Wenn der Wind sich dreht von Mikado ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Schatz, bin wieder da!“ Mit einem leisen Klicken schloss Theo die Haustür hinter sich und streifte seinen Sakko ab. Er lauschte einen Moment, zuckte dann die Schultern und nahm seinen braunen knautschigen Lieblingshut ab. „Schatz?“ Er ging den hellen Flur entlang, warf im Gehen seine Schlüssel auf das Telefontischchen und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Die kleine Lampe über dem Fernseher brannte, aber sonst war es dunkel. „Anni?“ Er knipste das Licht an, durchquerte den verwaisten Raum und gelangte durch den Perlenvorhang am anderen Ende des Zimmers in die ebenfalls verlassene Küche. Theo runzelte die Stirn, sah aber noch mal im oberen Stockwerk nach, ehe er wieder in die Küche zurückkehrte um sich ein paar Brote zu machen. Anni und er waren seit fast zwölf Jahren verheiratet und in diesen fast zwölf Jahren war es, soweit er sich erinnern konnte, noch nie vorgekommen, dass Anni abends nicht da war, wenn er nach Hause kam. Ich meine, ich habe nichts dagegen, wenn sie mal weggeht, dachte er und kaute auf einem Stück Wurstbrot, aber sie könnte mir wenigstens eine Nachricht hinterlassen, oder? Theo stellte das Geschirr in die Spülmaschine, nahm es dann aber doch wieder raus und wusch es mit der Hand ab. Danach holte er sich das Telefon ans Sofa und schaltete den Fernseher ein. Gemächlich ließ er sich in das Sofa zurücksinken und legte den linken Fuß auf den niedrigen Glastisch davor, wofür er von Anni sicherlich wieder ein Kissen an den Kopf geworfen bekommen hätte. Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß, dachte er, legte den rechten daneben und griff nach der Fernbedienung. Zehn Minuten lang zappte Theo durch Dokumentationen, Talkshows und Actionfilme, bis er entnervt aufgab und das Gerät wieder abschaltete. Auffordernd blickte er den stummen Telefonapparat an und verfluchte erneut die Tatsache, das Anni kein Handy besaß. Sie konnte diese kleinen piepsenden Teile nicht ausstehen, egal wie praktisch sie sein mochten. Theo schmunzelte bei der Erinnerung an ihren finsteren Gesichtsausdruck, als er eines abends mit so einem Handy nach Hause gekommen war. Wie ein Gewitter, grinst er und schloss für einen Moment seine müden Augen. Irgendwann musste er eingeschlafen sein, denn am nächsten Morgen wachte er mit steifem Nacken auf dem Sofa wieder auf und fragte sich für einen Augenblick, warum er nicht in seinen Bett lag. Dann sah er das Telefon neben einer halbleeren Chipstüte auf dem Tisch stehen und langsam regenerierte sich sein Gedächtnis wieder. Gestern Abend, als er nach Hause gekommen war, war Anni nicht da gewesen, er hatte auf ihren Anruf gewartet, sie hatte sich nicht gemeldet und er war wohl auf dem Sofa eingenickt, während er auf sie gewartet hatte. Theo fuhr sich mit der Hand über den Nacken und dankte dem Himmel, dass heute Samstag war. Ansonsten hätte er heute seinen Dienst verschlafen, wie er mit einem Blick auf seine Armbanduhr bemerkte. Noch immer steif, schlurfte er nach oben ins Schlafzimmer, wo er vorsichtshalber anklopfte, dann aber feststellen musste, dass das Doppelbett unberührt geblieben war. Theo ging auf den großen verspiegelten Kleiderschrank an der linken Zimmerwand zu und ein Mann um die 35 mit zerzaustem Haar und zerknitterten Kleidern blickte ihm entgegen. „Morgen Theo“, murmelte er und versuchte vergeblich, die widerspenstigen Haare zu glätten. Dann öffnete er die linke Schranktür, bevor ihm einfiel, dass Anni dort ihre Sachen hatte (morgendliche Verschlafenheit, dachte er) und für einen Moment glaubte er, im falschen Schlafzimmer zu sein. Der Schrank war leer. Keine Blusen, keine Schuhe, nichts. Alles weg. Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, was er hier sah und trotzdem konnte er es nicht fassen. Hastig griff er nach den unteren Schubladen, wo Anni ihre Reisetaschen und Schals aufbewahrte. Leer. Er riss sämtliche Schubladen auf, von denen er wusste, dass Anni sie benutzte; zuerst die im Schlafzimmer, dann rannte er die Treppe hinunter und durchsuchte die unteren Zimmer. Alles war weg, ihre Fotos, Papiere, sogar einige Pflanzen waren verschwunden. Es war ihm gestern Abend gar nicht aufgefallen, dass einiges so offensichtlich fehlte. Ihre Sachen aus dem Bad waren weg und auch in der Küche fehlten ein paar Dinge. Müde ließ sich Theo auf das Sofa sinken. Er hatte noch immer seine verknitterten Sachen von gestern an und er verspürte im Moment auch nicht das geringste Bedürfnis, sich umzuziehen und zu duschen. Er angelte sich ein Kopfkissen vom Boden, schob es sich hinter den Kopf und starrte die weiße Decke an. Was soll das? Sie hat dich verlassen, flüsterte eine fiese kleine Stimme irgendwo in seinem Kopf. Sie hat keinen Grund dazu, mich zu verlassen. Oder? Nein? Nein. Er kniff die Augen zu. Die Stimme in seinem Kopf war verstummt. Irgendwann am späten Vormittag machte sich sein Magen bemerkbar und er beschloss, dass es unsinnig wäre, ihn hungern zu lassen. Er raffte sich auf, schlurfte in die Küche, holte sich alles für eine Kornflakesmahlzeit auf den Tisch und stocherte dann lustlos in den langsam matschig werdenden Flakes herum. Warum hat sie das getan?, fragte er sich und betrachtete sein verzerrtes Spiegelbild im Löffel. War das einer ihrer schlechten Scherze? Hatte er etwas Wichtiges vergessen? Wollte sie übers Wochenende zu ihrer Schwester fahren? Aber dann hätte sie doch nicht ihre Pflanzen mitgenommen, dachte er und stieß ein trockenes Lachen aus. Sie hätte so einiges hier gelassen, wenn sie nur übers Wochenende weg gewesen wäre. Theo schob seinen Teller zur Seite, holte sich eine kalte Cola aus dem Kühlschrank und nahm sie dann mit ins Wohnzimmer. Er setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch, den er bisher von der Suche verschont hatte und stellte die Dose vor sich hin. Er hatte sich gescheut, in ihren persönlichen Sachen herumzuschnüffeln und auch wenn sie hier wahrscheinlich ebenfalls alles mitgenommen hatte, spürte er den Anflug eines schlechten Gewissens, als er die erste Schublade öffnete. Sie war leer, ebenso die zweite und die dritte, aber in der vierten wurde er fündig. In dem schmalen Spalt zwischen dem Boden und der Rückwand der Schublade klemmte ein Bild. Theo nahm die Schublade ganz heraus und zog das Papier aus dem Schlitz. Es war ein Foto. Befremdet starrte Theo den dunkelhaarigen Mann auf der Fotografie an. Er lächelte glücklich, aber Theo kam es eher wie ein dämliches Grinsen vor. Der Mann saß auf einem Korbsessel und auf seinem Schoß war Anni, die ihre Arme um seinen Hals geschlungen hatte und glücklich in die Kamera strahlte. Bei dem Anblick der Beiden begann sein Magen auf einmal zu rebellieren und er schaffte es gerade noch rechtzeitig in die Küche zum Spülbecken, wo er sein ohnehin schon mageres Frühstück wieder erbrach. Theo stützte sich noch immer über die Spüle, als plötzlich das Telefon schrillte und ihn aus seinen Gedanken riss. Verdammte Scheiße, auch das noch. Er langte nach einem Geschirrtuch, wischte sich mit angewidertem Gesicht den Mund ab und hastete ins Wohnzimmer zum Telefon. „Ja?“ „Theo, bist du das?“ Anni. Theo fuhr sich mit der Hand über den Kopf und zwang sich, ruhig zu bleiben. „Oh, du rufst an. Wie nett.“ Der beißende Unterton in seiner Stimme entging ihr nicht. „Theo, bitte. Sein nicht so..., mach es mir nicht noch schwerer als es ohnehin schon ist.