Noël Oublié von Indy (Vergessene Weihnacht) ================================================================================ Kapitel 1: Souvenirs d'une Vie ------------------------------ Für Ito. () Nur langsam und unter Stöhnen kam der Junge wieder zu sich. Sein Kopf! Sein Kopf schmerzte. Von Sekunde zu Sekunde entzog sich ihm die gnädige Benommenheit, die ihm diesen Schmerz vorenthalten hatte. Und von Sekunde zu Sekunde steigerte sich dieser Schmerz bis ins Unendliche. Aufhören!, schrie es in seinem Kopf. Wenn er auch nur noch einen Augenblick länger mit dieser Qual leben musste, würde er wahnsinnig! Was immer geschehen war – es wäre besser für ihn gewesen, dabei gestorben zu sein. Eine schier unerträgliche Ewigkeit lang lag er unbewegt weiter dort; an einem 'dort', von dem er nicht einmal sagen konnte, wo es war. Doch diese schreiende, tobende Pein übertönte jegliche Gedanken in seinem Verstand und erstickte aufkommendes Denken schon im Keim. Hätte er noch Zeitgefühl, wüsste er, dass er bereits vier Stunden auf dem harten Stroh eines fremden Stallbodens lag, seit er wach war – und davor schon... wer konnte schon sagen, wie lange? Schließlich wurde ihm jedoch trotz allem bewusst, dass dieser Schmerz wohl nicht mehr nachlassen würde. Und wenn er weiter nur hier lag, dann würde er sterben. Vielleicht war das besser?, meldete sich eine leise Stimme in seinem Kopf, die mit einem unheimlichen Flüstern sogar das hysterische Schreien des Kopfwehs zum Schweigen brachte. Die Schmerzen werden nicht vergehen – du liegst hier schon zu lange, um es nicht besser zu wissen. Vielleicht solltest du einfach sterben und dich von alledem befreien? Einen Moment hielt er den Atem an. Das Angebot seines Unterbewusstseins war verlockend.... Aber irgendetwas ließ ihn nicht zur Ruhe kommen und mehr oder minder friedlich ein letztes mal einschlafen. Irgendetwas in ihm drin hielt ihn mit aller Gewalt bei Bewusstsein. Du kannst nicht sterben! Noch nicht. Schmerzen verschluckten diesen Gedanken wie erwartet schon kurz nachdem er aufgekeimt war. Sterben.... Schlafen... etwas anderes gab es für ihn nicht mehr. Du darfst nicht wahnsinnig werden. Noch nicht. Mit einer nie dagewesenen Macht drängte sich nur noch dieser einzige Gedanke an die Oberfläche. Lebe. Wach auf. Es gibt noch etwas für dich zu tun. Der Schmerz war ertragbar. Er MUSSTE einfach erträglich werden. Und so versuchte der Junge zum ersten mal, seit er wach war, seine Augen zu öffnen, auch wenn er sie lieber vor der Welt, die ihn dort erwartete, verschlossen hätte. Doch das Leid, dass er bisher ertragen hatte, war gar nichts verglichen zu dem, was ihn nun durchfuhr... „Mein Auge!“ Er erschrak für einen Moment über seine eigene Stimme, die völlig von Sinnen schien, wie sie die unheimliche Totenstille um ihn herum durchriss. Die Stimme eines Wahnsinnigen. Sein rechtes Auge fühlte sich an, als habe es jemand mit einem stumpfen, glimmenden Kohlenstück langsam ausgebrannt... Sein Blick war verschwommen. Die Welt um ihn herum drehte sich. Schneller und schneller. Obwohl er auf dem Boden zusammengesunken war, glaubte er, den Halt zu verlieren. Als ob er in einen nicht endenden Abgrund fiel – geradewegs auf das Fegefeuer der Hölle zu. Ohnmacht drohte erneut, ihn zu überwältigen. Du darfst nicht sterben! Noch nicht. Mit einem Schlag riss er die Augen wieder auf und ignorierte den Schmerz, der dies quittierte, so gut er konnte. Er hatte noch etwas zu erledigen, das wichtiger war, als sein Leben. Sein gesamtes Denken wurde von diesem Dogma beherrscht. Mühsam richtete er sich auf, schwankte, wurde von den eigenen, taumelnden Füßen gegen eine harte Holzwand geworfen – nur um zu bemerken, dass außer seinem Hinterkopf und seinem Auge auch noch seine Schulter höllisch schmerzte. Aber er stand. Und jetzt musste er sich auf den Weg machen, die Sache zu Ende zu bringen! Ein wackeliger Schritt brachte ihn an der Wand entlang nach vorne. So würde es gehen. Doch wie vom Blitz getroffen erstarrte er. Schlagartig wurde ihm etwas bewusst.... er wusste nicht, WAS er noch zu Ende bringen musste. Aber... wenn es doch so wichtig war, dass sein eigenes Leben dagegen nichtig erschien; wie hatte er es dann vergessen können? Nur die Ruhe bewahren..., sagte er sich selbst. Es wird dir einfallen. Du würdest es nicht vergessen, Junge. Moment. … 'Junge'...? Wer... war er? Das musste alles ein böser Traum sein! Ein Mensch konnte solche Schmerzen nicht überleben. Und ein Mensch konnte nicht einfach alles vergessen! Mit zitternder Hand wollte er sich an die Stirn fassen, um sich eine schweißgetränkte, schwarze Haarsträhne aus der sich langsam klärenden Sicht zu streichen. Doch das, was sich da vor sein Gesicht schob, war nicht seine Hand! Nein! Eher die des Leibhaftigen. Rot, wie der Teufel. Er ertappte sich dabei, wie ihm ein hysterisches Lachen über die Lippen kam und er verstört auf diese Hand starrte, die ihm zwar gehorchte, aber ihm nicht gehören konnte. Wer immer er bisher gewesen war – jetzt war er eindeutig näher am Wahnsinn, als sein ganzes Leben zuvor. Die beinahe schwarze Masse, die