Zerspringende Ketten von Benjy ================================================================================ Kapitel 10: Wiedersehen ----------------------- Haruie lehnte unruhig an ihrem abgestellten Motorrad und beobachtete die vorbeifahrenden Autos. Sie befand sich auf einem kleinen Parkplatz neben der Schnellstraße, die südlich aus Hiraiwa hinausführte. Sie wartete hier inzwischen seit mehr als einer Stunde auf Chiaki. Dieser war bisher weder aufgetaucht, noch hatte er ihr auf anderem Wege mitgeteilt, warum er sich so stark verspätete. „Dieser Blödmann! Wir hätten doch gemeinsam gehen sollen!“, sprach sie verärgert zu sich selbst, während sie erneut das Telefon aus ihrer Lederjacke kramte. Kein Anruf, keine Sms...kein Gedankenruf. Langsam mache ich mir Sorgen, Chiaki! Kagetora wäre nicht so erfreut darüber, wenn ich ihm mitteilen müsste, dass du nun auch vermisst wirst!, dachte sie angespannt und wählte Chiakis Nummer. Sie ließ es etwa eine Minuten lang klingeln, bevor sie wieder auflegte. Seufzend ging sie in die Hocke und überlegte, was sie als nächstes tun sollte. Sie wusste, dass Chiaki ein fähiger Kämpfer war und sie sich eigentlich keine Sorgen machen müsste. Aber da sie keine Ahnung hatte, auf wen er bei seiner geheimen Verabredung traf, konnte sie nicht einschätzen, ob Chiaki alleine zurechtkommen würde oder nicht. Er hatte ihr zwar versichert, dass er wusste, was er tat und hatte es daher für effektiver gehalten, sich für die Recherche in dieser Gegend zu trennen, dennoch hinterließ die ganze Sache ein unangenehmes Gefühl. Sie stützte den Kopf in ihre Hände und schloss die Augen. Chiaki, beeil dich... Haruie ging im Geiste die Ergebnisse ihrer eigenen Nachforschungen durch. Viel hatte sie nicht herausbekommen, aber ganz unnütz waren ihre Resultate nicht. Sie hatte erfahren, dass Shishido Kiyoshi nicht immer diesen Namen trug, sondern er seinen ursprünglichen aus einem für sie noch rätselhaften Grund in jenen geändert hatte. Ihre Quellen haben auch keinen Aufschluss darüber geben können, ob er wirklich ein Freund von Houjou Ujiteru gewesen war. In diesem Punkt hoffte sie auf Chiakis Ermittlungen, da er angedeutet hatte, eine der Familie Houjou nahe stehende Person zu treffen. „Selbst wenn Chiaki mit neuen Informationen kommt, hilft uns das wahrscheinlich nicht weiter, Naoes Aufenthaltsort zu finden. Ob Kagetora inzwischen mehr herausgefunden hat? Das Telefonat mit ihm war nicht sehr aufschlussreich... Hm. Aber irgendwas muss er wissen, sonst würde er nicht gezielt nach Oomachi City fahren. Was er dort wohl will...“, murmelte sie leise vor sich hin und spielte gedankenverloren mit kleinen runden Steinen zu ihren Füßen. Das Geräusch eines heranfahrenden Fahrzeuges ließ sie aufhorchen. Haruie hob augenblicklich den Kopf, in der Hoffnung, Chiakis Auto vorfahren zu sehen, musste aber enttäuscht feststellen, dass es ein fremder Wagen war. Er parkte etwas entfernt von ihr und kurz darauf entstieg ihm eine Familie. Die zwei Kleinkinder nutzen die Unterbrechung der Fahrt, um wild herumzutoben, während ihre Eltern auf der angrenzenden Grasfläche ein kleines Picknick vorbereiteten. Haruie sah wehmütig zu ihnen rüber und lächelte gedankenversunken. Sie musste an ihre eigene erste Kindheit vor mehr als 400 Jahren denken. Damals, noch als junger Mann, traf sie in Sagami zum ersten Mal auf den Befehlshaber Uesugi Kagetora. Kagetora hatte sie so sehr beeindruckt, dass ihm ihre Loyalität von Beginn gegolten hatte und sie an seiner Seite gegen Uesugi Kagekatsu, ein Rivale um die Vorherrschaft des Uesugi Clans, kämpfte und starb. Nach ihrem Tod wurde sie Teil der Yasha-shuu – einer Gruppe von fünf starken spirituellen Kämpfern, die vom Kriegsgott Uesugi Kenshin auserwählt wurden, um rastlose Geister zu exorzieren, die seit der Sengoku Ära ihr Unheil trieben. Dieser Kampf an der Seite von Naoe Nobutsuna, Yasuda Nagahide, Irobe Katsunaga und Uesugi Kagetora als ihr gemeinsamer Anführer dauerte seit nunmehr 400 Jahren an... Haruie richtete sich auf und lehnte sich erneut an ihre Maschine. Die Zeit, die sie bis zum jetzigen Moment an Kagetoras Seite verbracht hatte, war nicht immer einfach gewesen und zudem ein ewiges Suchen, Finden und Kämpfen. Dennoch konnte sie sich ein anderes fortwährendes Dasein ohne das Zusammensein mit ihm und den anderen nicht mehr vorstellen – sie fragte sich, wie lange ihre gemeinsame Zeit noch andauern würde. Sie seufzte und schaute ein weiteres Mal auf ihre Armbanduhr. „Soll ich Kagetora anrufen, oder ist es dafür noch zu früh... Verdammt, Chiaki, wo bleibst du nur?!“, stellte Haruie wütend mit leiser Stimme fest und spähte wiederholt zu der Familie rüber, die inzwischen harmonisch beisammen auf der Decke saß und aß. Sie wandte ihren Blick ab und sah aufmerksam zur Straße, als plötzlich ihr Telefon zu klingeln zu begann. Sie zerrte es hastig aus ihrer Jackentasche und blickte erleichtert auf das Display, bevor sie das Gespräch annahm. „Was hast du dir dabei gedacht, Chiaki!? ... Was ist daran bitte so lustig? ... Was sagst du da?! Natürlich haben wir ausgemacht, dass wir dem anderen mitteilen, wenn etwas dazwischen kommt. ... Du bist schrecklich! Ich hoffe wenigstens, dass sich deine Verspätung gelohnt hat, ansonsten kannst du auch gleich weg bleiben! ... Haha... ... Wenn hier jemand herzlos ist, dann wohl du! ... Okay. Wann bist du hier? ... Hm. Verstehe. Kitaotari also. ... Gut, ich werde gleich losfahren. ... Wenn ich angekommen bin, rufe ich dich an. ... Bis später!