“ Oh ja, du hast es dir sehr schwer gemacht. Einfach abgehauen bist du! Am liebsten hätte er das in den Hörer gebrüllt, aber er bezwang sich und sagte stattdessen nur: „Du hast ein Foto vergessen.“ Daraufhin folgte ein Moment der Stille. Als Anni wieder sprach, klang sie nervös: „Theo, ich werde mich von dir scheiden lassen. Ich bin zu Martin gezogen, die restlichen Sachen aus dem Haus kannst du behalten. Ich will keinen Güterstreit und wenn es dir so recht ist -“ „Mein Gott, als ob mich das interessieren würde!“, rief Theo aufgebracht. „Sag mir, was habe ich falsch gemacht, hm? Wie lange hast du mich mit dem Kerl betrogen, warum hast du es überhaupt gemacht? Bin ich dir nicht mehr gut genug, ist es das? Weil wir in den letzten Monaten keinen Sex mehr hatten, da hast du dir einfach einen anderen ausgesucht, der es mit dir treibt, ja?“ Er sah förmlich, wie Anni am anderen Ende der Leitung unter seinen Worten zusammenzuckte und kam sich selbst ekelhaft vor. Ermattet ließ er sich auf das Sofa fallen und schloss die Augen. „Tut mir leid Anni“, murmelte er. „Tut mir leid.“ „Ja, mir auch. Ich habe nie erwartet, dass du es einfach so hinnehmen würdest, aber... Das war das einzige Mal, Theo, ich hatte niemals einen anderen, dass musst du mir glauben.“ Theo suchte nach einem Zeichen der nagenden Wut, die er eben noch empfunden hatte, aber er spürte nur noch ein dumpfes Stechen. Sag ihr, was sie hören will, erzähl ihr, die Erde wäre eine Scheibe, nur sag etwas. Theo blieb stumm. „Es ist einfach passiert, verstehst du?“ Ihre Stimme zitterte leicht und er merkte, dass sie kurz davor war zu weinen. „Ich habe mich einfach in ihn verliebt. Es war eine dumme Idee, das mit der Wohnung, aber ich war einfach zu feige, es dir in Gesicht zu sagen, verstehst du? Martin hat schon viel früher darauf bestanden, dass wir es dir gemeinsam sagen, aber ich habe es immer weiter aufgeschoben und dann...“ Sie fing an zu schniefen und er hörte eine beruhigende Stimme im Hintergrund auf sie einreden. Mein Gott, ich bekomme auch schon feuchte Augen, dachte er und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Bloß das ich keinen mehr habe, den das interessiert. Theo hörte noch einen Moment der Stimme auf der anderen Seite zu und legte dann einfach auf. Nach kurzer Zeit begann das Telefon erneut zu klingeln doch er zog einmal kräftig an dem Kabel und mit einem Mal war es bedrückend still in der Wohnung. Wie lange es wohl dauern wird, bis ich hier verrückt werde, fragte er sich und legte sich auf seinen alten (und einzigen, wie er im Geiste hinzufügte) Freund, das Sofa. Lange lag er mit offenen Augen da, erst als es draußen zu regnen begann und dicke Tropfen an die Scheiben klatschten, fiel er in einen unruhigen Schlaf. Der Geruch nach frischem Kaffee durchzog das Haus. Oben im Schlafzimmer stand Theo vor dem verspiegelten Schrank und fuhr sich über sein frisch rasiertes Kinn. „Gut siehst du aus.“ Zufrieden machte er sich auf den Weg nach unten, knöpfte unterwegs sein Hemd zu und summte gut gelaunt vor sich hin. In der Küche fischte er das etwas dunkel geratene Toast aus dem Toaster, nahm es zusammen mit dem Kaffee zu der kleinen Essnische im Wohnzimmer und schlug die Morgenzeitung auf. „Liebespaar ermordet im Bett aufgefunden... von Mörder und Tatwaffe fehlt jede Spur... .“ Theo zog die Augenbrauen hoch und schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein, das tut mir aber leid.“ Dann flog ein Lächeln über sein Gesicht und er legte die Zeitung beiseite. Genüsslich biss er in sein Toast und schaute aus dem Fenster, das er jetzt endlich repariert hatte. Dort, unter dem Kirschbaum vergraben, lag sie. Doch in den Lauf dieser Waffe würde wohl niemals wieder ein Mensch blicken. ____________________ Danke fürs Lesen. Über Feedback würde ich mich freuen x) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)