Pflanzzeit von Milkymalk ================================================================================ Vorab einige Begriffserklärungen Ashigaru: Fußsoldaten eines Heeres, die keine Samurai waren. Sie waren üblicherweise mit einem Yari (Speer) bewaffnet und trugen nur sehr leichte Rüstung. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurden sie in großem Maße mit Arkebusen und Musketen ausgestattet. Der Daimyo Oda Nobunaga verdankt seine größten Siege großen Massen an Ashigaru mit Schußwaffen, mit denen er die legendäre Kavallerie des Clans Takeda mühelos niedermähte. Daimyo: Der Anführer eines Clans und sein oberster Kriegsherr. De facto der Herrscher des Landstriches. Furuwatari: Ein Schloß des Oda-Clans. Japanische Schlösser sehen zwar fragil aus, waren tatsächlich aber äußerst wehrhafte Festungen, da Belagerungsgeräte wie Katapulte oder Kanonen keinen Einsatz gefunden hatten. Kosode: „Kurzärmel“, eine Art kurzärmliger Kimono des einfachen Volkes. Mon: Das Wappen eines Clans. Ich verwende den japanischen Begriff, da das Wort „Wappen“ etymologisch vom Wort „Waffen“ abstammt, Mon jedoch nie Waffen darstellten. Stattdessen waren einfache geometrische Figuren und Blüten üblich. Wakizashi: Ein Samurai trägt zwei Schwerter, das große Katana und das kleinere Wakizashi. Letzteres wird traditionell für Seppuku (oft fälschlich „Harakiri“ genannt) verwendet. Reisanbau: Reis ist keine Wasserpflanze, sondern wurde in Jahrtausenden der Züchtung an nassen Boden gewöhnt. Direkt ins Wasser gestreut keimt Reis nicht, darum muß er zuerst auf relativ trockenem Boden herangezogen werden. Die Setzlinge werden dann in ein geflutetes Feld gepflanzt, was eine mühevolle Arbeit war und noch ist. 90% der Weltproduktion an Reis wird immer noch ohne eine einzige Maschine eingefahren. Eine sehr authentische Darstellung des Reisanbaus im mittelalterlichen Japan ist am Ende des Films „Die 7 Samurai“ von Akira Kurosawa zu sehen, der die Vorlage zu „Die Glorreichen Sieben“ ist. Pflanzzeit Das rhythmische Schlagen der Trommeln hämmerte in Kousukes Ohren. Obwohl sein Rücken schmerzte griff er wieder und wieder in den kleinen Beutel an seiner Seite, bückte sich hinab und steckte zum Taktschlag den Sprößling in den nassen Schlamm unter der Wasseroberfläche, während er wie alle um ihn herum auch aus vollem Hals mitsang. Es war die Zeit, in der der Reis gepflanzt wurde, eine Aufgabe, bei der das ganze Dorf mithelfen mußte, um rechtzeitig fertigzuwerden. Die Männer standen in der brütenden Hitze, die Kosode hochgebunden und mit Schweißbändern um die Stirn, bückten sich im Takt zum Boden und richteten sich wieder auf, unzählige Male. Hin und wieder kam eine der Frauen aus dem Dorf gelaufen und brachte ihnen klares Wasser gegen den Durst. Daß sie knöcheltief im sachte fließenden Wasser der Reisfelder standen brachte kaum nennenswerte Abkühlung, sondern machte im Gegenteil jeden Schritt noch schweißtreibender. Zwischen all dem Lärm, den die Pflanzer machten, hatte niemand den Reiter bemerkt, der sich im Trab auf dem Damm zwischen den Feldern näherte, bis der Trommler einen Schlag verpaßte und erschrocken auf den Samurai zu Pferde stierte, Trommel und Klöppel hastig beiseitestellte und sich regelrecht auf Knie und Füße stürzte. Diejenigen, die sich wundernd umsahen, taten es ihm gleich, als sie den Grund bemerkt hatten. Auch Kousuke ließ sich auf die Knie fallen, vergrub die Hände im schlammigen Boden und senkte den Kopf so weit, daß seine Stirn beinahe in die Wasseroberfläche eintauchte. Das langsam fließende Wasser roch faulig. Obwohl der Samurai die Farben und das Mon des Daimyos des Landes trug, konnte sein Auftauchen zur Pflanzzeit nichts Gutes bedeuten. Auch, weil dieser nicht in Reisekleidung, sondern leicht gerüstet ritt. „Wer ist der Vorsteher dieses Dorfes?“ verlangte er zu wissen. „Das bin ich, Herr!