an seinen Händen klebte, bewegte sich. Er musste alle seine Sinne anstrengen, um erkennen zu können, dass es tropfte. Also war das nicht die Farbe seiner Hand... irgendwie war er erleichtert, obwohl er sehr wohl wusste, was es dann war: Blut. Unmengen von zähem, schwarzen Blut. Aber das hieß, er musste sich beeilen. Wenn das sein eigenes Blut war, hatte er nicht mehr viel Zeit, um die Dinge zu richten. Er brauchte Hinweise. Egal auf was; wo er war, was passiert war, was er zu erledigen hatte, oder auch nur WER er war. Fieberhaft schweifte sein Blick, der noch immer nicht richtig klar werden wollte, über die Umgebung. Ein Stall. Heu. Und noch mehr Blut. Und in all dem Blut lag noch etwas... doch es war zwecklos, in diesem Zustand etwas erkennen zu wollen, dazu reichte seine Sehfähigkeit momentan einfach nicht. Sein trüber Blick streifte etwas, dass er mit einigem Zweifel für eine Pferdetränke halten konnte. Er tat einen wankenden Schritt in die Richtung des Gebildes. Der zweite Fuß folgte langsam... dann fiel er hin. Es musste einfach eine Pferdetränke sein! So gut es ging kroch er über den Boden weiter. In einer Pferdetränke war Wasser und damit konnte er das Blut aus seinen Augen waschen. Mit normalem Sehvermögen würde er schon rausfinden, was hier vor sich ging. Die Tränke kam langsam näher und nahm Gestalt an, doch er wurde immer unruhiger. Seine innere Stimme sagte ihm, dass er sich beeilen musste! Wenn er nicht rechtzeitig kam, war alles zu spät... Und mit der Ungeduld in ihm, wuchs die Wut auf sich selbst, dass sein verdammter Kopf einfach so vergessen hatte, warum sein Leben umsonst gewesen sein würde, wenn er nicht bald alles in Ordnung brachte – was auch immer dieses 'alles' sein mochte. Tatsächlich war sein Blick klarer geworden, nachdem er sich gewaschen hatte, doch hatte er mehr das Gefühl, dass er sich einfach langsam an die Umstände gewöhnte und das nicht dem Wasser zu verdanken hatte. Aber immerhin war er nun ein Stück wacher und die Ohnmacht drohte ihn nicht mehr zu überwältigen. Seine Knie schienen nicht mehr bei der geringsten Anstrengung versagen zu wollen. Die Wasseroberfläche unter ihm hielt nun endlich so weit still, dass er sich darin spiegeln konnte. Mit glasigem Blick starrte aus der Tränke ein etwa 14jähriger Junge durch ihn hindurch. Kein Wunder, dass er nicht richtig sehen konnte! Sein Spiegelbild hatte nur noch ein Auge... Auf der rechten Seite klaffte ihm nur eine schwarze, leere Augenhöhle entgegen, wie ein Schandmal. Er wusste nicht warum, doch er wurde ärgerlich! Er wollte dieses.... Ding nicht mehr länger ansehen. Aber die Zeit saß ihm im Nacken und das waren vermutlich die einzigen Hinweise, die er auf seine Identität hatte. Beeile dich, Freundchen!, ermahnte er sich selbst und löste die schwarzen Locken hinter seinem rechten Ohr, sodass er zumindest diesen schwarzen Schandfleck in seinem Gesicht nicht mehr ansehen musste, solange ein Vorhang nachtfarbener Haare davor fiel und ihn verdeckte. Er stellte fest, dass er eine befremdende Hakennase hatte... eine kurze Berührung verriet ihm, dass sie einfach nur gebrochen war. Klasse! War vielleicht IRGENDETWAS an seinem Körper noch intakt? Die Platzwunde an seiner Stirn, das klaffende, blutspuckende Loch, dass er in seinem Hinterkopf vermutete und die rotglühende, frische Narbe, die aus der verdeckten Gesichtshälfte hervorlugte antworteten mit einem eindeutigen 'nein'. „Hey, du“, sagte er ruhig zu dem Spiegelbild, das noch immer einen Hass in ihm aufkeimen ließ, den er nicht so recht einzuordnen wusste. „Wer bist du?“ Doch das bleiche Gesicht unter ihm gab keine Antwort. Er war hier fertig. Wütend schlug er mit der flachen Hand auf die Wasseroberfläche und zerstörte diesen unfähigen Jungen, der sich nicht einmal an seine Aufgabe erinnern konnte. Jetzt war nur noch der andere, genauso unfähige Junge übrig, der das gleiche Problem hatte. Er. Aber vielleicht war das ein Hinweis? Er hasste sich selbst. Warum? Irgend etwas musste er getan haben, dass.... Dunkelrote Haare wehten vor seinen Augen im Wind vorbei, begleitet von einem kindlichen, fröhlichen Lachen. Erschrocken blinzelte er. Und schon war das Bild verschwunden. Kein Wind mehr, keine roten Haare und kein Lachen. Er beschloss, das kurze Bild, dass sich ihm geboten hatte, in Erinnerung zu behalten, denn er hatte das starke Gefühl, es schon einmal gesehen zu haben. Endlich eine Spur zu seinem früheren Leben! Erst einmal jedoch musste er sich weiter hier umsehen. Ja, er war eindeutig in einem Stall. Und dort, wo der obere Heuboden aufhörte, war hier unten auf der Erde das Stroh zusammengedrückt und blutbefleckt... Offenbar war er von da oben heruntergefallen und hatte dann das Bewusstsein verloren. Und dort war das blutüberströmte Etwas, das er vorhin nicht hatte einordnen können: Ein lebloser Körper. Aber dort stand etwas hervor, was irgendwie fehl am Platz wirkte. Mit kräftiger werdenden Schritten kam er dem Toten näher. Der Gegenstand war ein Degen, der ihm in der Brust steckte. Suchend glitt die Hand des Jungen an seine eigene Taille. Tatsächlich! Eine