Bild, dieser Harmonie. Es war so leicht… Ich legte mich in das feuchte Gras, schloss die Augen und genoss den Rest des Tages. Kapitel 9: Kapitel 3.2.1 – Accidentally Unexpected -------------------------------------------------- Kapitel 3.2.1 – Accidentally Unexpected So, hier das nächste Kapitel-Trio! In diesem Kapitel geht es um Bakura und Kaiba - wen sonst - und ihre zweite Begegnung. Kaiba ist wieder in seinem Element ... Inspiriert ist das Kapitel von der OB-Wahl, die irgendwann stattfand. Im Gegensatz zu Baku war ich tatsächlich da, weil es zwar nicht so schön direkt ist wie eine Klassensprecherwahl, aber man zumindest etwas getan hat. Und es ist spannend zu sehen, ob der persönliche Favorit gewonnen hat (warum können wir unsere Politiker nicht auch a la DSDS über eine Mottoshow und das Telefonvoting wählen? Mottos: Rechnen, Reden, Krisenmeistern :-D). Der Titel ist wieder ein Wortspiel ... Viel Spaß beim Lesen!!! yu „Also wenn du hier noch länger rumliegst, fressen dich sicherlich irgendwann die Wölfe!“, hörte ich eine Stimme. Ich öffnete langsam die Augen und erschrak. Wo bin ich, wie spät ist es, wer hat das gerade gesagt?, fragte ich mich verwirrt. Noch halb im Traum dachte ich nach und realisierte dann: Ich war im Garten, vor der Villa, in die Mokuba mich zum Erholen geschickt hatte; es musste kurz nach Sonnenuntergang sein, alles hatte einen dunklen Schleier. Und die Stimme konnte nur zu einer Person gehören … „Was machst du denn hier, Bakura?“, fragte ich knurrend. „Was denkst du denn – ich bin natürlich wegen deinem Handy hier. Oder dachtest du wirklich, du wirst mich so schnell los?“, sagtest du vergnügt. Das künstlich-selbstbewusste in deiner Stimme war verschwunden, du hattest keine Angst. Warum auch? Hier, in dieser Einöde, in den Fängen meiner dümmlichen Gedanken, war ich erbärmlich, niemand, den man fürchten konnte. Was ich dir natürlich nicht zeigte und trocken antwortete: „Nein, natürlich nicht. Nervensägen wird man nicht so schnell los. Also: mein Handy liegt im Haus, nimm es dir und verschwinde endlich!“ „Würde ich ja gerne, aber ich kann nicht.“, antwortest du unbeeindruckt. „Wieso kannst du nicht – siehst du hier irgendwo meterhohe Maschendrahtzäune oder bist du festgewachsen? NEIN!“ „Aber ich habe dir eine Frage gestellt und ich wollte eine Antwort haben.“ „DU UND DEINE DÄMLICHE FRAGE! Denkst du, ich habe nichts Besseres zu tun, als über die Frage von so einem Möchtegern-Dieb wie dir nachzudenken?“, schrie ich. Das wühlte auch dich ein kleinwenig auf. „Kannst du mir mal erklären, warum du auf einmal so sauer bist? Gestern Nacht warst du so gefühlvoll, du hast dir Sorgen um mich gemacht.“, stelltest du fest. „Jetzt fang nicht so an! Ich habe mir keine Sorgen gemacht …“ „… sondern dich nur gefragt, ob es mir gut geht …“ „Nein, nicht einmal das. Ich habe nur versucht, so unbeschadet aus der Sache herauszukommen wie möglich!“ „Ja, sicher! War ja klar, dass du alles leugnest!“ „Hast du zu viele Romantik-Komödien gesehen? Du tust geradeso, als ob wir etwas miteinander gehabt hätten, was wir nach meinem Kenntnisstand aber nicht hatten! Du sitzt doch sicher mit Gardner täglich vor dem Fernseher und siehst dir diese Filme an!“ „Thea guckt diesen Kram gerne – aber ohne mich. Ich kucke lieber Dokus. Außerdem: Was soll ich mit Thea vor einer Flimmerkiste? Sie ist ein Mädchen, wie es im Buche steht…!“ „Da hast du ausnahmsweise mal Recht …“ „Und außerdem schwärmt sie sowieso immer von Yami!“ „Du willst doch nicht behaupten dass …“ „Yes: Thea ist in Yami verschossen, welcher unglücklicherweise in Yugi verliebt ist, ihren besten Kumpel. Sie bewundert seine Männlichkeit …“ „Männlich? DER? Wenn ich mir eine Bluse und einen Rock anziehen würde, was ich nie tun würde, wäre ich auch weiblich!“ „Tja, wo die Liebe hinfällt…“ „Von mir aus kann sie hinfallen, wo sie will, das ist nicht mein Problem. Hauptsache, sie fällt nicht in meinen Schoß. Außerdem lenkst du schon wieder vom Thema ab.“, knurrte ich. „Ist das schlimm? Du warst gerade so schön ruhig, man konnte sich gut mit dir unterhalten. Ich wette, dass das sonst selten vorkommt …“ „Dann studiere doch Psychologie – dann bist du ausgelastet und belästigst mich nicht.“ „Jetzt lenk DU nicht vom Thema ab. Warst du schon mal verliebt?“ „Nein.“, antwortete ich trocken, „Und selbst wenn würde ich es sicher nicht DIR erzählen!“ „Also warst du schon mal verknallt!“ „Findest du es nicht etwas dreist, jemanden wie mich, den Chef der größten Spielefirma Japans …“ „Was dir auch nicht weiterhilft …“ „Unterbrich mich nicht! Dann eben „jemanden“ – Findest du es nicht etwas dreist, JEMANDEN mit so einer Frage zu konfrontieren, ohne selbst etwas von sich Preis zu geben?“ „Wer war sie? Oder war es ein Er?“ „Ich habe gesagt, es geht dich nichts an!“, brüllte ich und überlegte, wie es jetzt weitergehen sollte. So schnell werde ich ihn wohl nicht wieder los, er macht, was er will und akzeptiert kein Nein, also was mache ich jetzt?, dachte ich. Viele Möglichkeiten habe ich nicht: eine Flucht? Niemals – erstens flüchte ich NIE und zweitens verlaufe ich mich in diesem Wald. Ihn schlagen? NEIN – ich begebe mich nicht noch einmal auf das Niveau von Wheeler herab und benutze Gewalt, wenn es nicht mehr weitergeht. Anschreien – funktioniert vielleicht bei Herrn Kunststoff, aber nicht bei diesem Ignoranten! Also … hilft nur noch eines: geschickte Ablenkung. Und so fragte ich mehr gelangweilt als ernst gemeint: „Du hast gesagt, du siehst gerne Dokumentationen im Fernsehen. Welche?“ Du grinsest nur, als hättest du meinen Trick durchschaut, und sagtest dann: „Geschichte, mit Schwerpunkt Ägypten. Ich finde es richtig faszinierend, wie man damals gelebt hat … Und du?“ „Ich habe keine Zeit zum Fernsehen.“, sagte ich trocken. „Gar nichts? Aber du musst doch früher mal was gesehen haben, oder hat euch euer Vater nich Fernsehen lassen?“, fragtest du mehr interessiert als vorwurfsvoll, und fügtest dann hinzu: „Oh, sorry, war nicht so gemeint…“ „Ich nehme deine Entschuldigung an. Du bist zwar ein ziemlicher Anfänger, aber für meine Vergangenheit kannst du nichts. Und nein, ich kann mich nicht erinnern, jemals so etwas gesehen zu haben.“, antwortete ich ruhig. „Schade. Du verpasst einiges. Die Menschen hatten damals noch gar nicht die Errungenschaften, die wir heute haben. Die ganze Technik und so. Und trotzdem haben sie tausende von Jahren regiert. Sie haben eine Gegend, die für viele lebensfeindlich scheint, die kilometerbreiten Wüsten, fruchtbar gemacht, indem sie Kanäle vom Nil zu ihren Siedlungen gruben. Damals gab’s noch keine Pizza, kein fließend Wasser, keine Klospülung, kein Glas, nichts. Und trotzdem. Aber das faszinierendste an Ägypten waren die Götter. Amon und Atum, Nut, Osiris und Isis und Horus und Thot. Es gab so viele, für jede Kleinigkeit, aber die Leute haben daran geglaubt. Es vermittelte den Menschen Sicherheit und den Glauben daran, dass sie etwas ändern konnten. Aus Sicht der heutigen Wissenschaft ist das natürlich totaler Blödsinn, aber was ist mit heute? Oft denke ich, dass ich sowieso nichts machen kann. Demnächst findet in Domino doch wieder die Bürgermeisterwahl statt. Ich werde nicht wählen gehen, was soll ich da? Es gibt noch tausende andere, und ich bin da nur ein kleines Licht. Nicht meine Stimme zählt, sondern die der anderen. Und selbst wenn ich wählte, wäre das auch egal, weil ich falsch gewählt hätte. Denn nach der Wahl werden Versprechen gebrochen und Fiktionen über den Haufen geworfen. Dann, wenn alles zu spät ist, gestehen die Politiker sich und den Bürgern ein, dass sie niemals all das umsetzen können, was sie wollen. Wenn demokratische Wahlen und autoritäres Denken aufeinanderprallen, dann knallt es. Da sind die Götter schon praktischer: man weis, wer wofür steht, und sie versprechen nichts. Man hofft nur. Und man kann seine Wünsche direkt an die richtige Stelle richten, man wird nicht von einer Person zur nächsten geschickt. Mein Vater musste seine Forschungsreisen immer von fünf Ämtern genehmigen lassen, er musste immer nachweisen, dass er die Gelder wirklich benötigte, dass die Reise wirklich von globaler Bedeutung sei, und das musste er immer wieder vortragen, jedes Mal.