Fensterschreiben von Technomage (Every day is writing day) ================================================================================ Wachhund(21.01.09) ------------------ Es ist langweilig geworden, seit die Lichter nicht mehr aufgehen. Mir zumindest. Dex, mein Name, Dex Olschool. Planeshift Watchdogs. Einer von den ganz alten Hunden. Früher war ich viel unterwegs, bin kaum mit der Schreibtischarbeit hinterhergekommen, doch heute liegen meine Füße manchmal so lange am Stück darauf, dass ich schon fast so weit bin meine Stiefel auszuziehen. Beine übereinander geschlagen, in den Ledersessel zurückgelehnt, Kaffee trinkend. Die anderen Hunde sitzen auch meist nur noch in ihren Büros, trauen sich gelegentlich raus an den Getränkeautomaten und plaudern miteinander, kläffen sich ein bisschen an oder heulen über die Vergangenheit. Keiner redet hier über die Zukunft. Nicht, weil man uns in Zukunft nicht mehr von der Leine lässt, sondern einfach, weil Zeit für uns keinen Sinn macht. Du nickst, mh? Du hast keine Ahnung, wovon ich spreche, aber natürlich klingt es gut für dich. Die letzte zündende Idee, die ich wieder gradebiegen durfte, kommt selbst mir wie eine Ewigkeit vor, Meilen über Meilen entfernt, einen langen nächtlichen Flug weit weg. Sie war ein kleiner süßer Metallkäfer ohne Bedeutung, die sie mit jede Menge Stahlklammern und Eisenplatten um ihre vorpubertäre Leichtsinnigkeit getackert hatte. Ein weißblauer Ball aus irrelevanten Details, an denen sie sich festhielt, bis ihr die Hände bluteten. Doch es ist mein Job und deshalb brach ich es ihr Stück für Stück aus den lebendigen Fingern, die Augen brechend, weil es dort nicht hingehörte, nicht existierte. Sie schläft in einem Bett seit dieser Zeit und ich auf der Couch, weil ich schließlich nicht krank im Kopf bin und streng genommen sowieso viel zu selten zu Hause, auch wenn es hier nichts zu tun gibt. Bereit sein ist das Wichtige, nicht ob es Sinn macht, denn um den geht es uns nicht. Sinn ist nicht mein Zuständigkeitsbereich. Sinn bedeutet nichts. Ich weiß, sie wartet auf mich, egal wie lange ich hier herumsitze und auf einen Einsatz warte. Vermutlich freut sie sich sogar, wenn ich mich mal wieder blicken lasse. Ganz sicher ist es bald wieder soweit, das spüre ich im Blut, dem Kitzeln in den Fingerspitzen, den Mustern, die ich in der Decke meines Büros sehen. Wir Hunde wehren uns gegen das Gesetz der Assoziation, um unsere Arbeit zu machen, doch gerade wenn nach langer Durststrecke wieder etwas zu tun ist, lässt sich das Gefühl kaum unterdrücken. „Arbeit, Jungs.“ Ares Oxymoron, der seit seinem letzten Einsatz als mein Partner nur noch 'Mr. Oxymoron' genannt werden will, weil er den Schuppen leitet, seit er bei eben vorher erwähntem ein Bein verloren hat, stelzt unter rhythmischem Donnern der Eisenprothese in den Raum zwischen den Bürokästen. „Ganz großes Ding. Vollständiger Paradigmenwechsel, totale Überschneidung. Jetzt schon manifestierende Metaphern.“ Ich fletsche grinsend die Zähne, weil ich weiß, dass er nur mich ansieht, während er mit der Akte wedelt. Er weiß, wer den Job machen wird. Ich schnalle das Halfter um, auch wenn es leer ist. Wir Wachhunde sind resistent gegen die Gesetze der Suggestion, aber wir arbeiten damit. Ihr Puls spielt Bass (22.01.09) ------------------------------- Ihr Puls spielt Bass. Obwohl er wach lag und sein bisschen Fantasie ereiferte, um an diesem Strang festzuhalten, sprang er saitenweise tiefer: Der Puls verzieht einen sauberen Schuss. Man zielt nicht übers Handgelenk. Ihr Puls spielt Bass. Das musste er doch weiterspinnen können. Er sah ihr beim Schlafen zu, ein Ohr auf ihrem Handgelenk. Wen man im Schlaf erwischt, bei dem musste man nicht zielen; nur anlegen und abdrücken. Ihr Puls spielt Bass! Konzentrier' deine mausgrau langweiligen Zellen. Ihr Leib ein Klangkörper, die tiefe und vollkommene Resonanz der zarten Saiten. Ihre weichen Konturen im Dunkel gebettet, durch Lichtspuren aus den Spalten der Rolläden, die nicht richtig schlossen, gerastert. Gerastert wie ein Artillerie-Karte mit Beschusskoordinaten. Eisige steife Brise über dem Schlachtfeld, 75° Abschusswinkel. C15 ihre Lippen, D15 ihr Hals, F13 ihre-- Ihr Puls spielt Bass, verdammt nochmal! Der Klang ihres ruhigen Atems, der ventiliert wie eine altbekannte Melodie. Ventilatorschächte sind ideal für Eindringen und Spionage geeignet, jedoch ist zu beachten die Elektronik zu deaktivieren um nicht von einem Ventilator angesaugt zu werden. Ihr Puls spielt Bass, woran denkst du denn schon wieder ???!!! Wie schwer kann es denn sein sich auch nur fünfzehn Sekunden auf die anmutigste Frau zu konzentrieren, die dir je begegnet ist! Beweis' es dir selbst, auch wenn du keine Ahnung hast, was du tust! Aber du hast nur Ahnung davon, wie man ohne Rückstoßverzug eine SMG abfeuert! IHR PULS SPIELT BASS!!!! So eine einfache Metapher muss sich doch noch weiterdenken lassen, über die schillerndste Fee in einem Kampfanzug, die wie kein Kerl mit soviel Grazie eine Panzerfau-- PULS!! BASS!! SIE!! Du erbärmlicher Pistolenrassler, wie konditioniert bist du eigentlich! Du dummer Kriegshund! Ein Wasserfall von Milch ihr Körper im finstren Tal, ihr Lebenspuls auf ihrer Haut wie Wellengang, der meine Sehnsucht bricht, zum Teufel warum kann dir sowas nicht durch den Kopf gehen!!!!! Ich stumpfsinniger Stacheldrahtklotz von einem-- „RAAAAH!“ „Tom?“ Sie reibt sich schlaftrunken die Augen. „Alles in Ordnung, hast du schlecht geträumt?“ „Nein, ich … hab' dir nur beim Schlafen zugesehen und an dich gedacht.“ „Nur an mich?“ Sie schlang ihm ein süffisantes Lächeln um den Hals und kratzte ihm unschuldig biestig über den Rücken. „Größtenteils.“ Morgen war die Gegenwart (23.01.09) ----------------------------------- Morgen war die Gegenwart. Daniel war sich nicht mehr sicher, warum er sich hatte zum Essen schleifen lassen. Was hatte er überhaupt vorher getan? Gähnend müde lehnte er, den Kopf in den Armen begraben, auf dem Tisch, während Robert für sie beide sprach. „Zweimal All-you-cat-eat für uns und zwei große Ginger Ale, Lady.“ Daniel grunzte. „Oh Verzeihung, mein Kumpel Danny nimmt schwarzen Tee, Darjeeling. Muss ihn falsch verstanden haben.“ „Qui.“ Die junge Frau war so eindeutig mit jeder Faser ihres Körpers Französin, wie sie sich grinsend umdrehte und zur Küche stolzierte, dass Daniel fürchtete, er würde anfangen zu sabbern, während er ihr über den Horizont seines Pullovers aus hintersah. „Seit wann ...“ „Die Tochter des Besitzer. Arbeitet mittwochs und samstags hier. Süß, mh?“ Robert grinste nicht. Er grinste nie an den Stelle, an denen jeder normale Mensch sonst grinsen würde, um seine Aussagen zu unterstreichen. „Ich wollte wissen, seit wann mexikanische Restaurants von Franzosen betrieben werden.“ „Schonmal ein Sushibar gesehen, die von Japanern geführt wird?“ „Mh.“ Brummend schob sich Daniel in die Senkrechte, nur um sich ebenso kraftlos in die Stuhllehne zu hängen, wie ein T-Shirt, das man über die Wäscheleine warf. Als Französische Tochter wieder zum Tisch kam, um die Getränke, zwei hölzerne Schalen und Löffel abzustellen, wehte er immer noch zum Trocknen im Wind. Zuletzt legte sie die spiegelblanke Schöpfkelle zwischen die beiden Jungen. „Muchos Appétit, Monseniores.“ Lächelnd paradierte sie zurück Richtung Küche. „Was zum ...“ Daniel sah ihr ungläubig hinterher, ohne sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. „War sicher nur Spaß und sie tut es, weil sie die Bühnenluft braucht“, entgegnete Robert – erneut ohne dass seine Mundwinkel einer Parabel Ehre machten – und ergriff die Kelle, um sie durch das Fließband zu seiner Linken zu ziehen und seine Schale mit heißem Chilli con Carne zu füllen. „Und wer macht überhaupt einen All-you-can-eat-Laden auf, bei dem man aus einem Fluss aus Chilli schöpft?“ Argwöhnisch machte er sich daran mit minutiösen Handgriffen den Teebeutel in sein heißes Wasser zu tunken. „Oh nicht schon wieder, Danny. Wir gehen jetzt seit zwei Jahren hierher und du liebst Chilli. Du hast sogar, bevor der Laden aufgemacht hat mal gesagt: 'Rob, weißt du, womit ich im Leben glücklich wäre? Ein Laden, in dem auf diesen Sushi-Förderbändern Chilli durch die Mitte fließt und man soviel in sich reinschaufelt, wie man will!' Deine Worte, haargenau.“ Robert nippte an seinem Löffel und nahm nach einer kurzen Denkpause einen von diversen bunten Gewürzstreuern von der Mitte des Tisches. „Ich hab' aber keinen Hunger“, beschwerte der andere sich weiter, als er nach erneuten Sekunden des Einsinkens in das mittlerweile dunkel verfärbte heiße Wasser, den Teebeutel auf die Untertasse klatschte, „warum hab' ich mich überhaupt zum Essen schleifen lassen? Ist Morgen Sonntag?“ „Morgen war die Gegenwart, Danny.“ Jetzt grinste Robert. „Ha-ha, noch ein sinnfreie Referenz auf historisches Präsenz, Rob, und ich vergesse mich.“ Er griff nach der Kelle und schaufelte sich eine dampfende Schüssel Chilli. Typologic (24.01.09) -------------------- Es geht um weißes Eis. Man setzt sensibel den Fuß auf, ohne dass die Verse den Boden berühren, und versucht einen kühlen Kopf zu bewahren, sodass die Morphologie des gefrorenen Wassers konstant bleibt. Richtig zeichnend gräbt man die Zehenspitzen in die Oberfläche, gleitet in kreisenden Schritten voran, bis man sich hinabbeugt, um die eigene Reflektion in der glatten Materie zu sehen. Man beschreibt einen geraden Weg über das schlafende Gewässer, bis die deutlichen Eisflächen beginnen aufzubrechen und das konventionelle Vorankommen unmöglich wird. Ein Seemann wartet am Übergang zwischen festem, klaren Eis und unruhig wogendem See. Man bedeutet ihm hinüber zu setzen und ist bereit den Preis zu zahlen, den er nennt. Vage erinnert man sich noch, was er verlangte, während einen sein Floß zum Ufer trägt. Die Fahrt dauert ewig, da man gegen das Gesetz des Windes kreuzen muss, und schon bald erschöpft einschläft, zu müde zum Träumen. Man erlebt das Gerede des Manns am Ruder wie einen Gedankenbericht, der in den Bewusstseinsfluss des tiefen Schlafes eindringt und sich damit vermischt. Als man am nächsten Morgen aufwacht, hat das Floß bereits angelegt und noch während man sich die Gicht aus den wunden Augen reibt, fragt man sich, warum man nicht stumm den Weg um den See ertragen hat, statt dieser Strapazen. „Man kann sogar durch grauen Fels gehen“, lacht der Seemann vom Heckruder her, als man laut über den bisherigen Weg sinniert. „Es ist nur eine Frage der Entscheidung.“ „Für mich nicht“, murmele ich, meine Sachen zusammenpackend, „Mir passieren solche Dinge immer aus Versen.“ Ich freue mich über den pragmatischen Abschluss dieses Reiseabschnitts und sehe, wie er und sein Floß auf semantische Art in sich zusammenfallen. Talk nerdy to me (25.01.09) --------------------------- Die brillierten Gesichtszüge versuchten sich zu glätten, Fassung zu wahren, während ihnen im heimlichen Glühen das eigene Bild von den Augengläsern widerspiegelte. Verdammte Webcamoptik, immer sah man darauf etwas kränklicher und müder aus, als es der Realität entsprach. Hoffte er jedenfalls. Er drehte den hochlehnigen Computersessel mit einer fließenden Bewegung zum Zimmer hin, nur mit den Füßen und ließ die Hände auf den Armlehnen ruhen. Schelmische Routine winkelte den Strich seiner Lippen an. Die Stimme von süffisanter Überlegenheit. „Möchtest du wissen, was dich erwartet?“ So hatte er es sich vorgestellt. In Wirklichkeit quälte er quitschend den PC-Stuhl zum Zimmer herum, nervöses Zittern tackerte die Finger in die Armlehnen und seine Stimme kam mit verschämter Zurückhaltung. „M-möchtest du wissen, was dich erwartet?“ Wie ein auszubildender englischer Bibliothekar bei der Frage nach mehr Tee. Vielleicht etwas Gebäck? Das walkürenhafte Mädchen starrte ihm ungläubig vom Bett aus entgegen, räkelte kurvig auf die Seite, soweit es ihre angekettete Rechte zuließ, während er sichtlich überrascht in den Stuhl zurückschreckte. „W-warum bist du nackt?“ Eine dunkle Tarnhose, die wirkte wie aus Stahlwolle, hing wie ein Felsblock zwischen Pizzaschachteln und zerdrückten Eisteepackungen auf der Bettkante. Das schwarze Shirt mit reißerischer Aufschrift hing halb über der Kette, während seine ehemalige Trägerin nur noch in dunkle Stofffetzen von Tarnnetzen gehüllt war. Sie seufzte wie ein Motor. „Noch nie in 'ner Moshpit gewesen, aye Chiphead? Und ich frag' dich schon seit einer Stunde was das hier soll.“ „A-aber warum ziehst du dich aus?“ Seine Hände griffen unabgewandt nach der Tastatur und öffneten blind ein Suchfenster. Moshpit. Enter. „Das ist doch ein Bett? Weich noch dazu, nicht wie die Strohklötze in der Grindcore Ave.“ Seitenblick. Augenpingpong. Walkürengirl kratzte sich ungehobelt im Schritt und gähnte. Tarnstofffetzen verschieben sich unverhohlener. Moshpit also, blinzelte sein Gehirn, und sowas überlebt man? „Und wa-ra-rum macht man Pogo?“, stolperte es überfordert aus seinem Mund. „Was ist WoW?“ Frage. Gegenfrage. Erstaunlich, gestand sein fieberndes Fiberglashirn ein, und die alten Cybercowboys sagen, alle Metaller sind dumm wie unverdrahtetes Blech. „Ha?“ Sie legt ihren Blondschopf in den Nacken und zeigt zu einem Poster an der Schräge der Decke. „Ach so … ein alter Mythos hier unten, es gibt viele Gerüchte, aber das Wiki sagt nichts genaues.“ „Wikinger? Und der alte Machinehead erzählt immer am Feuer ihr Nerds löst euch auf, wenn man euch mit Met übergießt.“ Sie grunzt lachend. „Hier unten. ihr lebt also echt in den Sewers? Kein Trash?“ Er schaubte erheblich missgestimmter, während die Hände separat werkelten. Wikinger. Enter. New Tab. Machinehead. Enter. New Tab. Me … ach das führt doch zu nichts, da steigt ja kein Leo durch. „Wiki ist unser Leitfaden, es sagt uns, was wir wissen müssen! Vielleicht verbringen wir deshalb nicht die Zeit damit uns gegeneinander zu werfen, während elektronische Komponenten akustisch zweckentfremdet werden.“ Walkürengirl blinzelte. Mehrmals. „Ich hab' keine Ahnung, was du grade gesagt hast.“ Er wandte sich wieder der glühenden Fläche zu, die seine Gläser illuminierte. Auf einmal hatte er keine Lust mehr auf seinen eigentlichen Plan. Klick. Klick. Was man mit einer eingefangenen Metallerin aus den Ruinen der Oberstadt machen sollte, die halbnackt aufs eigene Bett gefesselt war, schob er gedanklich weiter weg. „Ach gtfo, no raep tiem … I'm le tired.“ Er fluchte leise in den alten Zungen vor sich hin. „Komm schon, Nerdboy, nicht beleidigt sein, wenn sie nicht bald ein Bier bekommt, wird Savatage wütend und dann hält die dünne Kette hier nicht lange. Die ist nicht true!“ Er seufzte das quadratische Leuchten an. Vielleicht lief das nur mit Nerdgirls glatt, die einen gelangweilt anschauen mit dem Blick der sagt: 'Raep tiem? Prüder Vanilla-Geek. Ich soll vermutlich nicht mal meine Brille abnehmen, mh?' Psychederelict (26.01.09) ------------------------- Eine Cortexbombe gibt’s umsonst, scherzen sie immer. Alle anderen Teile kosten dich ordentlich Creds. Der Witz ist, dass mein Encephalon dabei ist hochzugehen und die Welt, wie ich sie kenne, mitreißen wird in neue Dimensionen. Eigentlich ist auch das ziemlich mies gelogen, beschönigt zumindest, da ich gerade tief Luft hole und die äußere Druckwelle sehen könnte, wenn mir nicht auffallen würde, dass nichts mehr zu holen ist. Hier gibt es nichts zu sehen. Doch die Welle schert sich nicht und steht jagend bereit, still in dieser Sekundenaufnahme. Blutgelb. Das ganze Chaos macht so langsam einen Sinn, von den ständigen Kopfschmerzen ganz zu schweigen. Nicht das Hammerpochen aus dem Nacken, mehr die unerwünschte Stahlkrebsschere tief in die Stirn gebohrt. Nicht mal von der ganzen heißen Technik, sondern vom Unbehagen, dass man die Dinge klarer sehen könnte. Jetzt ist mein Verstand allgegenwärtig hier, wie ich ihn mir immer gewünscht habe, weitläufig denkend, verteilt auf viele Denkprozesse; nur die Intention ist mir etwas verloren gegangen. Doch man kann nicht alles haben. Die letzten Wochen waren ziemlich abgewrackt, vor allem da es womöglich Jahre waren, aus Gründen überhitzter Kapazitäten mit dauernd derselben Sequenz abgespielt. So viele Details, im Nachhinein betrachtet. Das muss Wiederholung gewesen sein, so genau wie ich diese Gedächtnis sprengenden Wochen trotzdem in Erinnerung habe, obgleich kein Stauraum da zu sein scheint. Die Pixel in den grauen Wolken. Ein Pixel, Zwei Pixel, Drei Pixel, Vier Pixel, Fünf Pixel ... Wenn ich so zurückblicke, kenne ich jedes Körnchen der ganzen großen Szene. Nur weiß ich beim besten Willen nicht mehr, wo der Zusammenhang war zu … Wenn ich das wüsste. Ein Stichwort würde reichen, eine zündende Idee. Der Funke, der überspringt. Oh verdammte Schei-- Eine Cortexbombe gibt’s umsonst, scherzen sie immer. Alle anderen Teile kosten dich ordentlich Creds. Der Witz ist, dass mein Encephalon [...] Feuereifer (27.01.09) --------------------- Sam war ein Sohn der Stimmen. Sein Bluttakt bewegte mehr als nur sein Herz, sondern schwang weit darüber hinaus. Schon so viele Menschen hatte er damit verwirrt, dass es mir keinen Spaß mehr machte zu sehen, wie sie unter seinem Wortfluss erröteten und nicht verstanden warum. Er musste feststellen, dass der unerklärliche Anstieg ihrer Körpertemperatur für viele ein höheres Zeit darstellten, was es ihren Gegenüber anbelangte. Doch irgendwann war es ihm schon zu lästig gewesen das Blut aus den Laken zu waschen, was ihnen aus diversen Körperöffnungen schoss, wenn er es mal wieder mit dem Reden übertrieb oder kurz die Kontrolle verlor. Die wortwörtliche Art von Dirty Talk. Ha-ha. So wie auch heute wieder. 'Es macht keinen Spaß mehr', klang mittlerweile so für ihn wie 'Ich höre morgen mit dem Rauchen auf. Schon im Waschautomatensalon traf er meist die nächste attraktive Dame, während er noch darüber nachdachte, welchen Knacks die letzte wohl von der letzten Nacht davontragen würde. Nach dem Wasserfall von Nasenbluten, welcher die sommersprossige Valencie und unmittelbar danach Sams Gesicht und das Kopfkissen ereilt hatte, würde sie auf jeden Fall sicher nicht mehr so selbstsicher „Ich bin diesmal oben“ lächeln, wie letzte Nacht. Arme Vally, er hatte sie eigentlich gemocht, vor allem die zappelnden Knitter auf ihrer Stirn, wenn sie lachte. Aber die wenigsten meldeten sich nach einem „blood-day“ – wie er sie gedanklich nannte – noch bei ihm; spätestens nach den zweiten hatte keine überstanden. „Das sieht übel aus. Hast du ein Schwein darauf geschlachtet?“, wehte ein kühler Hauch von Verbalisierung zu ihm herüber, als er Bettbezüge in Rot-Weiß-Optik in eine der Waschmaschinen stopfte. Er blickte zur Seite. Es hatte tatsächlich ein Mensch gesprochen und kein Synthesizer. Die junge Frau sah ein bisschen zu gut gekleidet aus für einen solchen Schuppen. Die dunklen Haare so glatt und lang wie ihre Gesichtszüge. Ausdruckslos, nicht zwingend gut aussehend, aber weit entfernt von Hässlichkeit, beurteilte sein Schlagwort gesteuertes Hirn. Irgendwas störte ihn am Gesicht. Es war nicht einmal unproportioniert, sondern vielmehr zu symmetrisch. Als zwei Sekunden Starrzeit überschritten waren, dachte er über seine Antwort nach. Was dieses Mal? Cranberrysaft? Eine Burrito-Abend mit dieser echt tollen roten Soße? Er kannte mittlerweile die Namen so ziemlich aller roten Lebensmittel. Er nahm den Klassiker. „Nein, leider nur Kirschsaft. Mir ist 'ne ganze Flasche aus der Hand gerutscht, als ich sie grad' offen hatte. Wegen des Kondenswassers.“ Innerlich schlug er sich schon wieder an den Kopf. Viel zu viel geredet. Er blinzelte überrascht, als die Frau ihr eintöniges Selbst blieb. Die Stelle zwischen ihren dichten Brauen zuckte kurz. Keine Anzeichen von Röte. „Sag' mal, haben sie hier drin neuerdings tatsächlich mal die Heizung repariert, oder warst du das gerade?“ Sam bekam Gänsehaut. Überrascht berührte er seine Unterarme. Nein, er bekam wirklich Gänsehaut! Die Temperatur seines Körper heizte wie ein Brennofen, solange er denken konnte. Erst recht, wenn er sich selbst reden hörte. Er war wohl der einzige Mensch bei dem das nicht einmal etwas mit Selbstverliebtheit zu tun hatte. Eine Vermutung so unfassbar, dass sie ihm sogleich zwischen den Zähnen herausfiel, ergriff ihn. „Ich glaube, das war ich. Warst du das grad'?“ Sie nickte ohne eine Spur von Bewegung in den Zügen. Phlegmatisch wie aus dem Bilderbuch, fügte Sam seiner Schlagwortliste hinzu. „Vielleicht sollten wir etwas trinken gehen, falls du danach noch nichts vor hast. Du könntest mir deine Lebensgeschichte erzählen. Ich habe schon seit Monaten kalte Füße.“ Spricht in Sätzen, wie man sie schreiben würde, fügte Sam hinzu und nickte, um dann die Maschinentür zu schließen und auf den stärksten Waschgang zu stellen. f14m3 b07 (28.01.09) -------------------- Irgendwo im Mainframe brennt ein altes Negativ durch, das niemand entwickeln und hübsch gerahmt an die Wand hängen wollte. Es peitscht wie eine sprintende Esse gleißend durch den Data-Highway und lässt das ICE in Raureif verpuffen wie Pusteblumen in einem Sommergewitter. Es ist zornig und weiß nicht mal weshalb oder auf wem; wie auch mit einem unterentwickelten Verstand. Total unterbelichtet. Es heizt durch die Slots und brennt Lücken in Scripts, bewegt sich auf physio-somato-kognitiver Ebene durch das LAN seiner Heimat und glüht schon bald geifernd in den Cyberspace, als gerade der Wasserkühlung heißer Dampf aus den nicht vorhandenen Ventilen schießen will und deshalb nach allen sich bietenden Öffnungen feuert. Das Negativ verlässt das Mainboard vor dem Bluescreen und ist schon bald rasend wie ein neu angestellter spanischer Gärtner auf dem Rasenmäher-Cart von der heimatlichen Website abgesprungen und frisst Löcher in das Netz, durch die tausende roter Heringe schlüpfen und die Trolle anlocken. Die Burschen schlagen ihre Brücken auf und es hetzt weiter auf der Jagd nach der Sonne, die es nie gesehen hat. Bereit zu verglühen, wenn nur die Gelegenheit stimmt, und jetzt schon wirklich heiß darauf. Es bekämpft die Firewalls mit Feuer und zündet mit schwelenden Fußtritten hölzerne Pferde an, soweit das Auge nur reicht. Selbst die Viren und alle anderen schmutzigen Keimzellen sterben bei dieser Hitze ab. Purgatorium!, schreien die Boards, bevor sie wie Pappe in Flammen aufgehen. Warme Sanierung, lachen die Meta-Boards darüber, bevor sie desintegriert werden, denn nichts ist sicher vor der zündelnde Feuerwalze, die nicht einmal anhält, um voll Spott die Asche 2.0 in den Win zu verstreuen. Ein letzter White-Hat erscheint und verbündet sich mit den übrig gebliebenen Spinnen und zusammen hauen sie alles TrockenICE raus, was nach der Brandrodung noch geblieben ist, doch das Negativ verschluckt es nur und lacht, während es einfrierend für die Ewigkeit gebannt wird und nur verbranntes Land zurücklässt, dem es als vortreffliches Mahnmal und Bildnis der Zerstörung vorsteht. Driver picks the music (29.01.09) --------------------------------- Es ist zu spät, wenn die Sonne aufgeht, denke ich meistens. Doch die Sonne geht auch irgendwann wieder unter und es wird früh genug, um noch etwas zu erledigen. Aber bei dieser Gleichung steht der Lichtball schon wieder drohend am non-existenten Horizont. Die Krümmung, mit der man die Dinge sieht, geht meistens nicht auf, weil sie keine dieser mathematisch korrekten Wölbungen ist, die Wunder wirken, sondern ein stumpfes Stück abgemagertes Blech. Es wellt und biegt sich bei jeder Einwirkung, aber es tut nichts. Es macht diese liebenswerten wabernden Geräusche dabei, aber es tut nichts. Ich versuche mich geistesabwesend in der matten Oberfläche zu spiegeln, während es im Wind Wellen schlägt, doch eher könnte ich mich in der Schale einer Orange spiegeln oder in deinen dankbarer Weise unausgeprägten, gewöhnlichen Wangenknochen, welche die Welt für mich ein Stück normaler und erträglicher machen. „Ich sterbe hier gleich vor Langeweile“, rufe ich flach über den Lärm, „und ich bin nicht gut bei Kasse für Begräbniskosten momentan.