Zerspringende Ketten von Benjy ================================================================================ Kapitel 20: Wahrheiten ---------------------- Längst hatte sich Dunkelheit über das Anwesen gelegt, als Haruie ihr Motorrad parkte und müde zur Tür schritt. Die Hoffnung, während ihrer Spritztour Neues über den Sakamoto-Clan in Erfahrung bringen zu können, hatte sich schneller zerschlagen, als sie für möglich gehalten hatte. Während sie in den hell beleuchteten Flur trat, dachte sie an die letzten Stunden zurück. Auf ihrem Weg zu ihrer zweiten Informationsquelle, hatte sie ihren Verfolger zum ersten Mal erblickt – auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt nicht dessen wahre Rolle kannte. Er war in einiger Entfernung aufgetaucht und fuhr, wie sie hatte zugeben müssen, eine hübsche schnelle Sportmaschine, die ihrer in PS um nichts nachstand. Ihr hatte es sofort in den Fingern gejuckt, jene in ein spielerisches Straßenrennen zu verwickeln. Diesen Gedanken aber verdrängend, hatte sie sich stattdessen um ihre eigentliche Aufgabe gekümmert und ihren zweiten Informanten kurze Zeit später mit wenig, aber neuem Wissen über den alten Kriegsfürsten verlassen. Als sie kurz darauf erneut die Maschine im Rückspiegel entdeckte, wusste sie, dass sie nun doch zu ihrem Rennen kommen würde, auch wenn es jetzt unter anderen Vorzeichen stattfinden würde. Die Verfolgungsjagd zog sich länger hin, als Haruie gehofft hatte. Und das Ende war zudem noch viel aufsehenerregender als gewollt – zumindest für den anderen. Dieser hatte sich zu stark in eine Rechtskurve geneigt, sodass das Hinterrad zu schwimmen begann und anschließend Mensch wie Maschine unkontrolliert über den Asphalt geschlittert waren. Gebremst wurden beide erst durch niedrige Böschung am Straßenrand. Der sichtlich benommene junge Mann hatte es Haruie bei der anschließenden Befragung nicht leicht gemacht. Immerhin hatte sie herausbekommen können, welchem Clan er angehörte. Es hatte sie nicht verblüfft, den Namen zu vernehmen, nach dem sie heute schon den ganzen Tag gefragt hatte – Sakamoto. Mehr Informationen über dessen Vorhaben hatte sie leider nicht in Erfahrung bringen können. Das war auch keine Überraschung, denn der junge Gefolgsmann hatte seinen Platz in der untersten Reihe des Sakamoto-Clans, wo keine wichtigen Informationen hingetragen wurden. Haruie seufzte frustriert, als sie den Raum betrat, in dem sie Chiaki vermutete. Sie lag richtig. Ihr Freund stand am anderen Ende am Fenster und telefonierte aufgeregt. Sie lauschte, während sie es sich auf dem Sofa gemütlich machte. „Verstanden. Dennoch glaube ich noch immer, dass es keine gute Idee ist, Naoe. … Hm. … Hm. … Geht klar. … Ja, sie ist gerade reingekommen. Soll ich sie dir geben? … Okay. Ich melde mich dann wie vereinbart. … Ja, ihr auch. Bis dann.“ „Wieso wollte er mich nicht sprechen?“ Haruie warf Chiaki, der ihr gegenüber Platz genommen hatte, aus ihrer liegenden Position einen anklagenden Blick zu. „Warum wohl!?! Er steht mehr auf meine sexy Stimme, als auf dein röhrendes Auspuffrohr.“ „Wie charmant! Aber jetzt mal ernsthaft, wie geht es ihnen?“ Chiaki stand wieder auf. „Soweit wohl gut.“ Er schritt zum Schreibtisch, um seine Aufzeichnungen zu holen, die er anschließend Haruie reichte. „Sie treffen sich in wenigen Minuten mit Shishido, daher wollte er es kurz halten. Sie sind ohne Schwierigkeiten angekommen, was Kagetoras Annahme bestätigte, dass Shishido sie erwarten würde.“ „Hm. Und wie geht es jetzt weiter?“, fragte Haruie, die sich aufsetzte und die Zettel aus der Hand legte. „Ich meine, das, was ich hier lese plus das, was ich heute erfahren habe, lässt alles noch rätselhafter erscheinen.