Noël Oublié von Indy (Vergessene Weihnacht) ================================================================================ Kapitel 1: Souvenirs d'une Vie ------------------------------ Für Ito. () Nur langsam und unter Stöhnen kam der Junge wieder zu sich. Sein Kopf! Sein Kopf schmerzte. Von Sekunde zu Sekunde entzog sich ihm die gnädige Benommenheit, die ihm diesen Schmerz vorenthalten hatte. Und von Sekunde zu Sekunde steigerte sich dieser Schmerz bis ins Unendliche. Aufhören!, schrie es in seinem Kopf. Wenn er auch nur noch einen Augenblick länger mit dieser Qual leben musste, würde er wahnsinnig! Was immer geschehen war – es wäre besser für ihn gewesen, dabei gestorben zu sein. Eine schier unerträgliche Ewigkeit lang lag er unbewegt weiter dort; an einem 'dort', von dem er nicht einmal sagen konnte, wo es war. Doch diese schreiende, tobende Pein übertönte jegliche Gedanken in seinem Verstand und erstickte aufkommendes Denken schon im Keim. Hätte er noch Zeitgefühl, wüsste er, dass er bereits vier Stunden auf dem harten Stroh eines fremden Stallbodens lag, seit er wach war – und davor schon... wer konnte schon sagen, wie lange? Schließlich wurde ihm jedoch trotz allem bewusst, dass dieser Schmerz wohl nicht mehr nachlassen würde. Und wenn er weiter nur hier lag, dann würde er sterben. Vielleicht war das besser?, meldete sich eine leise Stimme in seinem Kopf, die mit einem unheimlichen Flüstern sogar das hysterische Schreien des Kopfwehs zum Schweigen brachte. Die Schmerzen werden nicht vergehen – du liegst hier schon zu lange, um es nicht besser zu wissen. Vielleicht solltest du einfach sterben und dich von alledem befreien? Einen Moment hielt er den Atem an. Das Angebot seines Unterbewusstseins war verlockend.... Aber irgendetwas ließ ihn nicht zur Ruhe kommen und mehr oder minder friedlich ein letztes mal einschlafen. Irgendetwas in ihm drin hielt ihn mit aller Gewalt bei Bewusstsein. Du kannst nicht sterben! Noch nicht. Schmerzen verschluckten diesen Gedanken wie erwartet schon kurz nachdem er aufgekeimt war. Sterben.... Schlafen... etwas anderes gab es für ihn nicht mehr. Du darfst nicht wahnsinnig werden. Noch nicht. Mit einer nie dagewesenen Macht drängte sich nur noch dieser einzige Gedanke an die Oberfläche. Lebe. Wach auf. Es gibt noch etwas für dich zu tun. Der Schmerz war ertragbar. Er MUSSTE einfach erträglich werden. Und so versuchte der Junge zum ersten mal, seit er wach war, seine Augen zu öffnen, auch wenn er sie lieber vor der Welt, die ihn dort erwartete, verschlossen hätte. Doch das Leid, dass er bisher ertragen hatte, war gar nichts verglichen zu dem, was ihn nun durchfuhr... „Mein Auge!“ Er erschrak für einen Moment über seine eigene Stimme, die völlig von Sinnen schien, wie sie die unheimliche Totenstille um ihn herum durchriss. Die Stimme eines Wahnsinnigen. Sein rechtes Auge fühlte sich an, als habe es jemand mit einem stumpfen, glimmenden Kohlenstück langsam ausgebrannt... Sein Blick war verschwommen. Die Welt um ihn herum drehte sich. Schneller und schneller. Obwohl er auf dem Boden zusammengesunken war, glaubte er, den Halt zu verlieren. Als ob er in einen nicht endenden Abgrund fiel – geradewegs auf das Fegefeuer der Hölle zu. Ohnmacht drohte erneut, ihn zu überwältigen. Du darfst nicht sterben! Noch nicht. Mit einem Schlag riss er die Augen