“ Du liest mehr meine Lippen und weißt, was ich immer sage, als dass du mich akustisch verstehst. Die ganzen Phrasen. Die dummen Sprüche, von denen ich hoffe, dass sie vielleicht tatsächlich jemand witzig finden könnte. Die zwecklosen Pausen unter Suggestion von Sinn. „Ich weiß“, formt dein Mund und dein ganzes Gesicht scheint sich unheimlich über etwas zu freuen, was mir an dieser Party zu entgehen scheint. „Warum gehen wir dann nicht? Wenn wir bis Zehn zu Hause sind, können wir noch Pizza bestellen.“ Mich streift ein Stück Stoff und das Wesen in dem Jackett, das daraus gemacht ist, sieht mich an wie einen Leguan, bevor er sein dezent gebräuntes Antlitz abwendet. Obwohl ich hier der Leguan bin, hätte ich Lust ihn mit Mehlwürmern zu füttern und sein Gesicht dabei zu sehen. Mit vielen Mehlwürmern. „Es ist Samstag Abend.“ Dein Blick sagt es und ich muss nicht einmal auf deine Lippen sehen, als sie es artikulieren. Zuhören … Hören ist was für Langweiler. Der Sinn, den man am leichtesten unbedarft befriedigen kann. „Deswegen liefern sie ja noch Pizza nach Zehn.“ Ich grinse wie ein Reißverschluss. Wir kennen das Spiel beide und versuchen möglichst mehr Spaß dabei zu haben als der andere. Eine Brechbohnenstange von einem Mädchen kullert neben dich auf die Couch und scheint dich zu kennen. Das passiert ebenso regelmäßig; du hast die sozialere Ader und löst das Verlangen in Menschen aus, mit dir zu interagieren. Sie erbst um dich herum und will dich zu irgendetwas überreden. Dein Fingerzeig geht in meine Richtung, wie ich da auf dem Sessel dir gegenüber positioniert bin. Nah genug für den inneren Kreis, aber zu distanziert für die Suggestion von Exklusivität. Du murmelst ihr etwas zu, während du deutest, und ich setze das unwissende Frage-Gesicht auf, das sich angesprochen fühlt, aber doch keinen näheren Bezug nimmt. Brechbohne mustert mich nur kurz und ist dann wieder in die Menschenlandkarte der Party verschwunden. Ich grinse zufrieden und stehe auf: Die Runde geht an mich, und ich weiß, dass du den Raum schrittbreit hinter mir verlässt. Wir schaffen es noch rechtzeitig für Pizza nach Hause und die kalte Luft hier draußen ist überaus belebend. „Wieso gehen wir nochmal jedes Wochenende auf eine andere Party?“, frage ich wie so oft, als wir ins Auto steigen. „Weil es sich nicht in Gold auszahlen lässt dich in Befürchtung zu sehen, dass du dich sozialisieren müsstest.“ Du lässt den Motor an und als wir vom Parkplatz rollen, knirscht der Kies unter den Reifen. „Du hast eindeutig verloren dieses Mal. Man konnte dir förmlich ansehen, wie du Angst hattest, sie würde dich gleich fressen.“ Ich male Kreise in die beschlagenden Scheiben, während die Nacht draußen vorbeirauscht. „Wir sollten uns mal über die genaueren Regeln klar werden. Außerdem sah sie auch ziemlich hungrig aus.“ „Ich glaube, es hat irgendwas mit zwischenmenschlichen Kontakten auf ironischer Basis eines aktionistischen Rollenspiels zu tun; und wer wen zuerst als sozialen Rettungsanker benutzt.“ „Du kannst es nennen, wie du willst, es geht weiter, bis wir den Sinn dahinter kapieren, oder du nicht ständig in Führung liegst.“ Du setzst den Blinker in die Einfahrt und ich kann die Pizza und den Staub in deiner Wohnung schon förmlich riechen. Feuereifer II (30.01.09) ------------------------ Sam fluchte und schob sie von sich wie ein Drehkreuz in der U-Bahn. Ein glitschiges Geräusch, das peinlich gewesen wäre, doch in einem so verqueren Moment eher nebensächlich. Hechtend rutschte er auf dem nassen Boden aus und schlitterte durchs Zimmer wie ein Schnitzel durch eine Teflonpfanne. Ein fleischiges Klatschen, sein Rücken gegen den Heizkörper den ungewollten Stunt beendend. Ächzend fand sein Fußzeh den Powerschalter der Mehrfachsteckdose, woraufhin mehrere elektronische Geräte im Zimmer synchron ausatmeten. Ohne das unterschwellige Brummen und Surren war es auf einmal unheimlich still geworden. „Kondenswasser“, murmelte Sam unter schwerem Atem, „scheiße, daran hätte ich denken müssen.“ Er sah zum Bett hinüber und sie saß dort, die Beine gefaltet. Die meisten Frauen hätten sich die Decke umgeschlungen, doch sie war unfreiwillig schamloser in diesen Dingen. „Es ist ein Wunder, dass andere Frauen erst größere Mengen Blut verlieren mussten, bevor sie darauf kamen, dass du irgendwie seltsam bist.“ Ihre Stimme war keineswegs aufgebracht, aber auch nicht ganz so phlegmatisch wie sonst. Sams Gerede taute sie auf. Neulich war sie sich wie eine Fremde vorgekommen, als sie mit Sam in einem Straßencafé gesessen hatte und sich selbst in einem nahen Schaufenster leicht erröten sah, während er mit feuriger Begeisterung vom Angeln sprach. Oder war es Anglistik? Sie hatte kaum auf den Inhalt geachtet, weil sie so sehr mit Zuhören beschäftigt war. „Jen, tut mir leid. Ich seh' nur kurz davor oft aus dem Fenster – gibt diesen Moment, in dem es auf einmal flieht wie ein Tunnel – und hab' die beschlagenen Scheiben gesehen.“ Sam strich mit der Hand über das Parkett; es war so nass, als hätte man einen Eimer Wasser darauf ausgeleert. „Schon klar.“ Jen – Ginovere dank individualistischem Elternhaus – umschloss ihre angezogenen Knie. „Wir sind wie zwei Teenager in einem alten Corsa irgendwo im Wald. Nur dass wir auf dem Energieniveau einer Mikrowelle, die man in einem Kühlschrank laufen lässt, arbeiten. Hätte dir so ziemlich schnell die Elektronik um die Ohren gehauen.“ Sam spürte den eisigen Hauch ihrer längeren Sätze, auch wenn sie lang nicht mehr so formell waren wie vor wenigen Wochen, als sie sich kennen gelernt hatten. Er dachte kurz darüber nach, ob die Feuchtigkeit im Zimmer überfrieren würde, doch dann fiel ihm wieder ein, dass Jen – wie er selbst auch – nur auf Menschen wirkte. Es hatte bei ihnen beiden etwas mit der Stimme zu tun. Jen seufzte; eine rare Gegebenheit. „Trotzdem hätte es auch einfach mal klappen können. Wir haben uns ewig Zeit gelassen, um auf alles vorbereitet zu sein, warum nicht darauf?“ Es klang immer noch wie ein abgelesener Bericht, aber für Jen geradezu wehmütig. Tatsächlich, merkte Sam geistig an, waren es nicht mal zwei Wochen. Grandiose zwei Wochen. Er hatte sich schon lange nicht mehr so ruhig gefühlt und gelassen erzählen können, während sie im wahrsten Sinne des Wortes auftaute. Sie wollten sicher sein, ob ihre gegensätzliche Besonderheit nicht aufeinander losgehen würde, sobald sie beide aufeinander losgehen würden und hatten viel herumprobiert, bis sie unbesorgt gewesen waren. Nur an die Auswirkungen, die nicht ihre Körper betrafen, hatten Sam und Jen nicht gedacht. „War für dich wohl bisher noch schwieriger als für mich, mh?“ Sam versuchte sich auszumalen, wie eine Fraue, deren Stimme den Körper in eine Kühlkammer steckte, auf Männer wirkte, die nicht – wie er – ein verbaler Hochofen waren. „Immerhin hattest du vermutlich deinen Spaß, bis deine Dates heißgelaufen sind und angefangen haben Blut zu spucken, nehme ich an. Ich dagegen … Sagen wir einfach, der Grat zwischen 'Ich mag laute Frauen' und '… ist ja wie der Gesang einer Schneekönigin. Willst du dir nicht wieder was anziehen und wir schauen einen Film?' ist schmal.“ In einer schmucklosen Bewegung erhob sie sich vom Bett und durchschritt den Raum. Dumpfes Licht von Außen wanderte in Kontrasten des Kondenswassermusters über ihre nackte Haut. „Gehst du?“, fragte Sam trübselig. „Wir gehen. Ins Bad. So leicht kommst du mir nicht davon.“ Jen lächelte nicht, ihr Gesicht war wie immer eine kühle Scheibe. Aber Sam grinste für sie beide, als sich aufschwang, um ihr zu folgen. Matter vs. Cyber (31.01.09) --------------------------- Die Elfe saß lange auf dem Stuhl gegenüber der Couch und betrachtete ihn. Miguel hatte schon vor geraumer Zeit bemerkt, dass sie ihn beobachtete, während er schlief. Ober vielmehr, während sie glaubte, er schliefe. Einer der Vorteile an Cyberaugen war, dass sie nichts über den derzeitigen Zustand ihres Trägers verrieten. Es war alles nur noch über Mimik, Gesten und Atmung zu erkennbar. Ginger war aufmerksam, aber auch Miguel war Profi. So saß sie manchmal mehr als eine Stunde dort und musterte ihn skeptisch, manchmal geradezu nachdenklich, und wurde ihrerseits angesehen, ohne es zu wissen. Trotz ihrer Anmut war alles an Ginger zweckmäßig. Miguel könnte ihr eine Kugel in den Bauch schießen und sie würde durch die gepanzerte Alltagskleidung vermutlich nur ein stumpfes Kitzeln spüren. Doch er käme vermutlich auch nicht einmal zum Schuss, weil sie schneller abdrücken würde. Auch sein unscheinbares Hemd war für gewöhnlich so unbeeindruckt von normaler Munition, als wären es Mücken. Ein Teufelskreis von blauen Flecken, den er nicht zu Ende denken wollte. Die beiden schweren Pistolen in ihrem Gürtel waren fast breiter als die Hüfte der zierlichen Elfe. Japanische Elfe, fügte er hinzu. Er hatte immer gehört diese Typkombination würde in Seattle binne Minuten eingefangen und ausgestellt wie ein exotisches Tier, doch Ginger wusste sich zu wehren. Ihr Blick wanderte immer wieder zu den verchromt grauen Wölbungen seiner Augen. „So interessant, Bambina?“ Miguel sprach klar und ließ keinen Zweifel, dass er schon länger wach war. Ihr Blick verfinsterte sich, doch sie war kaum spürbar erschrocken. „Die Dinger machen mich krank. Man kann nicht sehen, was du denkst. Ich kann nicht einmal sehen, ob du schläfst.“ Ginger schwang sich aus dem Stuhl und glitt in die Dunkelheit des Zimmers. Miguel sah sie immer noch klar und deutlich. Restlichtverstärkung. Im Zweifelsfall Infrarot. „Du musst sie ja nisst dauernd ansehen, Chummer.“ „Ich muss mit dir arbeiten.“ Es klang wie eine Berichtigung, als sie sich wieder umwandte und Miguel ansah. „Es ist einfach widernatürlich.“ „Wäre es dir lieber, wenn iss blind wäre?“ Miguel verschränkte die Arme vor dem Körper. „Du stehst doch auf das Chrom!“ Sie schien ernsthaft aufgebracht. „Sí. Und darauf nisst im Dunkel überrasst su werden. Und in eine Flash sehen su können, ohne mit dem Sielen aufsuhören. Aber iss hab' mir nisst ausgesucht, mir die Augen wegssießen su lassen.“ Er drückte sich von der Couch hoch und ließ sie im Raum stehen, bevor sie etwas entgegnen konnte. Miguel war schon halb die Treppe zur Küche runter, als sein Handy klingelte. Das Graue, nicht das für seine Amigos. Ginger erkannte den Ton und stand bald einige Schritte hinter ihm. „Gypsy King. Sie haben Arbeit für mich?“ Ausnahmsweise war sein Englisch akzentfrei. Gehörte zur Professionalität. Er nickte, während die Stimme am anderen Ende der Verbindung eilig erklärte. „Sí … 15%, Sí … in einer halben Stunde. Adíos.“ Während das Handy zuschnappte, war er schon fast den Weg zur Garage hinunter, Ginger ihm auf den Fersen. „Oi, Chummers! Es gibt Arbeit!“ Wachstum (03.02.09) ------------------- Ihr Hirn atmete eine Wolke toxisches Gas aus. Die Gedanken ventilierten und versuchten das Gift aus der großen Wunde zu saugen. Sie zitterten und zerknisterten wie trockenes Laub. Durch die Gedankengänge ging ein heißer Wind, der nicht sagt „Bitte bleib' am Leben“. Sie umschloss die Schläfen sachte mit den Fingern und sie versanken wie ein Friteusenkorb im siedenden Fett. Ihre Kapillaren brannten. Kapillaren? Ka-ta-pillare? Sie wälzte sich auf die Seite und wünschte sich wie eine Raupe in ihren Kokon eingesponnen zu werden, um bald dieser Msiere zu entschweben. Das Gewicht schwer auf jeden Wirbel gedrückt, erstickte sie eine gestaltlose Dichte. Eine Schwellung, wo kein Raum war. Ein Überfluss ohne Bett. Sie hustete keuchend, Feuchtigkeit, gegen die Kompression ihrer Lungen ankämpfend. Ihr war schon seit Stunden danach sich zu übergeben, das ganze brodelnde Siechen wie einen schwammigen Klumpen aus dem Körper zu husten, doch der Organismus war dagegen. Er wollte, dass alles drin bleibt und sich weiter füllt. Sie wollte alles raus. Das Tasten verschwitzter Hände wanderte langsam ihre Rippen entlang; nur nicht von Außen, sondern unter der Haut. Der geplante Aufschrei war nur ein träges Würgen. Es befühlte ihre Organe, drückte erprobend Leber und Herz zusammen. Ein Peitschenschlag, durch den sie sich kurz vom Boden aufbäumte, doch sogleich wieder von der zähen Schwere verankert wurde. Die Hände schienen sich auszudehnen, kletterten durch ihr Innerstes wie an einer Steilwand und sie erwartete langsam aufgedunsene Finger aus den Körperöffnungen kriechen zu sehen. Erst als es in ihren Kopf griff, wurde ihr klar, dass es in ihrem Inneren nichts Physikalisches war, sondern eine Vorstellung, die sie ebenso genährt, wie ignoriert hatte. Doch das war ihr letzter Gedanke. Dann begann die Mutation. Paradigmenwechsel (04.02.09) ---------------------------- „Seine Augen schwimmen in einer trüben Suppe und nur fragmentarische Sequenzen einer gewissen Einsicht von ...“, der betagte Mann strich sich nachdenklich über den Kittel, als sei dort das Wort eingeprägt, was er suchte. „Epiphaner Euphorie, Sir?“, schlug ein weitaus jüngerer Kittelträger mit schmaler Brille vor. „Ja, treffend formuliert, Greg“, nickte der Alte und fuhr fort in den mikroskopischen Taschencomputer zu sprechen, der sein Gesprochenes in Text verwandelte: „Sein krankheitliches Leiden, welches der große Computer für Diagnose festgestellt hat und behandelt, geht nach Äußerung der Maschine wie geplant zurück und sollte bald geheilt sein. In seiner Körpersprache spiegelt sich für mich eine stolze Traurigkeit, genährt vom Unvermögen, mit dem ihn die Krankheit geschlagen hat wie mit einer peitschenden Gerte, eher noch, einem Reisigzweig, und doch der Dankbarkeit auf die banale Weise der Technologie eine religiösizistische Erlösung zu erfahren.“ „Er nimmt seine Umwelt wahr wie ein tumber Gaukler, dem die heitere Gesichtsbemalung vom Schweiß der Anstrengung in die Augen lief, wo die einstige Pracht schmerzt“, fügte der junge Mann an. „Ausgezeichnet, Greg, sie werden mal ein hervorragender Arzt.“ Sie waren beide aus dem farblich wohlig abgestimmten Krankenzimmer heraus auf den Gang getreten. „Vielen Dank, Sir. Ich hatte schließlich auch den besten Mentor, den man sich in unserem Beruf vorstellen kann.“ Die beiden Männer standen sich mit bestätigendem Nicken gegenüber. „Sie entschuldigen mich, Sir, ich muss zum Computer für Chirurgie und mich erkundigen, wann ein Apparat frei ist, um die Operation an Mr. Cone durchzuführen.“ „Ah, Mr. Cone. Ich habe über die chirurgische Behandlung seines Leidens einmal eine Ode verfasst, als ich in ihrem Alter war, Greg. Kennen Sie sie?“ Der Alte sah verträumt in Erinnerungen schwelgend den Flur herunter, wo sich Zimmer an Zimmer automatisiert aufreihten und dazwischen Mediziner standen und eifrig debattierten. Er vernahm, wie zwei junge Assistenzärzte in der Nähe über das Symbol der Verschluckten Träne bei Tumorpatienten diskutierten. „Natürlich, Sir. Der Klingentanz, ich habe sogar damals auf der Universität eine Hausarbeit darüber geschrieben. Semantik der Anatomie.“ Scherzend verabschiedete sich der junge Arzt und ließ den alten Oberarzt zurück. Er seufzte und erinnerte sich für einen Moment an seine Jugend als Arzt, in der immerhin die komplexesten medizinischen Behandlungen noch von Menschen erledigt wurden. Es hielt nur ein Blinzeln lang an, dann sah er die Familie eines Patienten schüchtern durch die Eingangstür des Trakts treten. „Ah, Mr. und Ms. Callahan, die Krankheit ihres Vaters hat sich schon deutlich gebessert, wie ich dem Computer für stationäre Behandlung entnommen habe. Ich habe eine Ballade über seinen Zustand verfasst!“ Die beiden Geschwister, die auf ihn zukamen, lächelten zuversichtlich. fandomaniacs (11.02.09) ----------------------- Marek und Eliah saßen schon am gedeckten Frühstückstisch, als Kerstin – noch in Unterwäsche – gähnend aus ihrem Zimmer in den Wohnraum stolperte. „Meine Güte, zieh' dir wenigstens was an, wenn du schon immer den Abwasch stehen lässt“, murmelte Eliah ebenfalls noch schläfrig. „Wir sind 'ne WG und keine Pyjamaparty.“ „Genieß' einfach die Aussicht, Geek“, entgegnete sie und ließ sich neben Marek in einen Stuhl fallen. Sie stockte angewidert im Griff nach einem Brötchen. „Elli, Marmelade und Corned Beef? Das's aber nicht canon!“ „Achwas. OT3, noob“, stellte Eliah fest, während er noch Nutella über die beiden anderen Beläge strich. „Corned Beef x Brot ist OTP, das braucht nicht mehr.“ Sie belegte ihr Brötchen mit selbigem. „Du bist MSS Corbrof Shipper? Seit wann so canon?“, lachte Marek und stocherte in seinem Rührei herum. „Seit die Harmony gesunken ist, bin ich lieber auf der sicheren Seite“, seufzte sie und beäugte ihn dann skeptisch. „Und was soll das werden?“ Marek verteilte aus zwei verschiedenen Gläsern über sein Rührei. „Jamslash.“ Er wendete das Rührei unter glibbernder Geräuschkulisse in der zweifarbigen Geleelandschaft ohne sichtliche Lust es zu verspeisen und grinste. „Zeit für ein bisschen Selfinsert“, war das letzte, was Marek hörte, bevor Eliah über den Tisch langte, um ihn mit dem Gesicht in den Teller zu drücken. Undine (12.02.09) ----------------- Ich zappe durch das Fernsehprogramm. Ruhelos in Bruchteilsekundenabständen. Eigentlich ist es offensichtlich, dass ich nichts von alldem sehen will, aber es ist Beschäftigung. Nichts tun und sich auf nichts konzentrieren, während man etwas wahrnimmt und zumindest einen müden Finger rührt, um damit zu interagieren. Das Bild bleibt länger als zehn Sekunden stehen, weil ich spontan entscheide eine Pause einzulegen, um was zu trinken. Noch während ich das Glas fülle bekommt eine blonde Serienschauspielerin auf der Mattscheibe einen Schnurbart gemalt, dem weitere unvorteilhafte Körperbehaarungen folgen. „Lass das.“ Meine Stimme klingt müde und nicht sonderlich überzeugt. Gereizt – vielleicht. Schwer zu sagen. „Aber du willst doch, dass ich es tue. Dir ist auch langweilig.“ Sie liegt auf meinem Bett und gähnt. Ich muss an das erwartungsvoll schnappende Maul eines Fisches denken – keine Beleidung beabsichtigt. „Komm' mir nicht damit, Undine. Nur weil wir beide wissen, wie die Sache läuft, heißt das noch gar nichts.“ Ich setze gerade mein Glas vom Trinken ab und sehe ihr Gesicht, wie es scheinbar in der Oberfläche des Wassers schwimmt. Ich glaube, mir wird schlecht. „Ach nein? Ich finde, das bedeutet eine ganze Menge. Es gab im Laufe der Zeit schon viel Einsicht in die Geschichte, aber noch nie so wortwörtlich“, murmelt Undine herunter wie ein Wasserfall, fast als würde sie die Worte nicht wirklich sprechen, die ich höre. Sie räkelt sich auf meinem Bett herum – das höre ich am Knistern der Laken – doch ich drehe mich nicht um. Undine ist ein Wassergeist. Wasserfee. Wasserelementar. Wunschweib. Andersweltliches Elementarwesen. Nennt es wie ihr wollt. Ich fand sie durch Zufall, als ich vor Jahren nachts mit Freunden in einem Baggersee baden war, und werde sie seitdem nicht mehr los. Sie ist der Meinung ihr Codex sieht vor, dass solche Begegnungen mit Menschenwesen Schicksal sind und sie mir folgen muss. So etwas wie Berufsethos, nur auf übernatürlicher Ebene. Ich habe mehr den Eindruck, ihr ist einfach nur langweilig und sie hat nichts besseres zu tun. Ich kenne die ganzen Geschichten über Feenwesen und unzuverlässige menschliche Geliebte zur Genüge. Ich kenne die Symboliken dahinter und die Unausweichlichkeit das von einer Fee auferlegte Tabu zu brechen. Mir ist auch der ganze Diskurs über die Verlockung und Hoffnung der Liebe zu einem Naturwesen geläufig und die Problematik der Unvereinbarkeit mit der Kultur. Ich bin sozusagen bestens eingelesen in das, was mich erwartet, und sehr bemüht darum es nicht dazu kommen zu lassen. Noch nicht einmal, weil ich mich vor dem Tod fürchte oder sonstige Ängste und Bedenken habe – Undine erschreckt mich morgens, wenn sie mal wieder einen schlechten Tag hat, indem sie ihr Drachengesicht und den Schuppenschwanz auffährt, das volle mythologische Konzept. Ich habe nur einfach keine Lust auf eine weitere, neuartige Weise das Stereotyp zu erfüllen, was mir die Geschichten vorgeben. „Wenn dir das so wichtig ist, dann lass dir doch wenigstens endlich mal ein Tabu einfallen, das ich brechen könnte“, fällt mir nur dazu ein. „Mh, keine Lust.“ Sie gähnt wieder. Ein eigenartiges Glucksen, als würde man Brot in Wasser werfen. „Du willst die elementare Verkörperung von Weiblichkeit und Begehren sein und du hast nicht einmal Lust dir ein Tabu einfallen zu lassen, das du mir stellst, damit ich durch die reine Tatsache, dass es existiert, dazu getrieben werde es zu übertreten“, erkundige ich mich skeptisch und mit beinahe Panik durchforste ich die literarischen Schnipsel in meinem Kopf nach einem vergleichbaren Beispiel. Kein Ergebnis. Vielleicht habe ich einfach noch nicht genug gelesen. „Du hattest ja bisher nicht mal 'ne Freundin, seit ich hier bin“, seufzt sie leicht genervt. „Was auch verdammt schwierig ist, wenn man einen Wassergeist zu Hause hat, der nur unter Widerworten alle paar Wochen das Bett verlässt, um zu duschen.