“ „Was hast du herausgefunden?“ Chiaki griff nach den Blättern, um Haruies neue Informationen hinzufügen zu können. „Eine Bestätigung dessen, was wir schon vermutet hatten. Ich habe mal ein wenig wegen diesem Scharfschützen nachgeforscht. Wie es aussieht, habe ich dabei die Verbindung zu Shishido entdeckt“, eröffnete Haruie überlegen grinsend. Chiaki gab nur ein Brummen von sich. „Sein Name ist Arakawa Sasuke. Zusammen mit seinem Bruder, Arakawa Kaito, ist er im Sakamoto-Clan aufgewachsen. Dort haben beide eine ordentliche Karriere hingelegt. Sie hatten früh ihr eigenes Operationsteam unter sich. Kaito als erster und Sasuke als zweiter Befehlshaber.“ „Sie haben also zusammen gearbeitet?“, warf Chiaki fragend dazwischen. „Sieht so aus. Sie hatten ein sehr inniges Verhältnis.“ „Hatten?“ Haruie blickte strafend zu Chiaki. „Unterbrich mich nicht ständig!“ Entschuldigend hob der Angesprochene die Hand. „Tut mir leid. Mach bitte weiter.“ „Wenn es stimmt, was meine Quelle mir berichtete, dann hat Kaito vor längerer Zeit völlig überraschend den Clan und seinen Bruder zurückgelassen. Niemand hatte etwas gewusst oder geahnt. Und inzwischen wissen wir ja, wo er sich befindet. Ich frage mich, ob es nicht vielleicht ein Geheimauftrag des Kriegsfürsten selbst ist. Könnte ja sein, dass dieser Kaito mit dem Befehl, den verlorenen Sohn zu suchen und auszuspionieren, ziehen lassen hat.“ „Hm… Durchaus eine Möglichkeit. Aber irgendwie glaube ich eher, dass Kaito Shishido ergeben ist, und Sasuke ebenfalls für den neuen Herrn seines Bruders arbeitet. Das könnte den Anschlag auf Kagetora und Yuzuru erklären“, entgegnete Chiaki nachdenklich. „Schon, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass Sasuke komplett auf eigene Faust hätte handeln können. Sakamoto muss da ebenfalls seine Finger im Spiel haben. Vielleicht begehrt er, wie viele weitere Kriegsfürsten auch, Yuzurus geheimnisvolle Macht“, gab Haruie zu bedenken. „Schon klar, aber wenn Sasuke im Auftrag Sakamotos den Anschlag verübt haben soll, dann widerspricht das deiner Annahme, dass er an Yuzuru interessiert wäre. Tod nützt dieser ihm schließlich nicht viel. Außer er weiß mehr über Yuzuru als wir.“ Chiaki legte den Stift aus der Hand und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Außerdem könnte die Abwesenheit Sasukes erklären, dass dieser als Shishidos Spion aufgeflogen ist. Vielleicht geht aber auch etwas ganz anderes vor sich, wovon wir noch nichts wissen.“ „Halten wir also fest: Sasuke scheint die Verbindung zwischen Shishido und dessen Vater zu sein. Für wen von den beiden er wirklich arbeitet, ist nicht ganz geklärt, obwohl vieles für den Sohn spricht, nicht zuletzt wegen Kaito. Yuzuru scheint für Sakamoto wichtig zu sein. Shishido hat es auf Kagetora abgesehen. Und Kagetora erhofft sich Informationen über Sakamoto bezüglich Yuzuru zu erhalten. Habe ich etwas vergessen?“ Haruie blickte fragend zu Chiaki. Dieser runzelte die Stirn. „Nein. So sieht wohl derzeit unsere dürftige Informationslage aus. Wir sollten uns also nicht im Spekulieren verlieren, sondern mehr beschaffen. Außerdem verursacht mir Kousaka weiterhin Kopfzerbrechen“, entgegnete Chiaki beunruhigt. „Wir kennen ihn zwar nur als Ein-Mann-Team, aber irgendwas sagt mir, dass wir hier etwas übersehen.“ Er bekam ein zustimmendes Nicken. „Es würde mich nicht wundern, wenn Kousaka hinter all dem Stecken würde. Na ja, zumindest was den Kriegsfürsten angeht“, pflichtete Haruie ihm bei. „Vielleicht hat er diesen ja mit Informationen Yuzuru betreffend versorgt, natürlich mit einer entsprechenden Gegenleistung. Wobei es mir schwer fällt zu glauben, dass der sich mit einem Kriegsfürsten anlegen würde.