“ Haruie beendete das Gespräch und seufzte hörbar. Sie war froh darüber, dass es Chiaki gut ging, aber auf der anderen Seite war sie verärgert, dass er sie so lange im Ungewissen gelassen hatte. Das sieht ihm echt ähnlich... Manchmal frage ich mich wirklich, warum Uesugi Kenshin ihn auserwählt hat?! Okay, ich nehme den Gedanken zurück... Chiaki, oder besser Nagahide, ist schon brillant, zumindest manchmal..., dachte Haruie belustigt und zog ihren Helm über. Sie startete ihr Motorrad und fuhr nach wenigen Augenblicken in Richtung Kitaotari davon. Chiaki sah hinüber zur Eingangstür des kleinen Lokals und erblickte Haruie, die gerade hereinkam und sich suchend umsah. Er lächelte ihr zu, als sie ihn entdeckt hatte und eilig auf ihn zukam. Hm... Du siehst aus, als wärst du noch sauer... Mal sehen..., dachte er noch immer lächelnd, als sie sich ihm gegenüber auf die Eckbank fallen ließ. „Na?! Wie war die Fahrt hierher? Ich hoffe, du konntest dich etwas abreagieren?!“, fragte er unsicher grinsend und trank einen Schluck Limonade von seinem Glas. Haruie warf ihm einen säuerlichen Blick zu, bevor sie nach einer Bedienung Ausschau hielt, um sich ebenfalls etwas zu bestellen. Als sie ihre Bestellung aufgegeben hatte, sah sie zu Chiaki rüber, dem sie noch eine Antwort schuldig war. „Die Fahrt war okay – kurvenreich, aber das liebe ich ja! Nun, und mein Ärger ist dabei nicht verflogen, wie du dir vielleicht gewünscht hast. Ich hoffe echt, dass du dir für das nächste Mal etwas mehr Mühe gibst, Chiaki!“, entgegnete Haruie belehrend und bedankte sich gleichzeitig freundlich bei der Bedienung, die ihr den bestellten Tee brachte. „Wie ich dir schon am Telefon gesagt habe, ging das irgendwie unter! Tut mir beinah leid...“, scherzte Chiaki, während er amüsiert zu Haruie blickte, die ihre langen Haare zu einem Knoten band. „Schon erstaunlich, wie du dich im weiblichen Körper zurecht findest...“ Haruie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Was ist denn das für eine dämliche Feststellung?! Hast du vergessen, dass ich seit 200 Jahren immer wieder einen weiblichen Körper übernehme? Letztendlich ist es eh egal, wie der Körper aussieht oder funktioniert. Die Hauptsache ist, dass meine Seele ein nützliches Gefäß findet!“, erwiderte Haruie nüchtern, während sie Chiaki nun über den Rand ihrer Teetasse beobachtete. „Aha! Auf das deine Ausführungen von eben Kagetoras Ohren nie erreichen werden!“, meinte Chiaki grinsend. „Ich glaube, der würde dir jetzt eine Standpauke bezüglich deiner unsensiblen Gedanken halten. Aber ist es dir wirklich egal? Was ist, wenn du unerwartet wieder einen männlichen Körper übernimmst und gerade dann Sona Shintaro auftaucht, so wie er es dir vor 200 Jahren versprochen hat?!“, fragte er auf einmal und sah ihr dabei ernst in die Augen. Haruie, die beim Namen ihres einstigen Geliebten für einen Moment schmerzhaft das Gesicht verzog, wandte ihren Blick ab und sah aus dem Fenster. „Ich wüsste nicht, was es dich angeht, aber wenn es so kommen sollte, dann liegt die Entscheidung nicht an mir, ob die Liebe fortbestehen kann.“, sprach sie leise, während ihre Gedanken um Shintaro zu kreisen begannen. Ah... Schluss jetzt, wir haben anderes zu tun..., tadelte sie sich innerlich und fixierte Chiaki mit ihren Augen. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir einander berichten sollten, was wir herausgefunden haben, meinst du nicht auch?!“ Chiaki erwiderte ihren Blick und nickte zustimmend und begann zu berichten. „Dann werde ich mal den Anfang machen. Vielleicht als erstes vorneweg: ich habe nichts über den Aufenthaltsort von Naoe herausfinden können. Ich denke, du wohl auch nicht, sonst hättest du bestimmt schon etwas gesagt?! Nun, ist ja auch nicht unser maßgeblicher Auftrag. Ich denke, Kagetora ist bestimmt schon kurz vor dem Ziel! Ihn zu unterschätzen ist das Dümmste, was dieser Shishido machen konnte. Wie dem auch sei, unser spezieller Freund hieß nicht immer so, wie er sich uns vorgestellt hat.“ Die letzten Worte ließen Haruie interessiert aufschauen. „Das habe ich auch gehört. Aber ich konnte nicht erfahren, wie sein ursprünglicher Name war. Hast du etwa...“ Haruie wurde sanft von Chiakis wissendem Lächeln unterbrochen. „Yepp. Ich kenne den alten Namen und den möglichen Heimatort dieses Herren: Sakamoto Isamu aus Wajima. Und wie ich gehört habe, war er wirklich ein sehr enger Freund von Houjou Ujiteru – nun, wie vertrauenswürdig diese Freundschaft war, konnte mir meine Informationsquelle nicht sagen, aber es sah auf jeden Fall nach einer ziemlich engen Beziehung aus. Warum die beiden letzten Endes Freunde wurden, hat sich mir noch immer nicht erschlossen. Nach allem, was mir berichtet wurde, bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass nichts politisch Motiviertes dahinter steckte. Ihr Zusammentreffen spielte sich eher auf kultureller Ebene ab. Sakamoto ist ein begnadeter Künstler und Go Spieler. Dennoch habe ich das Gefühl, dass ganz wichtige Aspekte dieser Person nach wie vor im Dunklen liegen – vor allem sein Hass auf Kagetora. Hier bin ich kein bisschen schlauer geworden. Und warum er seinen Namen geändert hat, konnte ich auch nicht in Erfahrung bringen. Dieser Shishido ist wirklich ein zäher Brocken! Aber das macht es umso spannender, wenn da nicht Naoe wäre...