“, erzähltest du, und ich war froh, dass es mal nicht um mich ging. Außerdem klang das, was du erzähltest, nicht uninteressant und ich fragte: „Was macht dein Vater?“ „Er war Archäologe. Er hat in ganz Ägypten rumgegraben und viele neue Erkenntnisse gesammelt.“, sagtest du kurz, aber voller Respekt. „Wieso WAR?“, fragte ich verwundert. „Er ist seit vielen Jahren verschollen. Das letzte Mal hat man ihn bei den Pyramiden von Giseh gesehen. Ich mache mir da keine Hoffnungen: wahrscheinlich ist er tot, entweder von Räubern ermordet oder von einer Schlange oder einem Skorpion gebissen.“, erklärtest du ruhig. „Warum hast du nicht nach ihm gesucht?“, fragte ich. „Denkst du, das habe ich nicht?“, riefest du, während dir eine Träne aus dem Auge lief, „Ich habe Wochen, monatelang gesucht, ich habe Ägypten mindestens dreimal durchreist und jedes Sandkorn umgegraben, aber er bleibt eben verschwunden!“ „Das tut mir leid.“, sagte ich mitfühlend und es tat mir wirklich leid. Denn da brach langsam etwas in mir auf. „Ist schon ok,“, sagtest du und wischtest dir die Träne weg, „Das ist nun mal mein Schicksal. Außerdem habe ich dabei eine neue Gabe kennen gelernt, und damit kann ich zumindest anderen helfen ….“, du machtest eine Pause und atmetest tief durch. Im Halbdunkeln klang dein Atem irgendwie intensiv…, „Trotzdem bin ich manchmal sehr verzweifelt. Wenn du niemanden mehr hast und dir in schlechten Moment immer einreden musst, dass alles vorbestimmt ist und deine Verwandten von oben auf dich heruntergucken… Ist nicht so einfach. Und Einreden ist sowieso nicht meine Stärke …Tut mir leid, ich wollte dich mit meinen Gefühlen nicht belasten, du kannst das sowieso nicht verstehen. Ich meine, ich kann ja von jemandem wie dir kein Mitleid erwarten ….“ „Meine Eltern“, sagte ich plötzlich. „Was?“ „Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich vier oder fünf Jahre alt war.“, sagte ich. „Das tut mir leid!“, sagtest du. Deine Worte kamen bei mir an, und sie klangen so rein, so wahr, dass ich mich gut fühlte, aber ich antwortete nicht, sondern erzählte weiter wie in Trance: „Es war eine Nacht im April. Unsere Eltern sagten, sie müssten auf einen Ball gehen, den jährlichen Firmenball, und sie würden bald zurück sein. Meine Mutter sah sehr hübsch aus, sie trug ein hellblaues Abendkleid mit vielen Rüschen. Ihre blonden Haare waren hochgesteckt, eine Blume, vielleicht aus Strass, vielleicht auch aus Stoff, steckte in ihrem Haar. Als sie sich an diesem Abend von mir verabschiedete, sah sie aus wie eine Königin, sie strahlte. Auch mein Vater sah in seinem schwarzen Anzug mit Fliege sehr festlich aus, und auch er hatte eine kleine Blüte am Revers stecken. Meine Eltern haben immer eine große Zuneigung zueinander verspürt und ich habe sie nie streiten sehen. Wie auch immer, an diesem Abend gingen sie. Meine Mutter sagte noch zu mir: ‚Pass gut auf deinen Bruder auf, Seto und du Mokuba, pass gut auf Seto auf! Macht keinen Unsinn und tut immer, was Mari euch sagt.’ Dann gingen sie. Mokuba, ich und Mari, unsere Kinderfrau, spielten noch Memory, und wie immer habe ich gewonnen. Irgendwann brachte sie uns ins Bett. Doch wir konnten nicht schlafen. Also gingen wir ins Wohnzimmer und setzten uns unter die große Wanduhr. Zeit, hatten meine Eltern gesagt, weis alles. Und mit der Zeit würden sie wieder kommen, dachte ich. Doch das war ein Irrtum. Es war schon weit nach Mitternacht, Mokuba war auf meinem Schoß eingeschlafen, als plötzlich das Telefon klingelte. Mari ging durch das Wohnzimmer an uns vorbei, wohl, weil sie uns in unserem Zimmer vermutete, und nahm dem Hörer ab. Und dann hörte ich sie schluchzen. Sie fragte noch, was jetzt aus den Kindern würde, und legte auf. Ich sah, wie ihre Silhouette nach unten sank und sich an die Kommode lehnte, auf der unser Telefon stand. In diesem Moment wurde mir klar, dass etwas passiert war, auch wenn ich mir nicht eingestehen wollte, dass das Schlimmste, was passieren konnte, geschehen war. Ich wollte zu Mari laufen und sie fragen, was los war, aber ich wollte Mokuba nicht wecken. So saß ich die ganz Nacht da und versuchte mir einzureden, dass meine Eltern nur bei Freunden übernachtet hätten, dass die Straße, die zu unserem Anwesen führte, wegen eines Unfalls unpassierbar sei, dass alles in Ordnung wäre. Aber am nächsten Morgen erfuhren wir die traurige Gewissheit. Mari kam aufgelöst zu uns und sagte: ‚Seto, Mokuba, ihr müsst jetzt sehr stark sein. Mami und Papi’, sie brach erneut in Tränen aus, ‚sind tot. Sie sind letzte Nacht bei einem Autounfall gestorben!’ Für eine Sekunde waren wir beide wie gelähmt, doch dann realisierten wir die traurige Wahrheit. Mokuba und ich brachen in Tränen aus. Und damit endete der schönste Teil meines Lebens.“ Kapitel 10: Kapitel 3.2.2 – Similar familiar families ----------------------------------------------------- Kapitel 3.2.2 – Similar familiar families So, nächstes Kapitel. Auch wenn es paradox klingt, die Geschichte mit Kaibas Eltern hat mir sehr viel Spaß gemacht, weil ich mal ein bisschen fantasieren konnte. Im Gegensatz dazu war der Tod von Bakus Mutter und Schwester schon schwerer ... legt lieber eine Packung Taschentücher in eure Nähe! Ansonsten ... danke ich allen treuen Lesern, es macht immer Mut zu lesen, dass das, was man macht, anderen gefällt... Und Yami Bakura taucht auf - war scheen, mal so richtig umgangssprachlich und fies zu schreiben :-D Viel Spaß beim Lesen! Ich weis nicht warum, aber ich hatte erwartet, dass du irgendetwas sagen würdest. So etwas wie Tut mir leid!, oder Schade!, vielleicht auch Pech gehabt!, aber dem war nicht so. Stattdessen spürte ich deinen Kopf auf meiner Brust. Mein Hemd wurde feucht. Ein leises Schniefen und Schluchzen durchzog die Stille der Nacht. Du hattest deine Arme um meinen Oberkörper gelegt, als wolltest du mich festhalten. Als wolltest du mich beschützen. Als wolltest du mir beistehen bei dem, was durch die Tür kam, die du selbst unabsichtlich geöffnet hattest. Ich spürte deine Berührungen, und sie waren warm. Sie waren einfach da. Sie existierten. Sie waren wirklich da. Und sie waren wirklich warm. Ich fühlte etwas, was man Geborgenheit nennen konnte. Dass du eigentlich ein Fremder warst, realisierte ich nicht. Ich bemerkte nur meine Erinnerungen, die nach so langer Zeit in der Dunkelheit endlich wieder ins Licht strömten, und das wohlige Gefühl, das sie untermalte. Wie in Trance erzählte ich weiter: „Meine Eltern waren Spieledesigner. Sie haben in einer großen Firma gearbeitet und für ihren Beruf gelebt. Tag und Nacht haben sie gearbeitet, wenn der Abgabetermin für ein neues Projekt wieder näher rückte. Es gab im Grunde nur zwei Prioritäten in ihrem Leben: ihre Arbeit und uns. Sie hatten wenige Freunde, gingen selten weg, auch zu Firmenfeiern nur widerwillig, aus Zeitmangel, aber wenn es um mich und Mokuba ging, dann taten sie alles. Sie wollten, dass wir beide glücklich werden. Sie wollten gute, intelligente, menschliche Menschen aus uns machen. Sie hatten ihr bis dahin mögliches Lebensziel erreicht, und es war ihnen egal, ob unseres genauso aussah. Sie wollten, dass wir das ausprobieren, was uns Spaß macht, sie haben uns unterstützt bei allem, was wir taten. Als Mokuba, als er noch ganz klein war, für Tiere schwärmte, sind wir jeden Tag hinausgegangen, in den Zoo, oder in den Wald, oder auch nur in den Garten, und haben uns die Ameisen, Bienen, Elefanten angesehen. Meine Mutter fand