“ „So abwegig ist das gar nicht“, meinte Chiaki, der eifrig nach dem Stift griff, um die neue Mutmaßung festzuhalten. „Die interessante Frage hierbei wäre ja, was er als Gegenleistung bekommen hat und, ob er noch immer in Kontakt steht. Wenn ja, dann weiß Sakamoto, wo sich die anderen gerade befinden.“ „Ich glaube, Kagetora hat solch eine Vermutung bestimmt auch auf dem Schirm, und wird Yuzuru nicht aus den Augen lassen. Er wollte ihn schließlich bei sich haben.“ Um ihren Worten mehr Gelassenheit zu verleihen, streckte sich die Frau erneut auf dem Sofa aus und schloss die Augen. „Yuzuru befindet sich derzeit am sichersten Platz, und der ist an Kagetoras Seite. Ihnen wird schon nichts passieren und wir werden für eine ordentliche Rückendeckung sorgen.“ „Nichts leichter als das“, witzelte Chiaki, „wenn ich bedenke, wie oft Kagetora alles allein geregelt hat, und wir praktisch nutzlos waren.“ Er stand auf. „Ich werde mal eben etwas überprüfen gehen. Ich würde sagen, falls du auch noch mal los willst, treffen wir uns hier in zwei Stunden wieder. Naoe werde ich von unterwegs aus kontaktieren. Melde dich bei mir, wenn irgendwas Wichtiges aufkommt. Hörst du?“ Damit verließ er den Raum, ohne auf Haruies Antwort zu warten. „Aye-aye, Sir!“, brummte die Zurückgelassene ungehört. „Ich bewege mich vorerst keinen Zentimeter mehr.“ Gähnend drehte sie der Tür den Rücken zu. „Na ja, höchstens auf der Couch.“ Umgeben vom Dämmerlicht stand Shishido wartend am Eingang des Haupthauses und blickte ungeduldig auf die einzige Straße hinab, die hier herauf führte. Beinah vollkommene Stille umgab ihn. Lediglich das vertraute Rauschen der Brandung war zu hören. Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Es schien, als konnte er die herannahende Macht förmlich auf ihnen schmecken. Und damit meinte er nicht das Salz des Meeres, dessen Anwesenheit sich durch die unbändige Kraft der Flut an den Klippen bemerkbar machte. Er schloss die Augen. Für die Männer, die unsichtbar um ihn herum Aufstellung genommen hatten, war seine Erregung nicht zu erkennen. Aber jenen, denen er gestattete, ihm ganz nah sein zu dürfen, die mehr als nur Befehle ausführen mussten, dürfte es nicht schwer fallen, sein Innerstes zu lesen. Die Anzahl dieser privilegierten Personen war an weniger als einer Hand abzuzählen. Natürlich gehörte Arakawa dazu, der gerade damit beschäftigt war, die sehnsüchtig erwarteten Gäste zu ihm zu eskortieren. Aber es gab auch Personen, die nicht mehr unter den Lebenden weilten und denen er sich geöffnet hatte. „Houjou...“ Der Klang des Namens ließ Shishidos Herz schneller schlagen. Der Gedanke an den Verstorbenen, seinen Freund, seinen Geliebten entfaltete noch immer seinen Zauber über ihn, auch wenn er nun schon seit längerem fort war. Die Bekanntschaft mit diesem außergewöhnlichen Mann hatte ihn gerettet. Vieles, was ihm in und durch sein Elternhaus verwehrt gewesen war, hatte er durch Houjou erfahren dürfen. Er konnte sich noch ganz genau an ihren ersten zaghaften Kuss erinnern, der von Schuld, Begierde und nicht zuletzt Liebe getrieben war. Das Leben an der Seite des kaum älteren Mannes war ihm wie ein Traum erschienen, der die Zeit zum Stillstand gebracht hatte. Umso mehr traf ihn die Ermordung, die plötzlich alles veränderte, und ihn erneut in die längst zurückgelassene Einsamkeit katapultierte. Shishido wusste, dass selbst, wenn er Rache genommen hatte, es nicht mehr wie vorher sein würde – er nicht mehr zu seinem früheren