Drachenkind von maidlin ================================================================================ Kapitel 31: Verräterischer Mond ------------------------------- Alexander überreichte ihr neun kleine Beutel, die Annie zwischen den Latten ihres Bettes versteckte, unter der Matratze und für niemanden zu finden. Währenddessen schrieb Alexander auf einen Bogen Pergament: „Du musst es in die Fässer geben, bevor sie auch nur den ersten Schluck genommen haben. Lässt man dich noch einmal in den Weinkeller?“ Annie nickte kurz, nahm dann die Feder aus seiner Hand und schrieb ihre Antwort: „Ja, ich denke schon. Jonathan hat ihn doch dazu überredet meinen Vorschlag anzunehmen. Ich werde morgen die Fässer öffnen lassen und Anweisung geben, wie es verteilt werden soll. Außerdem kann ich immer noch sagen, dass ich nachsehen will, ob wirklich alles in Ordnung ist.“ Die letzten paar Mal hatten sie sich bereits nur über das geschriebene Wort unterhalten. Es erschien ihnen sicherer, denn Annie verbrannte die Schriftstücke noch bevor Alexander ging. Niemand würde sie so belauschen können oder einen anderen Beweis finden. Doch jetzt zwei Tage vor dem Fest, war sie nicht sicher, ob sich nicht doch jemand in ihr Zimmer geschlichen hatte und sie belauschte. Zum wiederholten Male sah sie sich um, konnte aber natürlich niemanden entdecken. „Jonathan?“, schrieb ihr Bruder ungläubig. Annie nickte kurz, schüttelte dann aber den Kopf, um ihn zu bedeuten, dass er nicht weiter nachfragen brauchte. Sie wollte ihm lieber nichts von ihrem Gespräch mit diesem Mann erzählen. Stattdessen schrieb sie: Wie geht es ihm? Noch immer hatte Alexander ihr nichts genaueres erzählt und während seine Hand über das Papier glitt, hielt Annie sich den Bauch und streichelte darüber. Das Kind bewegte sich leicht. Sie wusste, dass es für sie beide besser war, je weniger sie über Dracos Zustand erfuhr, aber es nicht zu wissen machte sie fast verrückt. Etwas besser., schrieb Alexander und sie atmete erleichtert auf. Er ist länger bei Bewusstsein und ich denke er wird den Weg bis zum Tor schaffen. Dort werde ich mit Hera auf euch warten. Wir müssen ihn nur irgendwie auf ihren Rücken bekommen, den Rest macht sie. Annie nickte, dann nahm sie ihm das Papier aus der Hand und hielt es gegen die brennende Kerze. Nachdem alles verbrannt war, unterhielten sie sich über anderes. Susans Schwangerschaft neigte sich dem Ende und in den letzten Wochen hatte sie das Bett kaum verlassen können. Das wusste Annie. Susan gab sich noch immer die Schuld an dem was mit Draco geschehen war und auch wenn Alexander mit ihr nicht über Draco sprach, nahm sie es scheinbar doch sehr mit. Annie konnte Alexanders Sorge deutlich aus seiner Stimme hören, vor allem die, ob die Schwangerschaft seiner Frau gut enden würde. Annie drückte seine Hand und versuchte ihm so Mut zu machen, dabei besaß sie selbst nicht besonders viel davon. Über das, was mit ihnen allen geschehen würde, würde Dracos Flucht misslingen, sprachen sie nicht. Es würde für keinen von ihnen ein Danach geben. Auch die nächsten zwei Tage vergingen. Annie hatte es noch nicht geschafft in den Weinkeller zu gelangen. Sie selbst hatte sich gestern ganz seltsam gefühlt und alles war ihr zu anstrengend gewesen. Als sie es dann aber doch gewagt hatte, war ihr Barrington entgegen gekommen und sie hatte einfach nicht die Kraft und den Mut besessen sich ihm zu stellen. Doch heute musste es geschehen. Es war der langerwartete Tag: John Barringtons Geburtstag. Barringtons Geburtstag war für Annie eine einzige Qual. Nicht weil sie den ganzen Tag in Barringtons Gesellschaft verbringen musste, sondern weil ihr das Herz bis zum Hals schlug. Am Vormittag befahl sie einem der Dienstboten sie in den Weinkeller zu begleiten. Sie gab die Anweisung extra laut, damit auch Barrington und Semerloy davon erfuhren. Sie war sich fast sicher, dass nur einer von ihnen kommen würde und sie ahnte auch wer. Kaum hatte der Mann, den sie damit beauftragt hatte, die Tür zum Weinkeller geöffnet, näherte sich auch schon Semerloy und Annie wartete bis er bei ihr war. „Was wollt ihr dort drin? Wollt ihr euch noch eine Probe des köstlichen Weines stehlen? Ihr seid wohl so ungeduldig und könnt nicht bis heute Abend warten?“, fragte er und lächelte schief. Annie konnte nicht anders als zu denken, dass er mit diesem Lächeln gut aussah. „Ihr habt recht.“, erwiderte sie. „Ich möchte sicher gehen, dass der Wein noch genauso vorzüglich ist wie zuvor und durch die Lagerung keinen Schaden davon getragen hat. Sollte er den Herren nicht munden, würde dies ein schlechtes Licht auf meinen Bruder werfen und das möchte ich vermeiden. Außerdem wollte ich dem Dienstboden Anweisung geben, wie mit dem Wein für die Dienerschaft zu verfahren ist. Ich danke euch, dass ihr John schließlich doch noch von diesem Vorschlag überzeugen konntet.“ Jonathan Semerloy zuckte mit den Schultern. „Ich werden euren Dank noch anderweitig einfordern.“, erwiderte er bloß und in diesem Moment hasste sie ihn wieder. Annie verbiss sich ein Kommentar und betrat den Keller. „Ich nehme an ihr werdet mich begleiten.“, sagte sie, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen. „Wenn ihr mich so nett darum bittet.“, erwiderte er und folgte ihr. Dieses Mal hatte Annie daran gedacht sich einen eigenen Becher mitzubringen. Sie tauchte ihn in die dunkelrote Flüssigkeit und nippte leicht an dem Getränk. Der Wein schmeckte noch genauso vorzüglich wie zuvor, dachte sie zufrieden. Im Gegensatz zum vorherigen Mal, war Jonathan Semerloy recht schweigsam. Annie störte dies nicht im Geringsten. Sie war zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt und dem was sie gedacht zu tun. Heute Nacht würde es endlich so weit sein, dachte sie still und drehte den Kelch zwischen ihren Finger. Immer wieder betete sie dafür, dass es gelingen würde. Sie wollte und konnte sich gar nicht ausmalen, was geschehen würde wenn nicht. „Was für ein Geschenk habt ihr für John?“, sagte Semerloy plötzlich. „Ich habe eine Tanztruppe bestellt. Sie sind im Moment in der Stadt und sehr beliebt bei den Leuten.“ „Und ihr glaubt wirklich, dass sie Johns Ansprüchen und denen seiner Gäste gerecht werden können?“, fragt er spöttisch. „Das glaube ich schon. Alexander und Doktor Storm haben sie mir beide empfohlen.“ „Ihrem Bruder hätte ich so etwas gar nicht zugetraut. Bei Doktor Storm allerdings weiß man ja nie.“, fuhr er fort. „Was soll das heißen?“, fragte sie irritiert. Sie vertraute diesem Arzt vollkommen. Solch eine Aussage passte nicht dazu. „Nichts.“, erwiderte er. „Ich kenne ihn eben schon ein wenig länger als ihr.“ Annie dachte kurz an die Dinge, die Doktor Storm ihr erzählt hatte. Dennoch klang Jonathan Semerloys Aussage sehr vertraut. „Ich denke nicht, dass es sich um solche Tänzer handelt, die ihr vielleicht gerade im Sinn habt.“, sagte sie schließlich scharf. Konnte dieser Mann an nichts anderes denken? „Ach nein?“ „Nein, sie sollen sehr ästhetisch sein und in ihrer Kunst sehr gut. Ich bin sicher, sie werden ihrem Ruf gerecht werden.“ „Das hoffe ich für euch, aber ihr hättet John eine viel einfachere Freude machen können, indem ihr ihm ein paar hübsche Damen auf sein Zimmer geschickt hättet.“ Abwartend sah er sie an. Annie wusste, dass er sie damit nur provozieren wollte. „Ich dachte, das wäre eurer Geschenk.“, sagte sie schließlich und war über ihre eigene Antwort überrascht. Seit wann war sie so gerade heraus? Jetzt lachte er laut und sah sie mit blitzenden Augen an. „In der Tat, das wird meines sein. Es ist so einfach ihn zufrieden zu stellen. Man muss nur wissen, was man zu tun hat und man wird von ihm in Ruhe gelassen. So ist es doch oder nicht?“, fragte er sie. Seine Worte hatten sie schon wieder irritiert. „Das klingt nicht gerade so, als sei euch viel an dieser Freundschaft gelegen.