Fensterschreiben von Technomage (Every day is writing day) ================================================================================ Cyber vs. Matter II (01.03.09) ------------------------------ Ginger erwachte zu einer quietschenden Melodie, etwa so wie die akustische Folter, die ihr Bruder früher immer mit der Violine veranstaltet hatte, wenn er wieder wütend auf das Instrument war; und er war oft wütend auf die Violine, da er es immer gehasst hatte sie zu spielen, nur weil es ihren Eltern wichtig gewesen war. Japanische Sarariman. Renraku Konzernsklaven. Natürlich mussten ihre Kinder ein bezauberndes Vorzeigebild abgeben. Sogar sie selbst, obwohl sie immer aus der Öffentlichkeit ferngehalten worden war, um keine Schande zu machen mit ihrem „fremden“ elfischen Aussehen, hatte viele Jahre am Piano ertragen müssen, doch mittlerweile alles wieder verlernt. Heute waren Pistolenabzüge die einzigen Tasten, in die Ginger mit Leidenschaft hämmerte und dabei spielte die Musik. Das kreischende Gewirr in ihrem Kopf nahm ab und wurde zu einem hintergründigen Sirren, das Platz für die Wahrnehmung ließ. Sie war da, ihr Schädel brummte, doch die Welt blieb weiß. „Was zum ...“, setzte sie zum Fluchen an und wollte sich von ihrer Liegefläche aufsetzen, doch unmittelbar ergriff eine Hand ihre Schulter. Ihre eigene zuckte dahin, wo die Ares Predator im Unterarmholster hing, doch da war nichts außer ihrer Achselhöhle. Sie erkannte die Hand, noch bevor er sprach. Rau und trocken war sie, aber vor allem warm. Es beruhigte sie zugegebenermaßen. „Liegen bleiben, Bambina, alles in Ordnung“, drang Miguels Stimme dumpf, aber schmerzhaft an ihre Ohren. Sie ließ sich unter seinem leichten Druck zurücksinken und hielt sich die Hand vor die Augen. Schwarz. Weiß. Ein paar dunkle Schemen. „Wo?“, fragte Ginger in eine unbestimmte Richtung. „Mein Apartment. Iss wollte diss erst in deins bringen, aber iss hab' keinen Sslüssel gefunden.“ Miguel musste in der Nähe sitzen und sie lag vermutlich auf der Synthleder-Couch in seinem Wohnzimmer. „Hoseninnentasche.“ Sie drückte sich die Hände vors Gesicht und massierte ihre Augenlider. „Dachte iss mir, aber iss wollte nisst Gefahr laufen, ein paar neue Lösser verpasst su bekommen.“ Sein Satz verebbte in einem kehligen Lachen. Gingers Gedanken entwirrten sich langsam, doch in ihrer Erinnerung klaffte immer noch ein Loch, so weiß und schleierhaft wie der Ton ihrer Wahrnehmung. „Wie?“ Sie musste husten, ein matter Druck auf dem linken Rippenbogen, als würde ein Schattenboxer seine schwere Pranke darum legen und sachte zudrücken. Auch als zähe Sorte von Elfin kam sie sich oft so zerbrechlich vor. Deswegen war sie gerne schneller, als was auch immer sie zerbrechen wollte. Dieses Mal war sie es offenbar nicht gewesen. „Flashpack.“ Miguel sprach den Fachbegriff ohne Akzent aus, wie alles, was er ohne Akzent aussprechen wollte. „Hast die volle Ladung abgekriegt. Und einen Schlag mit dem Schockstab. Von einem Trog.“ „Scheiße.“ Ginger hustete wieder und kaltes Plastik drückte sich gegen ihren Arm. Sie nahm die Flasche von Miguel und trank. Zum Glück war es Wasser. Bei seinem Humor hätte es auch Tequila sein können. Vielleicht wäre ihr gerade sogar Tequila lieber. „No Panik, Bambina. Ist alles gut gelaufen. Pablo und der Gypsy King haben ihnen ein paar Kugeln für dich verpasst.“ Sie konnte Miguel nicht grinsen sehen, es aber förmlich spüren. Wie konnte sich ein Mann ernst nehmen, der in der dritten Person von sich selbst sprach? „Musstet ihr sie unbedingt abknallen?“ Es war nicht so, dass Töten Ginger gar keinen Spaß machte, sie zog nur den Kick vor, so gut zu sein, dass sie nicht töten musste, um ihren Job zu machen und zu überleben. Jeden über den Haufen schießen, der zwischen ihr selbst und den Nuyen stand, war dreckig und unnötig. Es gab Alternativen. „Dios mio, Bambina.