Degenscheide. Unwirsch zog er den Degen mit einem Ruck aus dem Leichnam. Irgend etwas sagte ihm, dass er keine Rücksicht auf die Ehre dieses Bastards nehmen musste... Genau genommen hatte er sogar das Verlangen, dem Mistkerl ins Gesicht zu spucken... Und wenn er die Zeichen richtig deutete, hatte er ihn schließlich auch erstochen. Er war jetzt schon einige Zeit wieder auf den Beinen und alles, was er bisher spüren konnte, waren Schmerz und Hass... Er fragte sich, was für ein Leben er gehabt hatte, dass das nun die einzigen Überbleibsel davon waren. Vorsichtig strich er über den Griff des Degens. Er war unzweifelhaft sehr wertvoll... Ein Familienwappen, in dem ein reichlich verziertes „R“ prangte, kam zum Vorschein. Plötzlich wurden die goldbeschlagenen Türen aufgerissen! Eine Hand griff in den Schrank hinein, nahm hastig den Degen, eilte davon... Ein Mann mit hässlichem Grinsen kam ihm entgegen. „.... rächen?“ Der Degen stach zu, der Kerl fiel. Er selbst verlor das Gleichgewicht, wurde von den Füßen gerissen, fiel ebenfalls.... Mit einem kurzen Schrei kam er wieder zu sich. Diese Erinnerungsfetzen waren scheußlich! Und sie brachen einfach so in sein Hier und Jetzt ein, das er zuerst gar nicht wusste, was geschah. Aber er war sich ganz sicher, dass das, was er gerade vor seinem inneren Auge gesehen hatte, wirklich einmal geschehen war. Vor gar nicht langer Zeit... Er hatte diesen Degen gestohlen, um jenen Mann zu töten... 'Rächen'. Was meinte er mit 'Rächen'? Jetzt erst bemerkte er, dass etwas Feuchtes sein Gesicht hinunter rann. … Tränen? Ein resignierendes Lachen ließ ihn aufschrecken. „Ach, du bist einfach unverbesserlich...“ Die langen, roten Haare wurden um ihr schmales Gesicht geschleudert, als sie den Kopf schüttelte. „Wir kommen aus völlig verschiedenen Ständen. Und außerdem bin ich viel zu alt für dich. Ich bin doch alt und grau, wenn du mal alt genug zum heiraten bist, Lucien!“ Aufhören! „Ich werde dich heiraten! Das schwöre ich bei der Reinheit des Siegelrings der Rocheforts“, maulte ein Junge halb beleidigt, halb entschlossen. „Das wirst du dann schon noch sehen. Und wenn ich erst mal Graf bin, dann brauche ich es nur zu befehlen.“ Aufhören!! „Bis dahin bin ich längst mit Monsieur Livarot verheiratet“, sagte das Mädchen jetzt ernst und verdrehte die Augen. „Mein Vater hat mich ihm schon versprochen.“ Sie legte eine Hand in den Nacken und sah gen Himmel, als ob es da ein göttliches Gesetz gäbe, dass sie nicht weitersprechen ließ. Damit war das Gespräch für sie beendet und sie drehte sich herum, blickte nur noch einmal kurz über die Schulter zurück und sah ihn streng an. „AUFHÖREN!“ Nach diesem markerschütternden Schrei brach die Stimme des Jungen, aber endlich war er wieder im Hier und Jetzt. Seine Knie gaben nach und er landete heftig auf der harten Erde. Blut strömte aus seiner toten Augenhöhle sein Gesicht hinab – seine Tränen hatte er schon längst alle vergossen. Und so saß nun Lucien de Rochefort, der Vicomte dieses Landguts, zerstört am Boden und starrte auf den einst so reinen und nun blutbefleckten Siegelring an seinem Finger. „Jeanne... Vergib mir...!“ Kapitel 2: Infini ----------------- Er musste rekapitulieren, was geschehen war. So schwer konnte das doch nicht sein; immerhin erinnerte sich jeder normale Mensch an die vorigen paar Stunden seines Lebens – selbst die alten Tattergreise. Nur er nicht. Der junge Rochefort hockte sich auf den Boden und presste die Fingerknöchel gegen seine Schläfen, so fest er konnte. Es war völlig wahnsinnig, aber er konnte besser denken und gleichzeitig wurde sein Schmerz erträglicher, wenn er zunahm. Jeanne, seine erste Liebe. Sie war das Mädchen mit den roten Haaren. Das Mädchen, das ihn ausgelacht hatte und das behauptet hatte, es sei Schwachsinn von ihm, zu behaupten, dass er sie einmal heiraten könne. Sie war einem hässlichen, alten Nichtsnutz namens Livarot versprochen worden... Mit einem mal sah Rochefort auf. Moment mal... Etwas zögerlich erhob er sich und ging zu dem Leichnam hinüber, den er eigentlich nie wieder ansehen wollte. „Livarot“, stellte er trocken fest und zum ersten mal seit er aufgewacht war, durchfuhr ihn ein Gefühl der Genugtuung... doch irgendwie fühlte selbst das sich nicht wirklich gut an. „Tja, sieht aus, als könntest du sie jetzt nicht mehr heiraten.