“ Jonathan Semerloy zuckte abermals mit den Schultern, dann ging er an ihr vorbei. „Beeilt euch mit den Anweisungen. Die ersten Gäste werden bald hier sein und wenn John euch dann noch hier findet, werde ihr nicht so viel Glück haben.“ Mit diesen Worten verließ er den Keller und ließ sie allein zurück. Annie wusste nicht mehr, was sie über diesen Menschen denken sollte. Bisher war er ihr als ihr größter Feind erschienen, noch gefährlicher als John Barrington selbst. Aber in den letzten Wochen schien es fast, als wäre er ein anderer. Als würde er ihr eine Seite von sich zeigen, die sie nicht einmal an ihm vermutet hätte. Heftig schüttelte sie den Kopf. Sie hatte nun weitaus wichtigere Dinge zu tun, als sich um ihn Gedanken zu machen. „Komm her.“, rief sie kurz. Der Diener, der zuvor draußen gewartet hatte, trat ein. „Öffne die Fässer. Alle.“, befahl sie. Der Mann machte sogleich an seine Arbeit und öffnete die Fässer, die Alexander gebracht hatte. Sie würde ihrem Mann nur einen Gefallen erweisen, würde ihre Antwort sein, wenn man sie fragte, warum sie auch die anderen Fässer öffnen ließ. Nachdem die Fässer alle geöffnet waren, gab sie dem Mann kurz Anweisungen. „Diese Fässer hier“, sagte sie und deutet auf die, die abseits standen, „sind für die Dienerschaft. Mein Mann möchte, dass ihr diesen feierlichen Tag mit ihm zusammen begeht. Du bekommst die Verantwortung, dass jeder mindestens drei Kelch voll von diesem Wein erhält. Egal, welches Alter oder Geschlecht er hat. Heute ist ein großer Tag und er soll von allen angemessen gefeiert werden. Suche dir ein paar Männer, die du mit nach unten nehmen wirst und die den Wein in Krüge füllen und dann verteilen.“ Mit großen Augen sah der Mann sie an. Es war offensichtlich, dass er nicht glauben konnte, was er da hörte. „Hast du verstanden?“, fragte sie deswegen. „Ja, Mylady. Danke, Mylady.“, stammelte er und verbeugte sich tief. Kurz hatte Annie ein schlechtes Gewissen, dass sie diese Männer für ihre Zwecke missbrauchte, aber sie würden ja keinen längeren Schaden davon tragen, sagte sie sich selbst. „Ihr könnt gehen.“, befahl sie dem Mann anschließend. „Aber, die Fässer...“, begann er zu wiedersprechen und deutete unsicher auf die Deckel. „Das ist in Ordnung. Der Wein wird ohnehin bald in Krüge gefüllt.“ Sie hoffte, dass er ihre Worte so annehmen würde. Sie hatte ihm ja gerade erzählt, dass auch er etwas von den Wein bekommen würde. Sicher würde er dann nicht so töricht sein und versuchen ihr weiter zu wiedersprechen. Sie sollte recht behalten. Er verbeugte sich noch einmal tief vor ihr und verließ dann den Keller. Annies Herz schlug ihr nun bis zum Hals und sie sah sich noch einmal um. Er hatte die Tür hinter sich leicht geschlossen. Sie konnte zwar keine Geräusche vom Gang hören, dennoch ging sie noch einmal zu Tür und schaute den Gang hinauf. Fast hätte sie erwartet Jonathan Semerloy zu sehen, doch sie war allein. So schnell es ihr möglich war ging sie zu den Fässern zurück. Jetzt musste sie sich beeilen, damit sie nicht zu lange im Keller blieb und es doch auffiel. Annie raffte ihre Röcke nach oben und schlug schließlich die Innenseite um. Sicher griff sie zu dem losen Faden, der die angenähte Tasche zusammenhielt. Erst diese Nacht war ihr eine Möglichkeit eingefallen, wie sie die Beutel unbemerkt in den Keller schaffen konnte. Sie hatte aus einem Stück Stoff, den sie eigentlich hatte besticken wollen, um daraus ein Kissen zu machen, eine Innentasche für ihr Kleid gemacht. Erst hatte sie es so angenäht, dass nur noch eine Öffnung geblieben war. Dann hatte sie die Beutel hineingelegt und anschließend den Rest vernäht. Das Ende des Fadens hatte sie jedoch nicht verknotet, sondern offen gelassen. So konnte sie es nun schnell auftrennen. Es war ein wenig umständlich gewesen, damit zu laufen, aber trotzdem hatte niemand etwas bemerkt. Einen nach dem anderen holte sie die Beutel hervor und ließ sie sanft auf den Boden falle Sie konnte nicht alle auf einmal tragen. Es war umständlicher, nun da sie das Kleid trug, dennoch gelang es ihr irgendwie. Sie musste hinterher jedoch einen Moment ausruhen. Das ganze hatte sie bereits jetzt viel Kraft gekostet. Was würde sie erst heute Abend tun? Aber daran wollte sich nicht denken. Eines nach dem anderen, sagte sie sich. Langsam bückte sie sich nach den Beuteln und sammelte die ersten in ihrer Hand. Auch diese waren mit einem einfachen Fadenstich geschlossen worden, den sie mühelos mit den Zähnen auftrennen konnte. Kurz schnupperte sie an dem Inhalt, zog die Nase jedoch schnell wieder weg. Alexander hatte ihr nicht gesagt was darin war, aber der Geruch war stechend. Und wenn es nun Auswirkungen auf dem Geschmack des Weines hatte?, überlegte sie. Sicher nicht, sonst hätte Alexander es ihr nicht gegeben, beruhigte sie sich selbst. Alexander hatte gesagt, es würde mit dem Wein zusammen sein übriges tun. Ohne weiter darüber nachzudenken oder zu zögern, schüttete sie den Inhalt des ersten Beutels in ein Fass. Das Pulver sah in dem schwachen Licht fast schwarz aus. Sobald sie ganz sicher war, dass der Beutel leer war, ging sie zum nächsten Fass und präparierte auch dieses. Das gleiche geschah auch mit den anderen sieben Fässern. Die leeren Beutel versteckte sie wieder in der Innentasche ihres Kleides. Dann verließ sie den Weinkeller. Jetzt lag es nicht mehr in ihrer Hand. „Schon besser, schon viel besser.“, murmelte Doktor Storm leise vor sich hin, während er Dracos Hand untersuchte. Müde beobachtete Draco den Mann, den er nun täglich sah. Zumindest, wenn er bei Bewusstsein war. Dann seufzte Doktor Storm. „Allerdings ist es ebenso gut sichtbar und eindeutig.“, fuhr er fort. Draco entzog ihm seine Hand und sah sich seine Handfläche das erste Mal selbst an. In dem Verließ hatte er nicht viel erkannt und dann war seine Hand immer verbunden. Er war dankbar dafür gewesen, wusste er doch nicht, was ihn erwarten würde. Doch jetzt, glaubte er sich dem stellen zu können. Er wollte wissen, was Barrington für immer auf seinen Körper gebrannt hatte. Über seine gesamte Handfläche verlief ein Kreis. Das Innere war verziert mit Ranken und Blättern. Darin verschlungen die Buchstaben J und B und diese lagen wiederum hinter zwei sich kreuzenden Schwertern. Das Fleisch war noch immer rot und laut Doktor Storm hatte es sich entzündet. Die Blasen waren zwar fast verschwunden, dafür hatte sich an einigen Stellen Eiter gebildet. Diesen hatte Doktor Storm in den letzten Tagen immer wieder abgetragen und die Wunde gereinigt. An die Prozedur hatte sich Draco gewöhnt und ihm wurde nicht mehr ganz so schlecht dabei. Dennoch hatte er dauerhaft das Gefühl sich übergeben zu müssen. „Es ist nicht ungewöhnlich, dass Verbrecher gebrandmarkt werden, aber dafür gibt es andere Zeichen. So eines wird normalerweise nur für Kühe oder Pferde gemacht, aber selbst dafür ist es sehr prächtig. Barrington zeigen, dass er dich besitzt. Ganz so wie ein Stück Vieh.“ Draco ließ seinen Arm sinken. Er musste ihm das nicht erklären. Das hatte er auch so verstanden. Nachdem Barrington die Buchstaden, die er in seinen rechten Arm geritzt hatte, auch wieder herausgerissen hatte, musste er ihn irgendwie anders kennzeichnen. Was wäre da besser geeignet gewesen, als das, was er auch für sein Vieh nahm? Nichts anderes war er schließlich für diesen Mann. Doktor Storm fuhr damit fort, die Wund zu desinfizieren und trug wieder etwas von der Salbe auf. Immer noch wirkte sie angenehm kühlend auf seine Haut und Draco genoss das Gefühl regelrecht, wenn die Hitze in seinem Arm ein wenig nachließ. Nachdem die Hand wieder verbunden war, wandte sich Doktor Storm dem rechten Arm zu und verband auch diesen neu. Barrington hatte davon abgesehen, Draco aufzusuchen und von seinen Blut zu stehlen. Zumindest glaubte Draco dies. Er wusste nicht, ob seine Träume nicht doch Wirklichkeit gewesen waren. Zum Schluss löste Doktor Storm noch etwas von dem weißen Pulver in Wasser auf. Draco kannte es inzwischen und hatte sich an den Geschmack gewöhnt. Durch dieses Pulver war sein Fieber heruntergegangen und hatte ihm geholfen sich schneller zu erholen. Dabei wusste er nicht einmal, was genau in dem Pulver war. Es war seltsam was er inzwischen zu sich nahm, ohne nach dem Inhalt zu fragen. Es war seltsam, wie sehr er diesem Mann vertraute, dachte er. Bevor Doktor Storm ging sah er Draco noch einmal prüfend in die Augen. „Ich gebe dir nichts mehr von dem Opium.