das sehr interessant. An einem Sonntag haben Mokuba und sie den ganzen Tag mit der Lupe im Garten gesessen und jedes Tier beobachtet, das sie finden konnten. Das ging solange gut, bis Mokuba eine Biene genauer betrachten wollte. Er dachte, Bienen seien nett und freundlich, aber diese Biene war es wahrscheinlich nicht. Sie stach ihn und Mokuba schrie so laut, dass man es bis hinunter in die Stadt hören konnte. Meine Mutter holte einen Eisbeutel und legte ihn meinem Bruder auf die schmerzende Stelle. Er weinte immer noch, doch nachdem meine Mutter angefangen hatte zu singen „Heile, heile, Segen …“, lachte er laut. Und auf einmal strahlten die beiden. Ich sah das alles von meinem Zimmer aus, in das ich mich zum Lesen zurückgezogen hatte. Seit ich zählen konnte, interessierte ich mich für Mathematik. Wie viele Grashalme wuchsen wohl in unserem Garten? Wie hoch war die Bienengiftkonzentration in Mokubas Blut? Und wie lange würde es dauern, bis der Krankenwagen da war? Ich glaube, ich war für mein Alter doch sehr intelligent, aber das störte meine Eltern nicht. Ich ging mit meinem Vater sogar in das Mathe-Museum, wo mathematische Phänomene, Probleme, aber auch Instrumente vorgestellt werden. Mein Vater und ich haben damals eine kleine Wette abgeschlossen: an bestimmten Stellen sind Fragen für Kinder und Erwachsene notiert, die man beantworten muss. Mein Vater wettete, dass ich es niemals schaffen würde, alle Fragen zu beantworten und dabei schneller zu sein als er. Wir trennten uns am Eingang und wollten uns am Ausgang wieder treffen. Nach einer halben Stunde stand ich da und wartete. Doch mein Vater kam erst fünfzehn Minuten später. Ich hatte gewonnen. Vielleicht hatte er auch gemogelt, ich weis es nicht. Jedenfalls saßen wir kurze Zeit später in einer Eisdiele und aßen gemütlich. Ich aß gern …Schokolade. Dieser leicht bittere Nachgeschmack faszinierte mich. Heute esse ich nur noch selten Eis, meistens auf Firmenfeiern. Es ist Kinderkram und gesundheitsschädlich, denke ich. Das schönste Erlebnis geschah ein paar Wochen vor ihrem Tod. Es war eines Nachts, ich konnte nicht schlafen. Also ging ich zu meinem Vater, der gerade in seinem Arbeitszimmer an dem neusten Computerspiel arbeitete. Es sollte das tollste und beste Spiel der Welt werden, monatelang hatten meine Eltern getüftelt, aber irgendetwas funktionierte nicht. Schon seit Tagen suchten meine Eltern nach dem Fehler im Programmcode, nach der Nadel im Heuhaufen. So auch an diesem Abend. Ich ging in das Zimmer und fragte: „Kann ich helfen?“, doch mein Vater sagte gütig: „Nein Seto, dafür bist du noch zu klein. Du bist so clever, aber wenn nicht mal ich den Fehler finde, wie sollst du es dann tun?“ Doch ich akzeptierte schon damals keine Widerrede und setzte mich auf seinen Schoß. Gemeinsam suchten wir, und suchten, bis wir irgendwann einschliefen. Ich bemerkte nur im Halbschlaf, wie meine Mutter kam und uns beide zudeckte und uns einen Kuss gab. Am nächsten Morgen erwachte ich. Der Bildschirm war immer noch an. Und auf einmal fiel mir etwas auf. Da fehlte etwas … ein Zeichen! Ein simples Zeichen! Ein kleines, simples Zeichen war die Ursache! Ich weckte meinen Vater: „Papa, Papa, aufwachen!“ Ich musste kräftig rütteln, wenn er schlief, dann schlief er, aber irgendwann wachte er auf. Ich zeigte mit dem Finger auf die Stelle und die Augen meines Vaters wurden sehr groß. Er fing an zu lachen. Immer lauter. Ganz laut. „Seto, wir haben es!“, rief er. Wir hüpften im ganzen Zimmer herum, und nach einer Weile kamen auch Mokuba und Mama hinzu. Es kommt mir heute so lächerlich vor, aber diese Momente, in denen wir gemeinsam jubelten, verbinde ich mit einer sehr positiven, warmen Erinnerung. Aber das ist vorbei.“ So oder so etwas ähnliches habe ich gesagt. Ich weis es nicht mehr so genau. Die Tränen flossen mir jedenfalls aus den Augen, und während ich versuchte, meine Trauer zu verstecken, drang dein Schluchzen durch die ganze Nacht. Ich nahm meine Hand und streichelte dir vorsichtig über das Haar. „Es ist vorbei“, sagte ich leise, „Es ist vorbei. Es ist vorbei.“, immer wieder, sowohl zu mir selbst als auch zu dir. Ja, es ist vorbei. Die schönen Zeiten sind vorbei. Das Lächeln meiner Mama. Es ist vorbei. Die Nickelbrille meines Vaters, die er fast nie aufsetzte. Es ist vorbei. Der Weichspüler, den meine Mama immer benutzte, und der nach Lavendel duftete. Vorbei. Das Chaos auf Papas Schreibtisch, über das sich Mama immer aufregte. Vorbei. Die Fröhlichkeit unserer Villa, die weiten Felder, über die ich mit Mokuba stundenlang tobte. Vorbei. Vorbei, Vorbei, Vorbei! Vorbei, Vorbei, Vorbei, ein tiefer Unterton kam zu meiner relativ hellen Stimme hinzu. Vorbei, Vorbei, Vorbei. Nach einer Weile fragte ich: „Ist alles in Ordnung?“, doch du antwortetest nicht, und weinest stattdessen weiter. Meine Hand glitt weiter über dein Haar, und ich stellte fest, dass es gar nicht so voluminös war, wie es immer schien. Es war fein und wirkte anscheinend nur durch die leichte Naturwelle so breit. Komisch, dachte ich. Und so lagen wir da. Bis du irgendwann sagtest: „Du hast doch gesagt, es ist alles vorbei. Ja, es ist leider alles vorbei. Alles vorbei…“ „Was ist mit dir?“, fragte ich erneut und fuhr mit dem Zeigefinger der anderen Hand vorsichtig unter dein Kinn, damit ich dir in die Augen sehen und sicherstellen konnte, dass du mir auch antwortest, „Das mit meiner Familie ist traurig, aber ich habe es überlebt, du musst nicht weinen!“ „Wenn ich nur wegen dir heulen würde, wäre ich wohl ziemlich schnell fertig, nein, das war ein Scherz“, sagtest du, und der kleine Luftstoß auf meiner Brust lies mich fühlen, dass du lachen musstest, „Ironie ist ein guter Helfer, um mit den schlimmen Dingen des Lebens fertig zu werden. Mal im Ernst: wenn ich dir erzählen würde, warum ich heulen muss, liegen wir beide vermutlich morgen Früh vertrocknet auf der Wiese.“ „Na und?“, sagte ich. „Ist dir dein Leben nicht wichtig?“, fragtest du auf einmal. „Ich weis zwar nicht, wie du darauf kommst, aber ich bin realistisch: unsere Tränensäcke haben nur ein begrenztes Volumen, zu einem bestimmten Zeitpunkt werden wir nicht mehr weinen können, auch wenn wir es gerne wollten.“, erklärte ich. „Und wenn du das nicht wüsstest, wenn du einfach die Wahl hättest zu sterben oder weiterleben, was würdest du tun?“ „Was würdest du?“, fragte ich, und meinte das nicht aus Ablenkung sondern wirklich aus Interesse. „Meistens Leben, aber manchmal würde ich gerne sterben.“, sagtest du kurz. „Aber warum?“ „Ich habe einfach keine Lust mehr. Meine Familie ist ausgelöscht, und meine Aufgabe erscheint mir manchmal so sinnlos. Ich würde es nie schaffen mich umzubringen, aber wenn die gute Fee käme…“ „So was könnte ich nicht! Erstens würde ich mein Firma NIEMALS Yami, diesem besserwisserischen Schleimer, überlassen. Außerdem könnte ich Mokuba nicht alleine lassen. Und meine Vergangenheit? Die habe ich verarbeitet. Es ist alles vorbei.“ „Genau, es ist alles vorbei. Aber verarbeiten und verdrängen ist nicht dasselbe.“, sagtest du ruhig. „Verdrängen und hinterher trauern aber auch nicht.“, sagte ich scharf, und fügte dann hinzu: “Entschuldige bitte, aber Menschen, die im Selbstmitleid versinken, machen mich immer total wütend. Außerdem bist du doch gar nicht so allein …“ „Ist schon ok, ich schwimme gern im Selbstmitleid, wenn ich Zeit dazu habe“, sagtest mit einem ironischen Unterton und fügtest dann ernst hinzu: „Jetzt kommt es also doch raus. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht vorgewarnt. Ich bin tatsächlich völlig allein, meine Mutter und meine Schwester sind vor ein paar Jahren ebenfalls durch einen Autounfall gestorben.“ „Was?