“, stellte Chiaki mit begeisterter Stimme fest und blickte forschend zu Haruie rüber, die ihn Stirn runzelnd anstarrte. „Das ist kein Spiel, Chiaki! Wir wissen nicht, wie sehr Naoes Leben wirklich gefährdet ist! Ich glaube zwar, dass er ihn noch eine Weile am Leben lassen wird – zumindest bis er Kagetora gegenüber steht, aber völlig sicher kannst du dir bei diesem Sadist nicht sein. Wajima also... Denkst du, dass er sich dort aufhält?“, fragte Haruie zielstrebig und blickte ihn mit wachsamen Augen an. Chiaki lächelte innerlich über Haruies Tatendrang. Er wusste, dass sie sofort losfahren würde, wenn sie sich dazu entschließen würden. Aber bevor es dazu käme, müssten sie noch einige Dinge im Vorfeld abklären. Kagetora sollte in jedem Fall über ihre neuen Informationen unterrichtet werden, unabhängig davon, ob sie nach Wajima fuhren oder nicht. Zudem ist der Weg nach Wajima nicht unbedingt ein Katzensprung. Sie würden von ihrem jetzigen Aufenthaltsort knapp sechs Stunden brauchen. „Hm. Ich denke, wir sollten unser weiteres Vorgehen mit Kagetora absprechen. Wann hast du ihn das letzte Mal gesprochen?“ Chiaki blickte Haruie fragend an. „Am frühen Nachmittag. Er meinte, er wäre auf dem Weg nach Oomachi City. Warum er gerade dahin will, hat er mir nicht gesagt. Ich denke, er weiß mehr, als er uns sagt. Manchmal ist er echt anstrengend...“, antwortete sie mürrisch. „Oomachi City?! Das ist nicht weit von hier. Aber in der Tat, wirklich seltsam, dass er dorthin unterwegs ist. Glaubst du, dass Naoe dort gefangen gehalten wird?“ Chiaki begann interessiert die Speisekarte zu studieren, während er auf Haruies Antwort wartete. Als sie nichts sagte, blickte er auf und traf auf draufgängerisch funkelnde Augen. Er schmunzelte. „Dann lass uns auch nach Oomachi City fahren! Wir rufen ihn erst an, wenn wir dort angekommen sind, dann kann er uns nicht mehr wegschicken!“, sprudelte es aufgeregt aus ihrem Mund. „Nee, lass mal. Keine gute Idee. Kagetora hätte etwas gesagt, wenn er uns dort bräuchte...“ Haruie fuhr Chiaki grob ins Wort. „Hey?! Was ist denn mit dir los? Du bist doch sonst immer derjenige, der nie auf Kagetora hört und seinen eigenen Kopf durchsetzen will!?“, wetterte sie unüberlegt und funkelte ihn mit aufgebrachten Augen an. „Naoes Leben steht dabei auf dem Spiel, schon vergessen?!“, gab er ihr als einfache Antwort und blickte sich aufmerksam nach der Bedienung um. „Was? Eben genau deswegen!“, zischte sie leise, während sie mit jeder verstreichenden Sekunde unsicherer wurde. Sie wusste, dass Kagetora sich etwas dabei gedacht hatte, ihnen von seinem Vorhaben nichts zu erzählen, dennoch beschlich sie eine innere Unruhe, die es ihr nicht einfach machte, ruhig und besonnen zu reagieren. Sie vermisste Naoe und hatte schlicht und ergreifend Angst um ihn. „Ich habe verstanden. Dann eben auf nach Wajima, wenn wir ihm Bescheid gegeben haben, oder?!“, flüsterte sie nun kleinlaut und biss sich auf ihre Unterlippe. „Hey! Du siehst gerade wie ein schmollendes Kind aus! Süß!“, brachte Chiaki lachend hervor und erntete dafür einen bitterbösen Blick. „Entschuldige. Lass uns erst einmal etwas Essen, bevor wir unser weiteres Vorgehen planen. Während wir essen, können wir alles auflisten, was wir bisher herausgefunden haben.“, meinte Chiaki besänftigend und grinste die wiederholt an den Tisch getretene Bedienung freundlich an. „Okay. So machen wir es...“, pflichte sie ergebend bei und nahm ebenfalls die Speisekarte zur Hand. Kousaka murmelte aufgebracht vor sich hin, während er im Rückspiegel verfolgte, wie Kagetora im Wald verschwand. „Was hast du vor? Warum die Änderung unseres Planes und vor allem, warum die Trennung? Irgendwas stimmt hier nicht...“ Er konzentrierte sich wieder auf die Straße vor ihm und überlegte sich, wie er weiter vorgehen sollte. Kagetora hatte ihm beschrieben, was für ein Bild ihn erwartete, sobald er den Wald hinter sich ließ. Kousaka presste angespannt die Lippen aufeinander. Wenn alles stimmte, dann würde er in wenigen Minuten auf Shishido und einige seiner Untergebenen treffen. Er spürte, wie die Ungeduld in ihm wuchs und er es kaum aushalten konnte, endlich einen Blick auf die Szene zu werfen. Insgesamt sollten es mit Shishido fünf Personen sein, nun, und natürlich Naoe – aber ein Unfall?! Er konnte Kagetoras Worte noch immer nicht fassen. Dieser hatte ihm geschildert, dass der Wagen, in dem Shishido und Naoe gesessen hatten, aus unerklärlichen Gründen von der Straße abgekommen und die Böschung hinabgestürzt war. Kousaka schluckte bei diesem Gedanken. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Naoe damit etwas zu tun hatte. Was hast du dir dabei gedacht, Naoe?! Wolltest du dich umbringen?! Und alles für deinen Geliebten Kagetora, der sich nicht wirklich um dich schert?, dachte er verbittert und drosselte die Geschwindigkeit seines Fahrzeuges, da er beinah das Ende des Waldes erreicht hatte. Kousaka fuhr an den Straßenrand und stieg aus. Er sah sich aufmerksam um und konzentrierte sich auf das, was er vor sich sehen konnte. In etwa 50 Meter Entfernung parkte ein schwarzer Wagen. Niemand schien sich in ihm aufzuhalten, auch um ihn herum konnte er niemanden entdecken. „Wie es scheint, sind wohl alle beim verunglückten Wagen... Umso besser für mich! Dann kann ich mich problemlos anschleichen und die Sache erst einmal unentdeckt überblicken...