“ stieß Kousuke hervor, ohne aufzusehen. Das Pferd schnaubte, als es dazu angehalten wurde, weiter vorzulaufen, bis es samt Reiter direkt vor Kousuke stand. Dieser hätte selbst im Stehen kaum an die Knöchel des Pferdes auf dem Damm herangereicht. „Ich verlange, zu erfahren, weshalb das Dorf keine Truppen gestellt hat!“ donnerte der Samurai. „Verzeiht, Herr, ich verstehe nicht...“ „Ihr seid nicht dem Befehl eures Herrn gefolgt, binnen eines Monats zwanzig Männer für das Heer bereitzustellen!“ „Herr!“ Kousuke spürte einen dicken Kloß in seinem Hals. Sollte das wahr sein, könnte der Daimyo den Tod des ganzen Dorfes befehlen. „Einen solchen Befehl haben wir nicht erhalten.“ „Vor einem Monat wurden Boten hergeschickt!“ „Herr, es ist niemand gekommen...“ Die Weigerung, dem Befehl seines Herren nachzukommen, war ein Todesurteil. Jeder wußte das, auch Kousuke. Und so wäre er niemals auf die Idee gekommen, einen solchen Befehl zu ignorieren oder ihm gar offen zu widersprechen. Er spürte, daß sein Leben in diesem Augenblick weniger wert war, als die Reissetzlinge in seinem Beutel. Der Samurai hatte die Gewalt über Leben und Tod. Nicht nur Kousuke, sondern das gesamte Dorf waren seinem Gericht ausgesetzt. „Dann gebe ich euch noch eine Möglichkeit, die Frist einzuhalten. Morgen früh werde ich mit zwanzig eurer Männer nach Schloß Furuwatari abreisen.“ Kousuke atmete auf. Er hatte schon das Schwert in seinem Nacken zu fühlen geglaubt. „Ja, Herr.“ „Ist das deine Tochter?“ Kousuke schaute auf. Inoue, die mit einem Eimer Wasser aus dem Dorf gelaufen gekommen war, stand in einigen Metern Entfernung wie angewurzelt. Inoue starrte ihren Vater mit vor Angst zitternden Lippen an. „Ja, Herr.“ „Sage ihr, ich brauche einen Schlafplatz und eine Mahlzeit. Und sie soll zwanzig Reisebündel vorbereiten.“ Das Mädchen war starr, so daß Kousuke die Anweisungen des Samurais wiederholte, obwohl sie näher an dem Reiter gestanden hatte, als er. Sie regte sich keinen Fingerbreit. Aus ihrer Hand wich die Kraft, und der Wassereimer polterte zu Boden. „Ist sie taub? Oder schwachsinnig?“ Der Samurai legte die Stirn in Falten. „Nein, Herr.“ Kousuke wandte sich an seine Tochter. „Jetzt geh schon! Zeige unserem Gast Sannas Haus und bring ihm eine Schale Reis! Und dann machst du die Bündel!“ Der befehlende Ton riß Inoue aus ihrer Starre. Ohne den Eimer und die Kelle wieder aufzuheben machte sie kehrt und lief ins Dorf zurück, während der Samurai hinterherritt. Dabei wirkte sie dermaßen gehetzt, daß man hätte denken können, sie schaue sich nicht nach ihm um, um sicherzustellen, daß er ihr folgen konnte, sondern eher, um zu schauen, wieviel Vorsprung sie noch hatte, bevor er sie einholte. Nachdem der Samurai ein Lager, besser gesagt ein Haus für die Nacht zur Verfügung gestellt bekommen hatte, blickte Kousuke sich auf dem Feld um. Zwanzig Männer war mehr, als das Dorf vertragen konnte. Deutlich mehr. Genaugenommen konnten sie froh sein, wenn sie noch zwanzig Männer hatten, die in kriegstauglicher Verfassung waren. Selbst für das Pflanzen mußten die Alten herangezogen werden. Die Sorge um die Reisfelder steckte allen in den Knochen. Die Trommel schlug weiter, langsamer als zuvor. Auch wenn sie nun weiter im Taktschlag Sprößlinge setzten, blieb ihnen der Gesang beinahe im Halse stecken. Als hätte jeder Einzelne nun einen Kloß im Halse, so wie Kousuke. Aus dem motivierenden Getrommel, daß sie zur Arbeit anfeuern sollte, war ein Trauermarsch geworden. Ihnen allen war bewußt, daß die Ernte jämmerlich würde, wenn morgen der größte Teil von ihnen als Ashigaru ins Heer eingezogen werden würde. Dieser Pflicht nicht nachzukommen war undenkbar, und weder hatten sie in dieser Sache eine Wahl, noch würde man darauf Rücksicht nehmen. Zwanzig Soldaten waren für den Daimyo momentan sicher von mehr Nutzen als fünfzig wohlgenährte Bauern. Es war schon fast dunkel, und es würde sicher noch mehrere Tage dauern, den Reis zu pflanzen. Als Kousuke einen weiteren Sprößling einstecken wollte, war der Boden seltsam fest, und der Sprößling stieg begleitet von ein paar Blasen an die Oberfläche. Ohne