“, fragte ich verwundert. Ich spürte, wie sich dein warmer Körper von meinem löste und du anscheinend aufstandest. Für eine Weile hörte ich nichts. Bis auf das feuchte Gras, das unter deinen Füßen quietschte und ein Fingerknacksen. Du knacktest jeden Finger einzeln durch. Eine gute Methode, um Leute nervös zu machen, für dich war es vielmehr dazu da, deine Nervosität loszuwerden, wie ich später feststellte. Dann hörte ich wieder das Schluchzen. Es war erst leise und wurde dann immer lauter. Und auch dazwischen variierte seine Lautstärke. Augenscheinlich liefst du im Kreis. Du sagtest nichts. Aus irgendeinem Grund stieg ein Gefühl in mir auf, das ich nicht definieren konnte. Es war kein Mitleid, sondern etwas anderes, ein Gleich-Gefühl. Ich verachtete dich nicht für deine Tränen, die ich normalerweise mit Schwäche assoziiere, sondern sie kamen mir ganz natürlich vor. Ich hatte auf einmal das dringende Bedürfnis mit dir mitzulaufen, mitzuweinen, auch wenn ich nicht weinen konnte, aber zumindest innerlich. Vielleicht dache ich, dass ich dir dieses warme Gefühl zurückgeben sollte. Aber ich unterließ es. Genauso wie ich es unterließ, dich aufzufordern, endlich weiterzureden, denn ich wusste, dass du es irgendwann tun würdest. Und nach einer Weile erzähltest du tatsächlich weiter: „Es war an einem warmen Sommertag. Meine Schwester und meine Mutter waren zu ihrem Abiball gefahren. Ich lag leider mit einer Sommerrhinits und Fieber im Bett. War mein Glück. Oder doch besser mein Pech? Ich frage mich heute so oft, warum ich damals nicht mitgefahren bin, ich wollte es ja unbedingt! Ich wollte meine Schwester sehen, wie glücklich sie an ihrem schönsten Tag war! Sie sah so schön aus! Sie hatte ein langes, weinrotes Kleid mit einer golden, glitzernden Spirale an. Sie ging um ihren Hals und dann um den ganzen roten Stoff. Eine Blume schmückte ihr Haar, es war hochgesteckt. Schwarz, pechschwarz, wie Schneewittchen sah sie aus, nur, dass sie irgendwie immer ein goldener Hauch umwehte. Der sie letztendlich auch nicht schützen konnte, als ihr der Typ entgegenkam…“ Du machtest eine Pause, und auch wenn du versuchtest, deine Tränen zu unterdrücken, habe ich noch nie jemanden so weinen sehen, besser hören, und auch gefühlt, wie dich. Du warst ein Häufchen Elend, doch trotzdem wolltest du nicht aufgeben, mir deine ganze Geschichte zu erzählen. Du wischtest dir die Tränen weg und sie platschten ins Gras. Dann atmetest du dreimal tief durch und fuhrst fort: „Ich erinnere mich noch sehr genau an diesen Abend. Ich lag gerade in meinem Zimmer, als sie zu mir kam, um sich von mir zu verabschieden. Sie trat in das Zimmer und fragte mich: ‚Wie geht es dir?’, und ich antwortete ihr: ‚So lala, aber wenn ich dich sehe, dann fühle ich mich toll. Du siehst so schön aus, ich glaube, wenn dich Kazuya so gesehen hätte, wäre er sofort mit dir gegangen!’ Kazuya, das war der Typ, in den sie verknallt war. Sah ganz nett aus, er war der Schulschönling, und weil arrogante Schulschönlinge immer mit ebenso arroganten Schulschönheiten ausgehen, hatte er ihre Bitte abgelehnt. Er hat sie einfach in den Müll geworfen. Aber meine Schwester hatte es verkraftet und sagte: ‚Hätte er nicht, Ryou, außerdem weist du doch, dass mein Herz nur dir gehört!’, sie lächelte und zog ein Foto von mir aus ihrer kleinen Handtasche. Sie wollte mich unbedingt auf dem Ball dabei haben, vielleicht hätte sie damals auch eine Videokonferenz oder so was geschaltet, wenn wir die Mittel gehabt hätten. Aber das hatten wir nicht, wir hatten nur uns. Mein Vater war nie da, er war immer auf Forschungsreisen oder in der Universität. Er hat für seinen Beruf gelebt, genau wie deine Eltern, und da sind eben seine Kinder zu kurz gekommen. Meine Mutter und meine Schwester teilten sich in beide Rollen hinein; sie waren meine engsten Vertrauten. Mit ihnen konnte ich über alles reden, meine Probleme, meine Wünsche, alles. Es war eben nicht einfach; mein Vater hat mit seinen Forschungsreisen nicht viel Geld verdient und er war nicht der Typ dafür sich zu vermarkten. Ihm waren Wahrheit und individuelles Streben wichtiger als Ruhm. Er hat nichts aufgebauscht, nicht aus jedem Steinchen eine Pyramide gemacht, so war er nun mal. Und meine Mutter hatte es mit ihrem Job auch nicht einfach: als Sekretärin oder Mädchen für alles, ist ja dasselbe, hat sie im Institut für Kommunikationswissenschaften der Universität Domino auch nicht die Masse verdient. Der Beruf hat ihr Spaß gemacht, sie hatte was das betrifft ein erfülltes Leben, sie hatte ein schönes Leben, aus dem sie dieser Typ einfach rausgerissen hat. Ich stelle mir ihre Fahrt heute immer noch vor: wie sie im Auto sitzen und gerade darüber diskutieren, was sie morgen kochen würden. Meine Mutter hat gerne gekocht, sie beherrschte alles: vom klassisches Schweinebraten über chinesische Pfannengerichte bis hin zur Molekularküche. Sie war sehr experimentierfreudig, hat alles ausprobiert, nie exakt nach Rezept gekocht, aber es hat trotzdem immer geschmeckt. Das hat sie mir mitgegeben: ich kann vieles kochen, vielleicht hätte ich sogar eine Ausbildung gemacht. Aber seit dem Unfall rühre ich keine Kochtöpfe an, nur, wenn es wirklich nötig ist. Tiefkühlpizza und Dosensuppen gibt es heute genug, davon kann man gut leben. Ich schaffe es einfach nicht. Naja, sie reden über das Essen und plötzlich sehen sie einen Scheinwerfer. Sie schreien, meine Mutter versucht zu bremsen, aber es ist aussichtslos. Dann knallt es, sie leiden ein paar Minuten bis alles vorbei ist. Ihre Schmerzen, ihre Angst. Ihr Leben. Die Polizei hat es später so rekonstruiert: in einer Samstagnacht, um ca. ein Uhr kommt ein ungefähr 20-jähriger Mann mit seinen Freuden auf gerader Strecke durch einen kurzen Sommerregen ins Schleudern und knallt erst gegen die Leitplanke und dann gegen ein entgegenkommendes Auto. Dieses wird wiederum gegen einen Baum geschleudert, beide Insassinnen lebensgefährlich verletzt, sie sterben noch am Unfallort. Beim Fahrer des Unfallwagens wurde später ein Blutalkohol von 1,8 Promille festgestellt, er und die anderen Insassen kamen mit Knochenbrüchen, ein paar Prellungen und Schürfwunden sowie Schädel-Hirn-Trauma davon. Die Tageszeitung hat ihm am nächsten Tag eine halbe Seite gewidmet und zum x-ten Mal auf die Gefahren betrunkener Jugendlicher hingewiesen. Aber nicht auf die Opfer. Warum auch? Scheiß auf die Toten, rette die Lebenden! Es leben die Idioten, es sterben die Törichten! Klar! Warum? Warum hat es nicht ihn getroffen, es wäre eine gerechte Strafe gewesen! Warum mussten diese unschuldigen Menschen sterben?! Sie hatte doch nichts, gar nichts, sie hatten nichtmal einen Grund zum Sterben! Meine Mutter war bei ihren Kollegen beliebt, wollte am Montag wieder an die Arbeit, und meine Schwester war so glücklich, dass sie den ganzen Stress nun hinter sich hatte, sie wollte noch ein paar Wochen ausspannen und dann ihr Studium beginnen! Sie haben sich in ihrem ganzen Leben keinen einzigen Fehler geleistet und sollen nun für den x-ten eines anderen büßen! Das kann doch nicht sein!!!“, schriest du wütend. Du warst aufgestanden und liefst offensichtlich sehr schnell hin und her, das Gras knackte komisch und deine Tränen prasselten darauf, als zöge ein Unwetter vorüber. Dabei war es eine sternklare Nacht. „Naja“, fuhrst du fort und deine Stimme klang irgendwie anders, „Aber diese Gedanken kamen erst später, ich hatte gar keine Zeit um nachzudenken, ich musste die Beerdigung organisieren. Eine Woche später fand sie statt. Aber ich weis nicht viel davon, ich war wie in Trance. Ich weis nur noch, dass die Särge in einer kleinen Kapelle mit einem bunten Bleiglasfenster aufgebahrt wurden. Ein heller Schein schien hindurch, er erinnerte mich an einen Regenbogen. Dann hielt jeder, der etwas sagen wollte, eine kleine Rede, nur kein Geistlicher, so waren sie nicht. Danach wurden die Särge zu ihrem Grab gebracht, angeführt von mir. Es waren sehr viele Leute da, die halbe Universität, alle ihre Schulkameraden, einige Verwandte, die sich wieder einschleimen wollten und mir ihr heuchlerisches Beileid bekundeten, und auch Kazuya, der Typ, in den sie verliebt war und der sie abgewiesen hatte. Ich erinnere mich, dass er nach der Beerdigung, bei der jeder meinen beiden etwas ins Grab geworfen hatte, was sie mit ins Jenseits nehmen sollten, dass er danach zu mir kam und sagte: „Sorry, dass ich deine Schwester enttäuscht habe.