Kleine Helferin von Skeru_Seven ================================================================================ Psychopauls Leben ----------------- Samstag Morgen, unspektakulär wie immer, obwohl oder gerade weil die Tage davor ziemlich anstrengend gewesen waren. Aber was will man kurz vor den Ferien erwarten? Ich lag in meinem Bett, versuchte mich von der schrecklichen Englischarbeit zu erholen und ärgerte mich gleichzeitig über meine geschmacklose Bettdecke mit den lila Blumen darauf. Konnte meine Mutter die nicht meinem jüngeren Bruder andrehen? Der fand sie sicher extrem cool. Aber als großer Bruder bekam man sowieso jeden Schrott, daran hatte ich mich langsam gewöhnt. Trotzdem fühlte ich mich benachteiligt. Ein leises Rumpeln und ein darauffolgendes piepsiges Fluchen aus meinem Schrank ließ mich erschrocken zusammenzucken. Was war das? Und was tat es in meinem Schrank? Die Nachbarskatze konnte ich ausschließen, um sich ein weiteres Mal von meinem Bruder in meinem Schrank einsperren zu lassen, musste sie sich wirklich dumm anstellen. Zögernd schlich ich zum Ursprung des Lärms, zog ruckartig beide Türen auf und blieb wie angewurzelt stehen. Entweder war etwas mit der Pizza gestern Abend nicht in Ordnung gewesen oder ich sollte weniger schlechte Fantasybücher lesen. Vielleicht träumte ich auch nur irgendwelchen Blödsinn, kam ja öfter vor. „Was guckst du mich so blöd an?“ Vor mir auf meinen T-Shirts hockte ein Mädchen in Miniaturformat und schaute mich herausfordernd an. Hatte ich noch alle Tassen im Schrank? Sicher nicht. „Bist du... echt?“, fragte ich sie ziemlich nervös und hätte mich sofort selbst schlagen können. Natürlich nicht, wo lebten wir denn? Ich träumte, möglicherweise bildete ich mir alles nur ein und redete im Moment mit einem Berg Klamotten. Oder Kalvin spielte mir wieder einen Streich, wie kleine Brüder es nun mal gerne machen. Doch etwas Anderes kam nicht in Frage, schließlich war es unmöglich, dass eine kleine Möchtegernfee meinen Schrank belagerte. „Nein, deshalb rede ich auch“, piepste sie sarkastisch, sprang auf und schüttelte energisch ihre fast durchsichtigen Flügel. „Ich bin Stella.“ „Aha, cool“, brachte ich mühsam hervor. „Ich heiße Paul. Und was machst du in meinem Zimmer?“ Eigentlich müsste ich sie fragen, weshalb sie existierte, allerdings verkniff ich es mir, sie hielt mich bestimmt auch ohne diese Frage für nicht besonders intelligent. Seit wann interessierte mich die Meinung einer Fee? Mit mir ging es sichtlich bergab, vielen Dank, Fräulein Stella! „Hab mich wahrscheinlich verflogen“, gab sie zu, „aber du hattest dein Fenster offen, deshalb bin ich reingeflogen.“ Toll, nun war ich auch noch dran schuld. Nettes Flattervieh. „Schön, dann kannst du gleich wieder gehen.“ „Nein, wenn ich schon mal da bin, kann ich mich auch ein wenig umsehen.“ Sie lächelte und pustete sich eine Strähne ihres dunkelblonden Haares aus der Stirn. „Ich bin so selten bei Menschen zu Besuch.“ Anscheinend fand Stella die ganze Situation schrecklich lustig. Ich leider nicht, denn ich fühlte mich wie jemand mit einem Dachschaden. „Wenns sein muss“, grummelte ich genervt, „aber verhalte dich unauffällig. Nicht jeder übersteht eine Begegnung mit einem Märchenfigürchen so gut wie ich.“ Wenigstens etwas, auf das ich stolz sein durfte. Endlich, Paul, du schaffst ja doch mal was. „Aber erst geh ich frühstücken, ich hab echt Hunger.