“ Sie konnte hören, wie Miguel sich unter Knarzen der Lehne in seinen Stuhl zurücksinken ließ. „Diese Bastardos wollten uns geeken und du willst immer noch, dass wir nett su ihnen sind und sie nach der Ssießerei ins Krankenhaus fahren und ihnen Blumen bringen?“ Miguel – der „Gypsy King“ wie die Schatten ihn und er sich selbst zu oft nannte – sah die Dinge pragmatischer als sie. Der einzige Grund einem Hindernis keine Kugel zu verpassen, um es zu überwinden, war die Gefahr, dass es sich davon nicht beeindrucken ließ oder diese Lösung zu laut war. Natürlich, erinnerte sie sich, waren seine Motivationen auch ganz andere. Für sie beide war es der Job und das Geld, doch wohingegen Ginger nur für sich selbst verantwortlich war, hatte der Gypsy King in den Barrens einen ganzen Hort Geschwister und eine Mutter, die sie im Zaum hielt, für die er mit seiner „Arbeit“ sorgte. Ginger seufzte und wedelte sich mit der Hand vor Augen herum. Nur eine leichte Schliere. Sie fluchte. „Wie lange bleibt das so?“ „Iss weiß nisst. Vielleisst noch ein paar Stunden. Solange wirst du diss auf miss verlassen müssen.“ Er klang amüsiert. Die Vorstellung, dass sie sich tatsächlich auf ihn verlassen musste, schien ihm Spaß zu machen. Ginger seufzte erneut nur dieses Mal deutlich genervter. „Ich hasse es nichts zu sehen. Es ist so ...“ Sie suchte ein Wort, was ihr passte und dass sie auch tatsächlich Miguel gegenüber verwenden wollte. „Verletzlich?“, schlug er vor. „Sí, so ging es mir in den Wochen auch, in denen iss blind war.“ „Dir hätte die Flash wenig ausgemacht.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. „Sí, als würdest du mir eine Kersse vor die Augen halten etwa.“ Seine Stimme entfernte sich. Er schien durch den Raum zu laufen und etwas zu suchen. „Ich wäre trotzdem lieber blind, als mir einen Brocken Chrom in den Kopf zu packen“, sagte Ginger in eine unbestimmte Richtung. Scheiße, ich will wieder sehen, dachte sie. Sie nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Das Geräusch des Wasser passte zum Wellengang in ihrem Kopf. Eine Weile war es still im Raum, während Miguel leise irgendwo herumkramte. Als ihr die weiße Sandfläche vor Augen auf den Geist ging, schloss Ginger die Lider, nur um in der Dunkelheit dahinter kleine Lichtschlangen tanzen zu sehen, die sich ineinander kringelten vor Lachen darüber, dass sie dem weißen Rauschen ihres Schädel nicht entrinnen konnte. „Ich werde noch wahnsinnig, wenn mein Hirnkasten sich weiter anfühlt, wie ein hektischer Sandstrand bei Flut.“ „Ah!“, tönte es aus einige Metern Entfernung und Miguels Schritte auf dem weichen synthetischen Teppichboden kamen näher. „Mir ist da was eingefallen.“ Sie zuckte zurück, als sich ihr etwas näherte, doch dann griffen seine Hände um ihren Kopf und einen Moment später verblieb auf ihrer Kopfhaut ein Gefühl, als hätte er ihr eine Qualle wie eine Kapuze übergezogen. Dann sah sie eine schmale Gestalt auf einer Couch liegen. Eine Elfe. Sich selbst, realisierte sie. Sie zuckte erschrocken zusammen und sah ihren Körper erschrocken zusammenzucken. „Kisama ...“, begann sie zu fluchen, doch entschied sich dann für eine Sprache, die Miguel verstand. „Was zum Teufel ist das für ein Drek?“ Die Elfe auf der Couch sah auf verbissene Weise ziemlich zornig aus. Entglitt ihr wirklich so sehr die Mimik, wenn sie wütend oder überrascht war? Gut, dass sie nicht leicht zu überraschen war. Das Talent des Gypsy Kings zu diesen Dingen bildete dabei eine Ausnahme. Wenigstens wusste sie jetzt, in welche Richtung sie wütend starren musste. „Bildverbindung, Chummer“, erklärte Miguel gelassen und sie bemerkte die sanfte Bewegung seines Kopfes und der damit verbundenen Sicht, während er sprach. „Iss hab' diss in meinen Kopf eingesteckt.