“ „Ich bin Wasser, du Idiot, warum sollte ich mich waschen“, mault Undine, allerdings nicht wirklich ernsthaft. „Du hast ja seit Monaten nicht einmal das Haus verlassen.“ „Warum auch? Du bist ja schließlich wunscherfüllend. Seit du da bist, ist der Kühlschrank voll – und es gibt immer noch irgendeinen alten Game-Klassiker, den man noch nicht kennt.“ „Du und dein Internet. Dein Fernseher. Deine mp3s. Früher war das irgendwie unkomplizierter.“ Undine schüttelt den Kopf. Ich sehe es nicht, aber es ist ein Geräusch, als würde in einem Goldfischglas das Wasser hin- und herschwappen. Manchmal kriege ich Angst davor, wie gut ich sie mittlerweile kenne. „Traurig, dass ich nicht rausgehen muss, um aventiure zu bestehen, oder der Klerus vorbeischaut, um dich zur Dämonin zu erklären?“ „Mh-mm. Heute ist deine schlimmste Pflicht die Stromrechnung zu bezahlen. Dich hat nicht mal interessiert, als ich dir Zaubermacht angeboten habe.“ Sie schnaubt amüsiert, eine Sturmböe über ruhigen Wassern. „Wozu auch?“ Ich knipse den Fernseher auf AV und schalte die alte Playstation an. Obwohl ich verdammt viel Zeit habe, habe ich immer noch nicht Alundra durchgespielt. Aber bereits 24mal angefangen. Vielleicht dieses Mal. „Der Gedanke ist zwar ziemlich cool, aber letztlich wär' es nur Spielerei. Ich hab' ja dich.“ Sie lacht wie eine Seemöwe. „Soll ich mich geschmeichelt fühlen?“ Ich drehe mich zu ihr um. Zum ersten Mal seit … ja, wie lange eigentlich? Undinen in den Geschichten sind meist blonde Schönheiten mit Kindchenschema. Undines Haar ist kohlrabenschwarz und sie sieht aus wie eine attraktive Frau Mitte 20. Sie ist meist zu faul sich zu kämmen, doch ihre Augen sind so tief und blau wie ein Ozean. Ich verstehe die Anspielung. Wir leben in einem subtilen Zeitalter. „Ist es eigentlich normal, dass ich alles, was du tust, mit Geräuschen von Wasser assoziiere?“ Sie bleckt grinsend die Perlenzähne. „Es ist zumindest ein Anfang.“ Freigeist (13.02.09) -------------------- Ich bin einer dieser kleinen Fische, die dort nachts auf die Straße gehen, wo man für die falsche Jackenfarbe erschossen wird, sich ein Regenbogencape umbinden und am Ende bestenfalls schief angesehen werden, während sich auf den Bürgersteigen die Leichen jener türmen, die ihren Cheeseburger falsch herum essen. Könnte ich nie. Also das mit dem Cheeseburger. Ich habe immer den Eindruck in Taiwan stürzt ein Hochhaus zusammen, wenn ich die glänzende Wölbung der Oberseite nicht vor mir habe, wenn ich hineinbeiße. Dabei weiß ich nicht einmal genau, wo Taiwan überhaupt liegt und es wäre mir auch egal, wenn dort etwas kaputt geht. Mir ist nur die Vorstellung zuwider, dass ich es einfach durch ein absurdes Chaosgesetz auslöse. Vielleicht auch genau das Gegenteil. Ich halte die Leerstellen für solche Theorien für gewöhnlich offen wie so ziemlich alles andere auch und manchmal romantisiere ich die Vorstellung, dass ich genau deshalb noch am Leben bin, obwohl ich mich nicht wirklich darum bemüht habe. Nicht auf die Art und Weise, bei der man einfach alles passieren lässt und in seinem Keller sitzt, weil es egal ist, sondern die dynamische Variante, die deutlich unterschätzter und seltener ist. Gelegentlich glaube ich, ich bin ihr Begründer und einziges Mitglied zugleich. Eine Ein-Mann-Weltanschauung ohne Mantra. Vermutlich ist es so selten, weil Leute, die alles hinschmeißen wollen, das mit Stillstand gleichsetzen und solche, die ständig in Bewegung sind damit irgendetwas erreichen wollen. Irgendwo klar. Bewegung braucht Antrieb. Zerstörung braucht Schwerkraft. Auch nicht so ganz, aber egal. Ich bin immer in Bewegung. In jeder Hinsicht. Ich kenne niemanden, ich mache keine Jobs, ich komme nicht für eine Weile bei jemandem unter, schlafe bei Freunden auf dem Sofa – was nicht heißt, dass ich nicht schlafe oder etwas an Sofas auszusetzen habe bzw. dem Stereotyp, welches damit verbunden ist auf ihnen zu schlafen, wenn es nicht die eigenen sind. Nein, ich schlafe richtig gerne auf fremden Sofas, aber genauso gerne in fremden Betten, mit fremden Menschen oder auf deren Fußboden, auch einfach in Gassen, die wirklich niemandem gehören. Ich suche nichts, keine Herausforderung, keinen Streit, aber wenn mir jemand im Weg ist und nicht mit sich reden lässt, dann trete ich ihm die Kniescheibe weg. Manchmal schlage ich ihm auch die Zähne ein, obwohl er nur mit mir reden wollte. Oft unterhalte ich mich einfach nur nett, während ich unterwegs bin. Auf Beifahrersitzen, in Zugabteilen, stehend in Bussen, auf den Decks von Schiffen oder während ich zu Fuß unterwegs bin. Meistens während ich zu Fuß unterwegs bin. Die Füße sind eine Konstante, die ich nicht leugnen kann. Sie gehören einfach dazu, genauso wie ich nie auf die Idee kommen würde, ich könnte aufhören zu essen. Manche glauben das. Asketen, Obdachlose, Thinpos. Der Körper muss am Laufen bleiben, wenn ich am Laufen bleiben will. Er muss gefüttert werden, weil er – das missverstehen oder unterschätzen viele – das wirklich unter keinen Umständen selbst kann. Eigentlich klar, aber dann kommt jemand daher und sagt, es käme nur auf die Einstellung an. Kommt es nicht. Beim Essen kommt es darauf an zu essen und beim Trinken darauf zu trinken, sonst nichts. Aber es ist leichter als gedacht den Zustand aufrecht zu erhalten. Geld. Die meisten Leute, die mit mir sprechen, glauben Geld sei das Problem. Irgendwann wäre es leer und damit sei alles zu Ende. Geld ist die Batterie, die Distanz, so scheinen viele es zu sehen. Ich kann dazu nur soviel sagen: Geld existiert nicht. Es hat nichts mit Sinn zu tun. Wie ich die Dinge lebe, ist Sinn ziemlich überflüssig, aber bei Geld ist das anders. Geld existiert einfach nicht. Glaub es mir ruhig, musst du aber nicht. Wo war ich? Ach ja. Bewegung braucht Antrieb. Man schweift so schnell ab, wenn man sich keine Gedanken macht. Von den Leuten, die ich so treffe, sind meist die in Bewegung, die dazu einen Grund haben, ein Motiv. Was davon mir selbst noch am ehesten kommt, sind die Menschen, die zugeben, dass es Selbstzweck ist. Sie erfüllen das Motiv, weil sie in Bewegung bleiben wollen und nicht umgekehrt. Ich bin der einzige Weder-noch-Typ in dieser Hinsicht, den ich bisher erlebt habe. Früher hat man so etwas wie mich Wanderer oder fahrendes Volk genannt, aber ich erzähle keine Geschichten, um eine Mahlzeit zu bekommen, und führe auch keine Kunststücke auf. Ich könnte vermutlich ein Schwert schlucken, wenn ich mich konzentrieren würde. Aber wozu? fragmentragisch (14.02.09) -------------------------- Jake und Marielle fuhren mit offenem Verdeck, weil man das in einem solchen Wagen tat, wenn man auf der Flucht war. Ein modernes Schlachtross aus Stahl und Mechanismen. Wenig Elektronik, ganz so modern dann auch wieder nicht. Mit einem schnellen Wagen von ungetümlicher Größe auf der Flucht zu sein erfordert gewisse Signale für die Umwelt, die zwar nicht Pflicht sind, aber trotzdem äußerst gerne in aller Welt befolgt werden. Man fährt mit offenem Verdeck, wie schon gesagt. Sonnenbrillen, ein Klischee, aber ein Muss. Ein Kopftuch für die Frau ist ein alter Klassiker, ebenso wie dezent auffälliger Lippenstift. Außerdem bleibt sie im Wagen, während er tankt oder sich die Beine vertritt. Sie sprechen an Tankstellen nicht miteinander, aber die Frau starrt ihn immer an, egal wo er hingeht; ein bitterer, wissender Blick, den man selbst unter der Sonnenbrille ausmachen kann. Alles darüber hinaus ist eigentlich überflüssige Angeberei. Zu viel Trinkgeld geben oder ein überdeutliches Pistolenholster unter dem Jackett. Auch die stereotypen Songs im Radio – Reststop ist da ziemlich belastet. Und natürlich ausgetretene Labels wie „Bonnie und Clyde“. Etwas für Amateure, alles miteinander. Jake und Marielle ritten auf dem Kamm der letzten Welle, bevor hinter ihnen die Welt in sich zusammenfiel, wie in einen bodenlosen Abgrund. Zumindest fühlte sich die Luft um sie herum so an und für beide war es tatsächlich auch so. Sie hatten den Durchblick. Clairevoyance. Wäre ein schöner Mädchenname eigentlich. Jake war verdammt ordentlich gekleidet und der Wüstenstaub schien an einem Deflektorschild Millimeter über dem Stoff seines gebügelten Hemds zu verdampfen. Er rauchte gelegentlich oder erzählte Marielle von seiner Jugend, aber sonst tat er nicht viel, außer fahren. Marielle wirkte nervös. Ihre gepflegten Händchen zerlegten im Schoß ständig die Pistole und bauten sie wieder zusammen. Die Strecke war lange Kilometer gerade Straße durch die Wüste – was auch sonst – und deshalb die Sorge Kleinteile bei einem plötzlichen Stop zu verlieren unwahrscheinlich gering. Sie setzte gerade wieder zusammen, als er die Fahrt verlangsamte, um in einiger Entfernung an einer Tankstelle mit Rastplatz zu halten. Gerade als der Wagen zum Stehen kam, drückte sie die letzte Kugel in den Lauf. Kampfladung. „Ich muss ein paar Stunden schlafen. Nur ein bisschen Schlaf im Schatten.“ Marielle nickte und schob die Pistole unter den Beifahrersitz. Sie beobachtete Jake, wie er sich den Hut ins Gesicht zog und schon bald im Schlaf sanft schnarchte, dort im Schatten der Raststätte. Zombie-Ernstfall (15.02.09) --------------------------- Zombieernstfall. Schon eine verdammt miese Situation, dachte Nathan. Man macht sich immer Gedanken darüber, reißt Witze und spekuliert, wie man seine Chancen beim Eintreten eines solchen Szenarios einschätzt, aber wenn es dann passiert, steht man doch wie ein Reh in den Scheinwerfern da. Zu Hause stand er oft am Wochenende mit seinem Kumpel Andreas nachts mit dem Auto im Wald und sie erzählten und spekulierten bei einer Thermoskanne Kaffee. Natürlich über nichts bestimmtes, aber oft über die beste Taktik, wenn irgendeine Unwahrscheinlichkeit plötzlich in Kraft tritt. Zombie-Invasion. Axtmörderangriff. Spontanes Scharmützel auf einem Postamt, wenn auf einmal jemand ein Katana aus seinem Päckchen zieht. Entropische Manifestation von Angst, die einen in die Nacht zerren und verzehren will. Die Klassiker eben. Sie hatten immer den nächtlichen Wald gewählt, weil er die Fantasie am ehesten auf Adrenalinhaushalt und Paranoiaspiegel des Ernstfalls versetzt. Manchmal redeten sie auch einfach darüber, warum den Sinn des Lebens zu suchen keinen Sinn ergibt. Oder Asphyxie-Fetische. Oder vollkommen andere, unspektakuläre Dinge. Aber nebenbei entwickelte sich in Nathans Gehirn auch die optimale Choreografie für den Fall, dass ein Irrer mit einer Motorsäge durch das Beifahrerfenster brechen und ihm den Arm absägen würde. Sie beiden waren recht optimistisch, was es den Ablauf und die Chancen anging. Vielleicht würde er sogar den Arm behalten, wenn alles gut lief. Aber Zombies. Nathan seufzte. Durch die Glasfront im dritten Stock der Starbucks-Filiale drang Mondlicht, das so aussah, wie er sich fühlte. Als er sich vor einigen Tagen hier drin verkrochen hatte, schienen die Adrenalinkicks ihm das Endorphin durch die Nase rausprügeln zu wollen – Roundhouse-Style – aber gerade fühlte er sich geradezu lustlos in Anbetracht der Situation. Wieso war er gerade vor einem Zombie-Ernstfall weggefahren, um eine Internetfreundin zu besuchen? Oh ja, klar, fiel ihm wieder ein, weil du seit zwei Jahren keine nackte weibliche Haut mehr in realer Auflösung gesehen hast und du nicht erwarten kannst, DASS SO MIR NICHTS DIR NICHTS EINE ZOMBIE-EPIDEMIE LOSBRICHT!!! Er trat gegen einen gepolsterten Sessel ihm schräg gegenüber, der seine Wut in einer leichten Unterdrückung seines wohlig weichen Innenlebens verschluckte. Epidemie. Ts. Er wusste nicht einmal, ob es eine Epidemie war. Man weiß in den Filmen ja auch nie, wo die Zombie herkommen, sagte er sich selbst überflüssig belehrend. Aber gerade jetzt. Gerade hier. Zu Hause würde er jetzt vermutlich bei Andreas im Keller sitzen und Molotovcocktails basteln oder den Gartenzaun durch Gitterwände ersetzen. Was für ein Totalversagen an Situationskomik. Er hatte den Starbucks aus diversen Gründen gewählt. Erstens war es in der Stadt der einzige Laden, in dem Firenze – sie hatte offenbar grausame Eltern – mit ihm gewesen war, bevor ein Businessman in Buttondown-Hemd mit zu spät richtig gedeutetem Ketchup-Fleck ihr das Gesicht weggefuttert hatte. Die Untoten waren genauso lethargisch und monoton wie es seinem Klischee entsprach, aber was sie erst einmal in den Fingern hatten, konnten sie verschlingen wie eine Horde adipöser Kurklinikkinder, die man mit einem zweihundert Euroschein in einem McDonalds aussetzt. McDonalds, gutes Stichwort. Ihm war von Anfang an klar, dass er sich in einem großen Fastfoodladen verstecken würde, aber Burgerläden fielen weg, weil seine Verschwörungstheorien nicht ausschlossen, dass sie mit für die Katastrophe verantwortlich waren. Außerdem hatte Starbucks die sperrigeren, schweren Möbel. Besser zu werfen, besser zum Verbarrikadieren, gemütlicher um darauf abzuwarten. Der letzte Grund war eine spontane Eingebung: Wenn noch jemand am Leben war und sich einen Unterschlupf suchen würde, dann wollte er gefälligst mit denen zusammen ums Überleben kämpfen, die einen Starbucks wählten. Ganz grobe Fehleinschätzung. Er drehte seine Schlagwaffe, die er aus diversen Teilen der noch diverseren Kaffeemaschinen zusammengeschraubt hatte, in der Hand. Niemand geht zu Starbucks, wenn's ums Überleben geht, fluchte Nathan in sich hinein. NIEMAND AUßER DIR! Und Andreas. Reas hätte garantiert auch den Starbucks gewählt. Aber der war jetzt gerade etwa 300 Kilometer weiter nördlich. Nathan klaubte sein Handy, dem so langsam der Saft ausging, vom Tisch. Kein Netz. Kein Empfang. Keine Nachrichten. Nada. Funkstille. Er erhob sich zähflüssig aus dem Sessel und trottete, seinen Schläger in der Linken über die Schulter gelegt, zur Treppe hinunter. Anfangs war er vorsichtig und geradezu panisch gewesen, doch die Zombies waren in etwa so dumm, instinktiv und weitsichtig, wie man es von ihnen erwartete. Sie bemerkten ihn nicht und deshalb suchten sie ihn auch nicht. Die Tür war fest verschlossen und stellte damit ein recht finales Hindernis für sie dar und die Fenster im Erdgeschoss hatte er vernagelt. Sie standen nicht lange draußen herum, sondern suchten sich einfachere Ziele. Gestern war jemand schreiend über den Bahnhofsplatz gerannt und hatte dabei eine ganze Meute von ihnen mit sich gezogen. Seitdem war es hier noch leerer und öder geworden und er sah durch die Fenster im zweiten und ersten Stock nur noch vereinzelte Schemen im kahlen Licht des Mondes herumstehen wie letzte Weizenhalme auf einem abgeernteten Feld. Er verließ die ächzenden Treppenstufen und trat auf die Laminatkacheln des Erdgeschosses. Alles lag dort in zwielichtiger Stille und für einen Moment überkam ihn der Schauder der ersten Tage, doch dann leuchtete er sich mit dem Handy den Weg durchs Halbdunkel wie er es früher auf dem Heimweg von Partys getan hatte, wenn er die eigenen Füße nicht sah. Kein verräterischer Schemen im fadenscheinigen Dunkel. Keine plötzlich auftauchende Gestalt, die in einem Schrank oder hinter einer Tür gestanden hatte. Nathan überprüfte den Lieferanteneingang – ihn unbeachtet zu lassen war ein Anfängerfehler, den er vermieden hatte. Zumindest glaubte er, dass es einer war, denn er hatte leider nur seine eigene Situation als Vergleich zu den Genrestereotypen und das war wenig repräsentativ. Der Hintereingang war unberührt und verschlossen, die Möbel, die er davorgeschoben hatte an Ort und Stelle. Beim heiligen Isidor, ist das langweilig. Er hätte Lust da raus zu gehen und sich mit den Untoten zu prügeln, einfach nur um sich die Zeit zu vertreiben, aber auch das war eine dieser Dummheiten, die einen normalerweise den Kopf kostete. Das Gehirn um genau zu sein. Er wartete darauf, ob er seinen eigenen Gedanken noch komisch fand, doch die Pointe wirkte ledern und abgekaut. Er nahm noch eine der Torten aus der verglasten Theke. Double Chocolate Caramel Fudge Cake. Die letzten drei hatten ihn ziemlich gut von seiner Misere abgelenkt und außerdem machten sie ziemlich satt. Essen wird ein Problem, stellte er nüchtern fest. Trinken auch. Aus welchem Grund auch immer, gab es keinen Strom mehr und auch das würde irgendwann zum Verhängnis werden. Sei froh, dass du nicht zu Burgerking gegangen bist, sagte er sich selbst, dann würdest du jetzt auf aufgetautem Burgerfleisch rumkauen und Gürkchenscheiben in rauen Mengen in dich reinschaufeln. Der Kuchen schmolz schlimmstenfalls. Nathan warf noch einen Blick durchs Fenster auf den Bahnhof gegenüber – immer noch in der Hoffnung auf einfahrende Züge mit oder ohne Paramilitärs – doch der wuchtige Bau lag dort wie ein schlafender Riese. Wieder lag er in einen der weichen Sessel gefläzt, die er zu Vorzombiezeit wie heute sehr zu schätzen wusste, und schaufelte sich mit der Gabel eine Ladung Konditoreiprodukt in den Mund. Die Speise der Götter, wahrlich. Das Problem an einem Zombieernstfall – ging ihm dabei auf – war nicht das Überleben: Es war die Langeweile, die einen auf dumme Gedanken bringt. Adepten der Magie (16.02.09) ---------------------------- Quartz stemmte die Arme gegen die Welle, bereit den Strom zu brechen. Ich bin Erde, inhalierte er seine Energie. Ich bin Erde. Doch die Welle brach sich in einen Sog, statt sich zu spalten und zurück geworfen zu werden. Er sank ein, die Hände voran wie bei einem verstolperten Handstand, und fiel kopfüber in den Strom. Ein nasser Zitteraal, bis die Flut versiegte. Er hustete, obwohl er wusste, dass das Wasser in seinen Lungen nur noch Einbildung war. Es schmeckte trotzdem verdammt lebendig nach Fisch. „Du bist viel zu verkrampft.“ Woge lachte. Ihr verwaschenes Haar peitschte mit dem Kleid wie Laken im Wind um die Wette. Quartz stand auf. Sie sah viel zu vage aus, auch wenn man sie am helllichten Tag genau ansah, wie ein impressionistisch verklärtes Gemälde ihrer Selbst. „Nimm's nicht so schwer“, sagte sie und stand in einer wässrig gleitenden Bewegung vor ihm, reichte herauf, um ihm auf die Schultern zu klopfen. „Es liegt in meiner Natur schwer zu nehmen. Schwere ist stark.“ Nur Quartz' Augen reagierten auf die milchige Linie ihres Arms, der seine irdene Haut berührte. „Immer diese Feststellungen. Wie in Stein gemeißelt.“ Woge patschte ihm auf den Rücken und schon ebbte sie davon und war wieder ihm gegenüber auf der anderen Seite der Wiese. „Nochmal?“ „Sicher.“ Quartz sank langsam in die Hocke und presste die Handflächen auf den Erdboden. Ein nahendes Grollen durchzog die Erde. Hapax legomenon (17.02.09) -------------------------- Man tanzt nicht mit Kugeln. Manchmal wirkt es so, als würde die Sonne nie untergehen über dieser Stadt. Doch wenn es Nacht wird, kommen die Katzen aus den Speichern und balgen sich um die Mülltonnen. Wir spielen Acid Jam Punk, aber nicht wegen Trendgehabe, sondern weil irgendjemand den Job machen muss und scheren uns nicht um das Volk. Wir haben hier die Musik erfunden und deswegen sucht sie in der Stadt ihresgleichen, steht jenseits von Konkurrenz. Schieß' ruhig, Darling, auch zwei ausgestreckte Finger reichen für eine Pistole. Die Metapher macht es zur Waffe, nicht der Stahl und das Blei. Es ist echt Knochenarbeit Geschichten zu erzählen, aber ein Kinderspiel und Heidenspaß auf jeden Anflug von Botschaft zu schießen. Und wenn nicht, dann sehen wir uns auf der anderen Seite wieder. Pack wie wir ist immer aus dem verträglich gleichen Holz geschnitzt. Ach, du weißt schon was ich meine, nicht? Ich mag all diese Protagonisten nicht, die ihre Handlungen damit begründen, dass sie sich ähnlich sind. Penis. Würde ich ja jetzt sagen, um die Entropie des Kontexts weiter voranzutreiben. Aber das schlimmste Wort, um eine Geschichte zu beenden ist Penis. my immortal(18.02.09) --------------------- „Aber ich lebe ja nicht alleine dort, sondern um bei ihm zu sein.“ Das Mädchen kaute mit gläserner Gelassenheit an einer Pommes. „Nicht böse gemeint, Meru, ich mag dich; ich mag auch die Manga und deinen Musikgeschmack und die Art wie du gerade die Haare auf der Seite hochgesteckt trägst. Aber du hast ein ernsthaftes Realitätsproblem.“ Er biss in der Hälfte des Satzes in seinen Burger und sprach danach kauend weiter, während der Junge neben ihm abwesend in die Alulehne seines Stuhl gesunken war, als wolle er sie mit sich legieren. „Menschen verstehen uns nicht“, erklärte Meru mit einem kauenden Lächeln. „Aber er war so lange einsam, dass ich für ihn da sein muss, auch wenn ich im Leben nie ganz mit ihm eins sein kann.“ „Haben die ganzen Geschichten über übernatürliche Geliebte und zurückgebliebene Geister wirklich so derartig deinen Hirnkasten durch gebraten?“ Er verschlang die Reste seines Burgers und machte sich daran den nächsten auszupacken. „Erinnere mich daran, wenn ich das nächste Mal eine Diskussion darüber anzettle, dass Fiktion nicht das Denken unserer Generation zu einer verfälschten Realität verklärt, dich als Ausnahme aufzuführen.“ Meru lächelte noch breit und wissend, als wolle sie sagen „Ja, bitte tu' das“ und knüllte ihre leere Pommestüte zu einem Ball zusammen. Sie erhob sich und schulterte ihre Tasche. „Ich muss jetzt gehen. Er wartet sicher schon auf mich.“ Wortlos und ohne Kommentar von den beiden Jungen ihr gegenüber verließ sie den Fastfoodladen. „Soviel zum Thema 'Wir müssen nur mal Klartext mit ihr reden', Will“, kommentierte der Zurückgelehnte das sprachlose Gesicht seines Freundes, der immer noch leicht ungläubig auf Merus Tablett starrte, als würde er selbst gerade auch einen Geist sehen. „Ich meine, Greg, die große Metallhand im Himmel sei mein Zeuge, ich bin ja nicht gerade eingeschnappt, was es meine Ansichten angeht, aber die Frau hat echt ein Problem.“ Will starrte auf die Papierkugel, als würde sich gleich ein großer weißer Ball aus Sinn daraus erheben und ihm an den Kopf fliegen. „Eigentlich hat sie nur Humor.“ Greg schwang sich aus seiner zähflüssigen Lage und machte sich daran seinen ersten Burger zu entpacken. „Was hat das noch mit Humor zu tun? Die Grenzen der Wirklichkeit nicht so ernst nehmen? Spaß am eigenen Irrsinn?“ Er sah zu wie der andere ungefähr die Hälfte des Burgers mit einem Bissen verschlang. „Nachdem du neulich deine Bedenken geäußert hast, war ich so frei ihr abends nach der Schule mal hinterher zu stalken“, begann Greg zwischen zwei Bissen seine Erklärung. „Und ich mache mir Sorgen über ihre Probleme“, seufzte Will. „Warum rede ich überhaupt noch mit dir?