“ „Da komm ich mit“, bestimmte Stella, erhob sich mithilfe ihrer Flügel in die Luft und setzte sich auf meine Schulter. Dafür, dass sie höchstens die Größe meiner Hand besaß, spürte ich ihr Gewicht sehr deutlich. Wie wäre es mit abnehmen? Na gut, jetzt wurde es fies, fett war sie nicht, aber nicht feenhaft dünn, etwas dazwischen. „Wehe, dich sieht jemand, dann fliegst du raus“, warnte ich sie vorsichtshalber vor und schlurfte in die Küche, um meinen knurrenden Magen zum Schweigen zu bringen. Stella schlüpfte unter mein Schlafanzugoberteil, sodass nur ihr Kopf sichtbar war. „Morgen, Paul“, begrüßte mich mein Bruder, der schon am Küchentisch saß, sein Müsli über den halben Boden verstreute und dabei mit jemandem redete – seinem Kumpel Melvin. Automatisch wurde ich hibbelig, wie immer, wenn ich Melvin sah. So ein ähnliches Gefühl bekam ich auch vor Mathearbeiten, aber weshalb sollte ich Panik vor einem Fünfzehnjährigen haben, der eigentlich immer freundlich zu mir war? Total unlogisch. Ich nahm mir ein Stück Toastbrot, klatschte eine Ladung Gewürzketschup darauf und verzierte alles mit zwei Scheiben Salami. Mein geliebtes Standardfrühstück. Ja, ich weiß, dass ich gestört bin. „Und was macht ihr später?“, fragte ich meinen Bruder und versuchte, so locker wie möglich zu bleiben, doch bei jedem Blick zu Melvin wuchs meine Unruhe. Was ging in letzter Zeit bloß mit mir ab? Kalvin schleppte ihn eigentlich seit drei Jahren ständig zu uns nach Hause, allerdings benahm ich mich erst seit ungefähr einem halben Jahr so peinlich nervös in seiner Gegenwart. „Wissen wir noch nicht genau“, nuschelte mein Bruder zwischen einer Portion Haferflocken im Mund hervor. „Hast du ne Idee, Mel?“ „Nein.“ Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Kannst du uns was empfehlen, Paul?“ Ich sollte ihnen helfen? Haha, guter Witz, dafür müsste man erst Melvin aus der Küche entfernen, da mein Hirn sonst nur ans Flüchten dachte. Echt erbärmlich, wie ein normaler sechszehnjähriger Junge verhielt ich mich wirklich nicht. „Nein, keine Ahnung.“ So schnell ich konnte aß ich meinen merkwürdigen Essensmix, zweigte ein wenig davon für Stella ab und floh schließlich beinahe in mein Zimmer. Es fehlte nicht viel und ich hätte zusätzlich die Tür verriegelt. Psychopaul in Aktion. „Sag mal, geht es dir nicht gut?“, erkundigte sich mein Gast, nachdem ich mich erschöpft zurück ins Bett fallen gelassen hatte und mich nun irgendwie unter der Decke verschanzte. „Weiß nicht“, brummte ich unfreundlich. Was interessierte es sie? Wollte sie mich vielleicht deswegen auslachen oder was? „Ich will dir ja nichts unterstellen“, begann sie zögerlich, „aber kann es sein, dass du irgendwie... na ja, auf einen der beiden stehst?“ „Ganz sicher nicht!“, fauchte ich Stella an. „Erstens sind es beides Jungs, zweitens ist der eine davon mein Bruder – sieht man doch – und drittens ist der andere sein Kumpel, von dem ich ganz bestimmt nichts will.“ Die Sache wurde immer besser, nun musste ich mir von dahergelaufenen winzigkleinen Mädchen anhören, dass ich schwul war. „Jetzt reg dich nicht gleich auf“, meinte sie seufzend und krabbelte aus meinem Oberteil hervor. „Bei uns Feen gibt es auch Homosexualität und zwar nicht besonders selten. Obwohl es eher bei weiblichen Feen vorkommt.“ „Super, interessiert mich echt.“ Wer wollte denn wissen, dass es in ihrem komischen Feenländchen von Lesben nur so wimmelte? Ich nicht. „Aber bei euch wird es auch nicht so tragisch sein, wenn sie zwei Mädchen oder zwei Jungs ineinander verlieben.“ Sie sah mich abwarten an. „Eigentlich nicht“, gab ich nach, wobei die Betonung allerdings sehr auf dem ersten Wort lag. Für mich wäre es sehr wohl tragisch, wenn ich tatsächlich schwul wäre. Es reichte auch so mein Ruf als beginnender Freak, mehr musste wirklich nicht dazukommen. Weder Halluzinationen von fliegenden Viechern noch Gefühle für Melvin. „Und uneigentlich?“ Fand sie sich jetzt lustig oder was sollte die doofe Frage? „Ist nichts.