Was den Himmel erhellt von Maza_e_Keqe (Erziehungsfragen) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Ich will aber nicht mitkommen!“ Jules stampfte mit dem Fuß auf und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Seine Mutter, die keine Lust auf eine lange Diskussion hatte, seufzte leise. „Ich will die Piraten gucken.“ murrte Jules und schaute sehnsüchtig auf den Fernseher. „Opa freut sich doch so sehr auf deinen Besuch und den Recorder habe ich programmiert, dann kannst du die Folge morgen anschauen.“ „Kann der doofe Opa nicht übermorgen Geburtstag haben?“ „Er ist auch zu deiner Geburtstagsfeier hergekommen, obwohl er ein schlimmes Bein hatte, weißt du noch?“ Jules nickte. Er selbst hatte kein schlimmes Bein, sondern zwei gesunde Füße, die er am liebsten in seine knallgelben Gummistiefel steckte. „Na gut, ich komme mit“ willigte Jules missmutig ein. „Aber ich will meine grüne Lieblingshose anziehen.“ „Dann beeile dich bitte, es fängt gleich an zu regnen.“ sagte die Mutter mit einem Blick aus dem Fenster. Jules lief ins Wohnzimmer. Noch einmal schaute er auf den Fernseher und wie um sich von einem guten Freund zu verabschieden strich er über das glänzende Gerät. Im gleichen Moment erhellte der erste Blitz des nahenden Gewitters den gesamten Raum. Jules schloss erschrocken die Augen und spürte nur ein leichtes Kribbeln im Arm. Vorsichtig riskierte er einen Blick, nachdem die Helligkeit ihn nicht mehr blendete. Dann riss er die Augen auf. Er stand immernoch im Wohnzimmer, aber das blaue Sofa war weg. Jules grinste und nahm die Hand vom Fernseher. Dann legte er sie wieder darauf, aber das Sofa blieb verschwunden. Der Junge fing an zu kichern und lachte dann laut los. Wenn das Sofa nicht mehr da war, konnte seine Mutter nicht über den Kakaofleck schimpfen, den er bisher geschickt unter einem Kissen versteckt hatte. Als sie plötzlich das Zimmer betrat, verstummte Jules augenblicklich. Seine Mutter ging direkt auf ihn zu und schien das abhanden gekommene Sofa nicht zu bemerken. Sie schaute ihn nur erstaunt an und fragte dann, warum er noch nicht umgezogen wäre. „Ich bin gleich fertig“, antwortete er hastig und schaute sich nach seiner Hose um. Erst jetzt stellte er verwundert fest, dass das ganze Zimmer anders eingerichtet war: Die Farbe der Tapete, die Vorhänge und die Bilder an der Wand hatten sich verändert. Wo sollte er jetzt nach seiner Lieblingshose suchen? Das Gewitter war ebenfalls abgezogen und die Sonne schien vom blauen Himmel. „Wo ist meine grüne Lieblingshose?“ fragte Jules seine Mutter. Diese sah ihn mit einer Mischung aus Ärger und Erstaunen an: „Du willst doch nicht in Grün auf Opas Beerdigung gehen!?“ „Was? Wieso denn Beerdigung? Opa hat doch heute Geburtstag.“ Die Mutter schüttelte den Kopf. „Kind, wo hast du nur deine Gedanken? Opas Geburtstag war vor mehr als einem halben Jahr.“ Jules verstand jetzt überhaupt nichts mehr, zog aber widerspruchslos den schwarzen Anzug an, der in seinem Zimmer bereit lag. Er war noch nie zuvor auf dem kleinen Friedhof am Stadtrand. Während der Trauerfeier saß er stumm zwischen seinen Eltern und seiner Oma, die pausenlos weinte. Jules überlegte, wieso der Opa nicht mehr lebte, obwohl er doch jetzt auf seiner Geburtstagsfeier sein sollte. Er zupfte seine Mutter am Ärmel und flüsterte ihr zu: „Hat es heute ein Gewitter gegeben?