“ Ich war wie gelähmt vor Trauer und konnte nichts antworten außer „Danke.“ Aber danach war ich sehr wütend auf ihn: Wie konnte er nur so etwas sagen, er kannte sie doch gar nicht! Hatte er es sich jetzt womöglich doch anders überlegt, war ihm meine Schwester auf einmal wichtiger als die Schulschönheit? Jetzt, wo sie tot war? Wahrscheinlich sagte er das nur, weil sie eben tot war! Er hat doch keine Ahnung! Und überhaupt: meinte er nicht, dass ich im Moment nix besseres zu tun habe als seinem Gebabbel zuzuhören? Denkt er, er ist der einzige, der um sie trauert, nur weil er der Schulschönling ist?! Er kann nichts dafür, er hat kein Recht, so etwas zu sagen! Ich bin schuld, ich sollte um Vergebung bitten, ich hätte mitfahren sollen, vielleicht hätte ich etwas tun können! Und wenn nicht, so wäre ich wenigstens auch gestorben! So ein Mist! Warum musste mich diese blöde Erklärung ausschalten? Warum habe ich sie nicht angerufen? Es war doch angekündigt! Hätte ich sie vorgewarnt, dann wären sie früher losgefahren, dann wäre ihnen der Autofahrer nicht einmal begegnet! ES IST ALLES MEINE SCHULD!“, der letzte Satz entfuhr dir wie ein furchteinflößender Schrei und für ein kurze Zeit war alles still. Die Tränen hörten auf zu platschen, das Gras sagte keinen Ton, selbst dein Atmen war kaum zu vernehmen. Dann hörte ich auf einmal eine Stimme. Sie war fremd und kam mir trotzdem bekannt vor. Sie klang wie du, nur wesentlich tiefer: „Jetzt hör endlich mal auf, dein Geheule geht mir sowas von auf die Nerven! Wann kapierst du es endlich: es war ein Unfall, es war von den Göttern so vorherbestimmt, wie oft soll ich dir das noch sagen! Denkst du vom Rumheulen werden sie wieder lebendig? Es ist jetzt schon fünf Jahre her, langsam solltest die Welt akzeptieren wie sie ist, Ryou! Wir haben deswegen schon so viel Zeit verloren!“ „Bakura?“, fragte ich verwirrt in die Dunkelheit. „Steht vor dir, was willst du?“, fragte mich die Stimme. „Nein, du bist nicht Bakura! Bakura war verzweifelt, er war – verhältnismäßig – freundlich, du bist es eher nicht, also: Wo ist er?“, fragte ich fordernd. „Habe ich doch gerade gesagt: ich bin Bakura, oder der Weiße König, und was viel wichtiger ist: du bist unser Opfer, was erstens bedeutet, dass du uns sofort dein Handy gibst und zweitens dass dich das nichts angeht!“, sagte die Stimme hart. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich, Seto Kaiba, in mich von so eine Dillettantendieb wie dir beklauen lasse!“, fiel ich wieder in mein altes Ich zurück, „Bakura hat es gestern nicht geschafft also wirst du es heute erst recht nicht können!“, erklärte ich kühl. „Es ist zwar unwichtig, aber nur der Form halber: Hast du vorhin nicht gesagt, ich könne es haben?“ „Das habe ich zu Bakura gesagt und nicht zu so einem arroganten Angeber wie dir. Woher weißt du überhaupt davon?!“, rief ich. „Weil ich - welch Zufall - da war?“, sagte die Stimme spöttisch. „Du warst nicht da, das hätte ich gesehen!“ „Och nee, also müssen wir es doch aufklären. Ryou, willst du das machen? Ryou? Ryou?! Wo bist du? Ryou, komm raus aus deiner Ecke! Toll, jetzt hat er sich wieder verkrochen! Und nachher regt er sich dann wieder über das auf, was ich gemacht hab! Och Ryou! Komm schon!“, sagte die Stimme mehr zu sich selbst. „Wer ist Ryou?“, wunderte ich mich. Der Name war mir schon in Bakuras Erzählung öfter aufgefallen… „Also, ich sag dir jetzt mal was Sache ist:“, begann die Stimme, „Bakuras Seele ist geteilt.“ „Was?“, fragte ich verwundert. „In diesem Körper hier, mit den weißen Haaren und dem mittelgroßen Du-weiß-schon-was und den Füßen in Schuhgröße 41 und so weiter, leben zwei Seelen. Seele eins ist Ryou Bakura, der Typ, der dir gestern und heute eine Besuch abgestattet hat und den du Bakura nennst. Er gehört ursprünglich her rein, er gehört von Geburt an zu diesem Körper, er hat seine Mutter und seine Schwester verloren. Seele zwei bin ich, Yami Bakura, ein ziemlich alter Geist, der schon seit Jahrtausenden in die verschiedensten Körper schlüpft um seine Mission zu erfüllen. Meistens ohne dass meine Opfer etwas davon wissen, aber mit Ryou habe ich einen Kompromiss geschlossen: er erfüllt meine Mission, dafür hat er die Oberhand, ich melde mich nur in Notfällen zu Wort, wie jetzt, wenn das Negative in Ryou die Oberhand hat. Sobald er total verzweifelt ist erscheine ich auf der Bildfläche um noch mehr Leid von ihm abzuwenden. So einfach ist das. Und im Moment hat sich Ryou in irgendeiner Ecke verkrochen und will nicht rauskommen.“, erläuterte die Stimme. „Was?“, fragte ich erneut. Das war, glaube ich, das erste Mal, dass sich mein Wortschatz wenn auch nur kurzzeitig auf dieses eine Wort beschränkte. „ ‚Was? Was willst du damit sagen’ Das sagen sie alle. Jeder, dem wir versucht haben, das zu verklickern. Dafür, dass du dich so wichtig nimmst, bist du ganz schön normal! Lass mich raten: Du glaubst mir nicht.“ „Nein, das tue ich tatsächlich nicht! Seelenwanderungen und dieser andere Esoterik-Kram sind doch nichts anderes als pure Geldverschwendung! Such dir jemand anderes dem du deine Lügen auftischen kannst und verschwinde!“, sagte ich trocken während ich mich wunderte, woher er meine Gedanken kannte. „Würde ich ja gerne, aber ich kann nicht.“ „Komisch, das hat heute schon mal jemand zu mir gesagt. Aber laut meiner Erinnerung habe ich dir keine Frage zu beantworten!“ „Da hast du recht, aber Ryou hat sich in irgendeiner Ecke seines Geistes verkrochen und bemitleidet sich gerade selbst und hat keine Lust rauszukommen. Und solange er nicht da ist, kann ich nicht verwinden!“ „Dann zerr ihn eben mit Gewalt her!“ „Ich kann ihn aber nicht finden!“ „Das wird doch nicht so schwer sein, du hast doch einen Kopf und kein Labyrinth!“ „Irrtum, unser ganzer Geist ist ein Labyrinth. Unsere gesamte Seele ist darin verteilt. Die Erinnerungen, die wir verdrängt oder vergessen haben sind tief verworren, das aktuelle Zeug ist einfacher zu finden. Wahrscheinlich hängt er gerade bei den Erinnerungen an seine Mutter ab.“ „Wenn du weist wo er ist, dann kannst du ihn doch herholen!“ „Mach du es doch! Du bist doch an allem schuld! Bis jetzt hatte er immer nur kleine Aussetzer, die nicht so schlimm waren, aber diesmal ist es ernst, und das alles nur, weil du ihn an den Unfall erinnert hast!“ „Kann ich etwas dafür? Ich habe nur von meinen Eltern erzählt, er war es, der sich an seine erinnert hat!“ „Du denkst wohl nie über die Folgen nach, oder?“ „Oh doch, Yami Bakura, oder wer auch immer du bist, wenn ich nicht über die Konsequenzen nachdächte, hätte ich es wohl kaum soweit gebracht!“ „Im Beruf! Im Beruf! Toll! Wie wäre es, wenn du deine Mitmenschen auch mal so behandeln würdest?“ „Jeder ist für sich selbst verantwortlich! So ist das nunmal auf dieser Welt! Man kann sich von anderen Menschen kein Mitleid erwarten!“, sagte ich laut und das Paradoxe war, dass ich tief im Inneren genau das Gegenteil empfand. „Und genau deswegen stehen wir hier! Ryou macht sich Selbstvorwürfe und keiner ist da, der sie ihm abnimmt, außer ich! Und ich habe langsam keine Bock mehr, mir dauernd dieses Gesülze anzuhören!“ „Du bist ein toller Freund, wirklich!“ „Dass ausgerechnet DU dieses Wort in den Mund nimmst! Und außerdem: wir sind keine Freunde, nur eine Zweckgemeinschaft!“ „Zweckgemeinschaft oder WG, ist mir doch egal, Hauptsache du verschwindest endlich!