Assoziatives Schreiben von Technomage ================================================================================ Kapitel 1: Satz 06: Große Stadt ------------------------------- Aber etwas anderes zog meine Aufmerksamkeit an, ein Geruch neben den schweren Düften des Weines und des schwelenden Holzes. Die tiefen, alternden Schwingungen von Rost stiegen mir durch die Nase ins Bewusstsein und, weil ich meine Augen nicht öffnen wollte, baute sich dahinter mein eigenes Bild des jetzigen Moments auf. Ich roch von Grünspan zerfressenes Eisen und Meersalz und Oxidation, die ich nur hier riechen konnte, wo ich mir jeden Geruch nur vorstellen musste. Ich dachte an das eiserne Klettergerüst in meiner Heimat. Oben, weit im Norden am Meer, wo es kalt war und nicht wie hier in den Straßen der großen Stadt, in der es niemals wirklich kühl wurde. Die warme, verbrauchte Luft und der Dampf, die überall aus den Kanaldeckeln und Abzugsrohren stieg, ließ niemals auch nur einen Hauch von Frische in die Gassen. Ich konnte es riechen – selbst jetzt – wie es den Rotwein, das Verbrannte und den Rost überlagerte wie eine zweite Haut. Ein Gefühl der Abgestandenheit beschlich mich langsam. Ich fühlte mich verbraucht und benutzbar, wie alles um mich herum, außer dem starken Aroma des Weines, das irgendwo aufstieg. Trotz geschlossener Augen drehte sich die Welt um mich und ich musste befürchten zuviel getrunken zu haben, denn mein Körpergefühl war eigenartig taub und schwer, aber hypersensitiv. Ich hörte in einer unwirklichen Ferne eine fahrige Stimme: „Das Wichtigste dabei einen guten Wein nicht zu genießen ist“, ich erkannte amüsiert, dass es meine eigene Stimme war, „ihm kein angemessenes Gefäß zu bieten, welches es ihm ermöglicht seinen Geschmack zu entfalten. Die einzige Möglichkeit alle Säure- und Bitterstoffe zu erhalten ist“, mein Arm mit der Flasche in der Hand führte sie ganz allein an meinen Mund, „ihn ohne jede Hemmung und Niveau aus der Flasche zu trinken.“ Die lauwarme Flüssigkeit rann mir die Backe hinunter, während ich trank, und es fühlte sich an wie Säuretropfen, die sich durch mein Gesicht fraßen. Die Flasche war leer, ein guter Teil davon glitt gerade an meinen Geschmacksnerven entlang, ehe ich meinen Arm wieder dazu bringen konnte sie abzusetzen. Mit einem lauten Klirren setzte ich sie auf einer hölzern klingenden Oberfläche ab. Mein Fußboden, erinnerte ich mich, in meiner kleinen Wohnung in der großen Stadt. Aus dem Nichts erfasste mich die Klarheit der Erkenntnis: Ich hätte niemals in die große Stadt gehen dürfen. Ich hätte nie meine Heimat hinter mir lassen sollen. Und das Meer. Und das Klettergerüst, das vermutlich mittlerweile verrostete, weil sich keiner mehr darum kümmerte. Denn alle Kinder hatten sicherlich ihr Glück in der großen Stadt gesucht und verloren. „So wie ich“, kommentierte meine raue Stimme. Ich hustete. Es war heißer als sonst in meiner Wohnung. Irgendwie stickig. Ich bekam Lust aufzustehen, um die zu kleinen Fenster zu öffnen und mir etwas Kaltes zu trinken zu holen. Der heiße Schmerz in der Bauchgegend riss mich wieder zu Boden und mir die Augen auf. Die Vorhänge und der Teppich hatten mittlerweile Feuer gefangen. Ich erinnerte mich die Kerze auf dem brennenden Tisch selbst in meine Manuskripte gestoßen zu haben. Die klaffende Wunde in meinem Bauch schmerzte nun, da ich sie sehen konnte, entsetzlich. Ein sauberer, tiefer Schnitt quer über den Bauch mit dem schärfsten und längsten Küchenmesser, das ich gefunden hatte. Sehr authentisch. Doch das Blut wirkte dunkler als ich erwartet hatte, was vermutlich an den Farbtönen lag, in die das Feuer den Raum tauchte. Mich überkam zu meiner eigenen Überraschung wenig Panik in Anbetracht der Situation, obwohl ich mein Leben lang schreckhaft gewesen war. Ich legte den Kopf nur wieder zurück auf den Fußboden, schloss die Augen und konnte das Meer sehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)