“ Sie schüttelte nur den Kopf. Am nächsten Tag musste er nicht in die Schule gehen. Seine Mutter hatte ihn für die restliche Woche entschuldigt. Er saß vor dem Fernseher und wunderte sich über das Programm. „Mama, warum kommt heute die Piratenserie nicht?“ „Welche Piratenserie meinst du?“ fragte seine Mutter verwundert. Sie war in Gedanken noch bei ihrem verstorbenen Vater. „Die ich sonst immer geguckt habe. Läuft die nicht mehr?“ „Achso, die meinst du. Aber du hast doch die letzte Folge noch gesehen. Da, wo sie den Schatz doch noch gefunden und Kapitän Joshuas Bande besiegt haben.“ Jules lief in sein Zimmer hinauf und schaute in den Schulkalender. Es war wirklich ein halbes Jahr seit Opas Geburtstag vergangen und nun war er nicht mehr da. Jules war ein kluger Junge, zu klug um an Zeitsprünge zu glauben. Vielleicht hat mich die Nachricht von Opas Tod so sehr schockiert, dass ich alles seit seinem Geburtstag vergessen habe. Plötzlich in der Zukunft zu landen, sowas gibt es doch nur in Filmen. Als er wieder in die Schule ging, war er zu abgelenkt um weiter darüber nachzudenken. Er verstand die aktuellen Themen nicht und musste sich von seinen Mitschülern in allen Fächern bis auf Sport und Musik helfen lassen. Das kratzte an seinem Selbstbewusstsein als einer der Klassenbesten und erweckte den Ehrgeiz alles sehr schnell aufzuholen und mehr zu lernen. Zum ersten Mal fiel Jules auf, dass sein Opa ihm fehlte. Wenn er früher im Unterricht Schwierigkeiten hatte, war er zu den Großeltern zu Besuch gegangen. Da beide studiert hatten, konnten sie ihm viele Fragen beantworten und auch Zusammenhänge erklären. Mit ihnen gemeinsam zu lernen und sich Aufgaben erklären zu lassen, war Jules nie peinlich gewesen und es hatte auch immer Spaß gemacht. Seit dem Tod seines Großvaters hatte sich Omas Verhalten sehr verändert. Sie sprach kaum noch und wenn sie etwas sagte, handelten ihre Erzählungen nur von ihrem Mann. Sie aß nur noch wenig und verließ das Haus so gut wie gar nicht mehr. Eines Abends hörte Jules durch die Wohnzimmertür seine Eltern flüstern. Seine Mutter weinte. „Sie wird ihm folgen. Ein gebrochenes Herz kann niemand heilen.“ Seit diesem Tag überlegte Jules, ob er zurückkehren könnte. Wenn er in der Zeit nach vorn gesprungen ist, muss es doch auch möglich sein, wieder zurück zu kommen. Es kam der November und Vorbereitungen für die Weihnachtsaufführung in der Schule waren in vollem Gange. Jules hatte immer gern daran Teil genommen. In diesem Jahr fühlte er jedoch, dass etwas anders ist. Er wollte seiner Oma eine Freude bereiten und kaufte ihr eine Eintrittskarte von seinem Taschengeld. Bei jeder Probe saß sie im Publikum und applaudierte nach Jules' Auftritten. Für ihn war es seltsam sie allein zu sehen. Sein Opa fehlte an ihrer Seite. Solange er sich erinnern konnte, hatte er seine Großeltern immer gemeinsam gesehen. Jules versuchte sich an den Tag der Beerdigung zu erinnern: Ein Gewitter zog auf und er stand neben dem Fernseher. Plötzlich war es hell und da musste es passiert sein. Die Aufführung der Weihnachtsgeschichte vor den Eltern und Verwandten der Schüler ist ein voller Erfolg. Jules hatte dafür gesorgt, dass seine Großmutter in der ersten Reihe sitzen konnte und schaute während der Vorstellung immer wieder zu ihr hin. Sie weinte am Schluss während des anhaltenden Applauses. Zu Weihnachten bekamJules einen eigenen kleinen Fernseher geschenkt. Er durfte ihn in sein Zimmer stellen und sogar seine Piratenserie wurde wiederholt. Da fiel es ihm wieder ein. An dem Tag des Zeitsprunges hatte er neben dem Fernseher im Wohnzimmer gestanden. Er hatte seine Hand darauf gelegt und dann hatte es geblitzt. Jules lief die Treppen hinunter. Seine Eltern sahen ihn erstaunt an. Er war etwas außer Atem, dann fragte er: „Wird es bald ein Gewitter geben?