“, sagte er schließlich. „Ich habe die letzte Male die Dosis schon immer so klein wie möglich gehalten und schon vor zwei Tagen begonnen ganz darauf zu verzichten. Fühlst du dich nach dem Aufwachen immer noch leicht benommen?“, fragte er Draco, doch dieser starrte ihn weiterhin nur ausdruckslos an. Auch wenn er ihm vertrauen mochte, würde er nicht mit ihm sprechen. „Es wird vorbei gehen.“, sprach Doktor Storm weiter. Er begann seine Sachen wieder in seine Tasche zu packen und erhob sich. Draco hatte die Augen bereits schon wieder geschlossen, doch er spürte dass der Blick des älteren Mannes noch immer auf ihm ruhte. Also sah er ihn an. „Ich kann verstehen, warum Barrington so fasziniert von dir ist.“, hörte Draco den Arzt sagen. „Du kannst nichts dafür, es ist dein Aussehen. Niemand würde dir den Schwachsinnigen glauben. Deine Augen sprechen von zu viel Weisheit.“ Mit diesen Worten drehte sich Doktor Storm um und verließ das Zimmer. Die Holztür fiel hinter ihm zu und Draco war wieder allein. Behutsam drehte er sich zur Seite, so dass sein Körper mit dem Rücken zur Wand lag und er die Tür im Blick hatte. Seine Augen schlossen sich jedoch wie von selbst. Weisheit? Was war das? Wie konnte es in seinen Augen sein? Was war das besondere daran?, fragte er sich zum wiederholten Male. Abermals driftete er langsam in den Schlaf an. Er tat nichts anderes mehr, so schien es ihm. Ihm war ständig schwindlig und er war müde. Er wünschte es würde endlich enden. Das erschien ihm besser, als diese Hilflosigkeit und das Warten. Mehr als hundert Leute, fast ausschließlich Männer, füllten die große Halle. Es war früher Abend und die Gäste waren vor wenigen Augenblicken vollzählig geworden. Jeder von ihnen hatte John Barrington begrüßt und sein Geschenk überreicht oder es aber angekündigt, wenn es aufgrund der Größe nicht mitgebracht werden konnte und es gesondert zu ihm kommen würde. Annie hatte schweigend neben ihrem Mann gesessen und die Augen niedergeschlagen, wenn sich einer von Barringtons sogenannten Freunden ihnen genähert und ihren Gatten begrüßt hatte. Ganz so, wie es von einer demütigen Frau erwartet wurde. Natürlich wurde auch sie mit Komplimenten überhäuft, doch sie perlten wie Wasser an ihr ab. Sie gab nichts auf die verlogenen Worte dieser Männer. Nun saßen sie alle um die lange Tafel versammelt und unterhielten sich laut. Es war ein einziges Getöse, das in Annies Ohren zu einem Summen anschwoll. Sie konnte keiner Unterhaltung ganz folgen. Nicht, dass sie mit einbezogen wurde. Sie saß neben John Barrington und hörte nur zu. Sie legte auch keinen Wert darauf sich mit seinen Gästen zu unterhalten. An diesem Abend diente sie nur dazu die Anderen zu beeindrucken, zu zeigen, dass Barrington alles haben konnte und sogar seine Nachfolge gesichert war. Die Gespräche wurden etwas leiser, als das Essen gebracht wurde. Es war so viel, dass sich der Tisch unter der Last bog: Spanferkel, Wildschwein, gefüllte Hühner, Enten und Gänse sowie Truthähne, aber auch Rind und sogar Pferd. Das alles war zu vielfältigen Gerichten verarbeitet worden und die unterschiedlichen Gerüche füllten den ganzen Raum. Dazu wurden Kartoffeln gereicht, die die Diener einzeln auf die Teller der Gäste legten. Auch Erbsengemüse und Möhren durfte nicht fehlen, ebenso Sauerkraut und Pilze. Außerdem gab es große Teller mit scheinbar unzähligen Käsevariationen und Wurst. Zwischen den überladenen Platten standen Schalen mit Obst: Erdbeeren, Himbeeren, Weintrauben und Kirschen. Sogar die ersten sehr frühen Äpfel hatten ihren Platz zwischen all den anderen Dingen gefunden. Annie konnte nicht anders, als schlichtweg beeindruckt zu sein. Die Küche hatte sich selbst übertroffen. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie lange und vor allem wie viele Menschen dafür gearbeitet hatten. Das schwere Essen und der Wein würden hoffentlich dafür sorgen, dass an diesem Abend ihr Vorhaben gelang, dachte Annie. Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende bracht, brachten die Diener neue Krüge, die mit dem Wein gefüllt waren. Gleichzeitig wurden die Becher der Gäste erneut aufgefüllt. Nachdem jeder der Männer etwas zu trinken hatte, erhob sich Barrington und augenblicklich verstummten die Gespräche. „Meine liebe Gäste.“, begann er und Annie musste an sich halten, nicht die Augen vor aller zu verdrehen, „Ich freue mich, dass ihr hier erschienen seid. Natürlich freue ich mich noch mehr über die zahlreichen Geschenke. Einige sind wirklich außergewöhnlich. Ganz besonders neugierig bin ich aber auf das Geschenk meiner Gattin. Ich hoffe es wird keine Enttäuschung.“, sagte er und die Gäste lachten verhalten. Offenbar wussten auch sie nicht recht, ob es nun eine Drohung war oder wirklich nur ein Scherz. Annie reckte das Kinn nach oben und sah in die Runde. Ihr Geschenk würde den Männern gefallen, davon war sie überzeugt. Wenn nicht Barrington, dann doch den anderen und das würde genügen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Sie durfte nicht vergessen, dass sie Barrington an diesem Abend zufrieden stellen musste. Er durfte durch nichts von dieser Feier abgelenkt werden. Die Männer stießen an und auch Annie nahm ihren Becher. Allerdings tat sie nur so, als würde sie davon trinken. Sie glaubte zwar nicht, dass der Wein auf sie irgendeine Wirkung haben könnte, dafür war sie einfach viel zu nervös, aber sie wollte es nicht riskieren. Sie musste nur dafür sorgen, dass sie ihren Becher mit einem der anderen Männer tauschen konnte. Erneut wurde der Wein in den höchsten Tönen gelobt und viele von den Männern tranken ihre Becher zum wiederholten Male in einem Zug leer und verlangen noch mehr. Sie alle rätselten, wie es gelingen konnte, solch einen köstlichen Wein herzustellen und Barrington versprach ihnen, das Geheimnis schon bald zu erfahren. Alexander wurde mit keinem Wort erwähnt. Barrington fühlte sich wohl beleidigt, dass Alexander die Einladung abgelehnt hatte, mutmaßte sie. Aber Susan war es in den vergangen Tagen schlechter gegangen. Doktor Storm hatte sogar davon gesprochen, dass es zu einer verfrühten Niederkunft kommen könnte, wenn sie sich nicht schonte und im Bett blieb. Alexander war stolz auf ihren Bruder und sie war ihm unendlich dankbar, dass er dennoch versprochen hatte, in dieser Nacht zu kommen und Draco fortzubringen. Nach Einbruch der Dunkelheit wollte Alexander kommen und Hera satteln. Bis dahin, so hofften sie, würden die Stallburschen schon lange schlafen. Wenn nicht so könnte er immer noch behaupten, dass er einer von Barringtons Gästen sein und nach Hera sehen wollte. Alexander war inzwischen bei den Stallburschen bekannt und sie würde sicher keine Fragen stellen. Zumindest bis er anfangen würde sie zu satteln. Annie legte die Hand auf den Bauch. Ihr war den ganzen Tag schon seltsam zu Mute und etwas flatterte nervös in ihrem Körper auf und ab. Sie wünschte, dass alles schon vorbei wäre. Es war einfach Wahnsinn, was sie vorhatten. Aber um es zu verhindern, war es ebenso zu spät. Sie konnte Alexander kein Zeichen geben. Er würde kommen und Hera vorbereiten. Der Rest lag an ihr. Es gab nur zwei Möglichkeiten, wie dieser Tag enden konnte. Würde es gelingen wäre Draco frei. Würden sie scheitern, würden sie noch in dieser Nacht sterben. Annie glaubte sogar, dass Barrington selbst vor dem Kind nicht halt machen würde. Sie schob das Essen auf ihrem Teller hin und her, damit es so aussah als würde sie etwas zu sich nehmen. Die Männer um sie herum beachteten sie gar nicht. Zu sehr waren sie in ihrer eigenen Großartigkeit vertieft und prahlten mit immer mehr Schätzen, Frauen, Jagdbeuten oder was ihnen sonst noch einfiel. Es war ein dekadenter Abend und Annie vermisste das einfache Leben in ihrer Hütte einmal mehr. Dort hat es das alles nicht gegeben und sie war trotzdem glücklich gewesen, auch wenn sie am Anfang ein wenig einsam gewesen war. Sie würde die Einsamkeit diesem Schauspiel jederzeit vorziehen, dachte sie bitter. Sie wusste nicht genau, wie viel Zeit vergangen war. Das Essen wurde nicht abgeräumt, sondern immer nur wieder aufgefüllt. Die Gäste sollten sich die ganze Nacht hindurch an all den Speisen laben. Irgendwann schließlich trat ein Diener an sie heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte und wandte sich anschließend an Barrington. Da er so sehr in ein Gespräch vertief war, berührte sie ihn flüchtig am Arm um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Was ist?