“ Ich hätte ihr natürlich stundenlang von Intoleranz, Vorurteilen und anderen Problemen in der Richtung erzählen können, aber die kannte sie sicher auch aus Homofeenhausen oder wie ihr Wohnort hieß, was weiß denn ich? Die folgenden Stunden ertrug ich Stellas Versuche, mir die Wahrheit über mein völlig verdrängtes Liebesleben zu berichten, und gleichzeitig ihre Beschwerden über mein angeblich so geschmacklos eingerichtetes Zimmer. Wenn es ihr nicht gefiel, sollte sie gefälligst wegsehen, aber nicht mich nerven, Ende. Außerdem sah nur die Bettwäsche scheiße aus. „Wie lange willst du eigentlich hier bleiben?“ Hoffentlich nicht allzu lange, für meinen Geschmack redete Stella zu viel und das ständige durch die Gegend Geflattere ging mir mit der Zeit auch auf den Keks. „Wahrscheinlich noch eine Weile“, kicherte sie, als sie meinen entsetzen Gesichtsausdruck sah. „He, so schlimm bin ich nicht! Ich hab einen Vorschlag: Ich darf noch ein wenig Urlaub hier machen und dafür helf ich dir ein bisschen mit Melvin, okay?“ „Klingt beides nicht gut für mich“, meinte ich abschätzig und bekam deshalb einen spielerischen Tritt gegen die Nasenspitze. Sehr nett. „Glaubst du. Das ändert sich noch, warts nur ab.“ Wie eine hirnlose Hummel sauste sie vor meinem Gesicht auf und ab und streckte mir dabei die Zunge heraus. Gegen zwei Uhr nachmittags beschloss ich mich langsam anzuziehen – für diesen Zeitraum musste Stella den Raum verlassen – und startete danach in der Küche meine tägliche Essenssuche. Was passte am besten zu Gewürzketschup? „Was ist das denn?“ Die Fee rümpfte die Nase, nachdem ich mir auf die Überreste der Pizza vom Vortag Massen meiner Lieblingssoße geschmiert hatte. „Mein Mittagessen“, grinste ich sie an und biss hinein; wie immer schmeckte es verdammt gut. Einer der Punkte, weshalb viele glaubten, dass ich nicht ganz richtig im Kopf war. „Wie lange bleibt Melvin noch bei euch?“, erkundigte sich Stella und ich befürchtete sofort nichts Gutes. Wie es aussah plante sie etwas und Pläne von Frauen bedeuteten meistens Schreckliches für mich. Mitleid, wo bist du? „Bis morgen Abend.“ So lange war er immer bei uns – er wohnte theoretisch schon hier –, weil er sich zuhause am Wochenende dauernd langweilte. Pech für ihn als Einzelkind. „Das ist sehr gut.“ Ihre Laune stieg mächtig und ich fühlte mich dafür einfach verarscht. Diese Fee schien unberechenbar zu sein, mir tat Melvin – und ich selbst natürlich – nun schon leid. „Paul, mit wem sprichst du?“ Meine Mutter stand im Türrahmen und blickte mich kopfschüttelnd an, während ich vor Schreck fast an meinem Essen erstickte; Stella versteckte sich eilig unter der Tischplatte. „Mit mir selbst“, krächzte ich so überzeugend wie möglich und grinste meine Mutter gespielt fröhlich an. Was hatte sie bloß für einen Irren als Sohn? „Ach so, ich dachte, du hättest Besuch.“ Ja klar, weil mich auch jemand freiwillig besuchen würde, lustig. Vielleicht für eine halbe Million Euro oder so. Allerdings behandelte ich die Mehrheit der Leute in meiner Umgebung nicht so, dass sie zu mir kommen wollten. Konnte mir recht sein, da nervte mich wenigstens niemand. Zurück in meinem Zimmer erholte ich mich von dem soeben erlittenen Schock und wartete auf Stellas Verkündigung ihrer ach so tollen Idee. Diese ließ sich jedoch Zeit, bis ich mich genervt ins Wohnzimmer verzog, mich vor den Fernseher hockte und mir dummes Zeug reinzog, um mich abzulenken. Seit heute morgen verlief alles so, wie ich es nicht wollte. „Was machst du da?