Selbst zurück konnte, das bedingungslos mit Liebe überschüttet wurde und diese selbst furchtlos verschenkte. Houjou war seine einzige Vergangenheit, die er billigte und der er bereitwillig Raum in seiner Seele ließ. Die Zeit davor zählte nicht. Und die Zukunft stimmte ihn unsicher, auch wenn er mit Arakawa an seiner Seite etwas Zuversicht verspürte. Es war nicht schwer gewesen, den Mann ausfindig zu machen, der für Houjous Tod verantwortlich war. Zu erfahren, dass dessen eigener Bruder der Mörder war, hatte seine Wut ins Unermessliche steigen lassen. Erinnerte ihn das doch an die eigenen Erlebnisse innerhalb seines Familienclans, dem er den Rücken gekehrt hatte. Er war sich fast sicher, dass Houjou sein Vorhaben nicht billigen würde, denn zu sehr war dessen Person durch und durch mit der Achtung vor dem Leben erfüllt. Dennoch konnte Shishido keine Ruhe bei dem Gedanken finden, dass der Mann, den er einst liebte, nicht mehr lebte, und niemand etwas gegen diese Ungerechtigkeit unternahm. Houjou hatte ihm nie viel über seine Familie erzählt, was letztendlich auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie beide hatten sich dafür entschieden, unabhängig und frei von ihren Familien, ihrem Clan zu leben. Die Gründe und der Zeitpunkt dafür mögen unterschiedlich gewesen sein, dennoch brachten diese unausgesprochenen Geheimnisse sie einander näher. Trotz ihres wundervollen Zusammenlebens, scheinbar frei vom Schatten ihrer beider Vergangenheiten, war ihm nicht verborgen geblieben, dass sein Geliebter von Angelegenheiten des Clans behelligt wurde, die diesem zunehmend große Sorgen bereiteten. Shishido musste hilflos mit ansehen, wie sich Houjou immer mehr verschloss und eines Tages einfach verschwand. Die Todesnachricht hatte ihn kurze Zeit später erreicht. Überbracht wurde sie von einem Familienmitglied, das seinen Unmut über diese undankbare Aufgabe nicht verborgen hielt. Shishido erfuhr zudem, dass Houjou ihm all seinen Besitz vermacht hatte, dazu gehörte auch dieses Anwesen an den Klippen in Wajima. Erst hatte er vorgehabt, das Erbe auszuschlagen, aber er entschied sich zuletzt dafür. Vielleicht war das der Moment, wo er zum ersten Mal seit dem Verlassen des Clans wieder zerstörerische Gedanken hegte. Shishido wollte der Familie, die offensichtlich nicht in der Lage gewesen war, Houjou zu beschützen, nichts überlassen. Er verabscheute den Gedanken, ihnen auch nur einen winzigen Teil anvertrauen zu müssen. Er hasste sie für ihre Vergangenheit mit Houjou, die er nicht kannte. Er hasste sich dafür, dass er nicht in der Lage gewesen war, seinen Geliebten zu beschützen. Er hasste Uesugi Kagetora, der ihm Houjou Ujiteru genommen hatte. Und in wenigen Minuten würde er diesem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten können. Shishido öffnete seine Augen und leerte gleichzeitig seinen Geist. Er durfte nicht zulassen, dass ihn die Gedanken an Houjou unaufmerksam werden ließen. Dies konnte er sich nicht leisten – nicht gegen den außergewöhnlich starken Anführer von Uesugi Kenshins auserwählter Armee der Unterwelt, deren Aufgabe es war, die nicht ruhenden Seelen der rachsüchtigen Kriegsfürsten des alten Japans zur Strecke zu bringen. Als die ersten Lichtkegel auf der Straße auftauchten, wandte er sich rasch mit den vereinbarten Zeichen an seine Männer, und trat anschließend auf den Vorplatz ins Freie. Kagetora beobachtete spannungsgeladen den Weg vor ihnen. Die Bäume, die seit einiger Zeit ihre ständigen Begleiter gewesen waren, wichen plötzlich zurück. Sie gaben den Blick frei auf eine kleine Ansammlung von Gebäuden, die kaum in der zunehmenden