“, meinte Kousaka selbstsicher und lief los. Arakawa stand besorgt neben dem am Boden liegenden Shishido, der seit ein paar Minuten von zwei Ärzten untersucht wurde, die er vorsichtshalber mitgebracht hatte. Er hielt angespannt den Atem an, als diese Shishido behutsam auf die Seite drehten, um nach weiteren Verletzungen zu suchen. Shishido war zwar nicht bei Bewusstsein, aber als sein Körper bewegt wurde, gab er ein leises Stöhnen von sich. Augenblicklich ging Arakawa in die Knie und berührte sanft dessen Stirn. Er sah zu beiden Ärzten rüber, die ihm zu verstehen gaben, dass keine weiteren Wunden an der Oberfläche zu finden waren. Dennoch bestanden sie darauf, ihn für eine vollständige Untersuchung in ein Krankenhaus zu bringen – natürlich unter ihrer Aufsicht. Arakawa nickte zustimmend und richtete seinen Blick wieder auf Shishido, der noch immer die Augen geschlossen hielt. Er konnte noch immer nicht glauben, was er hier sah. Als ihn Naoe unerwartet anrief und von Shishidos Zustand berichtete, hatte er es im ersten Moment für einen Scherz gehalten. Er wollte nicht glauben, dass es diesem Mann gelungen war, seinen Herrn zu überlisten. Oder hatte Shishido Naoe einfach unterschätzt? Verdammt... Shishido-sama! Du bist tot, Naoe... Arakawa versuchte erfolglos Naoes Bild aus seinem Kopf zu verdrängen und spürte, dass er mit jeder weiteren Sekunde wütender wurde. Er war so zornig und gleichzeitig voller Angst, dass es ihm schwer fiel zu atmen. Er musste sich unbedingt beruhigen und einen klaren Gedanken fassen. „Können wir ihn, ohne weiteren Schaden anzurichten, zum Wagen tragen und ihn dort hineinlegen?“, fragte er vorsichtig und blickte zu den beiden Ärzten rüber, die einander unsicher ansahen. Sie wussten natürlich nicht, ob ihr Herr innere Verletzung davon getragen hatte, daher war jede zusätzliche Bewegung Gift für seinen Zustand. Zugleich wussten sie aber, dass sie ihn schnellstmöglich in ein Krankenhaus schaffen mussten, um Gewissheit über den körperlichen Zustand von Shishido zu bekommen. „Jemanden in diesem Zustand zu bewegen, ist immer mit einem Risiko verbunden, aber wir müssen ihn ohnehin von hier fortschaffen. Wir werden die stabilisierenden Maßnahmen durchführen und können nur hoffen, dass er innerlich keine lebensgefährlichen Verletzungen davongetragen hat. Nun, und wenn ich mir ein Urteil erlauben darf, dann glaube ich nicht, dass es so ist. Wäre dies der Fall, dann würde er schon nicht mehr leben. Wie werden dann mal beginnen...“, erläuterte der Ältere der beiden Ärzte im sachlichen Ton und begann seine Tasche nach den benötigten Dingen durchzusuchen. „Dann mal los... Und auf das ihr euch keinen Fehler erlaubt, der tödlich endet...“, erwiderte Arakawa im eisigen Ton. Er blickte auf, als er das Geräusch herankommender Schritte vernahm. Er richtete sich auf und sah seinem dritten mitgebrachten Mann entgegen, den er losgeschickt hatte, um die Gegend nach Naoe abzusuchen. „Und!? Hast du etwas entdecken können?“, wollte Arakawa ungeduldig wissen, obwohl er die Antwort schon längst kannte. Er hatte nicht geglaubt, dass sich Naoe noch in der Nähe aufhalten würde, nachdem er ihn angerufen hatte. „Nein. Ich konnte nichts finden.“, antwortete der Mann pflichtbewusst und wartete auf die nächsten Befehle, während er einen verunsicherten Blick auf seinen am Boden liegenden Herrn warf, dem gerade eine Infusion angelegt wurde. Arakawa fixierte den Mann vor ihm und konnte nachfühlen, was in ihm vorging. Ihm selbst erging es nicht anders. Die Furcht vor der Unwissenheit über Shishidos wirklichen Gesundheitszustand lähmte ihn beinah völlig. Er musste sich zusammenreißen, um Herr der Situation zu bleiben. „Geh zum Auto und richte es so her, dass wir Shishido-sama bequem darin betten können, um zum nächsten Krankenhaus fahren zu können. Beeil dich!“, befahl er mit freundlicher Stimme und sah dem jungen Mann einen kurzen Moment wehmütig hinterher, der sich daran machte, die Böschung hinaufzuklettern. Wäre Arakawa in dessen Position, könnte er einfach auf Befehle warten und alles andere ausblenden. Es wäre so viel leichter. Arakawa schüttelte über die eigenen Gedanken angewidert den Kopf. Er beschämte seinen Herrn mit diesem egoistischen Wunsch. Er wollte sich gerade wieder zu Shishido umdrehen, als er eine überraschte Stimme hinter sich vernahm. „Shishido-sama!? Bitte, sie dürfen sich nicht bewegen!“, hörte Arakawa einen der beiden Ärzte sagen und drehte sich blitzartig mit klopfendem Herzen um. Er sah hinunter zu seinem Herrn, der mit erstaunlich klarem Blick zu ihm rauf sah. Arakawas Herz setzte bei diesem Anblick beinah aus. Er ging sofort neben Shishido in die Hocke und nahm vorsichtig dessen Hand in die seine. „Sie haben den Arzt gehört, Shishido-sama! Sie sollen sich nicht bewegen! Wir wissen noch nicht, ob Sie innere Verletzungen davon getragen haben!“, sprach Arakawa und versuchte seiner Stimme einen ruhigen Ton zu verleihen. Am liebsten hätte er vor Erleichterung gebrüllt, ihn in seine Arme genommen und dessen Lippen geküsst. Aber er wusste, dass er sich das nicht erlauben durfte. Er begrub seinen sehnlichsten Wunsch und erwiderte Shishidos durchdringenden Blick. „Ich nehme an, Naoe ist über alle Berge?!“, brachte Shishido mit leiser, schmerzverzerrter Stimme hervor und startete keine weiteren Versuche, sich erneut zu bewegen. Arakawa registrierte dies mit Erleichterung, aber senkte schuldbewusst den Blick. „Es tut mir leid, mein Herr. Wir haben ihn nicht finden können.