“ Kalvin betrat den Raum gefolgt von – wer hätte es gedacht? – Melvin. Wie von allein aktivierte sich die unbegründete Fluchtbereitschaft in mir und ich hoffte, dass keiner der beiden Jungs, die sich neben mich auf die Couch fallen ließen, es bemerkten. „Ich sehe fern“, antwortete ich reichlich verspätete und rückte unauffällig ans andere Ende der Sitzgelegenheit. „Habt ihr nichts zu tun?“ „Irgendwie nicht“, sagte Melvin gelangweilt und schaute relativ desinteressiert auf die Flimmerkiste. Kein Wunder bei so einer weltbewegenden Reportage über Käsekuchen. „Ähm, mir fällt gerade ein... ich muss noch etwas für die Schule erledigen.“ Die eindeutig schlechteste Ausrede meines ganzen Lebens, aber ich hielt es nicht länger dort aus und das schienen sie mitbekommen zu haben. „Ist dein Bruder sonst auch so komisch?“ „Er ist immer komisch, Mel.“ Danke, Kalvin. „Aber wenn du da bist noch mehr als normal, fällt voll auf.“ So etwas merkten kleine Jungs, das durfte nicht wahr sein. „Paul, ich weiß, wie wir dein Problem lösen“, verkündete Stella mir freudestrahlend, als ich verwirrt in meinem Zimmer auf dem Bett saß, teilte mir ihren Vorschlag mit und wunderte sich, als ich nicht vor Begeisterung durch das Haus hüpfte. Aus gutem Grund. Wenn es schief ging, war ich geliefert und zwar richtig. „Ich bin ja so ausgeregt“, plapperte meine Gastfee munter und schwirrte quer durch den Flur, da sie noch nicht wusste, wohin wir gingen. „Ruhe da hinten“, maulte ich sie an, „der einzige, der aufgeregt sein darf, bin ich, verstanden? Du hast ja fast nichts zu machen.“ Das stimmte, den Hauptteil sollte ich übernehmen, deswegen latschte ich um 3 Uhr nachts durch unser Zuhause und bereitete mich auf das Kommende vor. Nämlich die Wahrheit über mein idiotisches Verhalten Melvin gegenüber herauszufinden. Auf so einen Schrott kamen auch nur Frauen. Vorsichtig öffnete ich die Tür zu Kalvins Zimmer und linste hinein. Mein Bruder pennte friedlich in seinem Bett, neben ihm auf einer Matratze Melvin. Nun gab es kein Zurück mehr. Stella tippte Melvin so oft mit dem Fuß gegen die Stirn, bis er sich verschlafen aufsetzte und uns beide verwundert ansah. „Keine Angst, du träumst nur“, behauptete die Fee schnell und vollführte vor ihm einen kleinen Lufttanz. Hoffentlich überzeugte ihn das. „Wir wollen kurz etwas ausprobieren.“ Sie lächelte ihn an. Unruhig trat ich auf Melvin zu, krallte meine Hände in seine Schultern, beugte mich über ihn und küsste ihn auf den Mund. Wie zu erwarten erstarrte er erschrocken und blickte mich mit weit aufgerissenen Augen an, während Stella uns neugierig beobachtete. Meine Finger zitterte verdächtig, mein Herz raste wie verrückt und mein einziger Gedanken momentan war „Scheiße“. Sie hatte Recht gehabt und ich hatte es nicht bemerkt, die ganze Zeit kein einziges Mal. Ich war echt dumm wie Stroh. Hastig löste ich mich von Melvin, stürmte zurück in mein Zimmer und versteckte mich ziemlich traumatisiert unter der Bettdecke. Ich hatte es getan und bereute es kein bisschen. Also war ich in den Freund meines Bruders verknallt, wie arm. „Paul, gehts dir wieder nicht gut?“ Wie aus dem Nichts erschien Stella auf meinem Nachttisch und musterte mich betroffen. „Siehst du doch.“ Blindes Flugding, natürlich ging es mir nicht gut, wie sollte es? Solche Erkenntnisse wie gerade eben gingen nicht spurlos an einem vorbei. „Ich will jetzt schlafen, also halt die Klappe.