Dunkelheit auszumachen wären, wenn nicht der warme Lichtschein hinter einigen Fenstern sie verraten würden. Das weitläufige Areal vor ihnen war dem Anschein nach nahezu verlassen. Nur in der Nähe des Eingangs zum größten Haus stand eine Person, die zu ihnen sah – scheinbar einzig und allein in seine Richtung blickte, wie Kagetora empfand. Auch wenn die Dämmerung es nicht mehr erlaubte, Details zu erkennen, so wusste Kagetora doch, dass diese Person Shishido war. Ihr Gastgeber. Der Mensch, der Minakos Schwester dazu benutzt hatte, um Naoe als Geisel nehmen zu können. Der, der seinen engsten Vertrauten auf grausame Weise verstümmelt und misshandelt hatte, nur mit dem Ziel, seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen – was diesem auch geglückt war. Kagetora hatte Mühe seinen anschwellenden Zorn zu zügeln. Er riss sich zusammen und schob das Vergangene in die hinterste Ecke seines Geistes, und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. „Da wären wir also“, Kousakas Stimme durchbrach die Stille im Auto, „und der Empfang steht auch schon bereit.“ Er folgte langsam dem vorderen Wagen ihrer Eskorte, der in einer lang gezogenen Kurve vor der wartenden Person zum Stehen kam. Er hielt im kleinen Abstand dahinter an, und schaltete ebenfalls den Motor aus. Kousaka und seine weiteren Insassen verfolgten aufmerksam, wie Arakawa den Wagen vor ihnen verließ und auf Shishido zutrat. Es folgte eine kurze Unterhaltung der beiden, die sie nicht verstehen konnten, ehe sie sich ihnen zuwandten. Kagetora fiel es schwer, sich vom Anblick Shishidos loszureißen. Der Mann tat nichts weiter, als dort zu stehen und zu warten, aber die machtvolle Aura, die jenen umgab, war schier monströs. Es erinnerte ihn an ihr kurzes Kräftemessen, als er den Ring der Versiegelung zerstörte, der seine Verbindung zu Naoe blockiert hatte. Zu jenem Zeitpunkt war sein Gegenüber durch Naoes verursachten Unfall geschwächt, dennoch war das eine beeindruckende Erfahrung gewesen. „Nun denn. Ich sollte wohl anfangen, damit wir den Gastgeber nicht zu lang warten lassen müssen.“ Kagetora warf einen kurzen Blick auf Naoe, der ihm mit einem Nicken zu verstehen gab, das er bereit war. Wenige Sekunden später war der Wagen erfüllt vom monotonen Klang der Stimmen Kagetoras und Naoes. Das Mantra, welches sie hochkonzentriert immer wieder aufsagten, sorgte dafür, dass sich ihre Körper, ihre Worte und ihre Seelen reinigten, um die anschließend schwierige Anrufung der Gohou Douji zu meistern. Yuzuru sah fasziniert zu seinem Schulfreund rüber, der von flimmernder Luft umgeben war, die pulsierend in blau-silbernen Tönen aufleuchtete. Es war ein atemberaubender Anblick. „…on sowahanba shuda sarabatarama sowahanba shudokan.” Yuzuru konnte die Veränderung förmlich spüren, als Kagetora plötzlich die Augen öffnete. Golden sahen diese zu Naoe, der augenblicklich schwieg. Das Mantra verstummte. Stattdessen flüsterte Kagetora eindringlich neue Worte, die von einem außerhalb des Wagens rötlich-goldenen Schimmer begleitet wurden. Yuzuru sah suchend nach draußen und entdeckte, in einem großen Halbkreis um die drei parkenden Autos herum, zwölf kleine Gestalten, die Kindern im Alter von neun oder zehn Jahren entsprachen – nur waren es keine. Yuzuru blickte auf spirituelle Wesen, die Helfer des Himmelskönig Bishamonten, dem Beschützer des Nordens, wie Kagetora ihm später erklärte. Ihre Haut war golden und ihre Haare flammend rot. Jedes einzelne trug 1000 Schwerter und stand auf einer magischen Scheibe, die über dem Boden schwebte. Ihr nach Norden gerichteter Blick bewegte sich langsam gen Osten und stoppte, als er auf Shishidos Person traf. „Oh wow…“, flüsterte Yuzuru ehrfürchtig, der wieder zu Kagetora sah. Dessen Blick war ebenfalls auf Shishido gerichtet, der keinerlei Anzeichen der Überraschung zeigte. „Schönes Schauspiel“, meinte Kousaka spöttisch in Richtung des Verursachers. „Die Frage ist nur, wie lange du sie an dich binden kannst. Ich meine, wir werden schließlich nicht einige Minuten hier verbringen, sondern womöglich die ganze Nacht.