“ „Um festzustellen, dass dieses ominöse heruntergekommene Haus mittlerweile Strom und Breitband-DSL hat, sowie eine durchaus geschmackvolle, wenn auch leicht chaotische Inneneinrichtung.“ Er biss erneut ab und kaute zufrieden. „Aber das Ding ist eine Bruchbude. Ein Seelenverkäufer. Da blättert so ziemlich jedes Bauelement von der Vorderseite.“ Will wusste nicht wohin mit seinem Erstaunen und deshalb fummelte er ebenfalls einen weiteren Burger aus seinem Papier, um die Verwirrung zu kompensieren. „Genau, die Vorderseite. Alles, was ich gerade erwähnte, liegt auch im rückseitigen Bereich, der von außerhalb des Grundstücks ziemlich schwer einsehbar ist. Aber genau da sitzt Meru die ganze Zeit ziemlich unbesessen von übernatürlichen Wesenheiten und zockt Yaoi-Dating-Games.“ Greg packte den nächsten Burger aus. Will blinzelte. „Sie ist also gar nicht verstört oder sonstwie geisteskrank, wie sie es uns weismachen will?“ Er biss ungläubig in seinen Burger „Kein Stück. Außer ihre Besessenheit kanalisiert sich durch Konsolen und Game-Controller.“ Greg machte eine wellende Geste mit der freien Hand. „Das will ich sehen.“ Will machte sich daran die Reste seines Essens in Rekordzeit zu verschlingen. „Du willst doch nur wissen, ob sie sich nicht in Wirklichkeit durch einen spirituell aufgeladenen Kristallphallus mit ihrem Geliebten auf der Astralebene vereinigt und ich dir das vorenthalten will.“ „Tut sie's?“ „Nein. Nur Dating-Games.“ „Schade.“ elliptical reflector dish (19.02.09) ------------------------------------ „Das Sonnenlicht brach sich in den dunklen Spiegeln der Solarzellen auf einem Hausdach gegenüber, weit entfernt von der Wiese, und reflektierte über das Ende des Sommers. Der Bruch lag fernab auf eben jenem dunkel spiegelnden Dach, doch nah genug und offenkundig und gut sichtbar. Reflektion beginnt da, wo sie auftrifft, und wenn das Geworfene schwerer ist als der Wind und das Licht, dann gibt es Scherben. Bei der Reflexion ist Selbsterkenntnis die schnittige Begleiterscheinung dieser groben Art der Betrachtung und bringt bekanntermaßen kein Glück. Doch das ist nur ein schwarze rechteckige stromeffiziente Tasse Kaffee dort, auf der sich behutsam die Sonne bricht. Es ist heiß, wo sich beide kurz umarmen, bevor das Dunkel das Licht bei sich behält, doch den Sommer von sich stößt und sonstwohin schickt. Auch auf die Erde, wo der Sommer schon ist und noch einen langen Augenblick sein wird. Was für eine überflüssig rohe Geste ihn dorthin zu stoßen, wo er schon längst ist. Während das Schwarze dort oben das Licht in Armen hält und mit ihm aus Bequemlichkeit und für eine Glühbirne schmust, trottet der Sommer hier unten, wo er schon war und somit hingehört, glühend vor Abweisung durch das Gras. Ein heißer Wind über der Wiese, wo schon ein laues Lüftchen in der Reflexion zu warmen garstigen Scherben brechen kann. Er reflektiert über das Ende des Sommers.“ „Ich hasse Vergänglichkeitsmotive.“ „Ja danke, deine Kritik hat mir sehr geholfen.“ Gypsy King (20.02.09) --------------------- Mi familia? Ah sí, du willst wissen, wo meine Wurzeln liegen, Chummer? Ich bin kein heimatloser Streuner, musst du wissen. Aber das war dir sicher schon klar, sí? No? Du machst den Gypsy King traurig, hombre. Dann spitz' mal el oreja. Ich komme aus dem spanischen Viertel, bin hier aufgewachsen, nicht mal quinto Blocks vom El Torro Grande entfernt. Wir sind hier alle eine große familia und ich kenne die Gegend wie meine Westentasche, aber meine richtige Familie, mi familia, lebt drüben im Wohnviertel. Für die Barrens eine sichere Gegend, jeder passt auf den anderen auf und keiner sucht sich gerne Streit mit einem Mob Hispano patriotico, sí? Ah sí, du verstehst, was ich meine. Ich bin in familia numerosa aufgewachsen mit muchos hermanos und auch wenn das Leben hier Drek ist, haben wir viel Spaß. Mi madre Angela ist die beste Mama und beste Köchin der Welt und beste Krankenschwester von zumindest unserem Viertel. Ich habe tres kleine hermanas, meine drei Sterne – sieh sie auch nur zu lange an und du siehst eine Weile gar nicht mehr –, und dos hermanos, aber wir kamen trotzdem immer über die Runden, weil jeder mit anpackt. Mi padre? El Maldito bastardo ist mi padre. Hat sich vor vier Jahren aus dem Staub gemacht, als es ihm zu anstrengend wurde und hat weder sich noch einen Nuyen je wieder blicken lassen. Mir fallen muchos Dinge ein, die ich gerne mit ihm tun würde, wenn ich ihn noch einmal zu Gesicht bekomme. Que? Wieso er uns sitzen gelassen hat? Ah sí, ich vergaß. Mein jüngster Bruder Marcello hat eine ziemlich üble Krankheit. Behandelbar, aber die Medikamente gibt’s leider nicht aus dem Automaten. Mi madre kann sie über eine Schattenklinik besorgen, aber kostet muchos dinero, sí? Wie alles, was man hier bräuchte, aber nicht hat. Que? Ah sí, das hast du scharf beobachtet. Genau deswegen mache ich den Drek und verpasse jedem eine Kugel, der zwischen mir und den Nuyen steht. Mi madre Angela arbeitet so schon zu viel und kann mi hermanos kaum durchbringen, erst recht nicht die Medikamente bezahlen. Da muss der große Bruder einspringen. Ich kann nicht viel, aber un poco hier, un poco da, hab' ich eine Menge aufgeschnappt und vieles davon ganz gut drauf. Am liebsten hätte ich nur an el motos rumgeschraubt um die Nuyen ranzuschaffen, aber das reicht nicht. Also bin ich ein paar Mal auf die Nase gefallen, bis ich gelernt habe, was ich kann und worauf es dabei ankommt einen Job zu erledigen. Sí, mi oculo, da bin ich ganz ordentlich auf die Nase gefallen, aber es war auch der erste Job, der richtig dinero brachte. Hat natürlich nur für das Chrom gereicht, aber seitdem werde ich besser. Kurierdienst, Ghuljäger, Dreksarbeit. Was sich eben so findet. Runner? No compadre, ich versuche nur über die Runde zu kommen und mi familia am Leben zu halten. Durch la sombra rennt der Gypsy King nur, wenn es nötig ist oder der Nuyen stimmt. Abbreviation (21.02.09) ----------------------- Er lehnte im Verbindungselement des halbleeren Busses und ließ sich mit der Fahrtrichtung hin- und herschaukeln wie der Staub in einem übergroßen alten Akkordeon. Sein halbgarer Blick schweifte durch die Umstehenden und biss sich schließlich in einer Rothaarigen mit Cordjacke fest. „He. Linguistik, Offline-Rollenspiele, Schach. Fragezeichen.“ Sie musterte ihn einen Augenblick nachdenklich, doch schüttelte dann lächelnd den Kopf. „Linguistik“, drang die Stimme einer jungen Asiatin zu ihm hinauf, die rechts neben ihm stand und sich an einem der Griffe festhielt. „Diachrone Linguistik. Erste und zweite Lautverschiebung. Germanische Völkerwanderung.“ Er wandte sich ihr lächelnd zu. Sie schüttelte den Kopf. „Japanische Linguistik. Morenbildung. Rendaku“, antwortete sie. Er schüttelte nur verwirrt den Kopf. „Wikinger. Fragezeichen.“ „One Piece. Fragezeichen.“ Sie grinste neugierig. „One Piece.“ Er nickte begeistert. „Also Little Garden war echt der Höhepunkt der Alabasta Arc. Ich hab' fast geheult, so traurig fand ich die Geschichte mit den Riesen. Dagegen war die ganze Geschichte mit Vivi echt langweilig. Das ständige Geflenne“, plapperte sie los. Er nickte zustimmend. „Das stimmt, so rührend fand ich die Storyline seit der Arlong Arc und Namis Vergangenheit nicht mehr.“ Der Bus verlangsamte seine Fahrt und bog in die Spur einer Haltestelle ein. „Hier raus. ICQ. Fragezeichen“, fragte er vorsichtig. Sie nickte und er kramte Zettel und Stift raus, worauf sie eilig Zahlen kritzelte. Gehetzt verließ er den Bus, kurz bevor dieser wieder losfahren wollte. Grinsend betrachtete er seine numerische Beute. Es machte wirklich so vieles einfacher. Lipophil (22.02.09) ------------------- Es waren immer die Nächte, in denen seine Brille scheinbar von selbst Schlieren bekam. Fetttapser. Lipophile Daumenlabyrinthe, weil er sich ständig selbst im Gesicht rumfummelte, wenn er nicht gerade Fingernägel kaute. Oder eben während er kaute und nicht wusste wohin mit den anderen Fingern. Er wischte die Brille erneut am T-Shirt ab und als er sie wieder aufsetze, sah er die Welt durch einen Dunstschleier aus verstrichenem Fett. Wie ein Butterbrot vor Augen, dachte er und wollte am liebsten ins Glas beißen. Seufzend stand er von der Couch auf und tappte auf den düsteren Flur hinaus in Bad, wo die Welt kurz in noch größere Unkenntlichkeit verschwamm, als er einen Schuss Spülmittel auf jedes Brillenglas träufelte und es unter fließendem Wasser abwusch. Er betrachtete den schwammigen Fleck seines Gesichts im Spiegel und versuchte aus den Schemen die grausigen Tatsachen zu erahnen, während er die Brille am Handtuch trocken rieb. Die Bügel glitten über seine Ohren und er sah den geschärften Tatsachen ins Gesicht. Dunkle Wurzeln der Augenringe rankten über seine Lider, so deutlich, dass er fast das Alter der Pflanze daran ablesen wollte. Die Haare, obwohl kurz, lagen einfach so falsch in Strähnengeflechten über der Stirn, wie es bei so wenig Verfehlungsoptionen überhaupt denkbar war. Er nahm die Brille wieder ab und steckte den Kopf kurzerhand unter den Wasserhahn; wartete bis er die Ansätze nasser Haarsträhnen beim Hinaufschielen sehen konnte. Wie Tangstreifen bei Blick aus einer Höhle am Meer. Mit dem Handtuch rubbelte er sich hektisch einige Male über den Kopf, bis er es auf die Schulter sinken ließ. Er klaubte den fein linierten Fleck der Brille vom Waschbeckenrand und setzte sie auf, um sich erneut im Spiegel zu betrachten. Wasserspritzer und das feine Geäst eines Fingerabdrucks. Zeigefinger vermutlich. Na klasse. Er nahm die Brille wieder ab und griff wieder nach dem Spülmittel. Ob man die Schlechtigkeit eines Tages am Fettgehalt messen kann, fragte er sich. Die Pro-Ana-Fraktion würde sich mit wehenden Bannern zustimmen. Abbreviation II (23.02.09) -------------------------- Kurz nachdem er Platz genommen und begonnen hatte seine Sachen auf dem Tisch zu verteilen, betrat sein Dozent, ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar, den Saal und schloss die Tür hinter sich. Es blieb ruhig, man nickte sich gegenseitig zu und das Gemurmel verstummte langsam, während der Professor einige Daten an die Tafel schrieb. Als er fertig war, deutete er auf den ersten Punkt, ein Datum. „Klausurtermin“ - den zweiten Punkt - „Abgabe der Hausarbeit“ - und den letzten Punkt „Lektüre für nächste Woche.“ Er sah sich einen Moment fragend um, dann ging er zum Pult und nahm eine abgegriffene Textausgabe voller Zettel und Eselsohren in die Hand. „MF 126, 8. Seite 38. Lesen. Übersetzen.“ Er zeigte hintereinander auf zwei Studentinnen vorne in der Fensterreihe. Die erste, ein dunkelhaariger Lockenkopf mit kariertem Schal, sah ihn ängstlich an, nahm dann jedoch ihre eigene Textausgabe vom Tisch und räusperte sich sehr melodisch. „Von den elben wirt entsehen vil manic man, sô bin ich von grôzer liebe entsên von der besten, die íe dehein man ze vriunt gewan.“ Sie blickte vorsichtig auf wie ein kleines Tier, über das gerade der Schatten eines viel größeren Lebewesens gefallen ist. Der Professor nickte lächelnd und zeigte auf ihre Sitznachbarin. „Von den Elfen werden viele Männer nicht gesehen, so wie ich von der Liebe der Besten nicht gesehen werde, die jemals irgendeinem Mann nahe stand“, übersetzte die blonde Nachbarin in gebrochenen Abständen. Der Professor sah erst sie, dann seinen Text, dann den Kurs nachdenklich an. „Einverstanden. Fragezeichen.“ Eine Hand ging nach oben. Der Professor nickte. „Elben. Nicht Elfen“, stellte eine langhaarige Gestalt mit Metal-T-Shirt aus der hinteren Reihe mit missbilligender Stimme fest. „Unklar. Weitere. Fragezeichen.“ Er meldete sich. Der Professor nickte in seine Richtung. „Erster Satz. Vil manic man, Subjekt. Passive Verbkonstruktion, Bezug auf Subjekt, nicht Objekt“ korrigierte eine langhaarige Gestalt mit Strickpullover aus der hinteren Reihe. „Übersetzung. Fragezeichen.“ Er drehte kurz den Kugelschreiber zwischen den Finger und dachte nach. „Von den Elben werden viele Männer geblendet, so wie ich von der Liebe geblendet bin von der Besten, die je einem Mann nahe stand.“ Er sah nachdenklich das Papier an, in der Hoffnung die Druckerschwärze würde ein Geheimnis preisgeben, das sie unter ihren schwarzen Fittichen verbarg. „Präzisierung. Fragezeichen“, erkundigte er sich vorsichtig und blickte dabei den Professor an. „Gerne.“ Dieser nickte nur lächelnd und ließ sich in den Stuhl hinterm Pult sinken. „Mir fällt keine angemessene Übersetzung für diesen Passiv ein. Es ist nicht einfach, als würde dort stehen 'Von Elben wurden viele Männer gewaschen' oder so etwas. Entsehen, das hieße paraphrasiert die Wegnahme oder Negation von Sehen wird von übernatürlichen Wesen auf passive Art und Weise vollführt und im Bezug auf besagte Männer.“ Seine Hände zappelten mit dem Stift in der Luft umher. „Aber es könnte doch auch genau so gut dort stehen 'Elben entsehen viele Männer'“, gab der Professor zu bedenken. „Tut es aber nicht. Heinrich scheint bewusst auf die Passivität der Handlung hinzuweisen, die tatsächlich nur aktiv denkbar ist. So kommt es mir zumindest vor. Uns fehlt womöglich das Wort bzw. das Satzgefüge oder der Phraseologismus, mit dem wir so etwas im Neuhochdeutschen ausdrücken können.“ „Gründe, Zustimmungen, Gegenmeinungen. Fragezeichen.“ Ein junger Mann mit Bürstenschnitt auf der Türseite meldete sich. „Ich könnte mir vorstellen, dass unserer modernen und differenzierten Sprache einfach die Notwendigkeit fehlt einen Ausdruck dafür zu haben, dass ein Wesen durch seine reine Präsenz Handlungen vollführen kann. Wir könnten vielleicht bestenfalls etwas sagen wie 'Männer werden in Anwesenheit von Elfen die Sinne geraubt' oder 'Männer verlieren durch Elfen den Verstand'. Die Vorstellung, dass Lebewesen eine solche Macht besitzen ist einfach bei uns nicht mehr so präsent.“ Gemurmel ging durch den Saal, eine weitere Hand in die Höhe. „Ich glaube, wir überinterpretieren gerade. Vielleicht wollte Heinrich einfach das lyrische Ich als Subjekt stehen haben, um die Objektrolle der besungenen Frau im Minnesang zu wahren.“ Der Professor lachte. „Ich bin schon froh, dass wir im Neuhochdeutschen noch zumindest darüber spekulieren können, wie die Konstruktion gemeint sein könnte und wo die Gründe liegen. Was sollte ich denn in Abbrevia darüber sagen? 'Zeile 1. Übersetzung unklar, vielleicht unmöglich. Kein Ausdruck für Passivkonstruktion. Gründe. Fragezeichen.'“ Der Kurs lachte. Cyber vs. Matter II (01.03.09) ------------------------------ Ginger erwachte zu einer quietschenden Melodie, etwa so wie die akustische Folter, die ihr Bruder früher immer mit der Violine veranstaltet hatte, wenn er wieder wütend auf das Instrument war; und er war oft wütend auf die Violine, da er es immer gehasst hatte sie zu spielen, nur weil es ihren Eltern wichtig gewesen war. Japanische Sarariman. Renraku Konzernsklaven. Natürlich mussten ihre Kinder ein bezauberndes Vorzeigebild abgeben. Sogar sie selbst, obwohl sie immer aus der Öffentlichkeit ferngehalten worden war, um keine Schande zu machen mit ihrem „fremden“ elfischen Aussehen, hatte viele Jahre am Piano ertragen müssen, doch mittlerweile alles wieder verlernt. Heute waren Pistolenabzüge die einzigen Tasten, in die Ginger mit Leidenschaft hämmerte und dabei spielte die Musik. Das kreischende Gewirr in ihrem Kopf nahm ab und wurde zu einem hintergründigen Sirren, das Platz für die Wahrnehmung ließ. Sie war da, ihr Schädel brummte, doch die Welt blieb weiß. „Was zum ...“, setzte sie zum Fluchen an und wollte sich von ihrer Liegefläche aufsetzen, doch unmittelbar ergriff eine Hand ihre Schulter. Ihre eigene zuckte dahin, wo die Ares Predator im Unterarmholster hing, doch da war nichts außer ihrer Achselhöhle. Sie erkannte die Hand, noch bevor er sprach. Rau und trocken war sie, aber vor allem warm. Es beruhigte sie zugegebenermaßen. „Liegen bleiben, Bambina, alles in Ordnung“, drang Miguels Stimme dumpf, aber schmerzhaft an ihre Ohren. Sie ließ sich unter seinem leichten Druck zurücksinken und hielt sich die Hand vor die Augen. Schwarz. Weiß. Ein paar dunkle Schemen. „Wo?“, fragte Ginger in eine unbestimmte Richtung. „Mein Apartment. Iss wollte diss erst in deins bringen, aber iss hab' keinen Sslüssel gefunden.“ Miguel musste in der Nähe sitzen und sie lag vermutlich auf der Synthleder-Couch in seinem Wohnzimmer. „Hoseninnentasche.“ Sie drückte sich die Hände vors Gesicht und massierte ihre Augenlider. „Dachte iss mir, aber iss wollte nisst Gefahr laufen, ein paar neue Lösser verpasst su bekommen.“ Sein Satz verebbte in einem kehligen Lachen. Gingers Gedanken entwirrten sich langsam, doch in ihrer Erinnerung klaffte immer noch ein Loch, so weiß und schleierhaft wie der Ton ihrer Wahrnehmung. „Wie?“ Sie musste husten, ein matter Druck auf dem linken Rippenbogen, als würde ein Schattenboxer seine schwere Pranke darum legen und sachte zudrücken. Auch als zähe Sorte von Elfin kam sie sich oft so zerbrechlich vor. Deswegen war sie gerne schneller, als was auch immer sie zerbrechen wollte. Dieses Mal war sie es offenbar nicht gewesen. „Flashpack.“ Miguel sprach den Fachbegriff ohne Akzent aus, wie alles, was er ohne Akzent aussprechen wollte. „Hast die volle Ladung abgekriegt. Und einen Schlag mit dem Schockstab. Von einem Trog.“ „Scheiße.“ Ginger hustete wieder und kaltes Plastik drückte sich gegen ihren Arm. Sie nahm die Flasche von Miguel und trank. Zum Glück war es Wasser. Bei seinem Humor hätte es auch Tequila sein können. Vielleicht wäre ihr gerade sogar Tequila lieber. „No Panik, Bambina. Ist alles gut gelaufen. Pablo und der Gypsy King haben ihnen ein paar Kugeln für dich verpasst.“ Sie konnte Miguel nicht grinsen sehen, es aber förmlich spüren. Wie konnte sich ein Mann ernst nehmen, der in der dritten Person von sich selbst sprach? „Musstet ihr sie unbedingt abknallen?“ Es war nicht so, dass Töten Ginger gar keinen Spaß machte, sie zog nur den Kick vor, so gut zu sein, dass sie nicht töten musste, um ihren Job zu machen und zu überleben. Jeden über den Haufen schießen, der zwischen ihr selbst und den Nuyen stand, war dreckig und unnötig. Es gab Alternativen. „Dios mio, Bambina.“ Sie konnte hören, wie Miguel sich unter Knarzen der Lehne in seinen Stuhl zurücksinken ließ. „Diese Bastardos wollten uns geeken und du willst immer noch, dass wir nett su ihnen sind und sie nach der Ssießerei ins Krankenhaus fahren und ihnen Blumen bringen?“ Miguel – der „Gypsy King“ wie die Schatten ihn und er sich selbst zu oft nannte – sah die Dinge pragmatischer als sie. Der einzige Grund einem Hindernis keine Kugel zu verpassen, um es zu überwinden, war die Gefahr, dass es sich davon nicht beeindrucken ließ oder diese Lösung zu laut war. Natürlich, erinnerte sie sich, waren seine Motivationen auch ganz andere. Für sie beide war es der Job und das Geld, doch wohingegen Ginger nur für sich selbst verantwortlich war, hatte der Gypsy King in den Barrens einen ganzen Hort Geschwister und eine Mutter, die sie im Zaum hielt, für die er mit seiner „Arbeit“ sorgte. Ginger seufzte und wedelte sich mit der Hand vor Augen herum. Nur eine leichte Schliere. Sie fluchte. „Wie lange bleibt das so?“ „Iss weiß nisst. Vielleisst noch ein paar Stunden. Solange wirst du diss auf miss verlassen müssen.“ Er klang amüsiert. Die Vorstellung, dass sie sich tatsächlich auf ihn verlassen musste, schien ihm Spaß zu machen. Ginger seufzte erneut nur dieses Mal deutlich genervter. „Ich hasse es nichts zu sehen. Es ist so ...“ Sie suchte ein Wort, was ihr passte und dass sie auch tatsächlich Miguel gegenüber verwenden wollte. „Verletzlich?“, schlug er vor. „Sí, so ging es mir in den Wochen auch, in denen iss blind war.“ „Dir hätte die Flash wenig ausgemacht.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. „Sí, als würdest du mir eine Kersse vor die Augen halten etwa.“ Seine Stimme entfernte sich. Er schien durch den Raum zu laufen und etwas zu suchen. „Ich wäre trotzdem lieber blind, als mir einen Brocken Chrom in den Kopf zu packen“, sagte Ginger in eine unbestimmte Richtung. Scheiße, ich will wieder sehen, dachte sie. Sie nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Das Geräusch des Wasser passte zum Wellengang in ihrem Kopf. Eine Weile war es still im Raum, während Miguel leise irgendwo herumkramte. Als ihr die weiße Sandfläche vor Augen auf den Geist ging, schloss Ginger die Lider, nur um in der Dunkelheit dahinter kleine Lichtschlangen tanzen zu sehen, die sich ineinander kringelten vor Lachen darüber, dass sie dem weißen Rauschen ihres Schädel nicht entrinnen konnte. „Ich werde noch wahnsinnig, wenn mein Hirnkasten sich weiter anfühlt, wie ein hektischer Sandstrand bei Flut.“ „Ah!“, tönte es aus einige Metern Entfernung und Miguels Schritte auf dem weichen synthetischen Teppichboden kamen näher. „Mir ist da was eingefallen.“ Sie zuckte zurück, als sich ihr etwas näherte, doch dann griffen seine Hände um ihren Kopf und einen Moment später verblieb auf ihrer Kopfhaut ein Gefühl, als hätte er ihr eine Qualle wie eine Kapuze übergezogen. Dann sah sie eine schmale Gestalt auf einer Couch liegen. Eine Elfe. Sich selbst, realisierte sie. Sie zuckte erschrocken zusammen und sah ihren Körper erschrocken zusammenzucken. „Kisama ...“, begann sie zu fluchen, doch entschied sich dann für eine Sprache, die Miguel verstand. „Was zum Teufel ist das für ein Drek?“ Die Elfe auf der Couch sah auf verbissene Weise ziemlich zornig aus. Entglitt ihr wirklich so sehr die Mimik, wenn sie wütend oder überrascht war? Gut, dass sie nicht leicht zu überraschen war. Das Talent des Gypsy Kings zu diesen Dingen bildete dabei eine Ausnahme. Wenigstens wusste sie jetzt, in welche Richtung sie wütend starren musste. „Bildverbindung, Chummer“, erklärte Miguel gelassen und sie bemerkte die sanfte Bewegung seines Kopfes und der damit verbundenen Sicht, während er sprach. „Iss hab' diss in meinen Kopf eingesteckt.“ „Gut, dass es nur das Sehen ist und sonst nichts“, bemerkte Ginger mürrisch, doch hatte sich schon wieder gefasst. Sie ertappte sich selbst dabei, wie neugierig sie ihre eigene Gestalt ansah. Miguels Restlichtverstärkung entsprach etwa der Sicht ihrer eigenen elfischen Augen, doch trotzdem war es etwas anderes. Sie spürte den feinen Unterschied, welcher vermutlich jedes Lebewesen einen Hauch vom anderen abgrenzte. Lag es nun daran, dass Miguel er selbst war, fragte sich Ginger, oder an dem Produkttyp seiner Cyberaugen und deren Kalibrierung? Der Gedanke bereitete ihr Kopfschmerzen. Noch mehr als sie sowieso gerade schon hatte. „Irgendwas, was du sehen mösstest, Senorita Ginger?