wieder auf und ignorierte den Schmerz, der dies quittierte, so gut er konnte. Er hatte noch etwas zu erledigen, das wichtiger war, als sein Leben. Sein gesamtes Denken wurde von diesem Dogma beherrscht. Mühsam richtete er sich auf, schwankte, wurde von den eigenen, taumelnden Füßen gegen eine harte Holzwand geworfen – nur um zu bemerken, dass außer seinem Hinterkopf und seinem Auge auch noch seine Schulter höllisch schmerzte. Aber er stand. Und jetzt musste er sich auf den Weg machen, die Sache zu Ende zu bringen! Ein wackeliger Schritt brachte ihn an der Wand entlang nach vorne. So würde es gehen. Doch wie vom Blitz getroffen erstarrte er. Schlagartig wurde ihm etwas bewusst.... er wusste nicht, WAS er noch zu Ende bringen musste. Aber... wenn es doch so wichtig war, dass sein eigenes Leben dagegen nichtig erschien; wie hatte er es dann vergessen können? Nur die Ruhe bewahren..., sagte er sich selbst. Es wird dir einfallen. Du würdest es nicht vergessen, Junge. Moment. … 'Junge'...? Wer... war er? Das musste alles ein böser Traum sein! Ein Mensch konnte solche Schmerzen nicht überleben. Und ein Mensch konnte nicht einfach alles vergessen! Mit zitternder Hand wollte er sich an die Stirn fassen, um sich eine schweißgetränkte, schwarze Haarsträhne aus der sich langsam klärenden Sicht zu streichen. Doch das, was sich da vor sein Gesicht schob, war nicht seine Hand! Nein! Eher die des Leibhaftigen. Rot, wie der Teufel. Er ertappte sich dabei, wie ihm ein hysterisches Lachen über die Lippen kam und er verstört auf diese Hand starrte, die ihm zwar gehorchte, aber ihm nicht gehören konnte. Wer immer er bisher gewesen war – jetzt war er eindeutig näher am Wahnsinn, als sein ganzes Leben zuvor. Die beinahe schwarze Masse, die an seinen Händen klebte, bewegte sich. Er musste alle seine Sinne anstrengen, um erkennen zu können, dass es tropfte. Also war das nicht die Farbe seiner Hand... irgendwie war er erleichtert, obwohl er sehr wohl wusste, was es dann war: Blut. Unmengen von zähem, schwarzen Blut. Aber das hieß, er musste sich beeilen. Wenn das sein eigenes Blut war, hatte er nicht mehr viel Zeit, um die Dinge zu richten. Er brauchte Hinweise. Egal auf was; wo er war, was passiert war, was er zu erledigen hatte, oder auch nur WER er war. Fieberhaft schweifte sein Blick, der noch immer nicht richtig klar werden wollte, über die Umgebung. Ein Stall. Heu. Und noch mehr Blut. Und in all dem Blut lag noch etwas... doch es war zwecklos, in diesem Zustand etwas erkennen zu wollen, dazu reichte seine Sehfähigkeit momentan einfach nicht. Sein trüber Blick streifte etwas, dass er mit einigem Zweifel für eine Pferdetränke halten konnte. Er tat einen wankenden Schritt in die Richtung des Gebildes. Der zweite Fuß folgte langsam... dann fiel er hin. Es musste einfach eine Pferdetränke sein! So gut es ging kroch er über den Boden weiter. In einer Pferdetränke war Wasser und damit konnte er das Blut aus seinen Augen waschen. Mit normalem Sehvermögen würde er schon rausfinden, was hier vor sich ging. Die Tränke kam langsam näher und nahm Gestalt an, doch er wurde immer unruhiger. Seine innere Stimme sagte ihm, dass er sich beeilen musste! Wenn er nicht rechtzeitig kam, war alles zu spät... Und mit der Ungeduld in ihm, wuchs die Wut auf sich selbst, dass sein verdammter Kopf einfach so vergessen