“ „Lass das meine Sorge sein“, schoss Kagetoras Macht durchwobene Stimme zurück, die den Fahrer für einen Moment erblassen ließ. „Sieh du lieber zu, dass du dich an das hältst, was wir besprochen haben.“ Kousaka sparte sich eine Antwort darauf und verließ als erster den Wagen. Arakawa musterte die vier Männer, die reglos vor ihm und seinem Herrn standen. Sein neugieriger Blick blieb an Naoe hängen, der sich schräg hinter Kagetora befand und dessen Miene unverhohlene Wut zeigte. Dieser hielt die Augen starr auf Shishido gerichtet. Einen halben Meter hinter Kagetora konnte er Yuzuru erkennen, der nervös auf seiner Unterlippe kaute und an dessen Seite Kousaka stand, der arrogant in seine Richtung blickte. Im Rücken der Männer konnte er die herbeigerufenen Helfer erkennen, die sich keinen Zentimeter seit ihrem Erscheinen bewegt hatten, und die Luft um sie herum in rötlich-goldene Farben tauchten. Ihr Dasein hatte Arakawa für einen Moment beunruhigt, aber Shishido versicherte, dass sie nichts zu befürchten hatten. Er habe mit so etwas gerechnet, denn schließlich hatten sich die vier Männer ohne erkennbare Verstärkung hierher begeben. „Herzlich Willkommen auf meinem bescheidenen Anwesen, Kagetora. Ich freue mich, dich endlich zu treffen.“ Shishidos wohlklingende Stimme brach die Stille, und ließ Arakawa aufblicken. Sein Herr stand erhobenen Hauptes neben ihm und fixierte Kagetora, der seinerseits den Blick unumwunden erwiderte. Es schien, als würden sie eine lautlose Unterhaltung miteinander führen, an der niemand anderer teilhaben durfte. Erneut musste Arakawa feststellen, dass der Widersacher seines Herrn eine höchst eindrucksvolle Person war. Und dies empfand er nicht nur wegen der erstaunlichen Gegenwart der Gohou Douji. Die golden aufblitzenden Augen des jungen Mannes vor ihm waren Atem raubend. Kagetoras erhabene Gestalt hob sich deutlich von denen seiner Mitstreiter ab. Es schien, als wollte er sie geradezu beherrschen, aber Arakawa wusste es besser. Schließlich diente er einer ebenso einflussreichen Person und konnte daher den feinen Unterschied erkennen, der zwischen ‚Beherrschen, um zu dominieren’ und ‚Beherrschen, um zu schützen’ bestand. „Ich hoffe, es macht keine Umstände, dass wir ohne Einladung aufgetaucht sind“, entgegnete Kagetora nonchalant, um zu signalisieren, dass er sich auf das Spiel ihres Gastgebers vorerst einließ. „Aber nicht doch. Ich habe so selten Gäste hier oben, dass es mich besonders freut, so ehrwürdige Personen begrüßen zu dürfen.“ Shishido nickte sichtbar in Richtung der Gohou Douji. „Ich hoffe doch, sie wissen sich zu benehmen?“ „Pass auf was du-“ „Schweig.“ Kagetoras laute Stimme ließ Naoe augenblicklich verstummen. „Ihr Benehmen sollte deine geringste Sorge sein. Vielleicht sollten wir unser Geplänkel doch lieber abkürzen und zum Punkt kommen, Shishido.“ „In der Tat, vielleicht sollten wir das, aber“, stimmte der Angesprochen zu, der sich kurz an Arakawa wandte, um jenen wortlos ins Haupthaus vorauszuschicken, „wir sollten das an einem anderen Ort tun. Wie wäre es, wenn wir gemeinsam ein Abendessen einnehmen, und anschließend zum ungemütlichen Teil übergehen. Natürlich nicht in dieser großen Runde, versteht sich.