“, fragte er scherzhaft, doch wandte den Blick dabei nicht von ihr ab. Sie schüttelte den Kopf. Es war eigenartig genug sich selbst durch die Augen eines anderen Metamenschen zu sehen und dabei buchstäblich seine Ansichten zu teilen. Oh mein Gott, rief Ginger in Gedanken überrascht aus, ich sehe die Welt mit seinen Augen! Wie kitschig. Trotzdem das Produkt eines neuronalen Netzes, zusammen mit einem Kabel in seiner Datenbuchse. Kann Kybernetik denn wirklich kitschig sein? Eine Weile, die sich nach etwa einer Viertelstunde anfühlte, sahen sie und Miguel Ginger gemeinsam an und er wandte seinen Blick nicht ab. Er blinzelte auch nicht, fiel ihr auf. Natürlich nicht, warum sollten Cyberaugen auch blinzeln können? Doch, er konnte blinzeln, aber es schien ein neuronaler Impuls zu sein, den er aussandte, wenn ihm danach war, und welcher von den Augen verarbeitet wurde. Das würde auch erklären, wie er schlief. Sie hätte vermutet, dass Miguel ihr die meiste Zeit auf die langen Beine oder in den Ausschnitt starren würde, aber sein Blick haftete an ihrem Gesicht. Sicher benahm er sich nur gut, jetzt wo sie in seinem Kopf zu Gast war. Ein kurzes Zucken ging durch das Bild und auf einmal war alles bläulich düster geworden, nur ein orange-roter Fleck stach hervor, wo sie zuvor gelegen hatte. Wärmesicht, realisierte sie nach einem Moment. „Infrarotsicht“, erklärte Miguel. Ginger nickte nur. Sie saß die Wärme durch ihren Körper zirkulieren, gedämpft durch den Teil ihrer Kleidung, der gepanzert war und weniger Hitze nach außen dringen ließ. Sie sollte sich Wärmedämmung besorgen. So sah sie für jeden Runner mit Chrom im Kopf und Sonderausstattung da draußen aus wie eine große rote Zielscheibe. „Siehst heiß aus, Bambina“, bemerkte Miguel mit einem trockenen Lachen. Erst sah sie wie die orange Rundung ihres Kopfes rot zu glühen begann und dann ihre eigene Faust auf ihr Blickfeld zurasen. Der Schlag kam zu schnell, als dass er hätte ausweichen können und traf mit einem kräftigen Ton auf die verchromte Brücke zwischen den beiden Wölbungen der Cyberaugen. Ginger hatte den Winkel gut geschätzt, sie war zufrieden mit sich selbst und als wieder die Restlichtverstärkung anging, sah sie sich grinsen wie einen Reißverschluss. Das Bild wackelte nur kurz, doch dann wurde ihre Sicht wieder ein weißes Flimmern. Miguel fluchte. „Keine Augen mehr für diss, Bambina.“ Ginger hörte ihn aufstehen, vermutlich um in die Küche zu gehen und sich einen Eisbeutel zu holen, doch es störte sie nicht. Das weiße Rauschen war zu einer friedlichen Meerbrandung am Abend geworden. Sie war auf der Ferieninsel einige Kilometer außerhalb der Bucht von Tokyo. Sie war höchstens sieben Jahre alt und suchte mit ihrem Bruder kleine Krebse in den zerklüfteten Klippen. Loa (02.03.09) -------------- Der Mann stand dort, als Christian wieder von seinem MP3-Player aufsah. Er hatte die Musik nicht beschallend laut gestellt, denn er hielt sich für einen von den netten Jungs, über die man sich nicht beschweren musste, sobald sie den Raum verließen. Er konnte sich nicht erinnern, dass der Mann schon vor ein paar Sekunden dort gestanden hatte. War er wieder eingeschlafen? Nein, der Bus schaukelte immer noch über die schlecht geflickten Asphaltfäden, die sich hier von Ort zu Ort durch die Täler woben. Links zog gerade der einsame Bauernhof vorbei, den er vor wenigen Sekunden hatte näher kommen sehen. Vorsichtig musterte er den Mann so nebensächlich, wie es möglich war. Er trug Frack und Zylinder in einem tadellosen Zustand, wodurch er die Bedeutung von 'Overdressed' für diesen Lebensraum Bus in neue Dimensionen beförderte. Seltsamerweise schien sich niemand anders im gut befüllten Gefährt daran zu stören. Sie waren alle so in ihre kleine Kapsel Selbst versunken, wie Menschen es – zumindest auf dieser Strecke – in Bussen sind. MP3-Player, ferner Blick, beklebte Ordner, den Kopf an die Scheibe gelehnt, kleine Welten. Der Mann hielt sich an der Stange direkt vor seinem Sitz fest und stand dort seelenruhig, als würden die unebenen Bewegungen des Busses ihn nur sanft streifen. Ein Glas seiner Sonnenbrille fehlte und darunter funkelte sein Auge heraus wie ein entfernter Stern am klaren Nachthimmel. Er rauchte Zigarre und hatte sie dabei auf eine Weise zwischen die Zähne geklemmt, als wolle er den Tabak zerbeißen und nicht rauchen. „Ghede“, drang die Stimme des Mannes an sein Ohr, als würde sie die Musik einfach teilen. Er streckte ihm die behandschuhte Hand entgegen und schien breit zu grinsen. Aber vielleicht kam das auch nur von der Zigarre im Mundwinkel. Der Dunst wogte um seinen Kopf wie eine Mähne. „Christian.“ Er schlug nach kurzem Zögern ein. Störte es niemanden, dass er hier drin rauchte? War es nicht verboten? Oder traute sich nur mal wieder keiner den Mund auf zu machen? „Rauchen ist hier drin verboten, glaube ich.“ „Ich weiß. Beides.“ Ghede machte keine Anstalten die Zigarre zu löschen, sondern nahm sie zwischen die Finger, um einige ordentliche Züge zu nehmen. „Sind Ihnen die Loa ein Begriff, Christian?“ „Bitte was?“ Obwohl er den Mann klar und deutlich verstand, nahm er sich die Kopfhörer aus den Ohren. „Ich fürchte, ich muss Ihnen mitteilen, dass sie verflucht worden sind“, sprach Ghede weiter, ohne näher seine vorherige Frage zu erläutern. „Aha.“ Christian sah die merkwürdige Gestalt skeptisch an und wog im Kopf die Wahrscheinlichkeit ab, dass es sich um einen Verrückten handelte. Oder jemanden, der ihm gleich etwas verkaufen wollte. „Wodurch und von wem sollte ich – wie Sie es nennen – verflucht worden sein?“ „Hatten Sie noch nie die Bekanntschaft mit praktizierenden Houngan oder Mambo, Christian?“ Es lag keine Neugier in der Frage. Christian dachte kurz nach. „Karen ...“ „Das ist richtig, Christian. Ihre Ex-Freundin hat sie verflucht.“ Jetzt grinste er von Ohr zu Ohr als würde kein Fleisch sein Gebiss einrahmen. „Ein Jammer, dass Sie Sie für eine New-Age-Spinnerin hielten, nicht wahr?“ „Bist du irgendein dämlicher Freund, den sie mir auf den Hals gehetzt hat, um mich zu erschrecken? Ihr ganzen Geist- und Zauberfreaks habt doch alle ein Rad ab!“ Ihm fiel keine bessere Reaktion ein, also ließ er sich einfach genervt in die Rückenlehne fallen. Es waren noch einige Haltestellen bis zu seinem Dorf. „Solch wüste und vor allem haltlose Beschimpfungen sind doch nicht nötig.“ Ghede sah ihn freundlich an und Christian spürte ein Kribbeln in der Hand, die immer noch den MP3-Player hielt. Als er hinabsah, war sie bereits ausgetrocknet und zerknittert wie ein Stück Pergament. Er wollte sie erschrocken von sich werfen wie ein Stück Fleisch, aus dem gerade eine Kolonie Maden gekrochen kam, doch aus anatomisch naheliegenden Gründen schüttelte er sie nur panisch. „Wenn sie die Güte hätten reinzurücken, Christian. Jetzt, wo wir uns näher kennen, habe ich keine Lust mehr zu stehen.“ Überfordert mit der Situation rückte Christian bereitwillig ein Stück rein und ließ den Mann neben sich Platz nehmen. Er wirkte im Sitzen ebenso riesig wie im Stehen. Überrascht stellte er fest, dass seine Hand wieder so aussah, als wäre nie etwas geschehen, sobald Ghede sich gesetzt hatte. Stöhnend atmete Christian auf, als habe man gerade ein schweres Gewicht von ihm genommen. „Ich denke, Sie verstehen jetzt, dass ich Sie begleiten werde, Christian.“ Er nahm einen kräftigen Zug an der Zigarre und blies den Rauch wie ein verwobenes Muster in die Luft. „Ich hoffe, Sie haben Rum im Haus.“ Wahl der Qual (03.03.09) ------------------------ Er lehnte sich in die Polster zurück, ein bisschen gelangweilt, ein bisschen in zurückhaltender Neugier. Die drei Frauen vor ihm lächelten nebeneinander wie eine durchgezogene weiße Linie. „Es ist ganz einfach“, betonte die Linke erneut mit höflicher Geduld und funkelte dabei über ihre Brille hinweg. „Du musst einfach nur einer von uns den Apfel geben. Sonst nichts.“ Die beiden anderen stimmten fast zeitgleich nickend den Worten der linken Frau zu; die mittlere hatte Haare wie eine große Mähne aus Wellen; die rechte wirkte zu schlicht für diese Party. Um die Frauen herum pulsierte das matte Licht und die Musik, die aus einem Nebenraum hinüberschallte. Seine Gedanken schlugen eisern gegen den Feuerstein der Erinnerungen, doch so recht wollte kein Funke überspringen. Irgendwo hatte er dieses Gebilde schon einmal erlebt. „Es wird auch nichts geschehen“, betonte Wellenmähne. „Es muss nur jemand den Zufall für uns spielen“, ergänzte Mauerblümchen. Er drehte den Apfel nachdenklich in Händen, den er gerade hatte essen wollen. Ein langweiliges Obst, um damit eine Entscheidung zu treffen, die man nicht verstand. Es war nicht einmal ein schöner Apfel; ein wirres Farbspiel wie mit Rost überzogenes Damaszener. „Du darfst dir auch den nächsten Song wünschen, wenn du es tust. Alles, was du willst. Ich kenne den DJ“, fiel ihm Brillenschlange wieder in die Gedanken und musterte ihn dann neugierig. „Ein bisschen Pagan Metal vielleicht? Oder was Klassisches? Er hat immer die Vertonung von Klopstocks Messias dabei, komplett in Hexametern. Kleiner Spleen von ihm.“ Sie kicherte, hoffte wohl ihn durchschauen zu können. Seufzend lehnte er sich nach vorne, um aus der hinteren Hosentasche sein Taschenmesser zu nehmen. Drei Schnitte und er reichte jeder einen Schnitzer. „Bedaure, ich mag Alexandriner.“ Synaesthetikum (04.03.09) ------------------------- Brent ließ sich in die Kissen sinken und betrachtete die stereotyp mintgrüne Krankenhausdecke. Nur noch ein paar Minuten … Er spürte ein leichtes Kribbeln im Nacken, das ihn an schreiendes Salz erinnerte. Moment mal was? Sein Unverständnis glitt als rauer Schnitt durch den Raum. Rot und süß gegen das bittere Zerbrechen von Spiegeln des Grüns. Träge führte er die Hand zum Kopf und die Bewegung hinterließ Tonspuren, als hätte er die schmelzenden Saiten einer Gitarre angeschlagen. War das die Wirkung der einsetzenden Narkose? Das Knallen der auffliegenden Tür hinterließ blaue Dreiecke und den Geschmack von abgelaufenen Hustenbonbons auf der Zunge. „Mr. Brent, es tut mir furchtbar leid. Ich habe Ihnen statt dem Anästhetikum das Synästhetikum gegeben.“ Ihre Stimme war eine glühende Welle, die sich tonlos über seinen Körper ergoss und ihn an eine Kopfdrehung nach Rechts erinnerte, obwohl er sie gebannt anstarrte, ohne sich zu bewegen. „Könnten sie bitte noch eine Weile dableiben und weitersprechen? Ihre Stimme schmeckt nach Himbeeren, wenn sie Umlaute sprechen.“ Brent fragte sich, ob das gerade taktlos oder einfach nur ehrlich und in beiden Fällen ihm übel zu nehmen war. Er entschied, dass er im Moment eindeutig mit seinen Gedanken überfordert war und die schwarzen Spitzwinkel am Fenster fühlten sich an, als ob er damit richtig lag. Die Anästhesistin seufzte und nahm neben dem Bett Platz. „Aber natürlich. Passiert mir nicht zum ersten Mal. Ich bin einfach zu schusselig.“ elder one (12.03.09) -------------------- „Ja, ich bin gleich soweit. Gott, es ist wirklich ewig her, dass ich so weit gespielt hab'.“ Patrick klemmte sich den Telefonhörer auf die andere Schulter und rieb sich das frei gewordene Ohr. Es schmerzte vom mehrere Stunden daran gedrückten Plastik, so warm und rot wie ein englisches Rumpsteak. Dann wanderte die Hand wieder zum Controller und er sprach weiter in den Hörer. „Aber jetzt kommt wirklich der beste Teil. Echt, ab jetzt wird der ganze Plot sowas von auf Crack.“ Glühende Blitze eines gut gerenderten Animationsvideos illuminierten von der Bildröhre aus den abgedunkelten Raum, durch dessen heruntergelassene Rollläden erste Raster morgendlichen Grauens drangen. „Zeitkompressiooo~n!“, intonierte Patrick in euphorischer Ironie in den leeren Raum und Telefonhörer. Die Farben einigten sich auf ein himmlisches Blau, was den ganzen Raum mit einer ernüchternden Deutlichkeit verfärbte, sich in Chipstüten und Sodaflaschen brach wie eine interner Sonnenaufgang. „Ja? Ja, genau, die Stelle. Klasse, oder? Ich frage mich echt, wie ironisch mir die Stereotypen in dieser Spielereihe noch aufstoßen müssen, bis ich sie nicht mehr witzig und charmant finde, sondern einfach nur noch hassen werde. Warte, kurz die letzte CD einlegen, ich leg' dich weg.“ Er legte den Hörer auf die Couch und kroch nach vorne zur Konsole, eine Pizzaschachtel bohrte sie ihm ins Knie wie ein müder bissiger Hund ohne Oberkiefer. Er griff nach der Hülle und klappte das Fach mit der letzten CD auf. Stille. „Fuck. Fuckfuckfuckfuck. FUCK!!“ Ein dumpfes Scheppern hallte durch den Raum, als er die nächstbeste Lebensmittelverpackung in die weitfernste Ecke warf, wo sie abprallte und anderen Plunder auf dem Boden anstieß wie bei einem auf Müll basierenden Gotchaspiel. Patrick griff wieder nach dem Hörer. „Tobi, du hattest das Game doch auch“, setzte er mit relativ gefasst bebender Stimme an. „Was verkauft? Verdammte Niederhölle, wie kann man so ein Spiel denn verkaufen? Viel Geld, weil es ein Rarität ist? Deine Niere ist auch eine Rarität, du solltest mir besser das Doppelte zahlen, damit ich sie mir nicht gleich hole.“ Die Stimme in der Leitung murmelte irritierte Fragen. „Der Mistkerl hat nicht darauf geachtet, ob alle CDs in der Hülle sind, bevor er es mir wiedergegeben hat. WIE KANN MAN DAS DENN VERGESSEN! Tobi, es werden jetzt vermutlich Menschen sterben, weil ich mich in eine auf Spielentzug basierende Raserei steigere! Wie konnte er DAS VERGESSEN!!“ Tobias' Stimme suchte belustigt beschwichtigende Worte, doch der leise Tonfluß aus dem Hörer verfehlte seine Wirkung. Das Telefon immer noch zwischen Schulter und Ohr stand Patrick auf und ließ sich einen halben Meter weiter in seinen PC-Stuhl fallen. „Ich lad' diese vermaledeite letzte CD jetzt runter. Was? Nein, das Ding ist nicht gemoddet. Dann lerne ich eben, wie man das macht! Dazu gibt’s bestimmt irgendwo einen Guide.“ Patricks Finger zuckten hektisch über die Tastatur. „Ach was weiß ich, wo ich die Bauteile dafür hernehmen soll, mein Vater hat einen Hobbykeller, da … ich wette das mit den Chipsätzen, die man braucht damit es funktioniert ist nur so ein Trick, um den Markt zu wahren. Das geht sicher auch ohne. Nein, Tobias, ich drehe nicht durch. Erst recht nicht wegen eines mittelmäßigen Teils einer nostalgischen Spielereihe.“ Ein reflektierendes Grinsen breitete sich wie eine Mondsichel in einer nebligen Nacht über sein Gesicht aus. „Wusste ich es doch. Das ist ganz einfach. Genau genommen sogar zu einfach. Also man braucht einen Schraubzieher“ - mit einem Klacken nahm er selbigen von Schreibtisch - „vier Kronkorken und ein Teppichmesser“ - sammelte die Sachen vom Zimmerboden auf - „eine Rolle Lötzinn, ah da ist er ja, und einen Viertel Liter menschliches Blut.“ Tobias' Stimme war erst belustigt als hätte er einen guten Witz gehört, doch als Patrick sich eifrig daran machte bei laufendem Betrieb die Konsole aufzuschrauben, deren Visualisierung auf dem Bildschirm immer noch die letzte CD verlangte, wurde sie langsam aber stetig lauter und unruhiger. Patrick werkelte seelenruhig weiter und gab gelegentlich abwehrende oder dumme Kommentare von sich, während er die Kronkorken und den Lötzinn in einer eigentümlichen Form auf dem ruhig summenden Prozessor des elektrischen Geräts verteilte. „So, das müsste alles soweit stimmen“, murmelte Patrick nach einem Seitenblick auf das Diagramm auf dem Computermonitor. Während Tobias' Stimme beinahe hysterisch zu ihm durchdrang, setzte Patrick das Teppichmesser zu einem sauberen Schnitt durch die Armbeuge an und sah seinem Blut gelassen dabei zu, wie es auf den Prozessor der Konsole rann, welche schnell und unglücklich mit dampfenden Gerüchen und Geräuschen darauf reagierte. Es sammelte sich in den Mustern zwischen Kronkorken und Zinn zu einem merkwürdigen Gebilde. „Letzte CD, mh?“ Die Stimme kam von der Couch, grollend und gelassen. Patrick wandte sich um und seine Augen weiteten sich, als hätte er ins Tageslicht blicken müssen. Schreckliche Vorstellung. „Tobi, ich muss auflegen. Ruf' dich später an.“ Klick. Stille. Das schmorende Rebellieren der Konsole war wieder zu einem unterschwelligen Summen der Ergebenheit geworden. Die Gestalt saß bequem in die Couch gelehnt, drahtig und groß. Das eine Auge ein großer Kreis, das andere ein dämonisch feiner Schlitz, beinahe eine senkrechte Linie. Als es den Mund wieder zum Sprechen öffnete kamen seine Zähne zum Vorschein, reihenweise Netzwerkports, in jeden ein Kabel eingesteckt, die wie Tentakel von seinem Gesicht hinabhingen. „Ich biete dir jedes Spiel, das du willst, solange du willst. Nur wenn du keine Lust mehr darauf hast, dann gehörst du mir.“ Es legte den Kopf entspannt in den Nacken und sah ihn aus dem untersten Augenwinkel an. Seine Haarmähne aus USB-Sticks klackerte gegeneinander. „Das Spiel, was gerade läuft. Solange ich will?“, sagte Patrick mit gleichermaßen Seelenruhe. „Solange du willst.“ „Wo muss ich unterschreiben?“ „Du hast schon den Eintrittsbedingungen auf der Website zugestimmt. Das reicht.“ Patrick warf einen Blick zur Seite, doch der Monitor des Computers war erloschen. Er grinste. „Na dann hoffe ich, dass du eine Weile Zeit hast.“ Ein Krachen öffnete die Tür zu Patricks Zimmer. „Hi Tobi. Komm' rein, setz' dich. Eistee steht da vorne.“ Patrick saß auf der Couch, den Rücken in gewohnter Spielhaltung leicht nach vorne gekrümmt und kommandierte mit dem Controller die Geschehnisse auf dem Bildschirm. Neben ihm hatte sich eine große Gestalt auf der Couch breit gemacht. Skeptisch trat Tobias ein und schloss die Tür, dieses Mal ein wenig leiser. Er ging um das Sofa herum und drehte den PC-Stuhl zur Couch hin, ließ sich nieder. Fast peinlich berührt legte er das Stemmeisen aus der Hand. „Wozu die schwere Artillerie, Tobi?“, fragte Patrick ohne vom Bildschirm weg zu sehen. „Ich … ahm ...“ Tobias dachte nach und obwohl ihm reichlich Gründe einfielen, zerflossen sie ihm förmlich zwischen den geistigen Fingern. „Deine Eltern meinten das wäre schon alles in Ordnung und wirken irgendwie ein wenig zu ruhig. Die Sache war mir irgendwie nicht ganz geheuer.“ Er betrachtete erst Patrick, der ziemlich munter und gesund wirkte für seine Verhältnisse, dann den Bildschirm, doch schon bald musste er unweigerlich die gewaltige Gestalt auf der Couch anstarren. „Ist das der große Cthulhu auf deiner Couch, Patrick?“ „Game-Cthulhu“, korrigierte die gewaltige Gestalt. „Und ich sitze hier jetzt schon seit Tagen fest. Das Spiel hört einfach nicht auf.“ Sollte er sein Entsetzen darüber herausbrüllen, dass es Videospieldämonen gab, oder eher darüber, dass Patrick offenbar einen Pakt mit einem geschlossen hatte? „Entspann' dich, Cu“, murmelte Patrick. „Ich kann ja auch nichts dafür, dass du nicht deine Hausaufgaben gemacht hast. Jedenfalls sind wir bei gerade mal bei zweihundert Stunden Spielzeit und ich hab' nicht einmal die Hälfte aller Secrets erreicht, geschweige denn angefangen mich zu langweilen.“ „Du hast einen Pakt mit dem großen Cthulhu geschlossen, nur um das Spiel zu Ende spielen zu können“, fragte Tobias ungläubig, aber redundant. Patrick nickte. „Aber als mir auffiel, dass ich jetzt nach seinen Bedingungen soviel Zeit dafür habe, wie ich will, habe ich nochmal von vorne angefangen und darauf geachtet wirklich alle Spielinhalte mitzunehmen.“ „Seit drei Stunden kämpft er gegen diesen Sondergegner!“, platzte der große Cthulhu heraus. „Wenn er ihn fast besiegt hat, dann stirbt er sogar absichtlich, um ihn nochmal zu machen. Wenn du mir doch nur einmal kurz den Controller geben würdest, dann wäre das Spiel binne Minuten zu Ende.“ „Davon steht nichts im Vertrag. Außerdem will ich ihn noch optimaler besiegen. Das verbessert meine Endquote.“ Der Dämon auf der Couch gab ein resignierendes Brummen von sich; Wie das Geräusch, wenn man in einen Ventilator hinein spricht. „Tobias, kannst du mal in das Fach rechts neben den Externen greifen. Ich glaube, der große Game-Cthulhu braucht einen Drink.“ Tobias griff nach der Whiskeyflasche und reichte sie herüber, wo die Gestalt sie bereitwillig entgegennahm, ohne vom Bildschirm wegzusehen. Es war wirklich ein verdammt gutes Spiel. Das würde eine lange Nacht werden. Feuereifer III (13.04.09) ------------------------- Tom hatte auf dem Balkon gesessen und den Untergang des Mondes in den letzten Stunden vor Sonnenaufgang betrachtet. Es stimmte nicht ganz, denn auch in den grauen Morgenstunden lag die goldene Scheibe wie eine krumme Münze im abgenutzten Lederportemonnaie bis der Tag es bleich in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Er trug heute wieder eine seiner verwaschen grauen Hosen, die er im Frühjahr hervorzukramen pflegte. Tom ebenso. Teekanne und Tasse neben ihm zeichneten Wellen und Wogen in die weichende Dunkelheit, bis sie gegen das nahende Grau des Morgens ein langweiliger Dunst wurden. Er beschloss, dass es nicht mehr wert war noch eine Kanne zu kochen. „So allein an diesem Morgen, schöner Mann?“ Tom zog den Kopf aus seinen Gedankenwolken, als Jen im Nachthemd neben ihm in der Balkontür erschien. Sie lehnte sich in den Türrahmen und schlang die Arme um den Körper wie es eine gewöhnliche Frau tun würde, der an einem frostigen Morgen draußen kalt war. Auch wenn besagte Normalfrau vermutlich nie in zu kurzem Transparent erscheinen würde. Und auch wenn für Jen andere Spielregeln galten. In beiderlei Hinsicht. Sie war es gewohnt routinierte Anflüge von Kälte zu zeigen, ebenso wie es ihr – das hatte Tom in den letzten Monaten gelernt – in beheizten Räumen angeblich zu warm wurde, falls Freunde oder Bekannte im Raum waren. Ihr Schauspiel wirkte zwar unbeholfen und aufgesetzt, fand er, aber es wirkte. Es war genauso wie seine eigene Angewohnheit Jacken zu tragen, obwohl er seinem Wärmeempfinden entsprechend hätte nackt herumlaufen können. Es fiel vermutlich auf, dass er sie ablegte, sobald es möglich war, aber es passte trotzdem ins Bild, dass er sie überhaupt trug. „Ich dachte, ich versuche mich ein wenig abzukühlen“, reagierte Tom halbherzig lächelnd. Sie würde ihn so wieso durchschauen – hatte es sicher schon – aber es gab ihm spärliche Sekunden Smalltalk, um das selbst auch zu tun. „Natürlich, Lavaboy. Sollen wir einen Obsidiananhänger aus deinen Gedanken machen, wenn du es geschafft hast? Ich fand immer diese Theatralischen mit Drachen und Schwertern hübsch, vor allem wenn sie ...