“, antwortete er untergeben und wartete auf Shishidos Zurechtweisung. Als nichts dergleichen geschah, hob er besorgt seinen Blick. Er befürchtete schon, dass Shishido abermals das Bewusstsein verloren hatte, aber er wurde eines Besseren belehrt. Shishidos Augen waren in die Ferne gerichtet und ein konzentrierter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Die beiden Ärzte sahen ihn ratlos an, aber Arakawa wusste, was sein Herr gerade tat. Er hoffte nur, dass es keinen negativen Einfluss auf seinen Zustand hatte. Takaya stand in kurzer Entfernung zu einer kleinen Hütte abseits eines Wanderpfades und legte die Stirn in Falten. Er hatte nicht lange gebraucht, um hierher zu finden. Er konnte die Energie des Ringes an Naoes Knöchel förmlich sehen. Er zögerte. Ein Teil von ihm wollte die Hütte stürmen und sich erleichtert in Naoes Arme werfen, während aber ein anderer Teil seiner Persönlichkeit so voller Jähzorn war, dass er schon befürchtete, keinen weiteren Schritt mehr gehen zu können. Takaya atmete tief ein und versuchte seine innere Anspannung zu lösen – erfolglos. Er seufzte hörbar und spürte, dass sich seine Füße plötzlich wie von selbst in Bewegung setzten. „So? Dann habe ich wohl keine Wahl...“, murmelte er leise zu sich selbst und verdrängte den mit jedem Schritt ansteigenden Zorn, der ihm die Luft nahm. Gleichzeitig, in einer unberührten Ecke seines Herzens, wuchs die Sehnsucht, Naoes Gesicht zu sehen ins Unermessliche. Insgeheim genoss er dieses Gefühl, aber er war noch immer nicht bereit, es offen zuzugeben – schon gar nicht gegenüber Naoe. Takaya kam nach wenigen Augenblicken vor der kaputten Tür zum Stehen. Er vernahm kein Geräusch. Er griff nach der Tür und wappnete sich auf einen möglichen Angriff Naoes, als er begann sie aufzuziehen. Nichts geschah. Verunsichert sah er sich im Halbdunklen der Hütte um und erblickte Naoe schlafend an der ihm gegenüberliegenden Wand gelehnt. Takaya hielt die Luft an und versuchte vergebens Herr seiner aufbrechenden widersprüchlichen Gefühle zu werden. Sein Herz begann zu klopfen, als er langsam auf ihn zuging. Er kniete sich geräuschlos neben ihn nieder und betrachtete sanft dessen Gesicht. Er wandte seinen Blick ab, um für einen kurzen Moment zu Naoes Knöchel zu schauen, an dem er unfreiwillig den Ring der Versiegelung trug. Er fragte sich, ob er ihn jetzt lösen sollte. Warum zögere ich? Was ist, wenn Shishidos Untergebene auf dem Weg hierher sind... Ich habe keine Zeit..., dachte er unruhig und sah erneut in Naoes schlafendes Gesicht. Er beugte sich zu dessen Ohr hinab. „Nobutsuna...“, sagte er leise und sprach Naoe mit seinem Vornamen an. Während er in Naoes Ohr flüsterte, berührte er sanft mir seiner rechten Hand dessen Wange. „Naoe...“, wisperte Takaya weiter und verspürte das Verlangen, diesen Menschen zu küssen. „Es wird Zeit, dich von dieser Fessel zu befreien...“, sprach er leise und konzentrierte sich auf den Ring. Unerwartet traf er dabei auf eine weitere Person, die ebenfalls etwas mit dem Ring zu schaffen hatte. Shishido..., schoss es ihm auf einmal durch den Kopf und er begann augenblicklich, sich für einen Kampf auf spiritueller Ebene zu rüsten. Er spürte Shishidos Stärke und Willenskraft, die sich ihm aber unbeständig zeigten. Takaya nahm an, dass das die Nebenwirkungen des Unfalls waren. Er war also im Vorteil. Er konzentrierte sich auf das Band um Naoes Knöchel. Er übte unnachgiebig Druck von allen Seiten aus und spürte dabei parallel die schwindende Gegenwehr Shishidos. Er scheint wirklich geschwächt..., dachte Takaya erleichtert und setzte an, mit seinem nächsten Kraftaufwand, den Ring zu brechen. Er konnte sofort die feinen Risse spüren, die sich im Energiegeflecht des Ringes rasend schnell ausbreiteten. Mit jedem weiteren Riss wurde Shishidos Anwesenheit schwächer, bis sie, als der Ring letztendlich brach, völlig verschwand. Takaya ließ erschöpft den Kopf hängen, als er eine leise, lang vermisste Stimme vernahm. „Kage...tora-sama?!“ Kousaka lehnte entspannt an einem Baum und beobachtete unentdeckt und mit großem Interesse das Geschehen unterhalb von ihm an der Unfallstelle. In etwa 30 Meter Entfernung sah er fünf Personen, von denen sich vier unruhig hin- und herbewegten und sich angespannt um eine fünfte am Boden liegende Person kümmerten. Als Kousaka vor ein paar Minuten einen ersten Blick auf diese Szene werfen konnte, hatte er sofort bemerkt, dass sich Naoe nicht unter ihnen befand. Diese Feststellung hatte ihn wissend lächeln lassen, da er damit seine Theorie bestätigt empfand – Naoe schien tatsächlich den Unfall verursacht zu haben. Entweder war er selbst gefahren, oder aber er hatte Shishido ins Lenkrad gegriffen. Wie auch immer der Unfall ausgelöst wurde, Naoe war nun also auf freiem Fuß und Kagetora hatte dies von Beginn an gewusst. Er hatte es ihm also bewusst verschwiegen. Kousaka schnalzte anerkennend mit der Zunge. „Daher auch dein plötzlicher Wandel... Du bist Naoe suchen gegangen – oder sollte ich eher sagen: das du ihn gezielt aufsuchst, Kagetora?!“, flüsterte er nun verstimmt, da ihm klar wurde, dass er seine eigenen Pläne neu überdenken musste. Kousaka überlegte angestrengt, ob er sich ebenfalls auf den Weg zu Naoe machen sollte, oder er lieber versuchte, Shishido in seine Gewalt zu bekommen. Er sah unentschlossen zu Shishido rüber. Dieser junge Mann barg dem Anschein nach Geheimnisse, an denen sogar Naoe interessiert schien. Denn sonst hätte sich dieser höchstwahrscheinlich nicht die Mühe gemacht, Shishido zum einen aus dem Wrack zu bergen, und ihn zum anderen generell am Leben zu lassen. „Oder war es Mitgefühl? Wirst du langsam weich, Naoe? Haben wir es hier etwa mit dem Stockholm-Syndrom zu tun?!