“ Er unterdrückte den Drang, diesem dummen Mistkerl in die Seite zu treten – aber davon hatte keiner was, denn der Tote würde es ohnehin nicht mehr spüren. Schade drum. Aber was nun? Livarot war tot, und Jeanne war sicher nicht so ganz unglücklich darüber, aber... konnte er wirklich einfach zu ihr gehen, ihr erzählen, was passiert war – oder was er glaubte, das passiert war – und standesgemäß um ihre Hand anhalten? Er erinnerte sich an sein Spiegelbild, das vorhin noch so befremdend auf ihn gewirkt hatte.... Nein, konnte er nicht. Zumindest waschen und etwas wegen seinen Wunden sollte er unternehmen – speziell gegen dieses … Loch... in seinem Gesicht. Und ob er danach Jeanne unter die Augen treten konnte, konnte er sich dann immer noch überlegen. Auf dem Heimweg rekapitulierte er noch einmal, was er in Erfahrung bringen konnte. Er war Lucien de Rochefort und hatte Jeanne heiraten wollen – ein rothaariges Mädchen, das mit ihrem Vater auf seinem baldigen Landgut lebte. Leider war dieser dieser Livarot ihm zuvorgekommen und.... und da hatte er einfach seinen Degen genommen und den Kerl abgestochen?! Also beim besten Willen, das kaufte man ja noch nicht einmal einem Irren ab, der vor Liebe vollkommen blind war! Und außerdem störte ihn noch irgend etwas an dieser Version, auch wenn er nicht greifen konnte, was es war... Ja, irgendetwas hatte ihn schon von vornherein daran gestört. Endlich auf seinem Landgut angekommen, machte er sich gar nicht die Mühe, mit den Dienern über seine Rückkehr zu reden, geschweige denn sich seinem Vater ankündigen zu lassen, der vermutlich Gift und Galle spuckte, seit er bemerkt hatte, dass sein einziger Sohn zusammen mit dem wertvollsten Degen in Familiensitz verschwunden war. So kauzig der Mann manchmal auch war, so dumm war er nicht, dass er nicht eins und eins zusammenzählen konnte. Und sollte er das schon getan haben, dann würde die strenge Seite an ihm einsetzen und für den Jungen setzte es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mehr, als nur eine Tracht Prügel. Seufzend warf Lucien sich in seinen Räumlichkeiten auf ein bereitstehendes Ledersofa, dass unter seinem Gewicht sanft knirschte. Es konnte vermutlich nicht lange dauern, bis sein Vater sich blicken ließ – und warum das Unvermeidliche hinauszögern? Die Bediensteten, die überall geschäftig über das Landgut wuselten und hier und da etwas hinbrachten, abholten, arbeiteten, hatten ihn ohnehin schon gesehen und würden es sich wohl nicht nehmen lassen, ihn zu melden. Und zu Jeanne gehen....? Irgend etwas hielt ihn davon ab. Vielleicht die Tatsache, dass er gerade ihren Verlobten getötet und obendrein noch den Grund dafür vergessen hatte... Das war sicher nicht gerade das Romantischste, was ihr bisher passiert war. In der von Rochefort gar nicht erst geschlossenen Tür erschien das Abbild eines hochgewachsenen, stattlichen Herren, schwarze Augen, rabenschwarzes Haar. Die Kleider jedoch zerknittert und rote, schlaflose Äderchen in den Augen über dem, was einem fast schon zu dunkel für Augenringe schien, als habe er vor Sorge um irgend etwas, was ihm wichtig war, nächtelang gewacht und sei auf und ab gewandert. Der Junge erschrak etwas, seinen Vater so zu sehen, immerhin hatte der ach-so-stolze Graf für gewöhnlich ein viel selbstsichereres Auftreten. Allerdings wusste Lucien trotzdem noch, was sich gehörte und stand mühsam auf, wobei sein Körper heftig protestierte, da er sich schon auf den wohlverdienten Schlaf und eine Versorgung der schlimmsten Wunden gefreut hatte. Respektvoll senkte er den Kopf und verbeugte sich, sich gut es ging, das herannahende Unwetter in Form von Schlägen und wütenden Beschimpfungen erwartend. Verdient hatte er es ja, wie er zugeben musste. Doch es kam nichts. Nach einer Weile, in der nichts weiter als das stille Atmen der geöffneten Fensterläden zu hören war, hob Lucien wieder den Kopf, um den Grafen de Rochefort verwundert anzusehen. Warum sagte er nichts...? „Mein Sohn“, murmelte der Vater nun endlich mit erstickter Stimme. Seine Augen schienen zu schwimmen. „Du lebst.“ Lucien verzog den Mund. „Vor ein paar Stunden war ich mir da noch nicht so sicher, aber... ja, Vater.“ Sollte er nicht? Irgendwie warf es ihn ziemlich aus der Bahn, seinen alten Herrn so besorgt zu sehen. Nicht einmal die seltsam herab hängende Schulter und das fehlende Auge seines Sohnes schienen ihn zu stören. Er war nur froh, dass der Junge wieder vor ihm stand. Bei ihm war... Nachdem er seine Frau durch Krankheit verloren hatte, hätte er es nicht ertragen, das einzige, was ihm noch von ihr noch geblieben war, auch nicht retten zu können; aber das würde ein Mann seines Standes und seiner Zeit niemals offen zugeben. Die Tränen aber in seinen Augen sowie die erwartete und nicht erhaltene Prügel, sagten Lucien besser, als tausend Worte es konnten, dass es so war. „Ich fürchtete, du würdest eine Dummheit begehen, nachdem Jeanne das zugestoßen ist und ich sollte Recht behalten“, sprach der Comte de Rochefort schließlich gefasster und versuchte, eine strenge Miene aufzusetzen. Jeanne... 'das zugestoßen'? Unendlich langsam hob sich Luciens noch immer verschwommener Blick, um den Augen seines Vaters zu begegnen, als plötzlich das Bild eines Mädchens vor ihm aufflammte... die Hände wie zum Gebet gefaltet, sorgfältig in ein weißes Kleid gehüllt, die flammend roten Haare in das Rot des Samts unter ihr übergehend. Ein Sarg.... „Nein“, stieß er atemlos hervor und starrte seinen Vater an. Jeanne war tot? Das konnte nicht sein! Das DURFTE nicht sein. Bevor er selbst wusste, was er tat, hatte er seinen armen alten Herrn am Kragen gepackt und schüttelte ihn wütend. „Was ist geschehen?