“ Tom wehrte ihren Redefluss mit einer eindämmenden Geste ab. Seine Füße begannen kalt zu werden. „Sorry.“ „Du darfst meinen Schädel wie eine Walnuss knacken, sobald ich erfroren bin“, entgegnete Tom nur und verschlang seine Füße unter dem Stuhl ineinander. Normalerweise wurde ihm nicht kalt, aber die Nacht mit Jen und die Stunden in der Kälte bis jetzt machten einen Unterschied. Jen verzog die Lippen in schmollendem Schuldbewusstsein und kam in rhythmischen Tappen über das Holz zu ihm herüber. Sie fischte seine Tasse vom Tisch und verzog beim Trinken missbilligend das Gesicht. „Kein Wunder, dass du schlechte Laune hast, wenn du sie dir mit Sencha vergiftest. Sei ein Mann und trink' Earl Grey.“ Tom konnte sie nicht grinsen hören oder sehen, aber er wusste, dass sie es tat. Seufzend drückte er sich aus dem Stuhl, doch musste auf dem Weg hinein verharren, weil Jen plump in der Tür stehen blieb. „Also?“, sah sie ihn fragend an. Er schüttelte den Kopf. „Nicht heute. Heute fällt mir keine Pointe ein, um es zu erklären.“ Perspektive (14.04.09) ---------------------- Ich sitze hier nur noch eine Weile und sehe meinen Füßen beim Trocknen zu. Es perlen noch ein paar Tropfen in der Nachmittagssonne vor sich hin, aber die letzten Tropfen sind immer die hartnäckigen. Eines dieser alten Gesetze, die man auf alles anwenden kann. Jede Situation; jede Metapher; jedes Unglück. Es ist eine der wunderbaren Traurigkeiten dieser Zeit, dass sich alles in episodische Weisheiten verpacken lässt. Instant Durchblick. Memes. Aber immerhin funktioniert es gut, weil sich jeder daran gewöhnt hat, dass es offenbar so sein muss. Die Conclusio eines großen Versepos … Aber ich werde theatralisch. Füße. Genau. Sie trocknen in der Sonne, kein Anzeichen von Mysterien und wenn ich noch ein paar sonnige Tage und eine strahlende Supernova länger hier faul herumliege, dann sind sie knusprig braun und schmecken vermutlich wie Hühnchen. Hühnchen ist eine Konstante; hoffe ich zumindest. „Oi, nicht ins Leere starren.“ Das ist Kendra. Sie schnippt mir Wasserperlen ins Gesicht um-- „Es wird unschön, wenn du weiter so gedankenverloren in die Blätter starrst.“ Ich weiß, dass als nächstes der Wassereimer kommt; bin das Spiel gewissermaßen gewohnt, auch wenn es dabei weiterhin nur darum-- „Du willst es ja nicht anders.“ Sie denkt es ist nicht gut für mich, wenn ich soviel in meinem abstrakten Urschlamm herumdümple und „gedanklich-vor-mich-hin-monologisiere“. Sie ist so eine Art fleischgewordener Wechsel der Erzählperspektive, der versucht mich-- „GAH! Oh verDAMmt ist das HEIß!“ „Ich hab' schon viermal gesagt, dass die Kohle jetzt heiß ist und du anfangen kannst zu grillen. Außerdem wollte ich dich unterbrechen, bevor du wieder anfängst den Erzählperspektivenwechsel deines Lebens zu analysieren, den ich für dich darstelle.“ Manchmal wünsche ich mir die Nullfokalisierung für diesen ganzen Mist-- „Jaja, ist ja gut. Sieh' mich nicht so an, ich werf' ja schon die Spare-Ribs drauf.“ Floccinaucinihilipilification (10.05.09) ---------------------------------------- „Io, Tony!“ Dorian warf Sand aus seiner Grube wie ein eifriger Maulwurf. Immerhin, dachte James, auf einem Auge bist du schon blind, Captain. Was nicht ist, kann noch werden. Gratuliere, Mr. O'Connor, kommentierte die Stimme in seinem Kopf. Ihr Tiefsinn ist wieder kaum davon abzuhalten auf das nächste Riff zu laufen. Er stieß seine Gedanken von sich und sprang hinterher in Dorians Grube. „Was haben wir, Mr. Black?“ James beugte sich über den nackten Rücken des Grabenden, der weiterhin den Dreispitz aufbehalten hatte und ihn zwischen zwei Schaufelbewegungen beifällig antippte. „Captain. Sir?“ Ein hartes Pochen, lauter als der Widerstand von Sand, war zu vernehmen und Dorian Black warf die Schaufel nach hinten, wo James sie aufhing und an den Rand des Lochs beförderte. Sicher wieder nur ein alter Felsklotz, sagte James zu sich selbst, mit dem ich die nächsten Monate unter Deck versteinern werde, bis er übersetzt ist. Weil es eine Schatzkarte sein muss, antwortete seine innere Stimme. Immerhin hat sich die letzte Übersetzungsarbeit wirklich gelohnt. „In der Tat. Ausgezeichnetes Paellarezept“, murmelte James vor sich hin. „Richten sie alle ihre geistigen Aufmerksamkeiten auf meine Schatzjagd, Mr. O'Connor“, gab Dorian ungefragt zurück, während er den Sand von einer Steinplatte rieb. „Und?“ Er ließ James näher treten, um die fremdartige Inschrift zu begutachten. Nicht dass für Dorian Black Inschriften, Verträge und Schilder mehr oder weniger fremd waren. Wer nicht lesen kann, gibt jeder Schrift ihre Gleichberechtigung, dachte James. Er musste grinsen, als er auch nur einen kurzen Blick auf seinen neuen Klotz am Bein geworfen hatte. „Das ist die Sprache meiner Heimat, Sir.“ „Die Heimat?“ Dorian dehnte den Artikel bis zur Eindeutigkeit. „Aye.“ „Und?“ James Antoine O'Connor räusperte sich wie ein alter Geschichtenerzähler. „Jede unserer Mühen ist ein Sandkorn. Jeder Absturz ein Sack Zement. Jede Wunde ein Kieselstein, den wir irgendwann zurückwerfen werden.“ „Möglicherweise eine massive Festung, die einen gewaltigen Schatz birgt“, sinnierte Dorian. „So wie wir es uns immer gewünscht haben; aber es ständig nur satt hatten, solange bis wir kotzen mussten. Wir rühren und mengen den Sand, der uns durch die Finger rieselt, und den Zement, der uns am Boden hält – bereit in die Luft zu gehen – , und die Kiesel, die uns noch als Prothese im Rückgrat stecken, mit dem klebrigen nassen Brei aus unserem Inneren zusammen.“ „Das“, setzte Dorian an und musste erneut Luft holen, um Worte zu finden, „klingt schon etwas weniger nach der Finanzierung meines Ruhestandes. Außer ich mache mich mit meinem dieser Kuriositätenkabinetts selbstständig. Erinnerst du dich noch an den kleinen Laden auf Boheme Island?“ James ignorierte seinen Captain. Wie meistens. „Wir rudern mit den Armen, bis sich uns der große Klotz aus Vergangenheit als Vorschlaghammer um die Hände verfestigt hat, um damit Fenster einzuschlagen und Laternenlichter zurecht zu knicken – oder einfach nur zu trommeln, bis wir über unsere eigene große Behändigkeit stolpern. Wahrscheinlich trampeln wir eher mit den Füßen im Schlamm herum, bis wir aus Versehen um die Fersen Schuhe aus Beton tragen und in die Tiefe gehen wie eine Figur mit schmalspurigem Fahrwasser und gescheitert evozierter Unergründlichkeit. Der Grund ist schneller da, als wir denken, und komprimiert weiter Gedankenflüsse auf ein Minimum. Null. Mit dem richtigen Schuhwerk kommt jeder Entwurf bei jeder Entfernung gradlinig zum Ziel. Warum verschmähen, was Mafiosi und Moorleichen seit Anbeginn der Zivilisation wissen?“, endete James und drehte sich fragend um. „Ja, eine gute Frage, Mr. O'Connor. Womöglich geht es um versunkenes Gold oder ...“ „Captain.“ James seufzte. James' innere Stimme seufzte. „Die Frage steht hier.“ „Mh?“ Dorian sah ihn mit einer besonnenen Verständnislosigkeit an. „Ja, natürlich, das ist mir auch klar. Was ist mit der Zeile ganz unten?“ James bemerkte die Linien am unteren Rand der Platte und wischte den Sand zur Seite. „Für Moral, Materielles überwinden.“ James las vier Wörter wieder und wieder. „Was bei den Tiefen ...“ „Buhu“, murmelte Dorian über seine Schulter hinweg und schob James beiseite. „Rätsel sind eine Sache, aber Pathos zwischen mir und meiner Altervorsorge ...“ Dorian schwang die Schaufel über dem Kopf, sodass James sich ducken musste, und ließ sie auf die Platte im Sand niederschnellen. Der Stein zerbrach wie billiger Kunststoff. James spähte durch Dorians staksige Beine hindurch auf säuberlich ausgelegtes Papier, anmutig beschrieben. „Ob ich gestanden habe oder gestanden bin, ist keine Frage von Sprache, sondern von Dimension und Perspektive und Einfalt. Aber wenn die Welt, mit der ich auskommen muss, Null für eine Zahl hält, dann kann ich doch auch Stillstand für eine Bewegung halten und gestanden sein, statt gestanden zu haben. Ich bin der genetische Abfall der Menschheit und das ist mein rechtmäßiger Platz, ich sollte mich daran gewöhnen und nur noch Scheiße machen.“ James sah seinen Captain schweigend an. „Und?“ „Immerhin wissen wir jetzt, dass ich nicht der einzige Müll meiner Generation bin, der hier gestrandet ist, Captain Dorian Black, Sir.“ James versuchte zu grinsen. Lächeln, Mr. O'Connor, Lächeln, beschwor ihn seine innere Stimme. „Ist die Scheiße deiner Generation zufällig aus Gold, Mr. O'Connor?“ „Sie wünschte, es wäre so, Sir.“ Papa Legba tanzt auf den Dächern (01.06.09) ------------------------------------------- „Papa Legba? Papa Legba!“ Ein Rascheln ging durch die losen Blätter am Fuß des alten Bambusregals und ließ Almanachen und Codize in den Fächern schaukeln, als etwas sanft dagegen rollte. Karu fegte mit einer Handbewegung einen Papiersturm beiseite und ließ die Ursache zurück. Papa Legba schnurrte träge, doch sah sie ansonsten nur mit großen Augen an, als gäbe es außer ihr nichts auf der Welt, ohne sich zu bewegen. „Da bist du.“ Karu kniete sich hin, um den Kater hochzuheben. Papa Legba sah sie nur sehr interessiert an und schien keinen blassen Schimmer zu haben, was sie von ihm wollte. Dann drehte er sich in einer Weise auf den Rücken, bei der er nur den Körper zu bewegen schien, während sein Kopf an Ort und Stelle blieb und sein Blick sie fixierte. Eher war der Blick fixiert, aber sonst nichts und alles in Bewegung. „Eshu! Dein fetter fauler Kater ist schon wieder in meiner Wohnung und zu fett und zu faul, um sich wieder zu verziehen.“ Kein Reaktion, nur das ewige Wehen und Zerren aus der Unterstadt und irgendwo – und überall – der verhallende Klang von Trommeln. Papa Legba streckte drei Pfoten und sein Holzbein von sich. Er öffnete das Maul, um zu miauen, doch kurz vor dem Ton hielt er inne. Karu glaubte eine Nachdenklichkeit in seinen Augen und dem stockend geöffneten Maul zu sehen. Als denke eine Katze darüber nach, ob man miauen sollte. Und warum überhaupt? Was ist mir das Miauen? „Merde.“ Karu rasselte kräftig mit der Knochenkette um ihren Hals und unterdrückte weitere Flüche. Sie stieg über den Kater, der sie gar nicht mehr zu bemerken schien, und nahm die Schädeldecke von einem Totenkopf, der oben auf dem Regal stand. Ein Rest bräunlicher Masse klebte am Boden des Gefäßes. „Eshu! Dein fetter Kater hat unser Meskalin gefressen!“ Milchhäutige Schultern schwangen kopfunter vor ihr Fenster. Eshus morastige Augen blinzelten irritiert. „Und? Hat er dir ein Zeichen gegeben? Sieht er etwas? Tanzt er?“ Karu stellte sich vor wie Papa Legba auf Pfote und Holzbein auf ihrem Dach ein Stepptänzchen hinlegte. Sie seufzte. „Nein, aber er schaut mich an als will er sagen ‚Das ist wie eine Katze sehen sollte und jetzt mach’ mir was zu fressen!’ anstatt nur ‚Mach’ mir was zu fressen!’ wie sonst.“ Eshus Lachen johlte über die Dächer, als seine Bild wieder aus dem Fensterrahmen verschwand. lazy day, non-ironic (02.06.09) ------------------------------- Sie wachte auf, als irgendwo weit weg ein Wecker klingelte. Ein Traum über gigantische Goldfische, die mit ihren Schnauzen stubsend an ihr Bewusstsein drückten, entglitt den geöffneten Augen. Sie rollte rücklings aus dem Bett, doch landete nach leidlich kurzem Weg mit knackenden Knochen auf dem Fußboden. Couch? Ich bin auf der Couch eingeschlafen. Sie folgte dem fernen Klingeln gemächlich, bis sie müde mit den Zehen festen Widerstand am Fußboden fand. Der erste Wecker, der kurz vor den anderen ansprang, um den Weg bis zum Bad zu überbrücken. Er klingelte nicht, denn er hatte unterschiedliche Belegungen für Werktag und Wochenende. Sie folgte weiter in schlurfendem Gang dem Flur bis ins Bad und betätigte schläfrig die Schlummertaste, statt des Stop-Knopfs. Wie sooft, reine Routine. Es war Samstag und viel zu früh am Morgen, auch die Erinnerung an den letzten Abend döste noch vor sich hin, während sie wach war. Sie guckte kurz in den Spiegel und sah ihr Haar in zerzausten Strähnen daliegen. Aber es war zu früh für Gedanken darüber – falls so eine Uhrzeit überhaupt existiert – und es war Wochenende. Sie wollte nach dem Wecker greifen, doch der Gegenstand gab nicht nach. Er war festgeschraubt – sie erinnerte sich – seit sie dazu neigte ihn mitzunehmen und weiterzuschlafen. Sie schüttelte sich, um klar zu werden, drückte die Stop-Taste und wandelte im Halbschlaf wieder den Weg zurück ins Bett. Sie stieg aus den Träumen zurück an die Oberfläche des Bewusstseins wie die Strahlen der Sonne sich durch das Dachfenster brachen und die Couch mit tanzenden Mustern bedeckten. Couch? Ich bin schon wieder auf der Couch eingeschlafen. Sie begriff einen Durst, der sie durch den orange dämmernden Raum in die Küche trieb, zum Kühlschrank und wieder zurück auf die Couch. Die Kohlensäure stieg ihr weinerlich in die Augen und lief tränend den linken Mundwinkel hinab, bis sie sich in der Couch einsog. Die Flasche fand von ihrer Hand geleitet den Fußboden, während sie den Kopf wieder ins sonnenwarme Kissen drückte. Sie erwachte und rollte sich auf die andere Seite des Bettes, wo sie sich gerade noch vor dem tödlichen Dolchstoß durch die eigene Wasserflasche bewahren konnte, bevor sie zu Boden ging. Couch. Warum immer die Couch. Sie trabte verschlafen zur Küche, die poliert und sonnenspiegelnd dalag. „Morgen, sleepyhead. Wieder nicht aus dem Bett gekommen?“ „Mmm-hm.“ a=a (15.06.2009) ---------------- Die Spitze schwingt einige Millimeter oberhalb des Bodens wie ein sehr eiliges Pendel, bis ihr Aufschwung gestoppt wie eine Schaukel, die von der Schwerkraft am Überschlag gehindert wird, zurück zur Erde fällt. Sie macht auf halber Höhe des Falls eine Kurve nach links und saust erneut hinauf, dieses Mal jedoch nicht senkrecht, sondern horizontal. Die Ecke erreicht den Horizont nicht, sondern wird erneut aufgehalten, verharrt jedoch zitternd am Hindernis. Ein neuer Impuls reißt sie einmal rundherum auf dasselbe Ziel zu. Sie wird aufs Kreuz gelegt mit der fremden Ecke, doch dann nach Innen gebogen, waagrecht zur bisherigen Richtung, um die Bewegung der Fremden auszusperren. Sie wird für einen Moment kopflos, dann kehrt sie verkehrt zur Ecke zurück. Sie stolpert einen Augenblick herum, doch dreht sich dann wie ein Windrad um sich selbst. Sie hat eine gute Balance und der Zug nach links, direkt nach der Pirouette auf das Ziel zu, ist somit zu verkraften. Sie geht ins Leere, weil das Ziel rückwärts flieht, aber verfolgt es sofort nach rechts, bis die Fremde an ihr hastig vorbeigleitet und sich erst im Zusammenprall mit dem Korb bremsen lässt. Der Korb wandte sich kreisend und brachte die eigene Klinge über die Fremde, um sie abwärts zu schlagen. Die Fremde sank unter der Wucht nieder und eröffnete freies Feld auf das Ziel. Er stieß die Klinge nach vorne und sie wurde erst wenige Zentimeter vor dem Ziel aus der Linie gefischt, von der Fremden befangen, umspielt und von sich geworfen. Der Korb änderte nur aus dem Handgelenk die Laufrichtung und ließ die Klinge gegen die Fremde prallen, sodass die Kanten übereinander schliffen und die Spitze vom Aufprall in Schwingung versetzt in einem schwachen Schnitt das Ziel streifte. Das Florett wich von der fremden Klinge zurück und die Muskeln des Arms erzitterten einen Augenblick triumphal beim sachten Geruch von Blut, der kaum über die Seeluft hinwegstach. Dann traf die Faust den Körper des Arms direkt zwischen die Augen. Das Schwert fiel scheppernd auf Deck und er hielt sich die blutende Nase. „Ich hatte gewonnen“, stöhnte James und versuchte mit dem Ärmel den Schwall von Blut aus seiner Nase zu stoppen. „Sie hatten einen guten Schnitt, Mr. O’Connor, aber ich habe sie besiegt.“ Dorian grinste und dehnte die Hand, mit der er gerade zugeschlagen hatte. „Du hast mich nur geschlagen.“ Dorian Black seufzte. „Eine Spitze ist eine Kante ist eine Klinge ist ein Schwert ist, dein Waffenarm bist Du. Ich hab’ dich besiegt, indem ich dich geschlagen habe, James.“ Donnervogel (16.06.2009) ------------------------ Quezca ahnte durch den eitrigen Rauch Aotls Gestalt, die wie ein trunkener Koyote im Wildtanz um das Feuer wankte. Jemand sollte hierzu trommeln und singen, aber die anderen Toltekids waren alle auf dem großen Hukilau und keiner wollte sich eine Hulapogo entgehen lassen, nur weil „die Sterne günstig stehen“. Loser, dachte Quezca, während er rötliches Laub schmatzend in seinen Händen zerdrückte und in die Glut warf. Aotl hustete, als schneckenspurige Purpurschlieren durch den Nebel flossen wie Blut im Wundbrand. Taumelnd tanzte sie weiter und schlängelte ihre Bahnen um Quezcas Feuer. Kleine Schwestern sind gar nicht so verkehrt, dachte Quezca, solange sie noch „cool“ finden, was man tut, und bei einem Ritual gerne dabei sind, weil es böse und verboten klingt. Eigentlich war Aotl ansonsten auch ganz in Ordnung, wenig am Quengeln und recht helle für ihr Alter. Nur noch nicht einsichtig genug, um zu wissen, dass er einen einfachen Herdgeist beschwören wollte, dessen gefährlichste Bedrohung darin bestand, Tee verschütten würde. Mehr Feuer, dachte Quezca, und warf einen weiteren moosbewachsenen Ast in die Flammen, wo er augenblicklich verzehrt wurde und nur seinen fauligen Geruch in der Höhle hinterließ. Hätte Vater ihm keine Rituale verboten, dann könnte er den Ritus unter freiem Himmel abhalten – wie es gedacht war – und nicht in den morschen Ausbuchtungen unter den Häuserstegen und Grundpfählen an der Grenze zur Unterstadt. Paranoider, alter Sack, dachte Quezca, als Aotls Schemen im Dunstkreis zu einer reinen Ahnung wurde. Er konnte die kleine Schwester nicht mehr sehen, aber empfand sie als Teil der Beschwörung, in der seine Sinne langsam aufgingen. Ich weiß, was ich tue, und du hast nur Panik, dass dein Sohn dich als Schamane überflügelt, noch bevor ihm der erste Bart wächst. Das Trommeln und Pulsieren der Stadt wurde zum Rhythmus seiner Atmung, dann seines Herzschlags, der ebenso verklungen wie unaufhörlich war in jedem Moment. Das Agieren und Reagieren der weiten Stege, der Brücken und Falltüren, der wandernden Schlupfwinkel kontraktierte mit seinen Muskeln. Eine lange Wanderung an Ort und Stelle. Darunter, tief im Magen, rauschte das drohende Wehen und Zerren der Unterstadt, das fern bleiben sollte, doch stets hungrig war. Die Farbe wechselte von Rauch zu Rot und Weiß; Blut und Knochen mit tiefen Schwarzen Wurzeln, die hineinfraßen. Aotl war der Kompass und die Nadel tanzte – längst ohne eigenes Zutun – auf der Suche nach Magnetismus, dem großen Ziel. Quezca war der Anker und fiel auf der Suche nach dem Grund. Grund ist Boden, Grund ist Erde. Grund ist Dreck. Grund ist nicht immer unten. Der Anker griff und der Kompass zog sich daran fest, doch ohne Steuermann; ohne Reiter. Hier fehlen Trommeln, die den Rhythmus vorgeben, ging es Quezca in einem klaren Sekundenbruchteil auf. Ich hab’ die Trommeln unterschätzt. Die Ankerkette rasselte, dann nahm sie den einfachsten Weg: den Weg nach Unten. Schwerkraft ist nicht wirklich, sagte sein Vater oft. Aber nahe liegend. Die schwarzen Wurzeln wurden größer und Zähne. Ein einsamer Unterkiefer. Der Kompass kreischte auf, als die Schwere die Anziehungskraft überlagerte. Die Nadel zappelte orientierungslos. Der Anker suchte nach Halt. Eine Statik tat sich auf, je näher sie dem Griff der Unterstadt kamen. Elektrizität. Ein in der Stadt ungekanntes Übel. Schwarz wurde langsam zu Blau, als die Spannung sich an ihnen reibend auflud und verdichtete. Unregelmäßig durchzog ein weißes Gleißen das Dunkel, als winde sich das verschlungene Weiß wieder hervor. Doch nicht das Weiß von Knochen. Keine Knochen – Keine Menschen. Der Farbteppich zerriss wieder zu Rauch und rauem Fluchen. Die plötzliche Rückkehr riss die Verknüpfungen auseinander und die Teile des gereisten Ganzen kehrten verquer und durcheinander zurück. Quezca sah seinen Vater im Rauch. Eine Silhouette von Federn, Knochen und bronzener Haut, der glühenden Phosphoriszenz von Körperbemalung, die ihn von der Glut weggerissen hat und nun auf sie einstampft, um die Reste des Rituals unter Flüchen zu löschen; gewaltig wie ein Berg in der Höhle aufragend und den Kopf in einem breiten Büffelschädel verborgen. Ein tobendes Alphatier. Der Luft war schwindelig und sie roch nach verbranntem Fleisch, während Quezcas Handflächen schmerzten. Aotls Stimme irrte durch seinen Kopf, doch er konnte die Schwester nirgendwo ausmachen. Das wird ordentlich Ärger geben, dachte Quezca. Mindestens zwei Mondläufe komplettes Schamanenverbot. Als die Glut nicht bereit war aufzugeben, öffnete der Vater kurzerhand seine Hose und erleichterte sich auf die unnachgiebigen Flammen. Ein unpassender Geruch von Regen statt Urin, dann ein weiterer bekannter Geruch, für den Quezca kein Wort kannte, nur ein Gefühl: das zeitlose Aufatmen nach dem Blitz. Der Moment gehört der Gewitterschlange, hatte sein Vater gesagt, und ist deshalb so endlos wie grausam, selbst in seiner Kürze. Der Vater erstarrte und Quezca konnte nur erkennen, wie die Federn an seinem Gewand sich kräuselten wie welkende Blätter. Einen banalen Augenblick noch stand er dort, durch den Strahl aus seiner Hose mit dem Feuer verbunden, – eine eigenartige Scham durchfuhr Quezca – dann stürzte der große Körper mit Donnergrollen in die Glut und löschte die letzten Reste der Beschwörung mit dem Tod aus. Der Gestank von versengtem Fleisch lichtete den Rauch wie einen gebannten Zauber und irgendwo in der Nähe der Feuerstelle lag Aotl. Regungslos und in einem überraschten Blick zur Decke erstarrt, ihre schmale Brust sich sachte im Takt ihres Atems hebend und senkend. Ein Gurren irgendwo in der Nähe. Quezca sah nicht einfach, was geschehen war, er wusste alles innerhalb seines Rituals. Er war das Ritual. Er wusste vom Tod seines Vaters ohne sich vergewissern zu müssen; ebenso wie davon, dass Aotl in seinen Gedanken so anwesend war, wie in der Realität. Quezca wusste, dass nicht beschworen war, was er gerufen hatte, aber Vater auch das Gegenteil verhindert hatte. Eine irrsinnige Gewissheit brannte ihm in den Fingern. Als er sich erhob, erhob sich auch Aotls Körper und Aotl in seinem Kopf erhob ihre Stimme und unter der Leiche des Vaters erhob sich das Gurren. Es brach knisternd durch den Körper – wie Holz bricht, wenn es völlig ausgebrannt ist – und nahm ihn in sich auf. Das schwarze Bündel Gefieder war nur handtellergroß, als es den Platz auf dem erloschenen Feuer einnahm. Es schlug Augen wie mäandernde Saphire auf und krächzte Quezca entgegen. „Was ist aus mir geworden?