“, sprach Kousaka nachdenklich mit leiser Stimme, während er weiter das Treiben betrachtete. Er beobachtete, dass an der Unfallstelle auf einmal alles für einen kurzen Moment zum Erliegen kam. In der nächsten Sekunde vernahm er aufgeregte Stimmen, die die aufgetretene plötzliche Stille durchbrachen. Kousaka fokussierte Shishido und konnte erkennen, dass dieser das Bewusstsein wiedererlangt hatte. „Jetzt wird’s interessant...“, murmelte er aufgeregt, während er Shishido nicht aus den Augen ließ. Kousaka konnte erfassen, dass Shishido etwas fragte, was den Umstehenden unangenehm zu sein schien. Er mutmaßte, dass es bestimmt die obligatorische Frage nach Naoes Verbleib war. Er grinste höhnisch. „Ihr wart zu leichtfertig... Das habt ihr davon!“, brachte Kousaka unter leisen Lachen hervor, während er sich wieder auf das Geschehen konzentrierte und es mit belustigt blitzenden Augen verfolgte. Er fragte sich gerade, wann Shishido beginnen würde, nach dem Band der Versiegelung an Naoes Knöchel zu suchen, als er spürte, dass genau in diesem Moment damit jemand begonnen hatte. Kousaka musterte Shishido und bemerkte dabei dessen angespannten Gesichtsausdruck. Hm... Mal sehen, ob ihm Kagetora zuvor gekommen ist... Kousaka konnte vom folgenden Geschehen nicht viel erkennen, da sich einer der Männer direkt vor Shishido hingehockt hatte und ihm somit die Sicht nahm. Er vermutete, dass diese Person eine enge Vertrauensperson von Shishido war, denn sie gab Befehle und schien die Lage zu überwachen. „Ein weiteres Schoßhündchen...“, murmelte Kousaka mit einem Grinsen im Gesicht. Einen Augenblick später stand diese Person hastig auf und trieb die Person, die inzwischen am abgestellten Wagen auf der Straße mit Vorbereitungen beschäftigt war, zur Eile an. Der wieder freie Blick auf Shishido zeigte Kousaka, dass jener erneut das Bewusstsein verloren hatte. „Die Nebenwirkungen einer inneren Verletzung? Erschöpfung? Den Kampf verloren? Verloren, weil erschöpft und verletzt?! Wie langweilig...“, stellte Kousaka im gehässigen Ton fest und entschloss sich nun zu handeln. Er würde Shishido und seine Männer ziehen lassen, und sich stattdessen auf den Weg zu Naoe machen. Shishido würde ihm nicht weglaufen – schon gar nicht nach dieser Blamage. Bei Naoe, und vor allem Kagetora, war er sich nicht so sicher. Wenn er sie jetzt länger allein lassen würde und sie anschließend gemeinsam gehen ließe, hätte er seine Chance vertan, Naoe auf irgendeine Weise zu beeinflussen – denn dafür wäre jetzt die beste Möglichkeit. Kousaka spekulierte darauf, dass Naoe sehr wahrscheinlich nicht nur körperlich angeschlagen war, sondern dass zudem dessen emotionale Verfassung kurz vor dem Zusammenbruch stand. „Wem würde es dabei anders ergehen!? Entführung. Gefangenschaft. Sexualisierte Gewalt und ein unangenehmer Schatten aus der Vergangenheit...“, zählte Kousaka seufzend auf, während ein nachdenklicher Ausdruck auf seinem Gesicht erschien. „Aber wie kann ich Kagetora überrumpeln?“ Kousaka drehte sich in Gedanken versunken um, warf dabei aber einen letzten Blick auf die Personen vor ihm, bevor er zurück zu der Stelle ging, an der Kagetora das Auto verlassen hatte. Ihm entging dabei der geringschätzige, aber zugleich erleichterte Blick Arakawas, der genau zu der Stelle sah, an der er eben noch gestanden hatte. „Kagetora-sama?!“ Takaya erstarrte und hielt den Atem an. Er hatte das Gefühl, als würde er in der Woge seiner überschäumenden Gefühle ertrinken. Er hob langsam den Kopf und traf auf Naoes unergründliche Augen. „Kagetora-sama...“, wisperte Naoe und hob seine linke Hand, um Takayas Wange zu berühren. Dieser sah die Berührung kommen und rutschte hastig ein Stück zurück. Für einen kurzen Moment konnte Takaya einen gequälten Ausdruck in Naoes Augen aufblitzen sehen, bevor sie wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückfielen. Takaya presste angespannt die Lippen aufeinander und versuchte erfolglos, Herr seiner widersprüchlichen Gefühle zu werden. Er spürte, dass mit jeder verstreichenden Sekunde seine Wut die Oberhand gewann. Er schloss für einen kurzen Augenblick die Augen, bevor er anschließend Naoe zornig anfunkelte. Naoes Augen weiteten sich überrascht. „Tiger´s eye...“, flüsterte Naoe mit gebrochener Stimme, während er erneut die Hand nach Takaya ausstreckte. Dieser schlug sie zur Seite. „Wage es nicht, mich zu berühren...“, sprach Takaya mit eisiger Stimme und warf dabei einen unbarmherzigen Blick auf Naoe. Dieser zuckte unwillkürlich zusammen. „Kage...“, begann Naoe sanft, wurde aber gebieterisch von Takaya unterbrochen. „Schweig!“, brüllte dieser beinah, während er sich für seine nächsten Worte innerlich sammelte. „Wie kannst du es wagen, dich meiner Befehle zu widersetzen, Naoe Nobutsuna?! Ich dachte, wir hätten eine...“ „Ich kann mich nicht daran erinnern, in dieser Sache einen Befehl von dir erhalten zu haben!?“, erwiderte Naoe im sachlichen Ton Takaya unterbrechend, der plötzlich nach vorne schnellte, und Naoe mitten ins Gesicht schlug. Überrascht sog dieser den Atem ein und schmeckte Blut an der Innenseite seiner Wange. Er versuchte Takayas Blick einzufangen, aber dieser sah unerwartet betroffen zu Boden. „Es tut mir leid...“, entgegnete Naoe aufrichtig und musterte weiterhin die zu Boden blickende Person vor ihm. „Es ging nicht anders. Das müsstest du eigentlich selbst wissen...