“ Wenn Jeanne tot war, wieso hätte er dann noch um sie kämpfen sollen? „Du weißt nur zu gut, was geschehen ist“, antwortete sein Vater überraschend ruhig, wenn auch etwas zornig darüber, wie respektlos sein Sohn plötzlich mit ihm umging. Doch in Anbetracht der Tatsachen, war das vielleicht zu verstehen... „Jeanne ging zu Monsieur Livarot, um ihm zu sagen, dass sie ihn nicht heiraten würde, weil sie sich in den Vicomte de Rochefort verliebt hat.“ Endlich ließ Lucien von seinem Vater ab und trat zurück. Bei diesen Worten schluckte er hart. Jeanne liebte ihn doch? Sie hatte sich wirklich für ihn entschieden, und.... „und vollkommen außer sich brachte er das arme Mädchen dann um“, endete sein Vater plötzlich mit einer grausam ruhigen Stimme. Der Junge hatte schon wieder das Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Er schwankte, hielt sich gerade noch an der Lehne des Sofas fest. Sofort darauf gaben seine Knie nach und er fand sich auf dem Boden wieder. „Du hast sie gerächt, nicht wahr?“, fragte sein Vater mit Grabesmiene. Lucien gab keine Antwort, doch das verstand der alte Rochefort richtiger weise als Bestätigung. „Etwas anderes hatte ich von einem moralischen Mann auch nicht erwartet.“ Ein Kompliment mit vernichtender Bedeutung..... Jeanne war tot. Um sich von dieser Erinnerung zu erholen – das Mädchen, das so friedlich in ihrem Sarg lag aus seinem Kopf zu verbannen, brauchte der junge Rochefort beinahe den ganzen Rest des Tages und von seinem Vater erfuhr er, dass er wohl schon eine Nacht ohnmächtig im Stall gelegen haben musste, da man ihn schon seit geraumer Zeit nicht mehr hier gesehen hatte. Was Lucien jedoch die darauf folgende Nacht wachhielt, war die Gewissheit, seine wichtigste Pflicht überhaupt, vergessen zu haben und außerdem, das etwas in seiner Erinnerung ihm einen Streich zu spielen schien. Etwas an jeder einzelnen seiner Erinnerungen an Jeanne – seine Jeanne, die er doch eigentlich inn- und auswendig kannte – störte ihn. Mühsam wälzte er sich auf die Seite und bereute es direkt. Die Schulter war noch immer ausgekugelt.... zwar waren ein paar Mägde und ein Arzt gekommen, um sich um seine Verletzungen zu kümmern, aber er hatte sich nicht die Mühe gemacht, mit ihnen zu sprechen. Er war den ganzen Rest des Tages stumm geblieben. Was war geschehen.... ganz von vorne. Er stand am geöffneten Sarg des Mädchens, der zu ihm aufschrie, wie ein Klagegebet. Morgen war Heilig Abend. Warum hatte er sie nicht beschützt...? Es war seine Schuld, dass er jetzt hier sein musste, auf Jeannes Beerdigung. Seinetwegen war sie zu Livarot gegangen und hatte ihm ins Gesicht gesagt, dass sie ihn niemals heiraten würde. Seinetwegen war sie nun tot... Nach einer schier unendlichen Stille, in der er nur auf ihren Leichnam gestarrt hatte, der dort lag, als würde er nur friedlich schlafen, zog er langsam einen Dolch von seinem Gürtel. Sie wachte nicht auf. Sie schlief nicht friedlich. Vorsichtig trennte er eine Strähne ihrer roten Haare ab und wickelte sie behutsam in ein Taschentuch, das sie ihm einmal geschenkt hatte. Er hatte es wie einen Schatz gehütet – und jetzt hütete es einen noch viel wertvolleren Schatz. Das letzte, das ihm von Jeanne je bleiben würde – dem einzigen Mädchen, das er je geliebt hatte. Er sprach mit jemandem. „Heilig Abend. Wir halten unsere Versprechen.“ Damit steckte der Junge Dolch und Taschentuch wieder ein und lief sicheren Schrittes in das Anwesen der Rocheforts, trat vor den Schrank, in dem der Degen, der schon seit Jahrzehnten in Familienbesitz war, aufbewahrt wurde, nahm ihn und stellte sich damit Livarot, den er schon bald in der Nähe einer Scheune aufgespürt hatte, wo er für einen Bauern arbeitete. „Willst du sie etwa rächen, Junge?“, fragte der Mistkerl spöttisch, doch Rochefort antwortete nicht. Er stürzte sich auf ihn, wie ein Wilder und hörte erst auf zu toben, als er seinen Feind getötet hatte und selbst den Heuboden herabgestürzt und ohnmächtig geworden war. Und das war alles. Damit hatte er leben müssen. Damit und mit einem Gefühl der Leere. Rochefort blickte seinem Auge in dem dunklen, spiegelnden Fenster entgegen. Das war jetzt genau 31 Jahre und einen Tag her. Heute war Heilig Abend... und noch immer hasste er diesen Feiertag! Wie jedes Jahr hatte er diese unliebsame Erinnerung aus seinen Gedanken wieder heraufgeholt und spielte das Ganze immer und immer wieder durch. Und wie jedes Jahr stand er vor einem Rätsel – denn sein Herz sagte ihm, dass sein Verstand ihn täuschte. Die Erinnerung war falsch. Unvollständig und falsch. Aber er hatte nie herausfinden können, was wirklich geschehen war. Und was so wichtig gewesen war, dass es ihm damals keine Ruhe ließ; der einzige Grund, warum er nicht einfach gestorben war... „Lucien“, durchdrang eine angenehme, beruhigende Stimme den dichtgewobenen Teppich seiner Gedanken. Er drehte sich herum, um Lady Sabine de Winter zu erkennen, die es sich mit einem dampfenden Tee und übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Sessel bequem gemacht hatte und mit leicht geneigtem Kopf zu ihrem gleichzeitigen Rivalen, Kollegen und Liebhaber hinüber sah. „Ist etwas nicht in Ordnung?