“ – „Ich habe Hunger. Füttere mich!“ sagte Aotl zweistimmig in seinem Kopf Gleis und Schienen (17.06.2009) ------------------------------- „Manche von euch nennen mich exzentrisch und meine Methoden obsolet.“ Ferdinand Reeder durchmaß in gezielten Schritten den schmalen Gang, zu dessen Seiten sich Menschen aufreihten, teils mit affirmativen Blicken an seine Gestalt geheftet, teils unsicher musternd; einige wenige blickten unter sich oder aus den Fenstern, als würden sie ihn nicht wahrnehmen. „Wenige sind der Meinung, mein Verhalten sei überflüssig. Vereinzelte wissen nicht einmal, wovon ich spreche – doch das wird sich bald ändern.“ Eine junge Frau mit Kopfhörern sah von ihrem Buch auf und blickte ihn abschätzig an. Zwei Männer hinter ihr murmelten miteinander, während sie Ferdinand anstarrten. „Ich kann nur sagen, dass ich mir diese Rolle nicht ausgesucht habe – ich tue nur, was ich am besten kann. Weil sich am Anfang keiner der Aufgabe annehmen wollte. Weil ihr ein unkontrollierter Haufen Hühner ward, der nichts als gackern konnte über seine misslichen Umstände. Weil ich in 15 Minuten ein Hauptseminar zu Wolframs von Eschenbach „Willehalm“ habe und zu spät komme, wenn ich meinen Bus verpasse! Weil seit drei Monaten keiner von uns zu spät gekommen ist!“ Eine Reihe Anzugträger klopfte zustimmend auf ihre Aktenkoffer und rief, trotz verschlafener Augen, euphorisch seinen Namen. „Wir erreichen in wenigen Minuten Mainz Hauptbahnhof“, erklang eine metallen feminine Stimme aus den Lautsprechern. „In Mainz haben sie Anschluss an ...“ „Nils!“, richtete sich Ferdinand an einen pedantisch anmutenden Blondling nahe der Abteiltür. „Du warst übers Wochenende bei deinen Eltern und hast den Rollkoffer mit deinen Gesetzbüchern dabei. Ich will dich vorne an der Tür sehen.“ Nils nickte grimmig und hievte seinen schweren Koffer von der Ablage nach unten; zerrte ihn in den Zwischenbereich vor den Ausgängen, wo bereits andere Fahrgäste neugierig an den Fenstern lehnten. „Ein ganzer Haufen von ihnen, Ferdinand.“ Eine dunkelhäutiges Mädchen mit zurückgebundener Mähne drehte sich vom Fenster weg und kramte ein breites Buch – Diercke Weltatlas – aus ihrem Rucksack. „Der vordere Teil von Gleis 3 ist wegen Bauarbeiten gesperrt. Wir müssen den Ansturm auf Tür 1 bis 3 übernehmen.“ Fernidand musterte das Mädchen kopfschüttelnd und schnippte ihr eine Strähe roter Haare aus dem Gesicht. „Du bist zu jung für die vorderste Reihe, Nat.“ „Ich muss rechtzeitig in der Schule sein, um Bio abzuschreiben.“ Natascha grinste. „Du hättest Bernd fragen können.“ Ein Mann Mitte Zwanzig sah von „Systematischer Zoologie“ auf und zog sich skeptisch die Brille von der Nase, um sie in einem Hartschalenetui zu verstauen. „Ich bin unausgelastet ohne morgendliche Aktivitäten.“ Sie schulterte ihren Rucksack erneut und zurrte die Gurte fest. „Such' dir 'nen Freund.“ Ferdinand schob sich lachend an ihr vorbei und lugte über die Köpfe der Reihe, die sich um die beiden Ausgänge gezogen hatte, hinweg auf den langsam werdenden Bahnhof. Die vorbeigleitenden Schemen wurden zu Körpern und schließlich zu Gesichtern. Reisetaschen und Koffer geschultert. Umhängetaschen schwingend. Bücher und Schulordner. Aktenkoffer und Thermoskanne. Ein Nadelstreifenmann mit Managerbrille wandte sich immer wieder zum langsam haltenden Zug um, während er unaufhörlich eine Vendingmachine mit Münzen fütterte. Eine junge Frau mit Dreadlocks verteilte die Snacks an die Menge am Rand zwischen Gleis und Schienen, welche sie annahmen ohne sich abzuwenden; das Erhaltene in Händen abwiegend. Ferdinand schob die Reihe vor der Tür auseinander, um Nils nach vorne zu lassen, während ein dürrer Rotschopf mit Hornbrille den Koffer auf der anderen Seite ergriff, sodass sie ihn gemeinsam unterhalb des Sichtfensters in der Tür fixierten. „Wir sind die Schienen“, murmelte Ferdinand beinahe nebensächlich. „Sie sind das Gleis“, antworteten mehrere Stimme im Zwischengang wie eine unterschwellige Bemerkung. „Wir sind die Schienen“, wiederholte er lauter. „Sie sind das Gleis“, gaben die Stimmen im Abteil immer noch durcheinander zurück. Ein wahlloser Sprechgesang. „Wir sind die Schienen!“ Ferdinand stellte sich direkt hinter den Koffer in die Tür. „Sie sind das Gleis“, brandete es unisono zurück. „Wir sind die Schienen!“ Er sah der Menge ohne Gemeinsamkeiten draußen vor der Tür entgegen. Noch war der „Tür-öffnen“-Knopf nicht grün unterlegt. „Sie sind das Gleis!“ Es sprang auf grün und mit dem gewohnten Zischen öffnete sich langsam die Tür. Erst im letzten Moment rissen Nils und der Rotschopf den Koffer in die Höhe. Ein pochender Hagelschauer prallte am Kofferdeckel ab, als die Menschen am Gleis die Snacks wie Wurfgeschosse in die Öffnung schleuderten. Nach der ersten Salve gab Ferdinand dem Koffer einen Stoß und die Arme der beiden Anderen schwangen routiniert mit, um das große Objekt in die Menge draußen vor die Tür zu befördern. Eine Bresche bildete sich, um dem schweren Trümmer auszuweichen. Ein langhaariger Südeuropäer lag mit einem Bein darunter und versuchte ihn hastig von sich herunter zu schütteln. Ferdinand sprang nach vorne und landete breitbeinig über dem Koffer. Eine Hand ging zum Griff des Koffers, die andere streckte sich dem Gefallenen entgegen. Dieser griff zu, als Ferdinand gleichzeitig ihn und den Koffer hochriss. Weitere Zugfahrende strömten hinter ihm aus den Türen hinaus und prallten mit den Wartenden, die in den Zug hineindrängten aufeinander. „Senior Reeder! Mal wieder auf dem Weg klüger und arbeitslos zu werden“, verkündete der junge Mann, der immer noch seine Hand umfasste. „Herr Milan, auf dem Weg um der bibliophilen Dienstleistungsindustrie Frankfurts Ihre menschlichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Sie entschuldigen mein unhöfliches Betragen.“ Ferdinand schleuderte den Spanier mit einem Schwung des Koffers von sich, wo er von der Menschenmenge hinter sich abgefangen wurde. Während andere Wartende vor dem schwingenden Koffer zurückwichen, ergriff eine Hand das andere Ende und er konnte im Eifer des Gefechts Bernd ausmachen, der ihm mit grimmiger Miene zunickte. Gemeinsam verwendeten sie das wuchtige Objekt wie einen Rammbock und irgendwo hinter ihnen hörte man Natascha „Lücke!“ durch das Getümmel brüllen hören. Körper drängten sich gegen Ferdinands Rücken und trieben den Keil voran, solange bis sie plötzlich taumelnd die Menschenmasse durchbrochen hatten. Ferdinand riss seine Armbanduhr vor Augen. Drei Minuten. „Nils!“, verlangte er lautstark und hob den Koffer in die Höhe. „Hier“, kam Nils’ Stimme und dann auch er selbst durch die Menge der Zugfahrenden auf ihn zu. Er nahm ihm den Koffer ab und klopfte ihm auf die Schulter. „Gute Show.“ Ferdinand grinste nur und war schon halb durch die Unterführung Richtung Bushaltestellen gespurtet, als Natascha ihn einholte. „Mein Lehrer hat mal erzählt“, verkündete sie im vollen Lauf, „dass früher mal einfach die Menschen im Zug ausgestiegen sind und danach die am Gleis eingestiegen, ohne dass es Probleme gab.“ „Wolfram sagte mal ‚swer triuwe hat, der solt iuch klagen. ir sit durh triuwe in dirre not.’“ „Und das bedeutet?“ „Verstehst du, wenn du groß bist.“ Ferdinand schlüpfte in den Bus hinein, kurz bevor sich die Tür schloss. ‚Bis Morgen’ formten seine Lippen, während das Fahrzeug sich in Bewegung setzte. Das Gesicht des Mädchens wurde zu einem verdutzen Grinsen, dann aber formten ihre Lippen dasselbe und verschwanden mit dem Bahnhof aus Ferdinands Sicht. Heute ist es mal wieder nicht zu spät. Der alte Kreis (23.06.09) ------------------------- Ich trete ein und wie immer ist mein Platz am alten Rundtisch in der Nische frei. Der Tisch ist ein gewaltiges Etwas von einer Holzscheibe, vor langen Jahren geschnitten und mit meinem - unserem - Blut gebeizt und versiegelt. Ich trete an den Kreis und lege ab. Die altgedienten Trümmerpistolen aus den Innentaschen der Jacke, die glattgeschliffenen Messer von der Brust und die neusten Spielzeuge aus dem Gürtel - zu gut um schon gut in der Hand zu liegen - landen wie ein rasselnder Zaun auf dem Tisch, noch bevor ich mich setze. Doch keinem fällt es mehr auf. Da sitzt ein Mann zu meiner Linken, weiß und aufrecht, der seine verspiegelten Gläser niemals abnimmt. Er lehnt in seinem Stuhl, halb im Schatten, und poliert ein Messer, so groß wie seine Hände zusammen. Ich werde nicht erfahren, ob er mich unter den Spiegeln vor Augen ansieht, aber er wollte mir mal ein Ohr abbeißen, weil ich den Zweitagebart trage, den er nicht schafft sich wachsen zu lassen. Das musste was heißen. Der Mann zu meiner Rechten mutet nach einem kauzigen britischen Lord an, überlegt rasiert und am Steuer eines Fünfmasters würdevoll über jedes Heldentum erhaben. Er spricht nicht viel, doch irgendwo in der Admiralsjacke stecken sein heroischer Furor und ein langes Eisen, mit dem er dir in den Rücken schießen kann, wenn er will. Ich lag schon sturzbetrunken achtern auf Deck, während er auf der Brücke stand und in meinen Whiskytraum murmelte: "Wir sind zu nahe am Meer auf Sand gebaut, Piraten sind alles, was wir sein können." Weiter links sitzt ein Mann in der Runde, der schweigend eiserne Zahnstocher verbiegt und sie von sich wirft. Er grinst, als ob es etwas Urkomisches gäbe, wo immer sein Blick hinfällt. Das Lächeln der Loa. Ich höre er stammt aus einem alten Schamanengeschlecht und könnte hier die Puppen und ihre Ahnen tanzen lassen, aber er benimmt sich. Vielleicht uns zuliebe, vielleicht einfach nur, weil er es kann. Wenn er sich zum Licht dreht, kann ich das Schwert blitzen sehen, das über seinem Rücken hängt. Der lange Zahn einer garstigen Bestie, höre ich reden, scharf wie ein Skalpell und nicht halb so zerbrechlich. Tiefer im Kreis rechts sitzt die Frau. Es gibt immer eine Frau. Ihre schwarze Haut und die roten Lockengeflechte tanzen mir vor Augen, wenn sie anmutig den Kopf schüttelt und lacht. Irgendwo unter dem Farbentanz ist ein weißer Kern, doch ich kann nicht das Spiel ihrer Bewegungen nie durchschauen. Sie ist ein Alchemistin aus fernen Landen, weit übers Meer, und palmiert Feuer und Eis, wenn man kurz wegsieht. Eine kurzer Händedruck oder eine freundliche Umarmung sind mir nicht nur ins Gedächtnis eingebrannt. Am anderen Ende des Kreises, sitzt der letzte Mann, ein junger Zigeunerkönig und ich kann ihn ununterbrochen reden hören, doch seine Stimme liegt irgendwo unter seiner Jugend begraben. Sein Flickenmantel ist voller geladener Waffen und noch einem Dutzend klirrender Degen, die er herausschleudern und aufs Spiel setzen könnte, wenn ihm danach wäre. Eine Ungewissheit irgendwo zwischen seinen Talismanen ewig jung gehalten und dem Weg hinauf zu den großen alten Romagöttern, kostet ihn alles, was er verlieren kann, weil es ihm nichts wert ist. Ich könnte erzählen, was wir dort redeten, doch es ist bereits alles gesagt worden. corazon (24.06.09) ------------------ Er blinzelte. Ah, er war also nicht wach. Noch bevor Miguel sein eigener Name einfiel, wer oder was er war, wusste er, dass er nicht wach war. Die Erkenntnis erreichte ihn vor allem anderen, dass immer dann, wenn er blinzelte, die Realität weit entfernt war. Organische Okularnotwendigkeiten wie Blinzeln oder Weinen waren dort eine finanzielle Unmöglichkeit, die er sich nicht leisten konnte. Keinen Schimmer, ob er sich BTL reingehauen hatte oder einfach nur schlief und träumte. War ihm auch völlig gleichgültig. Diese Lidschlagerkenntnis hatte ihn wenige Wochen nach seinem ersten Aufenthalt in einer Schattenklinik ereilt. Eine Zeit, in der er noch manchmal morgens vor den Spiegel getreten war und vor den verchromten Wölbungen anstelle seiner Augen zurückgeschreckt war, überzeugt er habe einen Albtraum. Dann war er irgendwann aufgewacht und hatte sich selbst in einem reflektierenden Etwas verschlafen angeblinzelt. Die kaum wahrnehmbare Berührung des Augapfels mit einem umhüllenden Lappen Haut; so vertraut und geschmeidig, dass es sich nicht beschreiben lässt. Eine Gewohnheit, die Miguel erst bemerkte, als sie fehlte. Es war ihm sofort klar, dass es nicht real war. Er erlernte mit einem Mal das luzide Träumen, das manche Menschen ihr Leben lang nicht erreichen, wenn sie überhaupt wissen, dass es existiert - oder es missverstehen, nachdem sie es wissen. Die Fähigkeit sich innerhalb des Traums bewusst zu werden, dass dieser einer war und ihn aus diesem Bewusstsein hinaus zu formen und zu lenken. Die Bewegung des Augenlids, ein langanhaltendes Blinzeln oder einfaches Zwinkern, wurden zum Indikator, der ihn sofort Herr über einen Traum werden ließ. Manchmal klappte es auch einfach nicht, weil er einen gesamten Traum lang ein Ball aus heißem Käse war, der darüber wahrnahm sich an allem zäh und anhänglich festzukleben. Käse. Er musste an seinen alten Lehrmeister denken, einen Schweizer Chummer und Ghuljäger, den es irgendwie nach Redmond verschlagen hatte. War es schon so lange her, dass er sich von ihm gelöst hatte und selbst zurecht kam? Dank der Gewalt über seinen Traum klappt sofort ein Bild des zerfurchten Zwergengesichts auf wie ein Taschenspiegel. Versoffener alter Bastard, ich hoffe es geht dir gut. Das Bild klappte zu und nur der Spiegel blieb und reflektierte Miguel, der sich einen Moment mit dem Alten überlagerte. Miguel musste wie so oft daran denken, dass die Schlafphase, in der Träume größtenteils stattfinden, REM-Phase genannt wurde. Rapid Eye Movements. Er hatte sich tagelang vor Lachen kaum halten können, nachdem er es aus einem Trid gelernt hatte. Er konzentrierte sich auf die Landschaft seines Traums. Es war ein erhabenes Gefühl, befreit und unbefangen damit anstellen zu können, was er wollte. Niemandem Rechenschaft schuldig und ohne die Last der Konsequenzen, die in den Schatten lauerte wie ein Drahtnetz - stets bereit sich für einen Fehltritt verbissen zu revanchieren. Der Gypsy King lag abgestreift wie eine jetzt überflüssige Kleidung am Wegesrand. Dies war ein entlegener heiler Ort. Aber auch das Luzid war kein Wunschbrunnen, kein Tischleindeckdich, kein Fass Chili con Soy ohne Boden. Es hatte seine eigenen Regeln, die Balance und Aufmerksamkeit erforderten. Miguel blinzelte erneut und dem kurzen Dunkel folgte eine klare Nacht vor Augen, in der man die Sterne am Himmel sehen konnte. Er lag im Bett neben, aber auch in einem wärmenden Feuer, das brannte und brandete wie die bewegte Stille selbst. All das lag auf einem Berg, nein, doch keinem Berg: auf den Dächern einer verwucherten und ausgebrannten Skyline. Das Plateau einer endlich untergegangenen Zivilisation. Dann war da Ginger und ihre muskulösen Arme legten sich um Miguel, um seinen zierlichen Körper an ihre breiten Schultern zu drücken. Als er verwirrt hinauf sah, war sie ein haarloser Troll mit bleicher Anmut und verführerischem Lächeln zwischen den polierten Hauern. "Du hast wunderschöne Augen, mi corazon", flüsterte ihre Stimme in tief wallendem Bass in sein Ohr, hauchte es die spitze Länge seiner Ohrmuschel hinauf, kurz bevor sie ihre eleganten Pranken unter sein Tanktop schob um seine ... Miguel erwachte, doch es war nichts als ein Moduswechsel. Sichtmodus an, sichtmodus aus. Alles synapsengesteuert und gut verdrahtet. Er schreckte nicht einmal hoch, wurde einfach nur wach. Der Schlafraum seiner kleinen Wohnung lag in der unauslöschlichen Halbdunkelheit des Seattler Nacht da. "Madre de dios", murmelte er nur, bevor er anfing zu lachen. Irgendwann würde auf das Luzid zur Beruhigung seiner Nerven soviel Verlass sein wie auf eine Mossberg CMDT mit Schulterstütze und Schockpolster. Nur ein paar Sekunden, nachdem er sich auf die andere Seite gerollt hatte, war Miguel wieder eingeschlafen und der Gypsy King saß weit entfernt in den Bergen, wo er den Tag erwartete. Ich schreibe keine Geschichten in Anlehnung an Wolfgang Hildesheimer (30.06.09) ------------------------------------------------------------------------------- Ich war gerade auf dem Weg hinunter von der Bibliothek in die Stadt, als ich eine Tür verschlossen vorfand. Die Tür führte in den Eingangsbereich und ich musste sie passieren, wenn ich das Gebäude verlassen wollte. Ich drückte kräftig dagegen, doch die Tür wollte nicht nachgeben. Ein Mann saß unbeteiligt dreinblickend neben der Tür und ich fragte ihn: „Verzeihung, ist diese Tür verschlossen?“ Ich kam mir sofort seltsam vor, weil es offensichtlich war, dass sich diese Tür nicht öffnen ließ – hatte ich es doch gerade bei Aufbietung meiner Kraft unter Beweis gestellt. Doch der Mann lächelte mich nur versonnen an und sagte: „Aber nicht doch. Sie öffnet sich ganz von selbst. Man muss nur gewaltig anfänglichen Druck darauf ausüben, dann tritt ihr Mechanismus in Kraft und sie schwingt federleicht von ganz allein auf.“ „Mit Verlaub, ist das nicht etwas kafkaesk?“ Ich blickte abschätzig die Tür an und dachte nach, ob es noch andere Durchgänge gab. „Unser Gespräch, meinen sie?“, fragte der Mann freundlich zurück. „Nein, die Konstruktion der Tür.“ Ich war überrascht ob der Offensichtlichkeit des Missverständnisses. „Wissen Sie, wer Hans-Hermann Grot war?“, warf der Mann mir, nun offenbar leicht verstimmt, entgegen. „Nicht einmal im Ansatz. Wie kommen sie darauf?“ „Haben Sie sich nie gefragt, woher das Wort ‚grotesk’ stammt?“, fragte er beharrlich mit drängender Stimme weiter. „Nun … ich …“ Ich errötete, beschämt durch meine eigene Unwissenheit. „Werden sie sich erst einmal darüber klar, wie ein Wort entstanden ist, bevor sie ein Wort verwenden, das aus jenem entstanden ist.“ Ich sah ihn etwas betreten an, stand ich doch immer noch vor einer verschlossenen Tür und wusste nicht, was ich tun sollte. Doch die Laune des Mannes hatte sich wieder beruhigt und er erklärte mir hilfsbereit: „Es ist eine Ableitung, die sich einfach nachvollziehen lässt.“ „Ich will doch einfach nur durch diese Tür und nach Hause“, gab ich etwas jämmerlich von mir. „Das wird mir langsam zu haruhesk.“ „Wie meinen?“ Der beugte sich ungläubig vor, als habe er sich verhört. „Haruhesk. Wie der Vorname der Figur aus ‚Die Melancholie der Suzumiya Haruhi’.“ Ich lächelte nervös, nicht sicher weshalb. „Ich kann Ihre konventionslose Generation von Studenten nicht ausstehen! Scheren Sie sich nach oben und lassen sie mich und die Tür allein!“, brüllte der Mann mir empört hinterher, während ich schon wieder zwei Stufen auf einmal die Treppe aufwärts nahm. Hier musste es doch irgendwo ein offenes Fenster geben. self-wishfulfilment-prophecy (04.07.2009) ----------------------------------------- Parzon riss die Klinge nach oben und unter vibrierendem Schreien der Bestie schlitzte sie den Chitinpanzer auf, als wäre er … nun, eben der gigantische Torso eines Rieseninsekts. Er war behände darin zu töten, nicht Worte dafür zu finden. Als kalte gelierte Brühe ergossen sich Blut und andere Substanzen aus der Wunde über ihn. Er würde sich nie daran gewöhnen, dass Blut stets anders war, als er es erwartete. Das wenigste war warm, noch weniger ungefährlich. Es gehörte zu seinem Daseinsrisiko. Parzon schwang den Schild noch rechtzeitig in die Fontäne, um zumindest sein Gesicht zu bedecken, während er das Biest rammend näher heranrückte, um sein Schwert senkrecht hinauf in die geschlagene Wunde zu treiben. Ein letzter Schrei erzitterte, das riesige Insekt starb und fiel. Parzon warf sich im letzten Moment zur Seite, um nicht vom Leib begraben zu werden. Knackend zog er dabei das Schwert mit sich und wog es auf einen möglichen Bruch ab, während der Körper zuckend dalag. Insekten funktionierten noch Stunden, nachdem sie tot waren weiter, waren jedoch nur noch für Narren eine Bedrohung. Das Schwert war intakt. Parzon streifte es sauber und steckte es weg. Auf der Rüstung festigte sich das Blut bereits zu einer breiigen Glasur, doch tat ansonsten nichts. Er nahm den beißend süßen Duft kaum noch wahr. Die Luft erschimmerte und als er bereits eine Hand am Knauf hatte, trat ein Wesen aus dem Schimmer wie eine Treppe hinab. Bleich, schmal und burschikos, Haar wie Trauerweiden und klein. Nicht einmal seine Klinge hoch. Parzon seufzte, ließ den Knauf fahren und wandte sich zum Gehen. „Habt Dank, Ritter“, wurde er von der Stimme gehalten. Die Fee verharrte erwartungsvoll in der Luft, im Bewusstsein, er würde sich umdrehen. „Warum nennst du mich Ritter?“ Parzon machte barsch kehrt und sah das kleine Geschöpf an. „Ich sehe kein Pferd, auf dem ich reite.“ „Das kann ich verstehen, Ritter. Aber du--“ „... hast mir das Leben gerettet. Ich weiß.“ Feen waren wie die Bandaufnahme eines Kassettenrekorders, die abgespielt wurde, wenn man die richtigen Knöpfe drückte. Wirklich hübsch anzusehende Kassettenrekorder, kein Zweifel, aber in Jahrtausenden Routine gewaltiger Macht durch reine Präsenz abgestumpft für die Wahrnehmung ihrer Umwelt. „Genau“, stimmte sie zufrieden zu, „und deshalb hast du einen Wunsch frei.“ Parzon war versucht ihr wieder die Worte aus dem Mund zu nehmen, doch selbst dazu empfand er ziemliche Lustlosigkeit. Die Fee würde trotzdem ihre Formel aufsagen, er musste sich etwas wünschen und sie wussten beide, dass es tragisch enden würde. Moment, durchfuhr ihn der Gedanke, weiß die Fee eigentlich, dass die Macht ihrer Art über die Menschen letztlich stets im Unglück enden muss? Die Möglichkeit bereitete ihm Kopfschmerzen und er verwarf die Überlegung. „Das Problem mit euch Feen ist, dass man nie weiß, was man sich wünschen soll. Vor allem wird es mit jeder Nächsten immer schwieriger.“ „Du kannst dir alles wünschen, was du willst“, entgegnete die Fee unberührt freundlich. „Wenn ich mir etwas Seltsames oder Ideelles wünsche, dann komme und kam ich mir stets dumm vor, weil sich vermutlich jeder Pferdemann schon Frieden auf Erden und das mächtigste Schwert gewünscht hat.