“ „Ja, das tue ich jetzt wirklich, es ist mitten in der Nacht, ich habe besseres zu tun, als mich mit so einem Idioten wie dir abzugeben! Adios!“, sagte die Stimme genervt und verstummte. Kapitel 11: Kapitel 3.2.3 – Surprising Survival ----------------------------------------------- Kapitel 3.2.3 – Surprising Survival So, der letzte Teil des Kapitel-Trios. Wenn ihr dieses Kapitel gelesen habt, habt ihr euch durch einige Seiten gequält :-D (hab ja gesagt, dass es länger wird - aber zwei, drei Absätze sind drin :-D) Baku ist weg - da gehört die Rettung dazu! Hier kam es emotional zur schwierigsten Szene: sich in Kaiba reinzuversetzen, wie er den Tod seiner Mutter und Schwester als Bakura erlebt, mit all den Details, der Ohnmacht ... sich das vorzustellen, da ist mir doch das ein oder andere Tränchen runtergekullert, auch wenn es reine Fiktion ist. Also noch ein paar Taschentücher. Dafür wird das nächste Kapitel chillie-chillig wie Chillie-Schoki - ziemlich lecker, aber nicht ohne Würze :-D Doch genug gequatzscht - viel Spaß beim Lesen!!! yu Ich wusste nicht, was ich tun sollte und hatte das dringende Bedürfnis aufzustehen. Was war hier eben gerade passiert? War das hier eben wirklich passiert? Warum war all das hier passiert?, fragte ich mich, während ich versuchte mit die Situation zu vergegenwärtigen: Ich liege im Gras und schlafe halb. Bakura kommt und wir reden. Bakura erzählt mir von seinem Vater, der in Ägypten verschollen ist, und wirft mir vor, das nicht verstehen zu können. Ich erzähle ihm von meinen Eltern, die vor vielen Jahren bei einem Autounfall ums Leben kamen. Er erzählt mir von seiner Mutter und seiner Schwester, die ebenfalls durch einen Autounfall gestorben sind. Er steigert sich immer mehr in seine Verzweiflung und auf einmal erscheint ein Mann namens Yami Bakura. Yami Bakura erzählt, dass Bakuras Körper zwischen ihm und Ryou, den ich als Bakura kenne, aufgeteilt ist und dass sich Ryou versteckt hat und nicht hervorkommen will. Yami Bakura wirft mir außerdem vor, dass ich nie darauf achte, was meine Worte für Folgen haben. Ich widerspreche, doch er ist genervt und verschwindet. Ich glaubte zu träumen. Das passte nicht in meine logische Welt. Es war überirdisch. Sowohl die Tatsache, dass die Menschen, die uns am meisten bedeuteten, beide durch einen Autounfall starben, als auch die, dass sich zwei Seelen einen Körper teilten. Das konnte nur ein Traum sein. Das war einfach zu viel! Zu viel für diese eine Nacht. Und ausgerechnet ICH! Wo ICH überhaupt nicht an diesen Zauber-Kram glaube. Das kann doch nicht sein! Und schon wieder dieses Wort: FOLGEN! Warum ich nicht verstünde, wie ich andere verletze! Warum versteht denn keiner, dass auf diese Welt nun mal jeder für sich allein kämpfen muss? …Soviel Unglück, soviel Unglaubliches, das kann nur ein Traum sein!, sagte ich innerlich zu mir selbst. Doch ein kühler Windhauch, der mir plötzlich durch das Haar blies, sagte mir, dass es nicht so war. Und auf einmal fiel mir noch etwas ein: während ich so dagestanden und mich selbst bemitleidet hatte, war von Bakura nichts zu hören. Wie war das wohl ohne Seele? Ich wusste ja noch nicht einmal, wo er stand, ob er überhaupt stand, sich womöglich in Luft aufgelöst hatte! „Bakura? Bakura!?“, rief ich in die Dunkelheit, doch du antwortetest mir nicht. Natürlich nicht, wenn er ohne Seele ist, wird er mich wohl kaum hören können. Mist. Ich lief vorsichtig umher, in der Hoffnung dich irgendwo zu finden. Ich sah nicht, wo ich lang lief, aber irgendwann prallte ich gegen etwas. Es war lauwarm, nicht unterkühlt aber auch nicht auf Körpertemperatur und es trug Klamotten. Ich hob meine Hände und betastete es vorsichtig. Ich fühlte deine wuschligen Haare und strich dir behutsam über das Gesicht. Ich fühlte dichte Augenbrauen, kurze Wimpern, tiefe Augenhöhlen. Eine Nase, einen kleinen Flaum an der Oberlippe und weiche Lippen. Eine Jacke, ein T-Shirt, eine Hose. „Bakura?“, flüsterte ich, doch du antwortetest nicht. Was ist mit ihm los?, fragte ich mich. Ich legte meine Hand auf deine Brust. Dein Herz schlug gleichmäßig, langsam, als schliefest du. Ich atmete innerlich auf: du warst nicht tot. Ich hob deine Hand, um zu fühlen, ob du mir Widerstand leistetest, doch sie war schlaff. Ich ließ sie los und sie schwang nach hinten. Ich wusste einfach nicht, was mit dir los war. Was soll ich tun?, fragte ich mich erneut. Ich drückte meine Hände in das feuchte Gras und fuhr dir über das Gesicht. Manche Leute wachen durch den Kältereiz auf, aber du nicht. Ich beschloss dich in die Villa zu tragen, es war kalt und ich wollte nicht, dass du dir eine Erkältung holst. Du kamst mir sehr leicht vor, beängstigend leicht, als du in meinen Armen lagst. Glücklicherweise war das nur eine Folge deines Aussetzers, in Wirklichkeit warst du sogar relativ kräftig. Es war schwierig, vom Garten in die Villa zu gelangen. Wenig war zu sehen, der Weg kam mir so unendlich lang vor, und die Treppenstufen, die ich nicht sah und deren Höhe ich nicht abschätzen konnte, machten meinen Weg noch beschwerlichen und gefährlicher. Es wunderte mich, dass ich kein einziges Mal gestolpert war, als ich über die Türschwelle trat und dich auf das Sofa legte. Genau das Sofa, auf dem ich vor zwei Tagen meine erste Nacht verbracht hatte. Nun warst du an der Reihe. Du warst in Sicherheit, zumindest dein Körper, aber wie sollte es weitergehen? Ich dachte nach … das Einfachste wäre sicherlich, ihn schlafen zu lassen… aber wenn sich seine Seele verkrochen hat, wird sie sicher nicht herauskommen, nur weil die Sonne am nächsten Morgen durch das Fenster scheint … Außerdem … Yami Bakura hat Recht: ich habe ihn in diese Situation gebracht, also muss ich ihn auch wieder herausholen. Es fiel mir zwar schwer, aber letztendlich musste ich mir eingestehen: ich fühlte mich für dich verantwortlich. In den zwei Nächten, die wir uns kennengelernt hatten, warst du mir irgendwie vertraut geworden. Es gab Berührungspunkte zwischen uns, unsere Vergangenheit, auch unsere Unterschiedlichkeit oder … ich konnte es in diesem Moment nicht erklären, heute ist das anders: langsam tauchten Gefühle in mir auf, die ich vorher vergessen hatte, und ich hatte auch vergessen, dass Gefühle nur bedingt erklärbar sind. Du lagst also vor mir und ich grübelte und grübelte und auf einmal geschah etwas unheimliches: der Vollmond schien durchs Fenster. Wo kommt der plötzlich her?, fragte ich mich, Gestern war er nicht mal am Himmel zu sehen … Heute deute ich es als ein Zeichen, auch wenn es mir noch immer schwer fällt, daran zu glauben, aber nachdem, was danach passierte, gibt es für mich keine andere Erklärung: Ich kniete mich auf das Sofa, genau über dich, und beugte meinen Kopf nach unten, bis er nur noch wenige Zentimeter von deinem entfernt war. Ich sah dir tief in deine leeren Augen und flüsterte: „Bakura! Bakura!, Bakura! Bakura!, Bakura! Bakura!“, immer und immer wieder, doch du antwortetest nicht. Ich rückte näher. Unsere Nasenspitzen berührten sich. „Bakura! Bakura, wach auf!, Bakura! Bakura, wach auf!, Bakura! Bakura, wach auf!“, flüsterte ich erneut. Immer und immer wieder. Doch noch immer erschein kein bisschen Glanz in deinen Augen. Die ständige Wiederholung versetzte mich in einen Trancezustand, in dem ich meine Lippen zwar spürte, aber ihr Handeln nur verfolgen, nicht beeinflussen konnte. Vorsichtig kam ich dir noch ein Stückchen näher. Meine Lippen waren deinen jetzt so nah, dass sie sich manchmal berührten, während ich sprach: „Bakura, Freund und Gebieter, Feind und Geliebter, Wacht auf! Bakura, Sohn des Ra und eurer Mutter, Bruder der Diebe und ihr Beschützer, Wacht auf! Bakura, Diener des Pharaos und seiner Untertanen, Retter der Menschen und derer, die waren, Wacht auf!