“, sprach Naoe mit wiederkehrender Zuversicht, der der folgende Blick von Takaya ein abruptes Ende setzte. Naoe schluckte nervös, als er dessen Gesichtsausdruck sah. „So? Es ging nicht anders? Ich müsste das selbst wissen? Das heißt dann also auch, dass es nicht anders ging und dich Shishido ohne Weiteres nehmen durfte?! Ein Mal? Zwei Mal? Hast du es gern getan?“, fragte Takaya eiskalt und sah geringschätzig zu Naoe rüber. Dieser bekam vor Wut und Scham ein rotes Gesicht. „Und glaube ja nicht, dass Eifersucht oder dergleichen aus mir spricht! Ich bin maßlos enttäuscht darüber, dass der Naoe Nobutsuna, den ich kenne und der sonst so willenstark und unerschütterlich daherkommt, sich von solch einem Menschen brechen lässt, sich wie Dreck behandeln lässt! Und dann entschuldigst du dich damit, dass es nicht anders ging, weil du es für mich getan hast?! Das ich nicht lache...“ Takaya spuckte Naoe die verächtlichen Worte förmlich ins Gesicht. Er schnellte erneut nach vorne, setzte sich rittlings auf Naoes Beine und drückte diesem mit beiden Händen den Hals zu. Naoe, der in Takayas Worten ein Stück Wahrheit erkannte, ließ ihn gewähren und fixierte ihn stattdessen mit seinen Augen. Er spürte, dass Takayas Hände an seinem Hals zitterten und musste lächeln. „Ich wusste gar nicht, dass dich so etwas zum Lächeln bringt!?“, zischte Takaya aufgebracht, bewegte seinen Kopf nach vorn und gab Naoe unerwartet einen groben Kuss auf die Lippen. Naoes Augen weiteten sich vor Entsetzen und er begann nun doch, an Takayas Armen zu ziehen. „Nein... Kage... So nich...“, presste er mit kaum vorhandener Atemluft hervor, als er erneut Takayas Lippen auf den seinen spürte. „Was ist?! Ist es nicht das, was du willst?“, erwiderte Takaya mit gespielter, verführerisch klingender Stimme, während er seinen Griff um Naoes Hals verstärkte. Naoe kniff die Augen zusammen und versuchte den Kopf zur Seite zu drehen. „Hm!? Glaubst du wirklich, dass du mir so ausweichen kannst, Nobutsuna?!“, flüsterte Takaya leise in dessen Ohr. „Du bist zwar nicht im Besitz deiner vollen körperlichen Kraft, aber der Ring ist weg, Naoe! Es sollte also ein Leichtes sein, oder?!“, schleuderte Takaya ihm wütend entgegen, lehnte sich zurück und musterte aufmerksam dessen Gesicht. Er suchte darin nach Anzeichen, die den erhofften Befreiungsversuch verraten würde, aber konnte nichts dergleichen entdecken. Enttäuscht ließ Takaya den Kopf hängen. Dem folgten einen kurzen Moment später beide Arme. Er spürte, dass sich Tränen der Wut, Enttäuschung und des Schmerzes in seinen Augen sammelten. Er begann heiser zu lachen, als er wieder zu Naoe aufblickte. „Ich weiß nicht, was in dir vorgeht, Naoe!?! Alles was du sagst und tust, macht keinen Sinn...“, brachte Takaya erschöpft lachend hervor und sah ihm fragend in die Augen. Naoe erwiderte Takayas forschenden Blick und wusste nicht, was er sagen sollte. Seine eigenen aufbrechenden Gefühle raubten ihm den Verstand, so dass es ihm schwer fiel einen klaren Gedanken zu fassen, um Takaya eine besänftigende Antwort zu geben. Er schluckte und versuchte den Schmerz in seinem Hals zu ignorieren. „Kagetora-sama...“ Naoe stockte, denn er sah für einen kurzen Moment ein Aufflammen von Vertrauen in Takayas Augen. Aber so plötzlich wie er dieses aufblitzen sah, so schnell war es auch wieder hinter der starren Maske verschwunden. Er unterdrückte das Bedürfnis, Takaya in seine Arme zu ziehen und ihn bedingungslos zu halten. Naoe hatte geahnt, dass er sich auf dünnes Eis begeben würde, wenn er sich auf Shishido einließe. Aber dass Takaya so extrem auf sein egoistisches Vorgehen reagierte, hatte er nicht erwartet. Da spielte es auch keine Rolle, ob sein Verhalten einem nützlichen und vor allem lebenserhaltenden Zweck diente. Er seufzte hörbar. „Ich weiß nicht, was du hören willst...“, sprach er leise zu Takaya und spürte dabei, wie sich sein Herz vor Schmerz zusammen zog. „Du sollst nicht sagen, was ich hören will, sondern was in dir vorgeht, Naoe...“, erwiderte Takaya im resignierten Tonfall und vermied es dabei, Naoe in die Augen zu sehen. Naoe setzte gerade an zu antworten, als die kaputte Tür hinter ihnen auseinander flog und eine Person im Türrahmen erschien. Ehe die beiden reagieren konnten, durchströmte eine starke Energiewelle den Raum, die Takaya erfasste und ihn von Naoe weg hart gegen die Wand knallen ließ. Stöhnend und dem Anschein nach das Bewusstsein verlierend, glitt Takaya zu Boden und blieb regungslos liegen. Naoes überraschter Blick wanderte von Takayas leblosen Körper rüber zum Eindringling. „Wow! Das nenne ich mal Timing! Ich dachte schon fast, dass ich zu spät kommen würde!“, meinte Kousaka vergnügt, der sich weiter in den Raum hinein bewegte und dabei die auf dem Boden liegenden Person nicht aus den Augen ließ. „Kousaka?!“ Naoe warf Kousaka einen irritierten Blick zu, den dieser mit einem Lächeln quittierte. „Wer sonst?! Hast du etwa geglaubt, dass dieser Grünschnabel hier die Fähigkeit besitzt, dich ohne meine Hilfe zu finden?“, log ein noch immer heiterer Kousaka, der inzwischen neben Naoe zum Stehen kam und sich hinhockte. „Was soll das?! Warum hast du das getan?!“ Naoe warf einen fragenden Blick in Kousakas Richtung, bevor er sich aufmachte, um an Takayas Seite zu eilen. Kousaka hielt ihn sanft am Arm gepackt auf. „Ist es wirklich das, was du willst und vor allem jetzt brauchst, Naoe?!“, meinte Kousaka eindringlich, der keine Anstalten machte, Naoes Arm frei zu geben. Er blickte dabei Naoe nachdrücklich in die Augen. „Was willst du mir damit sagen?