“, fragte er sie barsch und klang genervt. „Ich wollte euch nur wissen lassen, dass mein Geschenk eingetroffen ist. Wenn ihr es wünscht kann die Vorführung für euch allein oder eure Gäste gemeinsam stattfinden.“, ließ sie sich von seinen Worten nicht irritieren. „Vor den Gästen.“, antwortete er sofort. „Ich will, dass sie genauso viel Freude daran haben wie ich.“, sagte er und hatte einen gehässigen Unterton in der Stimme. Natürlich ging er davon aus, dass ihr Geschenk ihm missfallen würde. Er wollte sie vor all den anderen lächerlich machen. Annie nickte dem Diener an ihrer Seite zu und er entfernte sich. Die Männer nahmen ihre Unterhaltung wieder auf, als seien sie nicht unterbrochen worden und Annie faltete die Hände in ihrem Schoß. Wenn ihr Geschenk vorgeführt worden war, konnte sie den Abend offiziell beenden und sich zurückziehen. Sie würde in ihr Zimmer gehen und warten. Ihr graute bereits jetzt davor. Plötzlich erklangen leise die Klänge eines Tamburins und die Männer, die in der Nähe der Tür saßen verstummten zuerst. Dann wurden sie alle nach und nach leiser und sahen erwartungsvoll zu der großen Flügeltür. Die Schellen wurden lauter und deutlicher und ein steter Takt wurde angeschlagen. Trommeln setzten dazu ein und kurz darauf kam eine Flöte hinzu, die von einem weiteren Instrument, einer Drehleier, begleitet wurde. Die Türen schwangen auf und die Musik war nun klar zu hören. Der Takt wurde beständig schneller. Schließlich betraten vier Männer die Halle. Ein jeder spielt ein anderes Musikinstrument. Sie traten ein und stellten sich jeweils zu zweit links und rechts neben der Tür auf. Sie spielten weiter und in ihren Gesichtern spiegelte sich die Leidenschaft für ihre Musik. Ihre Kostüme waren prächtig und leicht östlich angehaucht, dachte Annie. Sie trugen nur kurze Jacken, die bis zu ihrem Bauchnabel reichten und offenstanden, so dass man einen Blick auf ihre glatte und muskulöse Brust erhaschen konnte. Ebenso ansehnlich waren ihre Arme, die mit viel Kraft und Übung die Instrumente führten. Sie trugen weite Hosen, die an den Knöcheln zusammengebunden waren. Die Füße selbst waren nackt. Die Kostüme waren aus einem schlichten weisen Stoff gefertigt, nur der Saum ihrer Jacken zeigte immer eine andere Farbe: Blau, Grün, Türkis und ein wenig Gelb, dass schon fast wie Ocker aussah. Ihre Haut war ein wenig dunkler, als Annie es bisher gesehen hatte. Ihre Haare und Augen waren so schwarz, wie die Federn eines Raben. „Pah, du bringst mir ein paar Spielleute, wie ich so schon oft gesehen habe.“, sagte Barrington verächtlich und riss Annie somit aus ihren Gedanken. „Wartet es ab.“, erwiderte sie kurz. Im gleichen Augenblick verstummte die Musik auf einmal und eine fast unheimliche Stille trat ein. Dann begann die Trommel abermals zu spielen und aus der Ferne war leises Klingeln von Glöckchen zu hören. Wie schon zuvor wurden auch die Glöckchen zunehmend lauter und schneller. Mit beinah fliegenden Bewegungen erschienen vier Tänzerinnen in der Tür. Zu der Trommel gesellten sich nun auch die anderen Instrumente. Die Frauen begannen sich wild zum Takt der Musik zu bewegen. Ihre hüftlangen Haare flogen durch die Luft und schienen im Schein der Kerzen und Fackeln ständig die Farbe zu wechseln. Die der einen Tänzerin wirkten dunkelbraun, schimmerten aber leicht rötlich, die der anderen schwarz und glänzten wie Obsidiane. Die nächste hatte blondes Haar, das wie gesponnenes Gold wirkte und bei der vierten war das Haar rot und schien selbst zu brennen, wenn sie an einer Flamme vorbeiwirbelte. Die Hautfarbe der Frauen war so unterschiedlich wie ihr Haar. Die, die schwarzes Haar hatte, hatte die gleiche Hautfarbe, wie die vier Männer. Die anderen drei Frauen hatte hellere Haut. Die der Rothaarigen wirkte fast so weiß wie Milch. Alle vier Frauen zeigten sehr viel von ihrem Körper. Nur ihre Gesichter waren von einem zarten Schleier verhüllt. Dennoch glaubte Annie ein verführerisches, neckendes Lächeln darunter erkennen zu können. Die Frauen hat ein Tuch um ihren Busen gebunden, an dessen unteren Seite ein goldenes Band gewebt war. Daran hingen kleine goldene Plättchen, die bei jeder Bewegung und Drehung rasselnd aneinander schlugen. Ebenso hatte sie auch nur ein etwas größeres Tuch um ihre Hüften gebunden. Es reichte ihnen gerade einmal bis zur Mitte der Oberschenkel und hatte zudem noch einen hohen Schlitz an der Seite, der das rechte Bein gänzlich sichtbar machte. Auch am unteren Rand des Tuches waren die kleinen goldenen Plättchen befestigt. Jedes Kostüm hatte eine andere Farbe. Die Frau mit den schwarzen Haaren und der dunkleren Haarfarbe trug ein kräftiges Rot. Die Blondhaarig trug ein Kostüm aus zartem Blau. Die Farbe der Braunhaarigen war orange und die der Rothaarigen grün. Es glich einer Explosion von Farben, wenn sie um einander herum tanzten, sich näher kamen und schnell wieder abwandten. An Schmuck trug jede von ihnen golden Ketten und Armreifen. Am verführerischsten waren wohl aber die schmalen goldenen Ketten, die sie um ihren Bauch trugen. An jeder dieser Ketten hing ein Edelstein, passend zu der Farbe ihres Kostüms, der in ihrem Bauchnabel spielte. An ihren Fußfesseln konnte Annie Bänder aus kleinen Glöckchen ausmachen, die für das beständige Klingeln sorgten. Es war einen Euphonie an Klängen und Geräuschen und versetzten jeder Mann um sie in Trance. Der Tanz sprühte vor Lebendigkeit, Exotik aber vor allem auch Erotik, so dass die Spannung, die in der Luft lag, fast zum Greifen war. Es war ein Schauspiel, wie es Annie bisher noch nicht erlebt hatte. Die Bewegungen der Tänzerinnen zum schnellen Rhythmus der Instrumente, schienen einen gefangen zu nehmen und fortzutragen, in ein anderes, weit entferntes Land, das noch keiner von ihnen gesehen hatte. Annie blickte sich um und stellte fest, dass es den Männern ebenso erging wie ihr. Sie stierten mit glasigem Blick die Frauen an, ihre Münder waren geöffnet, als wollten sie sie mit Haut und Haar verschlingen. Und immer wieder griffen sie zu ihren vollen Weinkelchen. Einige von ihnen johlten und riefen anzügliche Bemerkungen. Annie schämte sich ein wenig für die Männer, doch sie hoffte, dass die Tänzer solch ein Verhalten gewöhnt waren. Ihre Wirkung auf ihr Publikum war ihnen sicher bewusst. Ein Blick in John Barringtons Gesicht verriet ihr, dass auch er an diesem Schauspiel, das sich ihm bot und nur für ihn allein bestimmt war, Gefallen fand. Vielleicht bereute er es auch schon keine Privatvorführung verlangt zu haben. Leise schob Annie ihren Stuhl zurück und erhob sich. Es würde niemanden auffallen, wenn sie jetzt ging. Ihre Anwesenheit war sowieso nicht länger erwünscht. Sie verließ die Halle durch den anderen Ausgang und ging geradewegs in den Weinkeller. Dort wollte sie nach dem Rechten sehen und sicher gehen, dass auch die Dienerschaft genug von dem Wein trank. Auf ihrem Weg kamen ihr immer wieder Frauen und Männer entgegen, die entweder schwere Tabletts mit Essen brachten oder Weinkrüge in den Händen hielten, wie sie zufrieden feststellte. Im Weinkeller selbst herrschte ebenso reges Treiben. Gerade wurde ein weiterer Krug aufgefüllt und der nächste stand ebenfalls da. Scheinbar tranken die Männer so schnell, dass die Diener gerade so mit der Versorgung hinterher kamen. Aber auch bei den Fässern, die sie extra gekauft hatte, herrschte reges Treiben. Annie ging zu dem Mann, den sie damit beauftragt hatte und erkundigte sich nach dem Vorangehen. „Es hat jeder bereits zwei Becher erhalten.