“ Er schüttelte nur den Kopf, sog das vergleichsweise harmonische Bild, das sich ihm dank ihr nun bot, in sich auf, bevor er sich wieder unschöneren Dingen widmete und erneut aus dem Fenster starrte – eigentlich gegen die Fensterscheibe. Seine Gedanken kreisten immer wieder um das Bild des rothaarigen Mädchens im weißen Totenkleid, das vor ihm im Sarg war und deren Locke er bis heute aufbewahrt, aber nie angerührt hatte. Jetzt – 31 Jahre nach alledem erst – fuhr seine Hand unendlich langsam in sein locker gebundenes Hemd und zog ein altes, aber noch immer blütenweißes Taschentuch hervor, das er immer nah an seinem Herzen trug, obwohl er doch wusste, dass es die Wunden darin nicht zu heilen vermochte. Eigentlich wollte er es nicht öffnen und damit entweihen, aber es war, als gehorchten ihm seine Finger nicht mehr, wie sie das kleine Bündel auseinanderfalteten und die darin befindliche Locke seiner ersten Liebe wieder aus der Erinnerung in die Wirklichkeit holten. Und mit einem Schlag wusste er, was ihn die ganze Zeit über schon an dem Bild des rothaarigen Mädchens in ihrem samtenen Sarg gestört hatte..... Jeanne war blond. Als Lucien sich wieder von ihr abwandte, blieb auch der Witwe nichts anderes übrig, als sich wieder ihren eigenen Gedanken zu widmen. Die von Rochefort waren schon immer ein Buch mit sieben Siegeln für sie gewesen. Weihnachten. An Heilig Abend hatte alles begonnen.... vor 31 Jahren. Sie – Charlotte Sabine de La Mosurée – war im Alter von fünf Jahren schon von zu Hause davongelaufen. Zum ersten und zum einzigen Mal.... und erfolglos, wie sich herausstellen sollte. „Was willst du hier?“, hatte ein Junge sie herrisch gefragt, als sei es seine Erde, auf der sie umherwanderte. Und wie sie später erfuhr, war es das tatsächlich. „Ich suche ein neues Zuhause“, antwortete das rothaarige Mädchen mit großen Augen. „Darf ich bei dir wohnen?“ „Geh nach Hause.“ Er hatte gerade den Menschen verloren, der ihm mehr als alles andere auf dieser Welt bedeutete – und das gerade mal im Alter von 14 Jahren. Und nun kam irgend ein Gör daher und tat so, als sei die Welt in Ordnung, als könne man tun was man wollte, als wäre es so einfach, in die Welt hinaus zu ziehen, eine neue Heimat und damit ein neues Glück zu finden. Frech hob Charlotte das Kinn. „Ich will aber nicht.“ Es interessierte ihn nicht, warum sie nicht zurück wollte. Er würde auch sicher nicht nachfragen. Das einzige, was er wollte, war seine Ruhe. Jeannes Beerdigung Abwarten. Ihr die letzte Ehre erweisen. Und dann diesen Bastard zu Grunde richten, der ihr das angetan hatte – und wenn es sein eigenes Leben kosten würde! Leider sprach Charlotte auch ungefragt weiter: „Zu Hause ist so ein doofer, neuer Hauslehrer.“ Der Junge ignorierte sie. Er sah sie nicht einmal an... „Der ist ganz eklig und widerlich“, beteuerte sie also, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie war es gewöhnt, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, denn sie war ein hübsches Kind. Und wenn dieser schlecht gelaunte Junge ihr nicht von selbst die Bewunderung und das Mitleid entgegenbrachte, die sie haben wollte, dann würde sie eben dafür sorgen. „Ich habe Angst vor ihm!“ Das entsprach der Wahrheit. Egal, wie sehr sie Aufmerksamkeit erheischen wollte, lügen würde sie niemals. Das hatten ihre Eltern ihr eingebläut. Rochefort drehte sich schwerfällig zu ihr um. „Verschwinde einfach, Kleine!“ Sie war nicht verschwunden. Im Gegenteil... Sie hing den Rest des Tages wie eine Klette an dem jungen Grafen, von dem sie bald auch den Namen erfahren hatte: Lucien de Rochefort. „Und ich bin Charlotte“, hatte das mit Sommersprossen übersäte Gesicht ihm fröhlich geantwortet. Ob er wollte, oder nicht; Rochefort erfuhr schon bald so ziemlich jede Kleinigkeit über Charlotte, die diesem Mädchen wichtig erschien. Und zu seinem Leidwesen war das eine ganze Menge... Dass sie einmal einen netten, reichen Prinzen heiraten wollte, dass ihr Vater dem Corps der Musketiere diente, dass ihre Mutter eine wunderschöne Frau mit engelsgleicher Singstimme war, und schließlich auch, dass sie von Zuhause ausgerissen war, weil ein Geistlicher sie nun unterrichten sollte, vor dem sie offensichtlich wirklich eine gewisse Angst hatte. Fast zwei Tage lang klebte sie förmlich an ihm und dann kam der Tag vor Heilig Abend – der Tag von Jeannes Beerdigung. Charlotte ließ es sich nicht nehmen, Lucien zu begleiten... leider. Aber zumindest zum Sarg würde er alleine gehen, nachdem alle weg waren. Zumindest einmal wollte er noch mit Jeanne alleine sein – sie darum anflehen, ihm zu verzeihen, dass er sie nicht hatte beschützen können. Und sie zu bitten, wieder zu ihm zurück zu kehren.... Irgendwie. Wenn es einen Gott im Himmel gab, dann bitte! Irgendwie! Zum Sargträger war er leider noch zu jung – zu klein – gewesen. So musste er hilflos dabei zusehen, wie das Ungetüm, das Jeanne nun für immer verschlingen würde, von einigen Männern, darunter auch sein Vater und der von Jeanne, in eine eigens dafür präparierte Halle getragen wurde. Er machte auf dem Absatz kehrt und folgte den wenigen Menschen, die sich von dem Mädchen noch verabschieden wollten. Doch bevor er die Tore zu besagter Halle durchschritt, machte er abrupt Halt und wandte sich zu Charlotte, als sei ihm gerade etwas unheimlich Wichtiges eingefallen: „Warum hast du Angst vor deinem Lehrer, Charlotte?