“ „Für die nächste Woche sind Schneestürme angesagt. Vielleicht gibt es dabei auch ein Gewitter.“ antwortete sein Vater. Es kam kein Gewitter. Jules wurde unruhig und immer trauriger. Er besuchte seine Großmutter so oft wie noch nie. Er sprach mit ihr über seinen Opa. Sie waren sich einig, dass er fehlte. Dennoch hatte Jules das Gefühl, dass es seiner Oma gut tat, mit ihm zu sprechen. Sie lachte sogar ab und zu und ging mit ihrem Enkel spazieren. Der Frühling kündigte sich mit einem heftigen Gewitter an. Jules hatte keine Angst davor, überlegt nur, wie er seine Rückkehr arrangieren konnte. Er stellte sich neben den Fernseher ans Fenster. Seine Eltern glaubten an eine Faszination, die die Blitze auf ihren Jungen ausübten. Bei jedem Aufleuchten am Himmel berührte Jules so unauffällig wie möglich das Gerät neben ihm. Bei dem Sprung hierher stand ich mit dem Rücken zum Fenster. Wenn ich jetzt anders herum stehe, müsste ich doch wieder zurückkehren können. hoffte er. Keiner der Blitze war jedoch nah genug am Haus. Und was ist, wenn ich nicht weit genug in die Vergangenheit springe oder viel zu weit? Jules versuchte diese Gedanken zu verdrängen. Die Traurigkeit ließ sich aber nicht ignorieren. Die Tränen rollten über seine Wangen und er begann zu zittern, als ein Leuchten über den Abendhimmel zog. Jules erschrak so sehr, dass er sich neben den Fernseher auf den Boden kauerte und mit den Händen seinen Kopf schützte. Dann hörte er hinter sich ein Lachen und drehte sich langsam um. Seine Mutter stand hinter ihm und hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt. „Du wirst dich doch nicht vor einem kleinen Gewitter fürchten, oder?“ sagte sie lächelnd. Jules stand verlegen vom Boden auf und entdeckte als erstes das alte blaue Sofa neben der Tür. „Welcher Tag ist heute?“ fragte er. „Es ist immer noch Dienstag und Opa wartet mit dem Geburtstagskaffee auf uns.“ „Ich möchte ihm auch gern etwas schenken.“ sagte Jules zu seiner Mutter als sie nebeneinander im Bus saßen. Sie strich ihm übers Haar. „Für ihn ist es bestimmt das schönste Geschenk, dass sein Enkel seinetwegen auf seine Lieblingsfernsehserie verzichtet.“ Jules lächelte verlegen. Jeden Tag nach dem Unterricht besuchte Jules seine Großeltern. Sie übten nicht nur gemeinsam für die Schulaufgaben. Danach gingen sie in den Zoo, in den Park, auf den Abenteuerspielplatz oder Eis essen. Das Fernsehen interessierte ihn nicht mehr. Seine Mutter hatte ihm ja das Ende der Piratenserie bereits erzählt. Am Tag vor den Weihnachtsferien fand die alljährliche Schulaufführung statt. Jules wurde von acht Händen beklatscht und war der stolzeste Hirte auf der Bühne. *** Als Jules zehn Jahre später gegen seinen Großvater beim Poker verliert und dieser vor Begeisterung so fest auf den Tisch schlägt, dass die Platte bricht, fallen ihm die Worte seiner Mutter wieder ein, die er eines Abends belauscht hatte. Nein, ein gebrochenes Herz kann nicht geheilt werden. Aber wir können verhindern, dass es bricht. ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)