zu denken, wollte er noch eine Pflanze an diese Stelle stecken, doch beim Bücken roch er etwas. Er hielt inne, wollte mit dem Finger ein wenig in den Boden bohren, doch er konnte nicht eindringen, weil der Grund weich nachgab und wieder einige Blasen losließ. Mit dem Fuß wischte er über den Boden und wirbelte dabei Schlamm auf, der das Wasser trübte und ihn Nichts erkennen ließ. Als der Dreck wieder zu Boden gesunken war, erkannte Kousuke ein metallisches Blitzen inmitten des Schlammes. Im nächsten Augenblick erreichte ihn die Wolke von Fäulnisgasen, die er beim Wühlen freigesetzt hatte. Teils vor Ekel, teils vor Schrecken verzog sich sein Gesicht. Dann sprang er auf und hastete zum Damm, rutschte beim Klettern beinahe aus, ehe er halb auf allen Vieren oben ankam, und rannte den staubigen Weg zum Dorf zurück. Spitze Steinchen bohrten sich in seine Fersen und ließen ihn straucheln. Hinter sich hörte er die verwunderten Rufe der anderen, doch schon nach wenigen Schritten konnte Kousuke in der Ferne wieder das langsame, rhythmische Trommeln und den nunmehr mäßig enthusiastischen Gesang vernehmen. „Inoue?“ rief er nach seiner Tochter. Niemand antwortete. „Kanae?“ Seine Frau hörte ihn nicht, oder wollte oder konnte nicht antworten. Kousuke rannte zu seinem Haus – es war leer. Auf dem Platz zwischen den Häusern war niemand zu sehen gewesen. Niemand war in den Fenstern zu sehen. Es war totenstill im Dorf. Ein gurgelnder Schrei kam aus dem Haus, in das der Samurai geführt worden war. Dort war also jemand! Als Kousuke den schweren Leinenvorhang beiseitegerissen hatte, blickte er auf eine Wand aus Menschenrücken. Alle Frauen des Dorfes schienen sich in diesem einen Raum versammelt zu haben, jung und alt, und scharten sich um einen Punkt. Kousuke trat näher, zog einzelne Gestalten, ohne darauf zu achten, wen er da eigentlich an der Schulter gepackt hatte, wie im Delirium beiseite, und grub sich so vorwärts, bis er die Mauer durchdrungen hatte. Im Inneren dieses Pulks sah er den Samurai in seinem eigenen Blut liegen. Sein Wakizashi hatte man ihm in den Hals gestoßen, so daß er an seinem eigenen Blut ertrunken war. Doch unter den Frauen ringsherum entstand kein Aufruhr, keine Panik. Allmählich dämmerte es Kousuke, daß sie nicht wegen des Schreies hergelaufen waren, wie er. Er blickte in den Ring aus eiskalten Gesichtern. Da waren Greisinnen und Mütter, Ehefrauen und kleine Mädchen, und an ihrer aller Hände bildete Kousuke sich ein, Blut kleben zu sehen. Auch, wenn es unmöglich war, wußte er, daß er im symbolischen Sinne rechthatte. „Was habt ihr getan?“ stammelte er ungläubig. „Was habt ihr getan?“ Mehr bekam er nicht heraus, und immer wieder wiederholte es. „Was wir auch vor einem Monat getan haben.“ „Kanae? Was habt ihr getan?“ „Und letztes Jahr. Und davor.“ sagte sie tonlos. „Jedes Jahr wieder schickte man nach uns. Die Boten hatte man nie vermißt, und wenn doch, dann schickte man einen Samurai wie diesen hier. In den Kriegswirren konnte ihnen jederzeit etwas zustoßen, selbst hier im Hinterland.“ „Wenn sie die Männer mitnehmen, verhungern wir.“ erklärte ihm ein Mädchen, wie um ihn zu belehren. „Wollt ihr denn jeden Soldaten töten, der kommt?“ „Jeder Samurai, den wir töten, ist ein Aufschub. Solange, bis einer überlebt und fliehen kann. Dann werden wir alle sterben. Täten wir das nicht, wären wir schon vor Jahren verhungert.“ Und Kousuke begriff. Als diese Worte so kurz hintereinander folgten, fügte sein Verstand sie in ungeheurer Weise zusammen, folgerte bitterste Ironie und zwang sich gleichzeitig, den Gedanken in seine dunkelsten Alpträume zu verbannen. Der Schlamm, in dem sie ihren Reis anbauten, war das Grab dieser Kriegsboten. Die Menschen, die geschickt worden waren, sie ihrer Lebensgrundlage zu berauben, die Arbeitskraft des Dorfes zu Kriegszwecken stehlen sollten, diese Männer lagen darin vergraben und nährten das Getreide, das das Dorf nährte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)