“ „Gut, dass es nur das Sehen ist und sonst nichts“, bemerkte Ginger mürrisch, doch hatte sich schon wieder gefasst. Sie ertappte sich selbst dabei, wie neugierig sie ihre eigene Gestalt ansah. Miguels Restlichtverstärkung entsprach etwa der Sicht ihrer eigenen elfischen Augen, doch trotzdem war es etwas anderes. Sie spürte den feinen Unterschied, welcher vermutlich jedes Lebewesen einen Hauch vom anderen abgrenzte. Lag es nun daran, dass Miguel er selbst war, fragte sich Ginger, oder an dem Produkttyp seiner Cyberaugen und deren Kalibrierung? Der Gedanke bereitete ihr Kopfschmerzen. Noch mehr als sie sowieso gerade schon hatte. „Irgendwas, was du sehen mösstest, Senorita Ginger?“, fragte er scherzhaft, doch wandte den Blick dabei nicht von ihr ab. Sie schüttelte den Kopf. Es war eigenartig genug sich selbst durch die Augen eines anderen Metamenschen zu sehen und dabei buchstäblich seine Ansichten zu teilen. Oh mein Gott, rief Ginger in Gedanken überrascht aus, ich sehe die Welt mit seinen Augen! Wie kitschig. Trotzdem das Produkt eines neuronalen Netzes, zusammen mit einem Kabel in seiner Datenbuchse. Kann Kybernetik denn wirklich kitschig sein? Eine Weile, die sich nach etwa einer Viertelstunde anfühlte, sahen sie und Miguel Ginger gemeinsam an und er wandte seinen Blick nicht ab. Er blinzelte auch nicht, fiel ihr auf. Natürlich nicht, warum sollten Cyberaugen auch blinzeln können? Doch, er konnte blinzeln, aber es schien ein neuronaler Impuls zu sein, den er aussandte, wenn ihm danach war, und welcher von den Augen verarbeitet wurde. Das würde auch erklären, wie er schlief. Sie hätte vermutet, dass Miguel ihr die meiste Zeit auf die langen Beine oder in den Ausschnitt starren würde, aber sein Blick haftete an ihrem Gesicht. Sicher benahm er sich nur gut, jetzt wo sie in seinem Kopf zu Gast war. Ein kurzes Zucken ging durch das Bild und auf einmal war alles bläulich düster geworden, nur ein orange-roter Fleck stach hervor, wo sie zuvor gelegen hatte. Wärmesicht, realisierte sie nach einem Moment. „Infrarotsicht“, erklärte Miguel. Ginger nickte nur. Sie saß die Wärme durch ihren Körper zirkulieren, gedämpft durch den Teil ihrer Kleidung, der gepanzert war und weniger Hitze nach außen dringen ließ. Sie sollte sich Wärmedämmung besorgen. So sah sie für jeden Runner mit Chrom im Kopf und Sonderausstattung da draußen aus wie eine große rote Zielscheibe. „Siehst heiß aus, Bambina“, bemerkte Miguel mit einem trockenen Lachen. Erst sah sie wie die orange Rundung ihres Kopfes rot zu glühen begann und dann ihre eigene Faust auf ihr Blickfeld zurasen. Der Schlag kam zu schnell, als dass er hätte ausweichen können und traf mit einem kräftigen Ton auf die verchromte Brücke zwischen den beiden Wölbungen der Cyberaugen. Ginger hatte den Winkel gut geschätzt, sie war zufrieden mit sich selbst und als wieder die Restlichtverstärkung anging, sah sie sich grinsen wie einen Reißverschluss. Das Bild wackelte nur kurz, doch dann wurde ihre Sicht wieder ein weißes Flimmern. Miguel fluchte. „Keine Augen mehr für diss, Bambina.“ Ginger hörte ihn aufstehen, vermutlich um in die Küche zu gehen und sich einen Eisbeutel zu holen, doch es störte sie nicht. Das weiße Rauschen war zu einer friedlichen Meerbrandung am Abend geworden. Sie war auf der Ferieninsel einige Kilometer außerhalb der Bucht von Tokyo. Sie war höchstens sieben Jahre alt und suchte mit ihrem Bruder kleine Krebse in den zerklüfteten Klippen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)