“ Shishido ließ zum ersten Mal seinen Blick von Kagetora zu einer anderen Person wandern. Mit einem vielsagenden Lächeln nickte er Naoe zu. „Dich will ich natürlich dabei haben.“ Kagetora sah alarmiert zu Naoe. Er hoffte, dass sein engster Vertrauter in der Lage war, mit der schwierigen Situation umzugehen. Die Anspannung, die schwer in der Luft lag, reizte sie alle, aber mehr noch Naoe, wie er vermutete. Dessen Nerven schienen in der Tat nahezu blank zu liegen. Kagetora befürchtete, dass es nicht mehr vieler Worte seitens Shishido bedarf, bis Naoes Selbstbeherrschung kapitulierte. Das Aufeinandertreffen der beiden war unvermeidlich. Natürlich hätte sich Kagetora gegen die Anwesenheit Naoes bei dieser Angelegenheit entscheiden können, aber das war ihm nicht möglich gewesen. Er brauchte den besten Mann an seiner Seite. Dennoch wurden die Zweifel in ihm immer lauter. Naoe hatte über das Erlebte bisher mit niemandem gesprochen und Kagetora befürchtete, dass er es vielleicht auch nie tun würde. Er dachte an Chiaki, der ihn vor ihrer Abfahrt in einer ruhigen Minute zur Seite genommen hatte, um die relevante Möglichkeit eines Zusammenbruchs anzusprechen. Die mahnenden Worte kamen ihm wieder in den Sinn und er war versucht, sie alle ins Auto zu scheuchen, um den Ort schnellstens verlassen zu können – aber der Zeitpunkt dafür war längst verstrichen, wie er wusste. Kagetora musste auf Naoe vertrauen. Eine andere Wahl gab es nicht. Er klammerte sich hoffnungsvoll an die Worte, mit denen Naoe ihm versichert hatte, dass er mit keinerlei Schwierigkeiten von seiner Seite rechnen musste – und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Er suchte in Naoes Gesicht nach Anzeichen für einen bevorstehenden, unkontrollierten Ausbruch, aber er fand keine. Sein Herzschlag beruhigte sich etwas. Dennoch, als sich ihre Blicke trafen, konnte Kagetora den Kampf sehen, den dieser ausfochte. Es gab nichts, was er hätte tun können, um Naoe den Schmerz zu nehmen. Das einzige, was ihnen allen etwas Luft zum Atmen verschaffen würde, wäre, Shishido von seinem hohen Ross zu stoßen, damit dessen selbstgefällige Art an Schärfe verlor. Und diese Möglichkeit oblag ihm, wie Kagetora sehr wohl wusste. Er nickte zuversichtlich in Richtung des älteren Mannes, und wandte sich anschließend ihrem Gastgeber zu. Bevor er jedoch wieder das Wort ergreifen konnte, hallte Kousakas vergnügte Stimme über den Platz. „Gegen einen reichlich gedeckten Tisch hätte ich nichts einzuwenden!“ So sehr Kagetora Kousaka auch verabscheute, für diese Worte dankte er ihm. „Ich denke, es spricht wohl nichts dagegen, sofern es keine unerwarteten Nebenwirkungen hat“, betonte der Anführer der kleinen Gruppe, und fixierte Shishido mit warnendem Blick. Dieser ließ seine Augen kurz zu Kousaka wandern, bevor er sich wieder an Kagetora wandte. „Sollte ich das als Beleidigung auffassen?“ Shishido wartete einen Moment, aber es erfolgte keine Antwort. Die golden schimmernden Augen starrten ihn wortlos an. „Nun, solch ein Vorgehen mag in anderen Clans durchaus eine Option sein“, erklärte er‚ „aber ich versichere, bei mir gehören solch barbarische Manieren nicht zum Repertoire.“ „Ich würde es nicht Beleidigung nennen, sondern reine Vorsichtsmaßname“, Kagetora konnte sehen, dass Arakawa zurückkam, „schließlich gibt es für uns keinen Grund dir zu vertrauen.“ „Hm… Wohl wahr. Aber würde ich zu solchen Mitteln greifen, müsste ich womöglich eine lange Zeit darauf warten, bis ich euch erneut gegenüberstehen könnte. Wäre also reine Zeitverschwendung. Wobei ich zugeben muss, dass es mir bezüglich Kousaka und Yuzuru egal wäre.