“ Das Mädchen legte den Kopf schief und runzelte die kleine Stirn, als sei das doch vollkommen offensichtlich. „Er fasst mich so komisch an“, antwortete sie schließlich und er konnte an der Hand spüren, mit der sie sich an seiner Bluse festklammerte, wie sie bei dem Gedanken allein erschauderte. „Und ich mag es nicht.“ War es denn die Möglichkeit....! Entsetzt ging Lucien vor ihr auf die Knie und packte sie sanft, aber entschieden an den Schultern. „Charlotte, du lügst mich nicht an! Schwörst du bei Gott, dass du mir darüber nur die Wahrheit erzählst?“ „Beim lieben Gott“, nickte sie mit der Unschuld eines Kindes, dass an eine Lüge nicht einmal denken konnte. „Er ist komisch, wenn er mich anfasst. Und er schaut mich anders an, als wenn er Vater ansieht....“ Jetzt wurde Lucien langsam klar, warum so ein kleines Ding die Dreistigkeit aufbrachte, sich von zu Hause weg zu schleichen und dann auch noch den Anspruch zu stellen, wo anders aufgenommen zu werden! „Charlotte, das darf er nicht“, sagte Lucien, zu einem anderen Satz gar nicht fähig. Er wusste nicht, wie er das dem Kind erklären und trotzdem ihren Seelenfrieden retten sollte. „Du darfst nicht wieder zu ihm. Nie wieder, hörst du?“ Die Kleine nickte gehorsam. Das war es ja auch genau, was sie schon die ganze Zeit wollte. Zurück zu Vater und zu Maman, aber nicht zurück zu diesem Lehrer! Die wenigen Menschen, die noch in der kleinen Halle mit dem offenen Sarg gewesen waren, gingen vereinzelt mit roten Augen an ihnen vorbei und machten sich wieder auf den Weg zu ihrer Arbeit. Sie alle arbeiteten auf dem Landgut von Luciens Vater, denn dort hatte natürlich auch jeder Jeanne gekannt. Sie und ihr Vater hatten dort gewohnt und den Rocheforts gedient. Unbarmherzig sagten ihm der beißende Winterwind und die aus der Halle heraus leuchtenden Kerzen wieder, weshalb er hier war. Und das hatte nunmal Priorität. Er richtete sich wieder auf und sah einen Moment in den Raum hinein, bevor er sich noch einmal kurz dem rothaarigen Mädchen an seiner Seite zuwandte: „Ich muss bald fortgehen und ich weiß nicht, ob ich wiederkomme. Warte bis Heilig Abend hier auf mich und wenn ich nicht zurück bin, dann musst du nach Hause laufen, zu deinen Eltern – nicht zu diesem Priester. Du musst ihnen erzählen, was du mir gerade erzählt hast und du darfst nichts auslassen. Dann kommst du nie wieder in den Unterricht bei ihm. Versprich mir, dass du das tust.“ Dem Mädchen war unwohl bei dem, was er ihr da sagte, aber sein eindringlicher Ton ließ keinerlei Widerrede zu. „Ich versprech's.“ Sie zögerte. Er wollte schon hineingehen, da hielt sie ihn zurück, indem sie ihn an der Hose zupfte. „Aber versprich du mir, dass du vorher zurückkommst. Ich habe Angst alleine.“ Lucien stockte. Das konnte er nicht versprechen. Fechten gelernt hatte er, ja. Aber einen echten Kampf auf Leben und Tod; ein Duell geführt... noch nie! Und dann auch noch gegen einen Erwachsenen. Sein einziger Hoffnungsschimmer war, dass Livarot nicht adelig war und keine Ahnung hatte, wie man einen Degen hielt – wenn Rochefort Glück hatte. Er wollte ihr diese Bitte nach einem Versprechen schon abschlagen, als er in ihren Augen sah, dass sie dieWahrheit sprach: Sie hatte Angst. Und zwar berechtigt. Es stand alles für sie auf dem Spiel. Nicht nur ihre Existenz im Diesseits, sondern auch noch ihr Schicksal im Jenseits. Fegefeuer oder Himmel. Er hatte Jeanne schon im Stich gelassen, er würde nicht noch ein unschuldiges Mädchen einem so grausamen Schicksal in die Arme laufen lassen! Selbst Gott musste wollen, dass er rechtzeitig zurückkehrte – nicht um seinetwillen, sondern für Charlotte. Lucien nickte. „Ich verspreche es dir.“ Während er in die Halle ging und sich von Jeanne verabschiedete, blieb Charlotte davor stehen und lugte nur vorsichtig durch die schmiedeeisernen Tore, die das Reich der Lebenden von der Schwelle des Todes – von Jeannes Reich – trennte. Sie konnte erkennen, wie ihr neugewonnener Freund etwas zu dem hübschen Mädchen murmelte, das so friedlich da in ihrem eigenartigen Bett schlief. Sie sah zu, wie er ihr ein paar Haare abschnitt, sie einwickelte und einsteckte. Dann wandte er sich wieder ihr zu und sagte: „Heilig Abend. Wir halten unsere Versprechen.