“ Heute kommt mir dieser Text wie ein Auszug aus einer Schriftrolle des alten Ägypten vor. Vermutlich hat mein Gehirn einige Passagen einer Alexander-der-Große-Dokumentation entnommen und neu zusammengefügt, vielleicht war es anders, ich weis es nicht. Ich wiederholte die Sätze immer und immer wieder. Meine Lippen streiften deine, ich versank in deinen Augen, das Bild vor mir verschwamm zu einem weißen Nebel. Ich sah nichts. Doch plötzlich fühlte ich mich leicht, schwerelos, als flöge ich irgendwo umher. Nach einer Weile klärte sich der Nebel und ich fand mich in einem seltsamen Raum wieder. Es war düster, nur ein Fackelschein erhellte die Dunkelheit. An den Wänden erkannte ich Ziegel, ich musste in einem sehr alten Gebäude sein. Aber wo? Auf einmal hörte ich fröhliches Kindergeschrei. Es kam aus einem dunklen Gang, den ich bis jetzt nicht wahrgenommen hatte. Ich hatte Angst, doch ein Gefühl sagte mir, dass ich dorthin gehen sollte. Ich nahm die Fackel aus der Wandhalterung und ging vorsichtig den engen Gang entlang. Das Geschrei wurde immer lauter und irgendwann befand ich mich in einem weiteren Raum. Auch er war durch eine Fackel erleuchtet. Ein Kind spielte dort mit einer alten Frau und einem jungen Mädchen ein Spiel, das ich nicht kannte. Das Kind hatte weiße Haare und lachte fröhlich. Die Mutter lachte mit ihm. „Verloren!“, jauchze das Kind und lächelte die alte Frau an. Sie erwiderte seinen Blick und sagte gütig: „Ich muss in die Küche, das Nudelwasser kocht. Schließlich will ich nicht, dass ihr beiden verhungert!“ Dann ging sie zu einer Wand und löste sich in Luft auf. Das junge Mädchen und das Kind spielten weiter. Sie wirkten sehr vertraut, wie Geschwister. Ich sah ihnen eine Weile zu. Es war so harmonisch. Es erinnerte mich an meine Kindheit, wie ich mit meinem Bruder und meinen Eltern Memory oder Mensch-ärgere-dich-nicht oder Hoch-die-Leiter spielte. Es kam zwar selten vor, aber wir haben immer viel gelacht. Heute wundert es mich, dass ich nicht schon in diesem Moment realisierte, wer das war. Doch dann rief das Mädchen: „Gewonnen!“ und der Junge antwortete gleichzeitig belustigt und trotzig: „Das war reines Glück, beim nächsten Mal gewinne ich! Komm, lass uns noch eine Runde spielen!“ Doch das Mädchen erwiderte: „Ryou, tut mir leid, aber ich muss noch lernen! Morgen schreibe ich eine wichtige Klausur…“ RYOU? RYOU! Ryou Bakura! Jetzt begriff ich: dieser Junge war Bakura und die Frau seine Mutter, das Mädchen seine Schwester. Aber sie sind tot … könnte es sein, dass das eine Erinnerung ist? Aber wenn das eine Erinnerung ist, dann bin ich in Bakuras Kopf, ich bin in seiner Seele. ICH HABE ES GESCHAFFT! ICH HABE IHN GEFUNDEN!!! „Bakura! Bakura!“, rief ich erfreut, doch plötzlich löste sich das Mädchen in Luft auf, der Tisch und das Spiel verschwanden, der Raum wurde schwarz und dann hörte ich ein Reifenquietschen und einen Knall. Dann war alles still. Es war dunkel und still. Nichts. Ich war starr vor Schreck. Es passierte alles so plötzlich. Ich stand wie gebannt im nirgendwo und fühlte nichts. Irgendwann hörte ich ein Schluchzen. Die Konturen des Jungen wurden langsam sichtbar. Er saß in einer Ecke des Raumes und hatte den Kopf auf die Knie gelegt. Das warst du. Ich trat mit meiner Fackel, die unbemerkt aus und dann wieder angegangen war, näher und fragte: „Bakura? Bakura!“, doch du antwortest mir nicht. „Was ist mit dir los?!“, sagte ich mitfühlend mit der Strenge meines anderen Ichs. Die Frage kam mir sinnlos vor, weil ich die Antwort wusste, aber mir fiel komischerweise nichts anderes ein. Immer noch in deinen Knien vergraben sagtest du: „Geh weg!“ „Was ist mit dir los?“, fragte ich erneut, diesmal etwas sanfter. Doch du erwidertest wieder nur: „Geh weg! Verschwinde!“ „Es tut mir leid“, sagte ich, auch wenn ich nicht wusste, wofür ich mich entschuldigen sollte, aber manchmal bewirken diese Worte etwas. In der richtigen Situation verwendet lösen sie die Starre, in die Menschen verfallen, so wie auch du. Aber das war nicht die richtige Situation. „HAST DU NICHT VERSTANDEN: GEH WEG!“, riefest du und klangst dabei wie ein kleines Kind, „Wegen dir sind sie alle weg! Wir waren gerade so schön am Spielen, aber du hast alles kaputt gemacht! Geh weg und bring mir meine Mami und meine Schwester zurück!“ „Bakura, das ist nur eine Erinnerung! Deine Schwester und deine Mutter sind bei einem Autounfall gestorben. Sie werden nicht wiederkommen.“, erklärte ich dir ruhig. „Du lügst! Sie waren gerade da, beide, ich habe sie doch gesehen!“, schriest du trotzig. Ich verzweifelte langsam. Anscheinend wollte dieses kleine Kind alles verdrängen, es ungeschehen machen. Für es war nie etwas passiert. Aber irgendwo musste auch der erwachsene Bakura sein, der es realisiert hatte. „Bakura, tief in dir drin weist du, dass es passierte, du hast es mir selbst erzählt. Bitte Bakura, du musst mit mir wieder in die reale Welt kommen!“, bat ich. „Ich muss gar nichts! Ich bleibe hier, für immer, bei meiner Mami und meiner Schwester!“ „Aber was ist mit der Mission, von der du mir erzählt hast?“, versuchte ich es erneut. Ja, plötzlich war es mir eingefallen: bei unserem ersten Gespräch hattest du erzählt, dass es deine Aufgabe ist die Menschen zu bestehlen und dass du ihnen damit sogar helfen würdest. Ich dachte, das wäre das einzige, was dich vielleicht umstimmen würde, aber das war ein Irrtum: „Meine Mission? Die kann Yami auch erledigen!“, sagtest du. „Yami hat aber keine Lust!“, erwiderte ich genervt. „Du musst es ja wissen, du lebst ja auch mit ihm unter einem Dach!“ Ich begann langsam zu verzweifeln, und das mittlerweile schon mindestens das dritte Mal. Argumente helfen bei diesem kleinen Kind rein gar nichts. Also sollte ich noch einmal ganz von vorne anfangen: erster und wichtigster Punkt des Management-Seminars – sich in den Gegner hineinversetzen. Ich stellte mir vor, wenn ich in so einer Situation wäre. Das hätte eigentlich kein Problem für mich sein sollen, weil wir ja beide das gleiche erlebt hatten, aber ich hatte es verarbeitet, er nicht. Trotzdem: ich stellte mir vor, wie ich mit verstopfter Nase und einer großen Packung Taschentücher im Bett lag, auf dem Nachttisch eine Hühnersuppe. Meine Schwester, die ich sehr liebe, verabschiedet sich von mir, ich nehme ein Buch und lese… Moment - wird er wohl kaum getan haben, vermutlich hat er geschlafen. Ich schlafe also und als ich am nächsten Morgen wach werde, klingelt das Telefon. Ich wundere mich, warum keiner rangeht, weil die beiden ja schon wieder da sein müssten. Das ungute Gefühl eines Kindes, das immer spürt, wenn etwas nicht so ist wie es sein sollte, beschleicht mich. Nachdem das Telefon eine Weile geklingelt hat, nehme ich den Hörer ab und die bemüht gefasste Stimme einer Frau bittet mich ins Leichenschauhaus zu kommen … oder? …Naja, mir wird klar, dass das Schlimmste passiert war, was passieren konnte, die unwahrscheinliche Hoffnung treibt mich und ich renne los. Immer noch im Pyjama renne ich so schnell ich kann über Straßen, Ampeln, an schimpfenden Fußgängern vorbei, doch sie interessieren mich nicht. Die Straßenverkehrsordnung ist für mich nicht mehr existent. Ich keuche, aber ansonsten spüre ich nichts: keine Erkältung, keine verstopfte Nase, nur Angst, pure Angst vor dem was passiert ist. Als ich im Leichenschauhaus ankomme breche ich fast zusammen, die Angst hält mich auf den Beinen. Erschöpft erreiche ich die Rezeption und frage, wo meine Schwester und meine Mutter sind. Die Frau am Empfang fragt nach: „Bakura Kaiba?“ und ich antworte nach Atem ringend „Ja!“ Ob er keine Verwandten hat, die ihm die Nachricht überbringen und ihm beistehen?... Nein, er hatte sie alle als heuchlerisch bezeichnet. Also ist er ganz allein … Ich gehe mit der Frau in einen Raum. Es ist kalt, doch ich friere nicht. Dort liegen sie. Beide. Etwas bläulich, blutverschmiert. In sich tragen sie die furchtbaren Erlebnisse der vergangenen Nacht, doch sie werden nie mehr nach außen dringen. Die Frau fragt mich routinemäßig: „Sind das Ihre Mutter und Ihre Schwester?