“, antwortete er ihr und verbeugte sich noch einmal tief. „Der Wein schmeckt wirklich vorzüglich und wir sind ihnen allen sehr Dankbar, dass sie uns an diesem großen Tag teilhaben lassen.“ „Dafür müssen sie nicht mir danken, sondern meinem Mann.“, antwortete sie. „Es war seine Idee ihre harte Arbeit endlich einmal zu würdigen.“ Zweifelnd sah er sie an, wagte es aber natürlich nicht zu wiedersprechen. „Ist denn noch etwas übrig?“, fragte sie schnell weiter. „Ja, natürlich. Wir haben gerade das dritte Fass angefangen.“ „Bitte verteilen sie den gesamten Wein. Es wäre schade, wenn etwas übrig bliebe. Mein Mann könnte sich sonst gekränkt fühlen, wo der doch schon einmal so großzügig zu ihnen war.“ Ein ängstlicher Ausdruck trat auf sein Gesicht und er nickte sofort. „Gewiss doch.“ „Sorgen sie auch dafür, dass die vier Männer, die den Gefangen bewachen genug erhalten. Sie machen eine schwere Arbeit. Offenbar ist dieser Mann sehr gefährlich, wenn er gleich vier Wachen benötigt. Sie sollen ausreichend belohnt werden.“ Der Diener öffnete den Mund, als wollte er noch etwas sagen, schloss ihn dann aber wieder. „Ist etwas?“ „Nein, Mylady, es wird alles so geschehen, wie ihr es wünscht.“ „Gut. Ich ziehe mich jetzt zurück. Sollten sich Schwierigkeiten ergeben, möchte ich darüber informiert werden. Ich bin in meinem Zimmer.“ „Jawohl, Mylady.“, noch einmal verbeugte er sich tief und Annie verließ den Keller. Annie ging wirklich in ihr Zimmer zurück. Sie war sich sicher, dass Barrington sie nicht vermissen würde. Aber vor allem wusste sie nicht, ob sie ihre Anspannung und Nervosität länger vor den anderen verbergen konnte. Das Warten machte sie halb wahnsinnig. Sie trat an das Fenster und sah der Sonne beim untergehen zu. Der Himmel hatte sich am Horizont schon orange gefärbt und wurde nun langsam rot, um anschließend in ein dunkles lila überzugehen. Doch genießen konnte sie den Anblick nicht. Immerfort waren ihre Gedanken bei Draco, den vielen Gästen in der Halle, Barrington und ihrem Bruder. Sobald das letzte Licht am Horizont verschwunden war, würde Alexander den Hof betreten. Sicher wartete er in der Stadt bereits darauf zu handeln. Sobald es dunkel war, würde sie noch ein wenig warten, sicher gehen, dass die Männer wirklich schliefen und dann würde sie zu Draco gehen. Ihr Herz machte bei dem Gedanken einen Hüpfer. Sie würde ihn endlich wiedersehen! Dabei versuchte sie sich gleichzeitig einzureden, dass sie sich auf keinen Fall von seinem Anblick ablenken lassen durfte. Sie durfte nicht darüber nachdenken, wie er aussah oder sich vorstellen, was Barrington ihm angetan hatte. Es war wichtig, dass sie sich nur auf ihre Aufgabe konzentrierte. Wenn sie denn bis zu Draco gelangen würde. Annie knetet unentwegt ihre Finger. Nicht darüber nachdenken, sagte sie sich immer wieder. Nicht darüber nachdenken. Annie blieb so lang in ihrem Zimmer, bis sie es nicht mehr ertragen konnte. Sie konnte die Zeit schlecht einschätzen. Tage kamen ihr seit langem wie eine Ewigkeit vor. Sie ging die Treppe langsam und leise nach unten und versuchte besonders gut auf ihre Umgebung zu hören. Doch verglichen mit dem Treiben und Murmeln, welches vorher in diesen Mauern geherrscht hatte, war es jetzt auf einmal recht ruhig. Ihr Herz würde sicher gleich aus ihrer Brust springen, dachte sie, denn es schlug laut und schnell gegen ihr Inneres. Vorsichtig näherte sie sich der Halle und blieb hinter der Tür stehen. Nur noch leise Stimmen waren zu hören. Ohne entdeckt zu werden, spähte sie um die Ecke, in die Halle hinein. Die Männer lagen mehr auf den Tischen, als dass sie auf ihren Stühlen saßen. Annie verstand kaum ein Wort von dem, was sie sagten. Sie sprachen sehr leise und der Alkohol hatte ihre Zunge schwer gemacht. Auch John Barrington hing müde in seinem breiten Stuhl, mit der Hand den Kopf stützend und die Augen halb geschlossen. Auf den Gesichtern der Gäste lag ein Ausdruck tiefer Zufriedenheit und Gelassenheit. Diejenigen, die sich zurückgelehnt hatten, hielten ihre Bäuche, die sicherlich gut gefüllt waren. John Barrington gähnte herzhaft. „Wie kann es sein, dass ich jetzt schon so müde bin?!“, fragte er und gähnte noch einmal. Die anderen Männer nickten zustimmend und murmelten etwas Unverständliches. Auch die Dienerschaft, die immer noch Weinkrüge in den Händen hielt oder weitere Teller mit Speisen, gähnten verstohlen. Bald würde es so weit sein, dachte sie hoffnungsvoll. Es konnte nicht mehr lange dauern. Plötzlich erhob sich Barrington und der Stuhl rutschte scharrend über den Boden. „Aber dafür habe ich immer noch genügend Energie!“, rief er aus. „Du da!“, befahl er einer Dienstmagd und sie zuckte erschrocken zusammen. „Komm her! Bringe mich in mein Zimmer!“ Ein Grinsen trat auf sein Gesicht, während die Frau mit zitternden Fingern das Tablett abstellte und dann zu ihm ging. „Und danach wirst du mich noch auf ganz besondere Weise an meinem Geburtstag erfreuen.“, sagte er hämisch und tätschelte ihr den Hintern. Annie verzog angewidert das Gesicht. Sie war aber nicht nur von John Barrington angewidert, sondern auch von sich selbst. Denn ihr erster Gedanke hatte ihr selbst gegolten und wie froh sie war, nicht an der Stelle der Frau zu sein. Die Magd sollte ihr leid tun und das tat sie auch. Dennoch konnte Annie nicht umhin erleichtert zu sein. Würde sie mit ihm gehen, währe Barrington für alles andere auf jeden Fall zu beschäftigt. Und vielleicht würde er ja gleich einschlafen, wenn er sich auf das Bett legte. Annie drehte sich um und ging den Gang entlang, zu der Tür die so streng bewacht wurde. In den vergangenen Tagen war sie oft daran vorbeigegangen, ohne jemals zu fragen, was sich dahinter befand. Sie wusste es auch so. Als Annie die vier Wachen von weitem erblickte atmete sie erleichtert auf. Die Ablösung hatte noch nicht stattgefunden. Aber es würde bald so weit sein, sollte sie noch nicht schlafen. Sie musste es jetzt tun. Außerdem war es zum Umkehren bereits zu spät, denn die Männer hatten sie entdeckt und beobachteten sie neugierig. Annie wusste nicht, ob sie schon genügend von dem Wein getrunken hatten. Zwei von ihnen saßen bereits auf dem Fußboden, ein dritter hatte sich gegen die Wand gelehnt und der vierte schwankte leicht, stellte sie beim näherkommen fest. Annie straffte die Schultern und trat festen Schrittes an sie heran. Die zwei, die saßen, versuchten sich aufzurappeln, doch es dauerte ein wenig. Annie wartete bis sie es geschafft hatten, bevor sie sprach. „Haben sie etwas von dem Wein bekommen, den mein Mann an all seine Leute verteilen ließ?“, fragte sie mit süßer Stimme. „Ja, Mylady. Vielen Dank dafür.“, antwortete der links von ihr und versuchte ein Gähnen zu unterdrücken. „Wie viel haben sie bekommen?“ „Drei Becher jeder von uns. Es war ganz köstlich.“ Annie lächelte gewinnend. „Das freut mich zu hören. Sagen sie, ist ihnen heute etwas ungewöhnliches hier aufgefallen?“ „Nein, Mylady, warum fragen sie?“, antwortete der Rechte. „Das dachte ich mir bereits, deswegen wollte ich ihnen einen Vorschlag machen. Warum gehen sie nicht zu Bett? Ich bin sicher ihre Ablösung wird bald kommen. Niemand wird es wagen, heute Nacht hier einzudringen und zu stehlen, was auch immer sie hinter dieser Tür bewachen.“ „Es geht nicht darum, dass jemand etwas stehlen könnte, Mylady.