“ Sie nickten sich gegenseitig zu und Lucien ging mit festentschlossenen Schritten, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte, davon. Und in diesem Moment wurde ihr plötzlich klar, dass sie den Jungen nie wieder sehen würde. Charlotte ging brav zum Landgut zurück und Jeannes Vater kümmerte sich diesen Tag lang um sie.... und schließlich brach jener Tag an, den wir Heilig Abend zu nennen pflegen. Der Junge war nicht zurückgekehrt. Aber sie musste ihr Versprechen halten. Dafür war ein Versprechen doch da, oder? Die Angst in sich schluckte sie schweren Herzens hinunter und machte sich auf den Heimweg, den sie tatsächlich fand, als hielte ein Engel schützend seine Hand über sie. Charlotte lief zu ihren aufgebrachten Eltern, deren älteste Tochter einfach aus heiterem Himmel verschwunden und auf das Landgut der Rocheforts geflüchtet war und sie nahmen sie zwar einerseits zornig über ihren Ungehorsam, einfach weg zu laufen, andererseits jedoch unendlich froh über ihre Rückkehr, wieder auf.... Und das war der Moment, in dem der Schutzengel fiel. Und mit ihm das Mädchen, das man damals Charlotte nannte. Ihre Eltern glaubten ihr kein Wort, ließen sie nicht ausreden und sprachen mit dem Mann darüber, den sie am meisten fürchtete: Der Priester, der sie in Bibelkunde und Gottestreue unterrichtete. In jener Nacht wurde ein grauenhaftes Verbrechen an einem Kind verübt, das für Charlotte auf ewig unaussprechlich blieb. Das alleine jedoch reichte noch lange nicht an das Schicksal heran, das ihr vorbestimmt war. So wurde sie nach ihrer unheiligsten 'Heiligen Nacht' nicht nur innerlich, sondern schließlich auch äußerlich gebrandmarkt. Eine schwarze Lilie riss sich von nun an durch ihre Schulter. Eine Hure. Sie hatte einen Priester verführt. Ihre Seele war verdorben. Ihr Herz gehörte dem Teufel. Man musste sie verbrennen... Es war, als hätte in diesem Moment der gefallene Engel, der über Charlotte wachte, noch ein letztes, sterbendes Aufbäumen seiner Kräfte zustande gebracht, denn ihr gelang durch die Unachtsamkeit einer Wache die Flucht aus dem Verließ, das man ihr vor ihrer Hinrichtung zum Zuhause gemacht hatte. Und dann waren der Engel und das Mädchen vollends zerbrochen. Charlotte Sabine de La Mosurée nannte sich von diesem Tage an nur noch Sabine und entkam ihrer Vergangenheit immer wieder fast – was noch um einiges grausamer war, als gar nicht entrinnen zu können. Und nach zahlreichen Ehen, Verstößen und Morden war sie nun die schwarze Witwe Lady Sabine de Winter, stand im Dienste des Kardinals Richelieu, der in der Lage war, sie mit alledem, was ihr widerfahren war, auch noch zu erpressen. Und so saß sie nun hier, starrte aus dem Fenster hinaus, aus dem man nicht einmal die milde Winternacht sah, die draußen über Frankreich ruhte, sondern nur ihr eigenes Spiegelbild und das eines einäugigen, verschlossenen Grafen. „Ich hasse Heilig Abend“, murmelte sie gedankenverloren. Rochefort drehte sich zu ihr um und nickte. „Es ist eine grausame Nacht, weil sie meine Erinnerungen zwar weckt, aber mir doch niemals zeigt.“ Sabine hatte keine Ahnung, wovon genau er sprach, aber sie wollte seine Redseligkeit auch nicht überstrapazieren, denn wenn er überhaupt von seiner Vergangenheit plauderte, war das mehr, als sie sich je erhofft hatte. „Mir wird sie gezeigt“, entgegnete die Frau mit dem dampfenden, englischen Getränk in den Händen, die wiederum in ihrem Schoß ruhten. „Mit all ihren Scheußlichkeiten, die ich lieber vergessen hätte.“ Auch er dachte für einen Moment darüber nach, wovon sie wohl sprach. Doch es war anmaßend, zu fragen. Mit ruhigen Schritten ging er zu ihr, berührte sanft mit den Lippen ihr Haar und strich ihr mit einem Finger über die Wange. „Aber mit dir ist es erträglich.“ Für einen Moment musste er wieder an die rothaarige Jeanne denken, die eigentlich blond war. Seine Erinnerungen spielten ihm noch immer Streiche, aber im Moment war es ihm egal, ob er je dahinter kam, was dieses 'es' war, das er vergessen hatte, ihn aber bis heute am Leben erhielt. Nach einem kurzen, zärtlichen Kuss der beiden, legte Sabine ihre Stirn gegen Luciens Schlüsselbein und atmete mit jedem Zug eine neue Facette seines Duftes ein, der ihr ein Gefühl von Geborgenheit versprach, seit sie ihn mit dem einzigen Mann verband, der wusste, dass sie eine Mörderin und Hure war und sie trotz allem nicht verstieß – dem Mann, der die Frau in der schwarzen Witwe sehen konnte. Und es war ihr, als hielte sie wieder den Jungen an der Bluse fest, den sie vor ihrem Fall getroffen hatte; und auch, wenn sie wusste, dass er lange tot war, seit er sich damals in einen offenbar tödlichen Kampf mit irgend einem Freier des toten Mädchens gestürzt hatte, so bemerkte sie doch in diesem Moment, dass sie über all die Jahre ein Stück von ihm in ihrem Herzen und ihrer Erinnerung behalten hatte. Für diesen Moment war Rochefort, der gerade vor ihr stand, der namenlose Junge aus ihrer Erinnerung – auch wenn sie nie erfahren würde, wie recht sie damit hatte. „Ja“, sagte sie leise. „Mit dir kann ich es ertragen.“ Egal, wie viele grausame Bilder der Heilige Abend bei ihr hervorrief, da war auch stets er und kämpfte dagegen an, wie in seinem letzten Duell. Und immer wieder unterlag er und starb dabei. Doch er kämpfte. Und das war alles, was zählt. Fin. Diese Geschichte ist meiner besten (ja, du bist meine beste Freundin v_V bitte lach nicht und sei nicht böse...) Freundin gewidmet (naja, ein Wichtelgeschenk eigentlich xP), die sich auch im groben die Story zu Rochefort ausgedacht hat. Alles, was von mir noch dazu kam, war die Feinabstimmung (also der Wortlaut ^^°) und der Kram mit Milady. Also nochmal alles Liebe an , den besten Rochefort, den's gibt. ^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)