“ Yuzuru schluckte hart und trat einen Schritt auf seinen besten Freund zu. Über dessen Schulter hinweg blickte er nervös zu Shishido, der ihn beinah entschuldigend anlächelte. Er war überrascht zu sehen, dass ihr Gastgeber kaum älter war als Naoe. Das schwarze Haar lang zu einem Zopf gebunden, gekleidet in feiner schwarzer Hose sowie grauem T-Shirt, eine ebenfalls schwarze Weste darüber, sah Shishido aus, als wäre er einem Modemagazin entstiegen. Aber Yuzuru ließ sich von der äußerst attraktiven Hülle nicht blenden. In den wenigen Minuten, die er bisher in dessen Gegenwart verbringen musste, war er zu der Erkenntnis gekommen, dass er Shishido nicht sehr mochte. Eigentlich gehörte Yuzuru nicht zu den Menschen, die einen anderen aufgrund des ersten Eindrucks beurteilten, aber sein Gefühl sagte ihm, dass dieser Mann zu grausamen Dingen fähig war. Wenn Shishido etwas mit Naoes Verschwinden zu tun gehabt haben soll, dann wollte er lieber nicht wissen, was da vor sich gegangen war. Auf der anderen Seite würde dieses Wissen ihm jedoch helfen, Naoe und eben auch Shishidos Verhalten zu verstehen – schließlich gab es für alles einen Grund. Yuzuru sah verstohlen zu Naoe. Die Anspannung des älteren Mannes war nicht zu übersehen. Die Augen fest auf Kagetora gerichtet, schien es, als nutzte er diesen als Quell der Entspannung. Ob es half, ließ sich schwer abschätzen, aber es hatte zumindest nicht den Anschein, als würde Naoe jeden Moment die Fassung verlieren. Takayas drohende Stimme riß ihn aus den Gedanken. „Ich glaube, ich brauche nicht zu erwähnen, dass ein weiterer Versuch, Hand an meine Freunde zu legen, unschön enden würde.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ließ er die Gohou Douji einen Meter näher heranschweben. „Vergeltung ist nicht der Grund, warum ich hier bin. Es sind Fragen, die ich habe und Antworten, die ich suche. Natürlich bin ich nicht mit leeren Händen gekommen. Die Erklärung der Umstände um Houjou Ujiterus Tod sollten da wohl ausreichend sein“, sprach Kagetora, der zum ersten Mal eine deutliche Regung bei ihrem Gastgeber wahrnehmen konnte. Dieser trat unerwartet einen Schritt zurück, und wäre dabei mit Arakawa zusammengestoßen, wenn dieser nicht geistesgegenwärtig zur Seite gesprungen wäre. Shishidos Gesicht zeigte unverhohlenen Hass, aber noch etwas anderes, was Kagetora überraschte. Er konnte tiefen Schmerz erkennen, der dem seinen ähnlich war, wenn er an Ujiteru dachte. „Shishido-sama?“ Nervös trat Arakawa wieder näher. Es beunruhigte ihn zu sehen, dass sein sonst so gelassener Herr solch eine Reaktion zeigte. Vorwurfsvoll wanderte sein Blick zu Kagetora, der ebenfalls überrascht schien. „Die Vorbereitungen sind getroffen, Shishido-sama“, berichtete er leise und hoffte, dass der geplante Ortswechsel seinem Herrn die verlorene Ruhe zurückgab. Shishido bedachte ihn kurz mit eiserner Miene, ehe er einen Blick auf die Gohou Douji warf, die wieder unbeweglich auf der Stelle verharrten. „Ich fürchte, deine rothaarigen Freunde werden das Haus nicht betreten können.“ „Davon ging ich auch nicht aus. Sie werden hier draußen warten“, entgegnete Kagetora. „Nun denn“, Shishido schien seine abgeklärte Art wiedergefunden zu haben, „dann folgt mir.“ Ohne ein weiteres Wort wandte er gelassen allen den Rücken zu, und trat durch den Eingang zum Haupthaus. Wenige Sekunden später setzte sich die Gruppe um Kagetora in Bewegung, während Arakawa die Nachhut bildete. Dieser warf einen letzten Blick auf die Gohou Douji, die ihnen mit den Blicken zu folgen schienen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)