“ „Sehr nett“, regte sich Stella auf und verschwand in meinem Schrank, um meinen Berg T-Shirts als ihren Schlafplatz zu benutzen. Die ganze Nacht lag ich wach und dachte an den Kuss. Den Sonntag und die nächsten fünf Wochentage nahm ich eigentlich nicht wahr, weder den Unterricht in der Schule noch etwas zu Hause. Die meiste Zeit beschäftigte sich meine Gedanken mit einem Thema: Ich bin schwul. Dabei konnte das gar nicht sein, ich hatte vor einigen Monaten bei meinem Klassenkameraden Tim einen sehr interessanten Pornofilm – mit zwei Frauen! – gesehen; allerdings würde ich es nicht mehr wiederholen, weil Tim danach so neben der Spur gewesen war, dass er kurz davor gestanden hatte, eindeutig nicht jugendfreie Dinge mit mir anzustellen. Was würde außerdem meine Familie denken? Bestimmt wären sie nicht erfreut darüber, vor allem Kalvin, der schon öfter klar gemacht hatte, wie wenig er von Schwulen hielt. Aber auch mein Vater zeigte bei diesem Thema nicht viel Toleranz. Wieso eigentlich Melvin? Ich kannte so viele Jungs und verknallte mich ausgerechnet in ihn, dabei gab es nichts wirklich Besonderes an ihm, er sah nicht außerirdisch gut aus, hatte nicht ganz so dunkle Haare wie ich und konnte manchmal genauso frech wie Kalvin sein. Vielleicht litt ich einfach an pubertären Fehlmeldungen innerhalb meiner Gefühlsebene, wer wusste das schon? „Komm Paul, du musst was essen“, drängte Stella und zupfte an meinen Haaren. Seit knapp einer Woche kümmerte sie sich um mich, zwang mich zum Hausaufgaben machen, nervte mich, bis ich etwas aß und achtete darauf, dass ich auf dem Schulweg nicht vor ein Auto lief. Ohne sie hätte ich die Chemiearbeit sicher noch schlechter geschrieben – nämlich gar nicht. Auch meine Eltern bemerkten mein seltsames Verhalten und machten sich Sorgen, wussten jedoch nicht, wie sie mir helfen konnten. Das war genau das Problem, man konnte mir nicht helfen, mit der Situation musste ich allein fertig werden. „Na gut, wenn du meinst“, murmelte ich abwesend, spürte das inzwischen vertraute Gewicht auf meiner Schulter und bewegte mich wie ein Zombie in die Küche. Dort angekommen sah ich schon Kalvin und Melvin am Tisch sitzen und mir wurde plötzlich verdammt schlecht, sodass ich mich haltsuchend an den Türrahmen klammerte und die Fee beruhigend auf mich einredete, Was für eine Lusche war aus mir geworden? Scheiß Gefühle für irgendeinen Jungen, der das sicher nicht zu schätzen wusste. Ich hätte wirklich kotzen können. „Paul, jetzt sag uns endlich, was mit dir los ist!“ Man hätte meinen Bruder fast als hysterisch bezeichnen können, was überhaupt nicht zu ihm passte. „Nichts“, wich ich ihm aus und lockerte vorsichtig den Griff um den Holzbalken. „Lass mich einfach in Ruhe essen.“ Was sowieso unmöglich war, weil ich meine Aufmerksamkeit krampfhaft versuchte von Melvin fern zu bleiben, außerdem hatte ich nun noch weniger Hunger als vorher. Kalvin brummte etwas Unverständliches, zog Melvin hinter sich in sein Zimmer und ich atmete erleichtert auf. Ich wusste, was ich tat, war nicht in Ordnung, aber es ging nicht anders, sonst drehte ich wahrscheinlich völlig durch. Dieses Mal zeigte meine Uhr halb vier an, als ich mich zu Melvin schlich und an sein Bett setzte. Ich benahm mich wie ein Süchtiger auf Entzug, aber was sollte ich ändern? Einerseits weigerte ich mich immer noch, mir alles einzugestehen, andererseits spürte ich sehr deutlich mein Verlangen nach ihm. Eine idiotische Lage. „Tut mir echt leid, Mel“, flüsterte ich ihm ins Ohr und drückte meine auf seine Lippen. Psychopaul konnte sich mal wieder nicht zurückhalten, langsam wurde es kriminell. Falls Melvin jetzt aufwachte, war ich definitiv tot, da half keine gute Ausrede, weil es keine Beweise dafür gäbe. Mit einer Fee konnte man alles gut als Traum verkaufen, ohne wurde die Sache deutlich komplizierter. Seufzend beendete ich meine ziemlich hinterhältige Attacke auf ihn, strich ihm zum Abschied kurz über die Wange und legte mich danach in mein eigenes Bett, obwohl ich wusste, dass ich vor lauter Anspannung und Nervosität die ganze Nacht kein Auge zumachen würde. Wäre nicht das erste Mal in den vergangenen Tagen. Den Samstagvormittag verschlief ich komplett, nachdem ich mich bis halb sieben von der einen auf die andere Seite gerollt hatte, und stand trotz Stellas intensiven Weckversuchen erste gegen vier Uhr Nachmittags auf. „Du siehst schrecklich aus“, stellte sie niedergeschlagen fest. „War ja klar.