hatte, warum sein Leben umsonst gewesen sein würde, wenn er nicht bald alles in Ordnung brachte – was auch immer dieses 'alles' sein mochte. Tatsächlich war sein Blick klarer geworden, nachdem er sich gewaschen hatte, doch hatte er mehr das Gefühl, dass er sich einfach langsam an die Umstände gewöhnte und das nicht dem Wasser zu verdanken hatte. Aber immerhin war er nun ein Stück wacher und die Ohnmacht drohte ihn nicht mehr zu überwältigen. Seine Knie schienen nicht mehr bei der geringsten Anstrengung versagen zu wollen. Die Wasseroberfläche unter ihm hielt nun endlich so weit still, dass er sich darin spiegeln konnte. Mit glasigem Blick starrte aus der Tränke ein etwa 14jähriger Junge durch ihn hindurch. Kein Wunder, dass er nicht richtig sehen konnte! Sein Spiegelbild hatte nur noch ein Auge... Auf der rechten Seite klaffte ihm nur eine schwarze, leere Augenhöhle entgegen, wie ein Schandmal. Er wusste nicht warum, doch er wurde ärgerlich! Er wollte dieses.... Ding nicht mehr länger ansehen. Aber die Zeit saß ihm im Nacken und das waren vermutlich die einzigen Hinweise, die er auf seine Identität hatte. Beeile dich, Freundchen!, ermahnte er sich selbst und löste die schwarzen Locken hinter seinem rechten Ohr, sodass er zumindest diesen schwarzen Schandfleck in seinem Gesicht nicht mehr ansehen musste, solange ein Vorhang nachtfarbener Haare davor fiel und ihn verdeckte. Er stellte fest, dass er eine befremdende Hakennase hatte... eine kurze Berührung verriet ihm, dass sie einfach nur gebrochen war. Klasse! War vielleicht IRGENDETWAS an seinem Körper noch intakt? Die Platzwunde an seiner Stirn, das klaffende, blutspuckende Loch, dass er in seinem Hinterkopf vermutete und die rotglühende, frische Narbe, die aus der verdeckten Gesichtshälfte hervorlugte antworteten mit einem eindeutigen 'nein'. „Hey, du“, sagte er ruhig zu dem Spiegelbild, das noch immer einen Hass in ihm aufkeimen ließ, den er nicht so recht einzuordnen wusste. „Wer bist du?“ Doch das bleiche Gesicht unter ihm gab keine Antwort. Er war hier fertig. Wütend schlug er mit der flachen Hand auf die Wasseroberfläche und zerstörte diesen unfähigen Jungen, der sich nicht einmal an seine Aufgabe erinnern konnte. Jetzt war nur noch der andere, genauso unfähige Junge übrig, der das gleiche Problem hatte. Er. Aber vielleicht war das ein Hinweis? Er hasste sich selbst. Warum? Irgend etwas musste er getan haben, dass.... Dunkelrote Haare wehten vor seinen Augen im Wind vorbei, begleitet von einem kindlichen, fröhlichen Lachen. Erschrocken blinzelte er. Und schon war das Bild verschwunden. Kein Wind mehr, keine roten Haare und kein Lachen. Er beschloss, das kurze Bild, dass sich ihm geboten hatte, in Erinnerung zu behalten, denn er hatte das starke Gefühl, es schon einmal gesehen zu haben. Endlich eine Spur zu seinem früheren Leben! Erst einmal jedoch musste er sich weiter hier umsehen. Ja, er war eindeutig in einem Stall. Und dort, wo der obere Heuboden aufhörte, war hier unten auf der Erde das Stroh zusammengedrückt und blutbefleckt... Offenbar war er von da oben heruntergefallen und hatte dann das Bewusstsein verloren. Und dort war das blutüberströmte Etwas, das er vorhin nicht hatte einordnen können: Ein lebloser Körper. Aber dort stand etwas hervor, was irgendwie fehl am Platz wirkte. Mit kräftiger werdenden Schritten kam