“, erwiderte ein anderer. „Ach nein?“, fragte sie unschuldig. „Worum dann?“ „Wir bewachen den Gefangenen.“ „Oh, das ist natürlich etwas anderes.“, sagte sie und nickte verständnisvoll. „Ich habe ihn nur einmal gesehen, wissen sie. Ist er denn wirklich so gefährlich, dass er gleich vier so starker Männer bedarf?“ Die vier sahen sich verstohlen an, offenbar unsicher, was sie antworten sollten. „Was ist? Ist er wirklich so schrecklich, wie ich meinen Mann sagen höre?“, fragte sie nach und sah die Männer mit großen Augen an. „Eigentlich...“, begann der eine zaghaft. „Ja?“, bohrte Annie weiter. „Eigentlich, ist er sehr harmlos. Er hat sich noch nicht einmal gewehrt und in den Zustand in dem er im Moment ist, würde er sowieso nicht so weit kommen.“ „Verstehe.“, sagte sie nachdenklich und nickte. „Dann brauchen sie doch auch kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie jetzt gehen. Wenn sie möchten, dann bleibe ich hier und sage ihrer Ablösung, dass ich sie bereits entlassen habe.“ „Uhm... Das ist... das ist sehr großzügig von ihnen, dennoch können wir das nicht annehmen. Wir würden unsere Pflicht verletzten und ihr Gemahl...“ „Ich weiß.“, knurrte sie nun fast, weil sie langsam die Geduld verlor. Trotzdem schaffte sie ein weiteres Lächeln. „Was halten sie davon, wenn wir einfach nachsehen, ob von dem Gefangenen im Moment eine Gefahr ausgeht? Ist dem nicht so, können sie beruhigt gehen und ich werde mich um alles Weitere kümmern.“ „Ich weiß nicht...“ „Ach mach schon!“, drängte der, der vorhin schon auf dem Boden gesessen hatte. „Ich bin müde und der rührt sich doch schon seit Tagen nicht mehr.“ „Er hat recht, gibt mir den Schlüssel.“, forderte der andere und riss ihm seinen Partner bereits von Gürtel. „He!“, protestierte dieser nur schwach. Der Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt und die Tür sprang augenblicklich auf. Einer der Männer zog sie so weit auf dass Annie hereinblicken konnte. Nur eine einzige Kerze brannte, die auf einen Holzhocker abgestellt war. Dracos Gestalt lag schemenhaft auf einem provisorischen Bett. Doch Annie sah genug, um festzustellen, dass sein Atmen ruhig war und er schlief „Für mich sieht er nicht sehr gefährlich aus.“, stellte sie gespielt verwundert fest und brachte sogar so etwas, wie ein Kichern zustande. „Dieser Doktor gibt ihm schon seit Tagen Opium. Der würde nicht mal mitbekommen, wenn wir ihn sonst wohin brächten.“, spottete einer der Männer neben ihr und Annie musste sich zusammenreisen, um ihm keine Ohrfeige zu geben. „Na sehen sie, sie können also beruhigt gehen.“, erwiderte sie stattdessen mit honigsüßer Stimme und zog den Kopf aus der Tür zurück. Der Mann der aufgeschlossen hatte, versperrte sie wieder und Annie verfolgte mit dem Augen jede Bewegung und besonders, den Schlüssel, den er noch immer in der Hand hielt. „Sie könnten mir die Schüssel geben und ich reiche ihn ihrer Ablösung. Was halten sie davon? Sie müssten ja gleich kommen.“ „Mylady, das ist...“, wollte der linke ansetzen, aber da drückte ihr schon der andere die Schlüssel in die Hand. „Hab dich nicht so. Was soll schon passieren? Wir haben unseren Dienst getan und die anderen sind sowieso schon zu spät dran.“ An Annie gewandt sagte er: „Vielen Dank, Mylady, dass sie dies für uns tun.“ „Natürlich, ich weiß ihre schwere Arbeit zu schätzen und wenn sie es wünschen, wird nichts davon zu meinem Gemahl gelangen.“ Leicht verlegen nickten die Männer und bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnten, drehten sie sich um und gingen den Gang entlang, aus dem Annie zuvor gekommen war. Auch wenn es ihr schwer viel, wartete sie bis sie die Schritte der Männer nicht mehr hören konnte. Sie hoffte, dass auch sie sie dann nicht mehr hören konnten. Besonders nicht jenen Moment, wenn sie den Schlüssel im Schloss herumdrehen würde. Trotzdem durchflutete sie eine leichte Euphorie. Sie konnte kaum glauben, wie einfach es gewesen war. Diesen Teil hatte sie nicht planen können, aber offenbar hatte es trotzdem gereicht. Doch jetzt war wirklich höchste Eile geboten. Alexander wartete sicher schon mit Hera. Hastig steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn mit einer schnellen Bewegung herum. Die Tür sprang auf und Annie atmete noch einmal tief durch, bevor sie das Zimmer betrat. Sobald sie die Türschwelle überquert hatte, zog sie die Tür wieder hinter sich zu. Auch die Ablösung sollte inzwischen schlafen, dachte sie, aber sie wollte es nicht riskieren sich zu irren. Sie wartete einen Moment bis ihre Augen sich an das schwache Licht der Kerze gewöhnt hatten. Es war seltsam, dachte sie. Normalerweise wäre Draco schon längst aufgewacht, wenn sich ihm jemand genähert hätte. Sie war sicher, er hätte die Tür gehört. Angst befiel sie. Was wenn die Männer recht gehabt hatten und er wirklich so viel Opium im Körper hatte, dass er tief und fest schlief? Was, wenn sie ihn gar nicht würde wach bekommen? Was sollte sie dann tun? Soweit hatte sie nicht gedacht. Sie hätte Doktor Storm genauer fragen müssen! Dafür war es jetzt zu spät. Sie musste es so versuchen. Sie musste ihn wecken. Sie musste sich beeilen, für ihn und auch für sich. Lange würde sie es in diesem Raum, der nach Krankheit und Leid stank, nicht aushalten. Annie stolperte zu seinem Bett und begann ihn leicht an der Schulter zu rütteln. Eindringlich und doch leise, so dass es fast wie ein Zischen klang, flüsterte sie seinen Namen immer und immer wieder: „Draco! Draco!“ Er stöhnte leise und sie wollte es als gutes Zeichen verstehen. Also fuhr sie fort. Unbewusst registrierte sie seine Blässe und die vielen Verbände, aber sie konzentrierte sich auf sein Gesicht und die Augenlider die sich hoffentlich bald öffnen würden. Ah, dachte er. Es war so weit. Sie waren gekommen, um fortzufahren. Sie hatte ihn lange genug in Ruhe gelassen. Jetzt würde es umso furchtbarer werden. Unbewusst nahm Draco das Rütteln an seinem Körper war und spürte, wie es ihn aus dem Schaf riss. Es geschah langsam und beinah ein wenig sanft, so dass er nicht umhin konnte sich darüber zu wundern. Jeden Moment würde der Schmerz kommen, dachte er. Lieber wollte er noch in diesem Zustand, in dem der Schmerz nur ein dumpfes Pochen war, bleiben. Doch die Stimme, die sein Verstand ihm zuflüsterte, war so vertraut und so verlockend, dass es ihm nicht gelang. Wie oft hatte er geglaubt ihre Stimme, in all den Momenten, in denen er nicht sicher gewesen war, ob er schlief oder wachte, zu hören? Er konnte sich ihr nicht entziehen, sondern wurde von ihr angezogen. Sein Geist erwachte, von den sanften Worten, die sie zu ihm sprach, wollte mehr hören – auch wenn er wusste, dass es nicht sein konnte. Nicht Annie würde in der realen Welt auf ihn warten, sondern dieser Mann und er würde ihm Schmerzen zufügen. Obwohl ihm dies bewusst war, öffnete er die Augen, bereit sie gleich wieder gehen zu lassen und das andere zu empfangen. Draco wollte glauben, dass dieser eine Blick genug sein würde. Zumindest für den Moment. Er spürte, wie eine zarte Hand über seine Wange strich, dann über seine Stirn. Eine so vertraute und beruhigende Geste, die ihn aufseufzen ließ. In diesem Augenblick wollte er nur zu gern an seine Geliebt glauben. Dracos Blick war verschwommen und doch erkannte er einige Konturen: schwarzes langes Haar, dass bis zu den Hüften reichte, braune Augen und himbeerfarbene Lippen. Sie war so echt, dachte er. So echt, dass er zaghaft eine Hand nach ihr ausstreckte, um sie zu berühren. Er zuckte heftig zusammen, als sie seine Hand ergriff und fest drückte. „Draco, hörst du mich?“, fragte sie eindringlich und strich mit der anderen Hand noch immer über seine Wange. Als wollte sie ihn daran hindern, wieder einzuschlafen. Kurz nickte er. Gleichzeitig schlossen sich seine Augen. Er schaffte es nicht, so offen zu halten. Sein Blick war nicht klarer geworden und das Verschwommene machte ihn schwindlig. Selbst wenn sie echt war, würde es nichts ändern. „Draco, du musst aufstehen.