“ Wie sollte man mit so wenig Schlaf gut aussehen? Vor allem, wenn man das sonst auch nicht tat? Gute Frage. Hunger hatte ich keinen, Lust auf Gespräche erst recht nicht, also verbarrikadierte ich mich in meinen vier Wänden, beobachtete Stella, wie sie aus winzigen Papierfetzchen Schiffe faltete und verdrängte jeden Gedanken an gestern Nacht. „Du musst versuchen damit zu leben“, startete die Fee unerwartet während sie das achte Schiffchen zu den anderen stellte. „Womit?“, fragte ich gereizt, weil mir der Ton in ihrer Stimme nicht gefiel. „Das du ein wenig anders bist als andere“, fuhr sie fort und begann, das nächste Papierstückchen in Form zu bringen. „Und wenn ich mich nicht damit abfinden will?“ „Dann machst du es dir unnötig schwer“, seufzte sie und endlich verstand ich: Sie sprach aus Erfahrung, vielleicht hatte sie deshalb so schnell meine Gefühle für Melvin erkannt. Ich schwieg, weil mir nichts dazu einfiel, genau wie ihr. Zehn Stunden später befand ich mich wieder dort, wo ich eigentlich nicht sein sollte und erzählte dem schlafenden Melvin Dinge, an die er ich am nächsten Tag sowieso nicht erinnern konnte. Aber für mich war es wichtig, denn vielleicht akzeptierte ich so alle neuen Tatsachen in meinem Leben. Gerade als ich mich für diese Nacht verabschiedet hatte, schlangen sich zwei Arme um mich und zogen mich zurück. Zuerst vermutete ich erschrocken, Melvin wäre aufgewacht, aber er schien glücklicherweise weiterzuschlafen. Eigentlich wäre es nun Zeit, mich von ihm zu trennen, allerdings fühlte sich seine – wahrscheinlich unfreiwillige – Umarmung so angenehm an, dass ich es mir anders überlegte und bevor ich es bereute, schlief ich wegen des extremen Schlafmangels ein. „Paul, was machst du in meinem Zimmer?“ Ein zusätzliches Antippen von Melvin ließ mich geschockt aufspringen und schmerzhaft gegen das Bettgestell meines Bruders laufen. Verdammt noch mal, ich Deppchef hatte mich erwischen lassen. Nun half nur eins: „Hä? Was? Ich kann mich an gar nichts erinnern.“ „Bist du geschlafwandelt oder was?“, fragte Kalvin skeptisch, aber Melvin unterbrach ihn: „Gestern Abend klangst du aber ziemlich wach.“ Die Katastrophe war perfekt, er hatte Alles mitgehört. „Was hat er denn gesagt?“, wollte mein Bruder neugierig wissen. „Sehr viel“, grinste Melvin, „aber die Hauptaussage war: „Ich bin schwul und steh auf dich“, stimmts Paul?“ Mein Bedürfnis abzuhauen stieg ins Unendliche, erstens wegen Kalvins Weltuntergangsmiene, die man eigentlich hätte fotografieren müssen, und zweitens, weil gewisse Persönchen die ganze Situation so lustig fanden, doch Melvin hielt mich an der Hand fest, flüsterte mir „Beim nächsten Mal will ich das erfahren, wenn ich nicht halb schlafe“ und gab mir vor den Augen meines beinahe kollabierenden Bruders einen Kuss auf die Wange. Mann, waren wir alle gestört, das passte ja wunderbar. „Na also, da haben meine Tipps geholfen“, freute sich Stella als ich ihr von allen Ereignissen, die sie nicht hautnah miterlebt hatte, erzählte. „Ja, vielen Dank dafür.“ „Machen Feen doch gerne.“ Sie flog ein wenig um mich herum. „Darf ich noch ein paar Tage Urlaub hier machen? Und zwar richtige?“ „Klar“, versprach ich ihr. Vielleicht half sie mir wieder, ein paar Problemchen zu lösen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)