“ und ich antworte tonlos: „Ja.“ Dann fragt sie noch, ob sie irgendwelche Verwandten oder Freunde anrufen sollte. Ich verneine. Bevor sie geht, legt sie mir noch einmal die Hand auf die Schulter und sagt: „Du kannst so lange hier bleiben, wie du willst. Wenn irgendetwas ist, ich bin vorne. Tut mir echt leid, Kleiner.“ Ich stehe da und … ich fühle mich leer… vermutlich … Ich durfte die Leichen meiner Eltern nicht sehen, Mari hat sie identifiziert, sie meinte, es sei kein guter Anblick für Kinder. Aber Bakura musste sie sehen. Ich fühle mich leer. Mein Leben steht still. Ich weis nicht, was ich damit anfangen soll. Ich kenne die Vergangenheit, aber keine Zukunft. Mein Verstand sagt, dass sie nie wieder kommen, aber meine Seele erwartet sie zu Hause. Ich habe das Gefühl weinen zu müssen, aber ich kann nicht. Ich renne. Ich renne nach draußen. Ich muss hier raus. Raus aus diesem Raum. Ich brauche Freiheit. Ich renne. Ich renne ziellos durch die Stadt. Wieder ist die StVo nicht existent. Ich sehe nicht, wohin ich renne, nur mein Verstand warnt mich vor Straßenschildern, Litfasssäulen und Bordsteinkanten, über oder gegen die ich fallen könnte. Ich sehe nur meine Gedanken. Was interessiert mich die Welt – hat sie ihren Tod verhindert? Was interessieren mich die Menschen – holen sie sie zurück? Was interessiert mich die Schule – es ist egal, wie viel wir wissen, unseren Todeszeitpunkt können wir im Grunde nicht beeinflussen! Und ihr, auf den Fußwegen, auf den Straßen, ihr seid doch an allem schuld! Ihr wollt es vielleicht nicht, aber IHR bringt euch gegenseitig um! Weil ihr immer nur an euch denkt, an euren Spaß, ohne Rücksicht! Weil ihr aus Spaß Leute tötet! Ich kenne das, ich kenne das sehr gut. Ich habe mich stundenlang in meinem Zimmer eingeschlossen und gelesen. Ich habe nichts gegessen und es erstmal verdrängt. Bakura muss stundlang durch die Stadt gelaufen sein. Bis er irgendwann vor Erschöpfung zusammengebrochen ist. Ich wache im Krankenhaus wieder auf. Die Ärzte murmeln etwas wie „Glück gehabt …“ „… schwere Erkältung …“ „… kalter Boden …“ Langsam mache ich die Augen auf. Der Arzt fragt mich, wie es mir geht, doch ich antworte nicht, ich starre ihn nur verwundert an. Ich fühle mich schwach, meine Knochen schmerzen, meine wieder verstopfte Nase meldet sich laufend zu Wort, mein Kopf tut weh. Ich will schlafen. Ich denke nicht DARAN. Bis mich die Krankenschwester fragt: „Soll ich irgendwelche Verwandten anrufen?“. Dann kommt alles wieder hoch. Die blutverschmierten Gesichter, die Kälte, die Frau im Leichenschauhaus. Ich werde wütend. Soweit es meine heisere Stimme zulässt brülle ich sie an: „NEIN! Meine Mutter und meine Schwester sind TOT! Verstehen Sie das? TOT!!! Können Sie sie holen? Aus dem Himmel? Nein, können Sie nicht! Also lassen Sie mich in Ruhe und verschwinden Sie!“ Ich bleibe ein paar Tage im Krankenhaus, meine Erkältung war lebensgefährlich. Egal. Als ich wieder zu Hause bin, durch die leere Wohnung gehe, fühle ich mich wieder schwerelos, orientierungslos. Ich lebe, irgendwie, aber etwas fehlt. Es ist so ruhig, die Stille quält mich, ich bin wie gelähmt. Dann kommt die Beerdigung. Und er war die ganze Zeit allein. Allein. Ich hatte Mokuba, um den ich mich kümmern musste. Ich verstand ihn besser als Mari. Ich musste nach vorne sehen. Ich war von der Rolle des Bruders in die des Vaters gerutscht. Ich hatte keine Zeit mich in meiner Trauer zu verkriechen, ich musste sie überwältigen. Ich erinnerte mich daran, wie unsere Eltern uns erzogen hatten. Ich versuchte es umzusetzen. Unsere Eltern waren tot, aber sie hatten uns etwas hinterlassen, nicht nur Gene, sondern Charakter. Ich sah nach vorn. Die Zeit bei Gosaburo hat mich ruiniert, aber nicht der Tod meiner Eltern. Aber Bakura hatte nichts. Keinen Bruder. Das Leben hat ihn vorwärts gedrängt, aber ein großer Teil seines Ichs blieb stehen. Wir sind doch sehr verschieden. Ich wurde traurig. Jetzt wieder alles vor Augen zu haben, war schwer. Ich musste aufpassen, dass ich nicht in Bakuras Sog und in meinen hineingezogen wurde, in diesen Sog der Traurigkeit. Ich setzte mich neben dich an die Wand und streichelte dir vorsichtig über das Haar. „Es ist ok“, sagte ich ruhig, „Es ist in Ordnung, dass du weinst. Hier, in diesen dunklen Kammern kann man sich gut verkriechen. Aber die Realität braucht dich, Bakura, nein, Ryou.“ „Nein, tut sie nicht.“, antwortest du knapp. „Doch. Ist dir aufgefallen, dass du genauso wuschlige Haare hast wie deine Mutter?“ „Woher weist du das?“, fragtest du immer noch weinend. „Ich habe sie gesehen, mit dir und deiner Schwester, ihr habt zusammen gespielt. Ich glaube, sie war ein sehr gütiger Mensch, sie hat sich gut um euch gekümmert…“ „Wir waren ihr wichtiger als alles andere …“ „Und so bist du auch. Du riskierst dauernd dein Leben, um anderen zu helfen. Solche Menschen braucht die Welt. Es gibt viele Leute, die sich nicht um sich selbst kümmern können. Die sich überschätzen und von sich selbst zu viel verlangen. Solche Menschen brauchen jemanden wie dich, der ihnen hilft.“, erklärte ich ruhig. „Meinst du damit dich?“, fragtest du mit kindlicher Unschuld und, so denke ich, einem komischer Unterton, der sagte: Ich hatte doch Recht!. „Äh … nein … ja …naja…“, deine Neugier brachte mich ins Stottern, ich wollte deine These nicht bestätigen und dich trotzdem nicht verletzen, damit wir endlich wegkamen, „Wie ich schon sagte, viele Menschen. Yami, Yugi, die Leute, denen du etwas stiehlst … Was ich damit sagen will ist, dass du die Eigenschaften deiner Mutter in dir trägst. Deine Mutter ist nicht verloren, deine Schwester auch nicht, auch wenn das total kitschig klingt, aber … ganz banal betrachtet sind nur ihre Körper tot, nicht ihre Seelen.“ „Aber ich vermisse sie so sehr!“, sagtest du und hobst langsam den Kopf und deine kleinen Augen guckten in meine Richtung. „Ich vermisse meine Eltern auch. Besonders, früher, wenn ich ein Problem hatte, wünschte ich mir manchmal, dass die Tür aufgeht und meine Mutter reinkommt, um mir zu sagen: ‚Du schaffst das, Seto!’. …“ „Ja, das geht mir auch oft so. Jemand, der da ist, der einem hilft.“ „Aber dann habe ich gemerkt, dass ich nur Angst hatte. Ich hatte Angst, mein Leben zu leben und dachte, ich brauche jemanden, der mir die Entscheidung abnimmt, mir hilft. Doch ich schaffe es auch ohne sie. Sie sind in mir, sie haben mir vieles beigebracht, aber mein Leben, das habe ich allein gelebt.“ „Und wie hast du das geschafft?“ „Ich habe einfach Pro- und Kontra-Argumente gegeneinander aufgewogen …“ „Was?“ „Ich habe überlegt, was besser ist. Du hast das doch auch gemacht: du hast dir ein Leben aufgebaut, du lebst immer noch, du hast dir einen Ruf als Weißer König erarbeitet, und das alles ohne deine Schwester und deine Mutter.“ „NEIN, habe ich nicht, ich habe sie nicht vergessen!“, riefest du, drehtest dich weg und versuchtest, dich noch weiter in der Ecke zu verkriechen, was leider nicht ganz funktionierte. Eine Weile war es still. Du überlegtest. Dann sagtest du: „Du hast Recht. Aber, ich will sie nicht vergessen!“ „Das musst du nicht, das kannst du gar nicht. Es ist gut, wenn man jemanden in seinem Herzen behält, meistens jedenfalls. Du kannst jederzeit hierher kommen, solange du wieder zurückkehrst. Ich werde nämlich glücklicherweise nicht immer da sein, um dich hier raus zu holen! Also:“, ich stand auf und steckte meine Hand aus, „Kommst du?“ Du blicktest mich erstaunt an, nahmst meine Hand und sagtest lächelnd: „Wenn du noch Bitte sagst, gern!“ Deine Stimme klang wieder normal und ich hätte gern etwas erwidert, aber plötzlich kam der Nebel und trug uns fort … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)