“, sagte sie. Er schüttelte den Kopf. Er konnte nicht einmal richtig sehen. Aufstehen erschien ihm noch unmöglicher. „Doch du musst!“, sagte sie und ihre Stimme war laut geworden und klang voller Verzweiflung, so dass er sie wieder ansah. Ihr standen die Tränen in den Augen, aber jetzt zu weinen, würde nichts nützen. Sie griff unter seinen Kopf und versuchte ihn anzuheben. Nur wenig gelang es ihr. Doch als sie ihn berührte, merkte sie wie viel Gewicht er verloren hatte. Seine Knochen stachen spitz hervor. Mit der Hand, die noch immer seine umfasste, zog sie ihn ebenfalls nach oben. „Du musst aufstehen, hörst du! Es ist wichtig! Ich bitte dich, tu es für mich!“, flehte sie ihn an. Er nickte. Ihre Stimme klang so dringend, so flehentlich, dass er ihr alles versprochen hätte. Er versuchte etwas in seinem Inneren zu spüren, etwas zu fühlen, da war nichts, als wäre er leer. Es war Draco unmöglich einen klaren Gedanken zu fassen. Doch das Aufsetzen gelang ihm. Er hatte es nicht verlernt. Der Arzt hatte es ihn ein paar Mal tun lassen. Annie legte Dracos Arm um ihre Schultern und ihren eigenen Arm um seinen Rücken. Sie versuchte aufzustehen und Draco mit sich zu ziehen, doch natürlich gelang es nicht beim ersten Mal. „Du musst mir helfen.“, flüsterte sie und war noch immer den Tränen nahe. Noch nie hatte sie ihn so gesehen. Sein Kopf ruhte auf seiner Brust und er schien abermals abzudriften. Annie versuchte es dieses Mal mit ein wenig mehr Schwung und sie spürte auch, dass Draco sich bemühte. Dieses Mal schafften sie es sich zu erheben. Sie schwankten einen Moment und es kostete Annie unheimlich viel Anstrengung ihr eigenes Gleichgewicht wieder zu finden und ihn dabei noch zu stützen. Sie hielt seinen Arm mit ihrer Hand fest umklammert und drückte mit aller Kraft gegen seinen Rücken. Draco spürte ihre Wärme. Sie war ihm so nah, wie schon lange nicht mehr, wenn sie es denn war. Aber für den Augenblick wollte er es einfach glauben. Selbst, wenn es sich um Barringtons handeln würde oder seine Wachen, die ihn in das Verließ zurückbrachten. Er musste sich sehr darauf konzentrieren, immer einen Schritt vor den anderen zu machen. Annie sah, dass sich bereits nach den ersten drei Schritten kleine Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Sie hatten die Tür erreicht und unsicher streckte Annie einen Arm nach dem Griff aus. Es war ihr Glück, dass sie sich nach außen öffnete. Sie führte Draco bis zum Türrahmen und steckte dann selbst den Kopf heraus. Sie sah den Gang auf und ab, doch er war noch genauso verlassen wie zuvor. Die Wachen mussten nun wirklich alle eingeschlafen sein. „Wir müssen uns beeilen.“, flüsterte sie ihm zu. „Ich weiß du kannst es schaffen!“, beschwor sie ihn, dabei klang ihre Stimme gepresst. Er wurde ihr langsam zu schwer und wenn sie an den Weg dachte, der noch vor ihnen lag, schluckte sie heftig. Wie sollte sie das schaffen? Draco nickte bloß noch einmal. Ihm war, als hätte er sein eigenes Denken aufgegeben. Er handelte nur noch nach ihrem Willen, ohne darüber nachzudenken. Nur sehr beschwerlich liefen sie den Gang entlang. Immer wieder machten sie halt, um nach verräterischen Geräuschen zu horchen, aber vor allem um zu Atem zu kommen. Die Burg blieb still. Nur ihr eigener, stoßweiser Atem war zu hören. Während des Weges trieb Annie Draco unerbittlich weiter voran. Sie merkte, dass er wieder müde wurde, dass es ihn unheimlich viel Kraft kostete, aber immer wenn sie merkte, dass er ihr drohte zu entgleiten, ging sie weiter. Sie erreichten den Seiteneingang nach einer gefühlten Ewigkeit, doch Annie hätte am liebsten vor Freude geweint, als sie ihn sah. Nur noch diese Tür, sagte sie sich. Dann wären sie fast in Sicherheit. Um diese Tür zu öffnen, benötigte Annie jedoch beide Hände. Sie ließ Draco los, der sich gegen die Wand lehnte. Annie entriegelte die Tür und späte in die kühle Nachtluft hinaus. Niemand war zu sehen. Sie hob den Blick und sah den fast vollen Mond. Er war zu hell, dachte sie, aber alle schliefen. Er würde sie nicht verraten. Und Draco würde ihm nicht wiederstehen können. Nur langsam begriff Draco, dass er offenbar doch nicht auf dem Weg in sein Verließ war. Kalte Luft schlug ihm entgegen und er sog sie begierig ein. Nachtluft schmeckte immer anders, dachte er. Sie ist frischer und reiner. Aber wohin wurde er geführt? War es tatsächlich Annie und nicht nur ein Trugbild? Plötzlich war ihre liebliche Stimme wieder an seinem Ohr und was sie ihm zuflüsterte ließ Schauer über seinen Rücken laufen: „Komm nach draußen. Der Mond ist fast voll und er sieht fantastisch aus. Du hast den Mond doch so lange nicht mehr gesehen. Sieh ihn dir an.“ Der Mond? Oh, wie verzehrte er sich nach dieser hellen, kühlen, runden Scheibe! Er wollte ihn sehen! Wollte in seiner Kälte baden! Aus trüben Augen sah er sie an und Annie glaubte erst, er würde nun vollkommen aufgeben, doch zu ihrer Überraschung machte er einen Schritt nach vorn. Als die kühle Nachtluft in gänzlich umfing, atmete er zitternd ein und aus. „Sieh nach oben.“, flüsterte Annie an sein Ohr. Zögernd reagierte er. Draco hob den Blick und da war er tatsächlich: der Mond. Und obwohl auch seine Konturen verschwommen und unklar waren, war er dennoch unglaublich schön. Schon morgen Nacht würde er voll sein. Würde er das noch erleben? „Wir müssen weiter.“, sprach Annie. Verwirrt schüttelte Draco den Kopf. Langsam wurde ihm bewusst, dass es wirklich Annie war, die die ganze Zeit mit ihm sprach, die ihn zum gehen aufforderte. Aber wo wollte sie mit ihm hin? Doch er fragte sie nicht danach. Sein Mund wollte sich nicht öffnen und seine Zunge keine Worte formen. Sie führte ihn weiter und Draco ließ es geschehen. Annie blickte sich um und hoffte Alexander auszumachen. Im Schatten des Tores nahm sie eine Bewegung wahr und abrupt blieb sie stehen. Waren sie etwa doch entdeckt worden?!, fragte sie sich panisch. Abermals sah sie die Bewegung und ihr Herz hüpfte bereits auf ihrer Zunge. „Annie?“, hörte sie ein leises flüstern und erst als sie Alexanders gepresste Stimme erkannte, atmete sie erleichtert auf. Sie zog Draco mit sich, aber sprach nicht eher, bis sie den schützenden Schatten erreicht hatten. „Alexander.“, flüsterte sie, als er sie kurz umarmte. Dann nahm er Dracos Gewicht von ihrem Körper auf seinen eigenen und führte ihn zu Hera. Sie war so schwarz, wie die Nacht selbst, so dass Annie sie im ersten Moment gar nicht bemerkt hatte. Das Pferd stand vollkommen still und gab keinen Laut von sich, als wüsste sie sehr genau, wie wichtig und entscheidend dieser Moment war. Aber sie war auch furchtbar groß, wurde Annie bewusst. „Wie bekommen wir ihn auf Hera?“, fragte Annie leise. „Ich hebe ihn hoch.“, antwortete Alexander und Annie hörte die Anspannung aus seiner Stimme. „Er wird sich nicht auf ihr halten können.“ „Das dachte ich mir, deswegen habe ich ein paar Seile mitgebracht. Ich werde ihn festbinden.“ „Ja, aber er... er könnte trotzdem stürzen. Er ist überhaupt nicht bei klarem Verstand. Was ist morgen oder übermorgen?“ Sie wollte ihn retten, doch gleichzeitig machte es ihr so viel Angst nicht zu wissen, wo er sein würde, dass sie ihn am liebsten bei sich behalten hätte. „Morgen wird es ihm besser gehen.“, versicherte Alexander ihr. „Er wird es schaffen, Annie. Dafür ist er geboren.“ Sie biss sich auf die Lippe und nickte. „Ich will mich noch verabschieden.“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. „Mach schnell.“, sagte Alexander und drehte sich um, um ihnen einen kurzen Moment Zweisamkeit zu gönnen. Draco stand unsicher auf den Beinen und schwach hatte er gehört, über was die beiden sich unterhalten hatten. Langsam begriff er, was geschehen würde. Er spürte etwas Breites und warmes im Rücken und nahm einen sehr vertrauten Geruch war. Behutsam drehte er den Kopf und blickte auf einen schwarzen Pferdekörper. Vorsichtig lehnte er sich gegen Heras kräftigen Körper, der ihn davon abhielt auf den Boden zu sinken. Würde er sich nur einmal setzten, würde er nicht mehr aufstehen. Warum sagte er ihnen nicht, dass er nicht gehen wollte?, überlegte Draco langsam. Warum bestand er nicht darauf zu bleiben? Waren es denn nur leere Worte gewesen? Sein Schwur auf Rache wertlos? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er weitere Schmerzen nicht würde aushalten können. Er war am Ende. Im nächsten Augenblick trat Annie an ihn heran und legte ihre Hände auf seine Wangen. Krampfhaft versuchte Draco ihr in die Augen zu blicken, doch sein Blick huschte ständig hin und her, egal wie oft er auch blinzelte. Aber er sah genug, um die Tränen in ihren Augen zu erkennen. „Ich liebe dich.“, flüsterte sie heißer. „Hast du mich gehört? Ich liebe dich, das habe ich immer und daran wird sich auch nichts ändern, ganz egal wo du bist.“ Ein Schluchzen entfuhr ihr und sie blickte nach unten, um ihre Gedanken zu sammeln. „Du musst dem Polarstern folgen, dem hellsten Stern am Himmel. Er wird dich immer nach Norden führen. Dort wirst du in Sicherheit sein. „Auch wenn ich kein ewiges Gedächtnis besitzt, werde ich dich doch nie vergessen.“, wisperte sie. „Niemals. Ich danke dir für alles.“ Annie nahm seine rechte, gesunde Hand und legte sie sich auf den Bauch. Es sollte ihr Abschied für immer sein. Doch kaum berührte seine Hand ihren Bauch, zuckte Draco merklich zusammen und er sog scharf die Luft ein. Seine Lippen waren fest zusammen gepresst, doch seine Augen weit geöffnet. „Draco?“, fragte Annie unsicher und mit ein wenig Angst in der Stimme. Sie wollte seine Hand bereits loslassen, da umschlossen seine Finger die ihren und hielt sie fest. Er sah sie plötzlich direkt an und sein Blick war so klar und fest, wie Annie es schon lange nicht mehr bei ihm gesehen hatte. Ein Blick wie sie ihn kannte und liebte. Ein Schauer durchfuhr ihren Körper und ihre Knie wurden weich. Für einen Moment war sein so unglaublich klar. Sein Blick war scharf und er sah alles deutlich. Er verstand es ohne Zweifel: Er war mit den Kind verbunden. Stärker und Enger, als es sonst bei ihnen üblich war. So stark, dass es ihm Angst machte. Die Verbindung, die die Monddrachen zu ihren Nachkommen hatten, endete mit der Zeugung. Alle Erinnerungen, die die ausgewachsenen Drachen machten, waren für den Nachkommen verloren. Doch das Wese in Annies Körper war anders. Zwischen ihm und dem Kind bestand diese Verbindung immer noch, dachte Draco verwundert. Das Kind besaß jede seiner Erinnerungen und auch Annies, bis genau zu diesen Moment. Das Band würde erst bei der Geburt zerreisen oder meinem Tod, dachte er. Draco wusste es. Er konnte nicht sagen, woher er dieses Wissen nahm. Er wusste es einfach, als hätte das Kind es ihm selbst gesagt. In Annies Augen sah er, dass sie nichts von all dem ahnte. Er zog sie an sich und legte die Hände um ihren Körper. Den Schmerz konnte er kaum spüren. Ihr Körper an seinem war alles, was er wahrnahm. Mit der rechten Hand fuhr er durch ihre Haare und griff hinein, während er sie mit links an sich gedrückt hielt. Seine Lippen fanden ihre wie von selbst und er küsste sie wild und ausgehungert. Selbst jetzt, nach allem, was geschehen war, wollte er sie immer noch genauso sehr. Es war Wahnsinn! Hatte durch sie doch erst alles begonnen. Ein Räuspern riss sie auseinander. Alexander stand neben ihnen und sah sie ungeduldig an. Ohne das Feuer ihres Kusses spürte Draco, wie sich der Nebel wieder seinen Verstand legte. Ein letztes Mal strich er ihr über das Gesicht und küsste eine Träne von ihrer Wange. Dann löste er sich endgültig von ihr. Ohne sie begann er wieder leicht zu schwanken und Alexander legte einen Arm um seine Schulter. „Ich werde dir helfen, aber du musst mitmachen.“, sagte er und führte ihn nah an Hera heran. Dann stellte er Dracos linken Fuß in den Steigbügel und legte dessen Hände auf den Sattel. „Bei drei.“, wies er ihn an. Draco wusste nicht, wie ihm geschah. Er wusste, dass er fliehen sollte, dass es das war, was Alexander und Annie wollten. Was ihn ein erschreckte, war der Gedanke, dass er es ebenso wollte. Der Gedanke in diesen dunklen Raum oder gar das Verließ zurückzukehren ließ ihn kalten Schweiß ausbrechen. Sein Körper zitterte nur noch heftiger. Ganz gleich, was er sich vorgenommen hatte, wie groß seine Rachegedanken waren, wie sehr er sich nichts weiter wünschte als John Barrington die Kehle aufzuschlitzen, der Wunsch zur Flucht war weitaus größer. Seine Instinkte schrien danach sein eigenes Leben zu retten. „Eins, zwei, drei.“, zählte Alexander und bei drei spannte Draco seine Muskeln an, mobilisierte das letzte bisschen Kraft, was er noch besaß und stemmte sich in den Sattel. Es war ein herrliches Gefühl, wieder auf Hera zu sitzen. Doch so sehr er es genoss, er schaffte es nicht, das Gleichgewicht zu halten. Er wäre wohl herunter geglitten, wenn Alexander ihn nicht von der Seite gestützt hätte. „Schling die Zügel um deine Handgelenkt und beug dich nach vorn. Halt dich an ihrer Mähne fest.“, sagte Annies Bruder und widerstandslos tat Draco wie ihm geheißen. Unbewusst nahm er war, wie Alexander Seile um seinen Körper band und sie am Sattel befestigte. Draco spürte Heras Mähne unter seinen Finger und ihre Wärme, er roch ihren Duft und es schien ihm, als würde sie ihn forttragen und alles andere vergessen lassen. Annie sah wie Alexander auf Wüstensand aufsaß und Heras Zügel nahm. Sie biss sich wieder auf die Lippen vor Anspannung und schickte stumme Gebete zum Himmel. Alexander würde Draco aus der Stadt führen. Von dort aus, müsste er den Weg allein finden, aber er brauchte nur geradeaus zu reiten. Etwas, was Hera vielleicht auch allein schaffen würde. Nach ungefähr zwei Tagen würde er die Grenze erreichen. Natürlich musste er zwischendurch rasten. In seinen Satteltaschen war genug Proviant, dass er sich darüber keine Gedanken machen musste. Und Wasser würde er in den Flüssen finden, an denen er vorbei kommen würde. Sie musste sich keine Sorgen mehr machen, versuchte sie sich einzureden. Das schlimmste war überstanden. Sie hatten es geschafft ihn aus dem Schloss herauszuschaffen. Das war alles was zählte. Dennoch konnte sie nicht aufhören zu weinen. Der Gedanke ihn nie wiederzusehen, lag schwer auf ihrem Herzen. Sein Kuss brannte noch auf ihren Lippen und Annie wusste, dass sie ihn nie vergessen würde. Ein Leben ohne ihn, zwischen den dicken Mauern, kaum ihr unendlich lang vor. Annie spürte einen kleinen Teil von sich sterben. Sie sah wie Alexander Hera zum Tor führte. Draco lag mehr auf ihr, als das er saß. Sie wünschte, er würde sich noch einmal umdrehen. Es geschah nicht. Das letzte was sie von ihm sah, war sein blondes Haar, welches direkt vom Vollmondlicht angestrahlt wurde und Silber leuchtete. Sie ging die steinerne Wendeltreppe nach oben. Inzwischen herrschte fast Stille in der Burg. Ihr Herz schlug schmerzhaft in ihrer Brust, doch Annie wusste, dass dieser Schmerz so schnell nicht gehen würde. Die Wunde würde für immer dort bleiben. Mit dem Handrücken wischte sie sich eine weitere Träne von der Wange. Sie wollte nur noch in ihr Zimmer und sich unter den Decken verkriechen, um anschließend in ihr Kissen weinen zu können. Niemand würde sie hören. Niemand würde sie fragen. Sie wollte allein sein in ihrem Kummer und Trauer. Und sie war so furchtbar müde. Gleich würde sie in ihrem Zimmer sein, dachte sie, als sie den breiten Absatz erreichte, der um einen Bogen führte. Sie würde am nächsten Tag nicht aufstehen und sich mit Unwohlsein entschuldigen. „Eine äußerst interessante Nacht, findet ihr nicht?“, erklang plötzlich eine Stimme über ihr. Annie blieb ruckartig stehen und starrte mit weitaufgerissenen Augen nach oben. Schlagartig wurde ihr Kalt. Auf der obersten Stufe stand Jonathan Semerloy. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)