“, fragte Naoe verunsichert, der von Takaya zu Kousaka blickte. Dieser grinste ihn nun breit an. „Na ja. Ist doch ganz einfach! So, wie sich dieser Heißsporn hier eben aufgeführt hat, ist doch klar, dass er dich nun erst recht nicht mehr ranlässt – um es mal mit netten Worten zu sagen. Vom abhanden gekommenen Vertrauen will ich gar nicht erst sprechen... Vielleicht solltest du ihm Zeit geben?! Dir Zeit geben?! Außerdem ist da immer noch Shishido, der wohl schon, während wir uns hier unterhalten, auf dem Weg in ein Krankenhaus ist. Noch könnten wir ihn einholen. Mein Auto ist nicht weit von hier geparkt...“, sprach Kousaka verschwörerisch und ließ Naoes Arm gehen. „Wieso sollte ich das mit dir tun, Kousaka?! Ich ziehe es vor, mit Takaya jetzt lieber reinen Tisch zu machen. Danach werden wir zusammen mir den anderen gemeinsam das weitere Vorgehen bezüglich Shishido besprechen. Du könntest daran bestimmt teilnehmen, wenn du wirklich maßgeblich daran beteiligt warst mich zu finden. Ansonsten schlage ich vor, dass du einfach verschwindest...“, entgegnete Naoe mit fester Stimme und warf Kousaka einen abschätzenden Blick zu. „Denkst du wirklich, dass es so einfach ist, Naoe?! Du hast Kagetora selbst gehört. Deine Nähe wird ihm nicht gut tun, dass hast du selbst gemerkt...“, drängte Kousaka unaufhörlich weiter. „Ach ja?! Und meine Abwesenheit bewirkt also das Gegenteil?! Wenn dem so wäre, dann hätte sich Takaya emotional nicht so gehen lassen – das ist meine Schuld. Hätte ich mich nicht zurückgezogen, um ihn zu schützen, wäre unser Wiedersehen wahrscheinlich anders verlaufen. ... Warum erzähle ich dir das überhaupt...“ Naoe brach mitten im Satz ab, richtete sich unbeholfen auf und ging zu Takaya. Kousaka gab einen verächtlichen Ton von sich und verengte wütend die Augen. Er überlegte fieberhaft, wie er Naoe doch noch überzeugen konnte, mit ihm zusammen die Hütte zu verlassen, um Shishido zu verfolgen. „Kagetora will kein Schoßhündchen, Naoe! Aber du verhältst dich gerade wie eins!“, brachte Kousaka wütend hervor, während er auf Naoes Rücken starrte. Naoe zuckte bei diesen Worten zusammen. Er kniete sich neben Takaya und berührte sanft dessen Rücken. Seine Gedanken rasten. Er wusste nicht mehr, was er tun sollte. Einerseits wollte er sich Takaya öffnen, aber andererseits machten ihn Kousakas harsche Worte betroffen, denn auch in ihnen lag ein Funken Wahrheit. Er sollte sich von seinen Gefühlen freimachen und die Sache mit Shishido alleine zu Ende bringen – unabhängig davon, dass es dieser eigentlich auf Kagetora abgesehen hatte. Naoe seufzte hörbar und fasste eine schwere Entscheidung. Er drehte seinen Kopf und blickte zu Kousaka, der inzwischen wieder stand und angespannt zu ihm rüber sah. „Gut. Ich werde vorerst mit dir mitkommen. Warte bitte draußen auf mich. Ich möchte Takaya noch in eine angenehmere Position bringen, sowie Haruie und Chiaki verständigen. Dann können wir gehen...“, flüsterte Naoe und spürte die unangenehme Last dieser Entscheidung. „Okay! Beeil dich aber...“, erwiderte Kousaka erleichtert und drehte sich lächelnd um. Sobald Naoe allein mit Takaya in der Hütte war, begann er, diesen behutsam auf den Rücken zu drehen und ihn nach Verletzungen abzusuchen. Er glaubte zwar nicht, dass Kousaka so weit gehen würde, aber Naoe wollte sich einfach vergewissern. Er zog seine Jacke aus und bettete Takayas Kopf darauf. Anschließend durchsuchte er dessen Jacke nach dem Handy. Als er es gefunden hatte, wählte er Chiakis Nummer und sah dabei wartend auf Takayas Gesicht hinab. Er berührte liebevoll dessen Wange und strich ihm die zersausten Haare aus dem Gesicht. „Ich bin es, Chiaki! ... Nein, dem geht es gut. ... Ja, mir soweit auch. Der Grund, warum ich eigentlich anrufe... ... Nein, wie kommst du darauf? Egal. Hör mir zu, denn ich habe nicht viel Zeit. Takaya liegt bewusstlos in einer kleinen Hütte circa drei Kilometer nordwestlich von Kamishiro. ... Ja, du hast richtig gehört. Wie lange werdet ihr brauchen? ... Gut. ... Nein. Ich werde diesen Ort gleich mit Kousaka verlassen. Wie werden gemeinsam Shishido verfolgen, aber ich bleibe mit euch in Kontakt. ... Davon weiß er noch nichts. ... Tut mir leid, aber es geht nicht anders. ... Verstanden. Bestell Haruie Grüße! ... Ich werde mich sobald es geht melden. Bis dann!“ Naoe beendete mit neu gewonnenem Selbstvertrauen das Gespräch. Er schloss für einen Moment die Augen. Steh zu deiner Entscheidung... Verdammt, wenn das bloß so einfach wäre... Aber es ist die richtige, oder?! Naoe versuchte seine zweifelnden Gedanken beiseite zu schieben, aber es gelang ihm nicht ganz. Ein kleiner Rest des beklemmenden Gefühls blieb unweigerlich vorhanden. Er sah sehnsuchtsvoll auf Takaya herunter und berührte sanft mit seinen Fingern dessen geschlossene Lippen. Er spürte Begierde in sich aufsteigen, die ihm die Kehle zuzuschnüren drohte. Er beugte sich zögerlich hinab, aber stoppte mitten in der Bewegung. „Ich hoffe, du kannst mich eines Tages verstehen, Takaya. ... Aber wie sollst du mich verstehen können, wenn ich mich selbst nicht verstehe. Mein Leben gehört dir – auf immer und ewig. ... Ich werde jetzt gehen, aber ich bin erreichbar...“, wisperte Naoe zärtlich, während er sich nun ganz nach unten beugte und Takaya sanft auf die Lippen küsste. Er verharrte einen Augenblick, bevor er sich anschließend entschlossen aufrichtete und die Hütte verließ. Takaya öffnete die Augen. Er hob seine rechte Hand und berührte seine Lippen. „Was hast du vor, Kousaka...“, flüsterte Takaya zwischen seinen Fingern hindurch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)