er dem Toten näher. Der Gegenstand war ein Degen, der ihm in der Brust steckte. Suchend glitt die Hand des Jungen an seine eigene Taille. Tatsächlich! Eine Degenscheide. Unwirsch zog er den Degen mit einem Ruck aus dem Leichnam. Irgend etwas sagte ihm, dass er keine Rücksicht auf die Ehre dieses Bastards nehmen musste... Genau genommen hatte er sogar das Verlangen, dem Mistkerl ins Gesicht zu spucken... Und wenn er die Zeichen richtig deutete, hatte er ihn schließlich auch erstochen. Er war jetzt schon einige Zeit wieder auf den Beinen und alles, was er bisher spüren konnte, waren Schmerz und Hass... Er fragte sich, was für ein Leben er gehabt hatte, dass das nun die einzigen Überbleibsel davon waren. Vorsichtig strich er über den Griff des Degens. Er war unzweifelhaft sehr wertvoll... Ein Familienwappen, in dem ein reichlich verziertes „R“ prangte, kam zum Vorschein. Plötzlich wurden die goldbeschlagenen Türen aufgerissen! Eine Hand griff in den Schrank hinein, nahm hastig den Degen, eilte davon... Ein Mann mit hässlichem Grinsen kam ihm entgegen. „.... rächen?“ Der Degen stach zu, der Kerl fiel. Er selbst verlor das Gleichgewicht, wurde von den Füßen gerissen, fiel ebenfalls.... Mit einem kurzen Schrei kam er wieder zu sich. Diese Erinnerungsfetzen waren scheußlich! Und sie brachen einfach so in sein Hier und Jetzt ein, das er zuerst gar nicht wusste, was geschah. Aber er war sich ganz sicher, dass das, was er gerade vor seinem inneren Auge gesehen hatte, wirklich einmal geschehen war. Vor gar nicht langer Zeit... Er hatte diesen Degen gestohlen, um jenen Mann zu töten... 'Rächen'. Was meinte er mit 'Rächen'? Jetzt erst bemerkte er, dass etwas Feuchtes sein Gesicht hinunter rann. … Tränen? Ein resignierendes Lachen ließ ihn aufschrecken. „Ach, du bist einfach unverbesserlich...“ Die langen, roten Haare wurden um ihr schmales Gesicht geschleudert, als sie den Kopf schüttelte. „Wir kommen aus völlig verschiedenen Ständen. Und außerdem bin ich viel zu alt für dich. Ich bin doch alt und grau, wenn du mal alt genug zum heiraten bist, Lucien!“ Aufhören! „Ich werde dich heiraten! Das schwöre ich bei der Reinheit des Siegelrings der Rocheforts“, maulte ein Junge halb beleidigt, halb entschlossen. „Das wirst du dann schon noch sehen. Und wenn ich erst mal Graf bin, dann brauche ich es nur zu befehlen.“ Aufhören!! „Bis dahin bin ich längst mit Monsieur Livarot verheiratet“, sagte das Mädchen jetzt ernst und verdrehte die Augen. „Mein Vater hat mich ihm schon versprochen.“ Sie legte eine Hand in den Nacken und sah gen Himmel, als ob es da ein göttliches Gesetz gäbe, dass sie nicht weitersprechen ließ. Damit war das Gespräch für sie beendet und sie drehte sich herum, blickte nur noch einmal kurz über die Schulter zurück und sah ihn streng an. „AUFHÖREN!“ Nach diesem markerschütternden Schrei brach die Stimme des Jungen, aber endlich war er wieder im Hier und Jetzt. Seine Knie gaben nach und er landete heftig auf der harten Erde. Blut strömte aus seiner toten Augenhöhle sein Gesicht hinab – seine Tränen hatte er schon längst alle vergossen. Und so saß nun Lucien de Rochefort, der Vicomte dieses Landguts, zerstört am Boden und starrte auf den einst so reinen und nun blutbefleckten Siegelring an seinem Finger. „Jeanne... Vergib mir...!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)