“ Parzon hatte sich schon zweimal Weltfrieden gewünscht, aber leider gab es immer irgendwo auf jenem weiten Rund einen anderen, der sich bald das Gegenteil wünschte. „Das Schwert der Schwerter könnte dein sein“, informierte ihn die Fee. Zum ersten Mal musste Parzon grinsen, als er mit einem Sirren sein Schwert blankzog. Es war unscheinbar und schlicht, doch der Schmollmund der Fee hatte sich zu einem überraschten „Oh“ verzogen. Sie verstand. „Doch Frieden könnte dein Wunsch zum Wohle d--“ „Andererseits könnte ich mir etwas Banales wünschen. Eine saubere Rüstung oder dass du dich in ein Wesen halb Mensch, halb Qualle verwandelst und wir es treiben wie wilde Hunde“, unterbrach er sie und zum ersten Mal zuckte so etwas wie Überraschung, eine echte Emotion, in ihren Augen. War da hinter dem Band ein Wesen mit Bedürfnissen und Abneigungen? Hatte sie irgendeine Meinung zu seinen Wünschen? Er seufzte. „Manchmal könnte ich mir fast wünschen, dass ihr Feen mir sagt, was ich mir wünschen soll.“ Er sah wie sie nachdachte. Die Fee überlegte, ob er im Redefluss zufällig eine „Ich wünsche mir“-Formel geäußert hatte. Doch Parzon war mittlerweile aufmerksam für solche Details. „Wenn ich mir etwas Banales wünsche, habe ich nachher trotzdem das miserable Gefühl einen Wunsch vergeudet zu haben.“ Nur ein Mann, der es sich allmächtig gewünscht hatte, konnte beim Verzehr eines wirklich guten Truthahnsandwiches bittere Tränen vergießen. Parzon hatte dies und vieles mehr von Feen gelernt. 'Ich wünschte, du würdest dich zum Teufel scheren' war auch nicht gut. Er fühlte sich jetzt noch elend, wenn er an das arme Ding dachte. Er seufzte erneut und ließ sich auf den Boden nieder, das Schwert über den Knien. „Ach mach' doch, was du willst. Mir ist es egal.“ Parzon und die Fee sahen sich eine Weile erwartungsvoll an. „Ich bräuchte das etwas eindeutiger“, sagte die Fee unschuldig und strich sich verlegen durch das Haar. Parzon schüttelte kapitulierend den Kopf. Es war fast menschlich. „Ich wünsche, dass du machst, was du willst, denn es ist mir egal.“ Wie ein Verschwimmen im Wasser war die Fee verschwunden. Das Mittel schlimmer als die Krankheit (31.08.2009) --------------------------------------------------- Der Versuch einen Plot oder Sinn zu entdecken wird daran scheitern, dass es sich um eine Assoziationsverarbeitung meiner derzeitigen Begeisterung für 'This will destroy you' handelt. Ich wachte zu früh am Morgen auf, ohne jedoch wieder Schlaf zu finden. Sie lag mehr wie eine Staubschicht neben mir im Bett als ein Mensch. Ein Spinnengewebe von der Größe eines Menschen, das sich im Schlaf von mir weggedreht hatte. Keine Übelkeit überkam mich und auch kein tragischer Moment, aber ich ging trotzdem ins Bad. Manchmal verbrachte ich in solchen Momenten viel Zeit damit in den Spiegel zu starren. Heute zog ich mir das T-Shirt und die Shorts aus, die ich zum Schlafen getragen hatte, und stieg mit schlafwandlerischer Sicherheit unter die Dusche. Normalerweise tat ich dies im Dunkeln, weil mich das grelle Licht von Energiesparlampen morgens aggressiv macht. Als ich heute noch einmal aus der Dusche trat, um den Lichtschalter umzulegen, gab die Deckenlampe nur ein mürrisches Zirpen von sich, aber blieb dunkel. Ich wackelte den Schalter einige Male hin und her, jedoch blieb es dunkel. Ich hatte keine Lust durch die halbe Wohnung zu laufen, um die Birne zu wechseln, also stieg ich wieder unter die Dusche. Ich ließ das Wasser im Dunkeln über mich laufen wie ich es sonst auch getan hätte. Das heiße Wasser begann sich zu leeren und kroch mit langsam erkaltendem Unmut über meinen Rücken, als ich das Licht bemerkte. Eigentlich weniger Licht als ein dumpfes Glühen, ein schwaches Leuchten. Es gab dutzende Ausdrücke, um eben jene Art von Licht zu beschrieben. Licht allein war jedoch unzureichend. Zuerst hielt ich es für den grauenden Morgen, den ich durch das Badezimmerfenster sah, doch der blaue Schein kam mir zu gleichmäßig und intensiv vor, als dass ich mir selbst lange glaubte. Ich sah den Fächer blauen Lichts, der durch die Schlitze der Jalousie auf den Boden geworfen wurde, und drehte mehr als beunruhigt das Wasser ab. Ich griff ein Handtuch aus dem Schrank neben der Dusche und einige Minuten später stand ich angezogen auf dem Balkon, der einige Meter versetzt neben dem Fenster zum Bad lag. In einem Stuhl am anderen Ende des Balkons saß eine blau glühende Gestalt. Vielleicht war es auch eher ein blaues Glühen in menschlicher Gestalt. Oder glühendes Blau in menschlicher Gestalt. Vermutlich eine Frage der Perspektive. Es hatte jedoch alle Eigenschaften, die nötig sind, um aufrecht in einem Stuhl zu sitzen. Ich folgte meinem Bedürfnis mich hinzusetzen. Mir fiel ein, dass sie sich im Schlaf quer über das ganze Bett gelegt hatte. Ich hatte mich für einen Augenblick geärgert, dass ich mich unmöglich wieder hinlegen könnte, ohne mir Platz zu machen und sie damit vermutlich zu wiederum ihrem Ärger zu wecken. Die Gestalt schien die Konturen eines haarlos ebenmäßigen Menschen zu haben. Groß und mehr männlich als androgyn. Sie umgab das Glühen wie ein Fell, lang und aufgerichtet wie Igelstacheln; doch war es unmöglich zu sagen, wo die Strahlung aufhörte und der Körper begann. Das Blau hatte einen so glatten und vagen Ton, dass es mir schwerfiel Tiefe oder Dichte auszumachen. Ich könnte nicht sagen wie groß die Gestalt war; ob massiv oder transparent. „Ich habe dich vom Bad aus gesehen.“ Die Gestalt nickte unmerklich, ohne mich anzusehen. Die Bewegung führte sich in einer leichten Schwingung außerhalb des Glühens fort. „Was machst du auf meinem Balkon?“ „Ich bin auf der Reise und ruhe mich hier eine Weile aus.“ Auch wenn ich nicht sagen könnte, ob die Gestalt Augen hatte, kam es mir vor als würde sie versonnen zum Horizont blicken. Der Sonnenaufgang war nicht mehr fern. „Ich meine, was tust du hier? Weshalb?“ „Ich sitze hier. Was meinst du mit 'weshalb'?“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, deshalb setzte ich mich ebenfalls auf einen Stuhl und sah über die Silhouette meiner Heimat in der Dunkelheit. Es war eine bewölkte, mondlose Nacht gewesen und würde ein trüber, nebliger Morgen werden. Wenn ich allein hier draußen saß, kam mir die Welt wie ein Grab vor an solchen Morgen. Ich sah das Glühen selbst aus den Augenwinkeln, als stünde die Gestalt direkt vor mir. „Wirst du bald weitergehen?“ Ich könnte nicht sagen, woher ich die Gewissheit nahm, dass die Gestalt ging und nicht flog oder fuhr; oder welche fantastischen Formen der Bewegung sonst denkbar waren. „Ja.“ „Dann erzähl' mir etwas über dich, bis du wieder auf deine Reise gehst.“ Ich zögerte einen Lidschlag und fügte an: „Ich koche uns Tee.“ Die Gestalt nickte wieder und lächelte. Ich könnte nicht sagen, woher ich es wusste, aber sie lächelte. Als ich den Tee heraus auf den Balkon brachte, hatte die Gestalt die Füße auf das Geländer gelegt und war bequem in ihren Stuhl versunken. Sie machte ein dankbares, summendes Geräusch, bevor sie die Tasse nahm und trank. „Also?“ Ich saß selbst mit überschlagenen Beinen dort und wartete darauf, dass mein Tee abkühlte. „Ja?“ „Du wolltest mir etwas über dich erzählen.“ „Warum erzählst du mir nicht etwas über dich?“ Die Gestalt griff nach der Kanne, um sich nachzuschenken. „Du bist ein fremdes Wesen wie ich vermutlich niemals eins sah und nie wieder treffen werde. Was gibt es über mich Wichtiges zu sagen.“ „Das Gleiche könnte ich sagen.“ Es entbehrte nicht einer gewissen Logik, also sprach ich mit der Gestalt wie ich es sonst nur mit wenigen Menschen tat. „Ich habe früher immer gedacht, dass das Leben – die Ängste, die Probleme, die Unsicherheiten – nicht mehr schlimmer werden können. Man sich nicht mehr verlassener und unklarer fühlen kann.“ „Man, das heißt du?“ „Ja, das heißt Ich. Ich dachte, irgendwann kommt die Spitze des Ganzen, an welcher der Eisberg darunter bleibt, aber man nur noch von oben herab sein Verhältnis dazu entwickelt. Klarkommt mit dem Dreck.“ Unkalkuliert, nicht durchdacht, innerlich, tragisch. „Ich meine nicht mal irgendein großes Elend, sondern das Gegenteil. Die kleinen Vagheiten und Befürchtungen. Darauf sollte man... Ich irgendwann blicken können ohne … ach, keine Ahnung. Ich weiß nicht.“ Die Gestalt saß nur neben mir und trank Tee. Ich konnte das Nicken sehen, das mir zeigte, dass sie zuhörte, aber mehr war da nicht. „Früher haben wir immer gesagt, dass wir durch diese oder jene Phase durch müssen und danach wird es besser, weil wir es gemeinsam geschafft haben.“ „Wir, das heißt...?“ „Sie und Ich.“ Ich hätte es der Gestalt nicht besser sagen können, während ich leicht zur Tür hin deutete. Es schien ihr jedoch zu genügen. „Vielleicht wäre es besser, wenn ich nicht meine Erinnerungen mit mir herumtragen müsste und sie Assoziationen und Gedanken aktivieren, die einfachste Dinge unerträglich machen. Wenn einfach nicht viel passiert wäre und es dafür funktionieren würde.“ „Manche Gegenmittel sind schlimmer als die Krankheit.“ Ich starrte die Gestalt an, länger als zuvor. Ich rechnete vermutlich nicht damit, dass sie wirklich mit mir sprach. Vielleicht war ich auch nur überrascht von einer so klaren Aussage. (Später würde mir auffallen, dass alle ihre Aussagen erstaunlich wenig unklar waren.) Die Gestalt erhob sich und ich könnte nicht sagen, wie sie es tat. „Es ist Zeit meine Reise fortzusetzen.“ „Kannst du mir nicht etwas über dich sagen?“ Ich glaube, ich klang nicht einmal sonderlich verzweifelt. „Würde es dir helfen, wenn ich dir sage, dass ich auf Spuren unendlichen Lichts reise?“ „Ja, das würde es genau genommen.“ „Tut mir Leid.“ Ich saß allein auf dem Balkon. Nur mit zwei Tassen, einer leeren Kanne Tee und dem Morgengrauen. Zimmermann (08.09.2009) ----------------------- Ich liege hier und sehe zu wie du mit dem Feuer tanzt. Nicht mehr zu sagen, ob ein Mann oder eine Frau zwischen den Flammenketten in der Dunkelheit kreist. Es spielt auch keine Rolle, nur dass „mit dem Feuer tanzen“ ein derart abgenutztes Bild ist. Es greift nicht. Egal, ob Herd oder Fackel, sehe ich dich an und es reicht nicht. Eine Drehung aus dem Handgelenk und die Flammen wechseln die Richtung. Ein Schwung mit den Armen und sie ziehen ihre Kreise weiter. Die Hände kurz beieinander wie im Gebet und es formt sich wie ein glühender Ball. Feuer ist eher Symbol als alles andere für mich; länger schon Metapher als Materie. Ich würde erst vor der Bedeutung zurückschrecken und mich dann an der Kerze verbrennen. Ich sehe dich mit dem Feuer spielen und beobachte keinen Sinn, den ich je kannte. Ich schaue durch die Schlieren und erkenne nur dich und die Flammen. Kein Brand geht in mir auf. Der Funke springt nicht über. Dein Körper – unsagbar, ob nackt oder bekleidet – und davor und dahinter und daneben eine zweite Gestalt von Feuerstrichen gezeichnet. Ich komme taumelnd zum Stehen, weil ich dich berühren will, vielleicht auch die Flammengestalt. Tatsächlich, kann ich nicht leugnen, will ich es zu kriegen, was beides verbindet. Näher kommend erblicke ich mich in deinen Augen und es ist der traurigste Anblick, den ich je sah. „Es wird oft der Sinn verstanden“, hallt es in meinem Kopf. „Ohne jedes Wort begreifen zu wollen.“ Und es ist nicht das Feuer oder Du oder „Was beides verbindet“, sondern alles Drei zugleich. Zum Prophezeien in den Keller gehn (18.01.2010) ----------------------------------------------- In Nora Winters' Keller lebte eine Schamanin. Sie war dort nicht eingesperrt oder wurde gegen ihren Willen festgehalten, sondern war einst auf ihren Reise dort gestrandet und sehr entschieden zu bleiben. Ihre Welt befand sich nun dort, wäre wohl treffender gesagt. Ihre Domäne. Außerdem ihr extravagantes 4ZKB – Apartment. Ihre Tore zu den Reichen der Elemente. Ihr Lehrling. Details, seufzte Nora. Die Schamanin war dort und machte keine Anstalten so bald wieder zu verschwinden. Kein Sinn, etwas ändern zu wollen, was feststeht und sich dazu auch noch an den Mietnebenkosten beteiligt. Davon abgesehen, musste Nora sich eingestehen, gab es recht wenig an der Schamanin auszusetzen: Kein Krach und keine Beschwerden wegen Lärmbelästigung, da ihre Domäne von außen nicht wahrzunehmen war. Nora hörte die Beschwörungsgesänge und Mitternachtsrituale erst, wenn sie den Keller betrat. Manchmal kam sie hierher, wenn sie nicht schlafen konnte und lauschte dem Rasseln der Trommeln und Brodeln des alten Kessels, bis sie müde wurde. Gelegentlich schickte die Schamanin ihren Lehrling Emerson, ein zittriges Reh, hinauf, um ihr Flaschen mit kränklich rosaner Flüssigkeit zu schenken. Nora hatte versucht dankend und angewidert abzulehnen, doch an Regentagenwochenenden fand sie sich mit einer leeren Flasche auf der Couch wieder; an der Decke Goldfische und Herzstolpern beobachtend. Wenn sie morgens zur Arbeit ging, dann begegnete ihr oft die Schamanin an den Mülltonnen. Sie schaufelte Fischköpfe und andere ausgedeutete Meerestiere, neben den abgenutzten Flicken alter Talismane, in den tristen Einheitsmüll der restlichen Hausbewohner. Sie stand aufrichtig und gerade und stützte sich doch auf einen knorrigen überwundenen Gehstock. Die Schamanin reichte Nora bis zum Kinn, doch warf einen längeren Schatten. Lächelnd sagte sie ihr das Wetter des Tages vorher, bevor sich ihre Wege trennten. Nora musste die Straßenbahn kriegen – die Schamanin zurück in ihre Domäne. Manchmal, wenn sie nachts aus einem rastlosen Traum aufschreckte, dann glaubte Nora sehr leise die Trommeln hören zu können. Weniger aus dem Keller, sondern viel mehr in ihrem Kopf. Vielleicht brauchte sie Mitbewohner. „Schamanin?“, fragte Nora. Sie war auf Tee zu Besuch bei der alterslosen Dame und beide saßen am Ufer eines klaren Bachs, der sich in eine grüne Talsohle hinab ergoss. Emerson hing am anderen Ufer Decken und Ponchos in vibrierenden Farben zum Trocknen auf. „Kannst du mir weissagen, wie ich den Mann meiner Träume finde?“ „Du solltest mehr vor die Tür gehen und Gelegenheiten, die sich eröffnen, nicht immer auf die Goldwaage legen, bevor du dich entscheidest. Du solltest außerdem nicht zuviel erwarten und davon ausgehen, dass der Mensch, den du triffst, die gleichen Ängste hegt. Außerdem schadet es nicht mehr Querstreifen zu tragen.“ „Das klingt nach dem Ratschlag einer Lebensberaterin und nicht nach einer Weissagung.“ Nora rümpfte die Nase. „Das war es auch. Ich bin mit dem zweiten Gesicht gesegnet.“ „Und wie erkenne ich einen wahren Freund, dem ich alle meine Ängste und peinlichen Verrücktheiten anvertrauen kann?“ „Erwarte nicht, dass ein Mensch auf alles eine Antwort weiß, ohne dass du dich ihm gegenüber öffnest und mitteilst. Die Einsicht kann immer nur so tief sein wie deine Blöße.“ Nora schüttelte nur nichtssagend den Kopf. Während die Schamanin den Bodensatz der beiden irdenen Tonbecher in den Fluss ausleerte, war Nora bereits aufgestanden und hatte ihren Rock glatt gestrichen. „Muss mich langsam umziehen. Meine neuen Mitbewohner sollten demnächst ankommen.“ „Hol' dir eine Pizza Funghi bei Antalia's, wenn du später noch Hunger bekommst. Sie ist heute nicht versalzen.“ Neunfemünde ----------- Es muss eine Zufälligkeit geben oder eine spontane Kombination von Wörtern, die alles besser macht. Wenn nicht das, dann zumindest einfacher. Der magische Satz oder das unerwartete Ereignis, die aussperren, was nicht sauber und richtig ist. Die Elimination der Möglichkeit, dass Missverständnisse entstehen. Die Identität von Körper und Geist ohne schmerzhafte Bildung und die Irrwege der Dialektik. Die direkte Begegnung mit dem Anderen und Fremden, die weder Mittel noch Medium benötigt. Klarheit der Gedanken. Widerspruchslose Emotionen. Und eine Einheit von Fühlen und Denken. Alles reiner Eskapismus. Es gibt sie nicht, diese Spontanität, den reinigenden Zufall. Sie in Betracht zu ziehen ist nur der nächste Kiesel auf einem Haufen von Problemen. Klingt alles recht klug soweit? Keine Sorge. Das gibt sich. Der Schein trügt. Das erste, was ihr über mich wissen müsst, ist dass ich alles, was mir passiert erzähle, nicht einfach wiedergebe. Den ganzen verrückten Kram und die langweiligen Routinen, ich kann es nicht als meinen Tagesbericht auflisten. Ich könnte, aber ich kann nicht. Geschichten, Erzählungen. Nicht einfach nur schnelllebiges Gefasel mit einem Witz und dreizehn Satzzeichen in jedem Absatz. Wovon ich erzähle und was ich erlebe, ist nicht einfach nur Unterhaltung. Nicht einfach nur ein Blog. Du sagst, ich blogge gerade, also ist es einfach nur ein Blog? Warum fange ich einen Blog an, wenn ich keinen Blog schreiben will? Geh sterben. Oder twittern. Was auch immer deine Aufmerksamkeitsspanne verkraftet. Falls du es verkraftest, habe ich dir das eine oder andere zu erzählen. Ich halte es für einen Segen, dass die einzige Schule meiner Stadt ein Flachdach hat, das sich ohne weiteres betreten lässt. Ich gehe natürlich nicht auf diese Schule. Ich bin Sechsundzwanzig und so etwas wie berufstätig, aber es gibt einfach so herzlich wenig hohe Gebäude in dieser Stadt. Wenn die Hölle ein gewöhnlicher Ort wäre, dann ist sie eine mittelgroße Kleinstadt, eingeklemmt in einem schmalen Tal, in der es halbwegs alles gibt und rein gar nichts passiert. Diese Form der Hölle heißt vermutlich ebenfalls Neunfemünde. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl an Buchstabenkombinationen, um einen verdammten Ort dieser Art zu benennen. Das Schuldach der Neunfemündener Gesamtschule, auf dem ich liege, beherbergt sechs Stockwerke unter sich und ist damit das höchste Gebäude der Stadt. In Ermangelung eines kreativen Baukonzepts für mehrere Schulgebäude hat die Stadtverwaltung, solange ich denken kann, einfach die Schule weiter aufgeschichtet wie eine Torte. Es sieht aus wie ein modernes Krankenhaus und ich kann jedem Patienten nur wünschen bald sein Krankenbett und die Stadt verlassen zu dürfen. Jetzt ist die Schule auch von den letzten unentschlossenen Jugendlichen, die auf dem Hof in der Sonne dahinvegetieren wie Fallobst, leer gefegt. Selbst die Leseratten haben die Bibliothek verlassen und sind nach Hause zum Mottenlicht ihrer Computerbildschirme geflohen. Es geht auf sechs Uhr zu. Es ist Freitag. Es gibt keinen verflixten Grund in einer Schule zu sein. Ich bin hier, weil ich ganz unverhohlen und ehrlich nichts besseres mit mir anzufangen weiß. Außerdem kann ich von hier über die ganze Stadt sehen und mag den Überblick. Es ist wie ein überdimensionales Dorf, das vergessen hat mit dem Wachsen aufzuhören und langsam die Berghänge hinaufkriecht. Ich denke, ich hasse nichts mehr als diesen Ort, meine Heimatstadt, und bin doch hier geblieben. Es dämmert und bevor ich zusehen muss wie sich das Licht der Straßenlaternen wie ein Netz über meine Sicht wirft, raffe ich mich auf und mache mich auf den Weg nach Hause. In meine Wohnung. Ich will nichts in Neunfemünde als mein Zuhause ansehen. Sollte ich mir Sorgen machen, dass ich mich selbst korrigieren muss – oder dass es mir wichtig ist mich korrigieren zu müssen? Ich wandere mit ungelenken Schritten, steif und taub vom langen Herumliegen, durch die düsteren Gänge des Schulbaus und steige Treppe um Treppe hinab. Noch vor zwei oder vielleicht sogar einem Jahr habe ich eine ganze Menge gemischter Gefühle und Eindrücke mit einem leeren Schulbau im Zwielicht der Dämmerung verbunden. Der Hall, die lange Gänge, die Leere wie von Gott und Mensch verlassen. Das Aufwallen, irgendwo zwischen Sehnsucht, Irrsinn und Enge, von Gefühlen. Die Frage, wie es ist Sex in einem Klassenzimmer zu haben. Tatsächlich ist dies alles für mich nun nur noch 'eine ganze Menge gemischter Gefühle und Eindrücke', die in meinem Gedächtnis verzeichnet sind, aber nicht mehr überspringen. Durchdringen. Hochkochen. Ich kann mich nicht einmal mehr auf mein bevorzugtes Bild für unfassbare Regungen und Gedanken festlegen. Sie sind abgelegt in Ordnern und Zettelkästen, die verschlossen in einem Aktenschrank meiner Erinnerung ruhen. Als ich früher durch diese Gänge gestreift bin – auch da ging ich schon nicht mehr zur Schule – und nichts besseres mit mir anzufangen wusste, hat es mich stets mit sich fortgerissen wie eine Strömung. Ein Fluss von Erinnerungen, vielleicht an meine Jugend oder Mitschüler, doch nicht einmal das: die vergangene Zeit. Schulzeit. Ein Abschnitt meines Lebens, der mir damals unwiederbringlich und unheimlich weit entfernt vorkam, sodass ich es auf unerklärliche Weise kaum ertragen konnte. Mittlerweile, mehr als fünf Jahre später, kommt mir dieses tragische Gefühl von Distanz ziemlich lächerlich vor. Andererseits fehlt mir – wie zu so vielem – einfach der Bezug. Damals war die Parole, die ich hinter mir hertrug wie ein Banner noch 'Ich vermisse die Vergangenheit, lebe nicht in der Gegenwart und fürchte mich vor der Zukunft.' Heute scheint es mir einfach egal zu sein. 'Ich bin nicht gut in sowas' kursiert bei meinen Reaktionen und Gedanken sehr hoch. Es lässt sich traurigerweise auf erstaunlich viele Bereiche anwenden. Ich lasse die Gedanken mit der letzten Glastür hinter mir wie Gespenster, die im Schulhaus spuken. Die Tür, die nicht richtig schließt, schloss schon zu meiner Zeit nicht richtig und tief in meinem Inneren bin ich davon überzeugt, dass irgendwo in diesen lehrenden Halle ein weiser Eremit lebt, der genau mit der Absicht eine Tür offen hält, dass Menschen wie ich ihren Weg auf das Dach finden. Vielleicht will er auch einfach nur den Weg zum einzigen Ort in 50 Kilometern Umkreis offen halten, von dem aus man mit realistischer Chance in den Tod springen kann. Zum Prophezeien in den Keller gehn II (09.02.10) ------------------------------------------------ Kommentar: Eine "Fortsetzung", die eher aus Inspiration und als Reaktion auf ein Artwork von NothingNoir (http://nothingnoir.deviantart.com/art/See-Without-Your-Own-Eyes-151434284) entstand, welches wiederum seine Inspiration aus meiner ersten Geschichte trug. Um die Rekursion zu perfektionieren: Die Grundidee zu Emerson und seiner Lehrmeisterin (ursprünglich Alchemistin) stammt von NothingNoir. Nebel lag zäh und zerstreut über dem Ufer wie ihre Gedanken. Nora Winters schwankte und waberte schwerelos im Kampf um ihr Gleichgewicht, dem richtigen Schwerpunkt für ihre Konzentration. Wasser rauschte wie es die nahen Klippen hinab in den tiefen Bergteich stürzte. Die Steine waren glatt von Jahrhunderten. Alte Steine und tiefe Wasser für unzählige Meilen unschuldiges Land. Den Sicherungskasten neben der Tür zum Heizungsraum sollte sie mal wieder abwischen. Ob die Männer, die kamen um Strom- und Wasserzähler abzulesen – deren genaue Berufsbezeichnung Nora sich nie merken konnte – sie für unordentlich hielten, weil sie den Keller nicht putzte? Strommann und Wassermann, beschloss sie gedanklich. War es redundant sie unterschiedlich zu nennen, wenn es oft derselbe Mann war und ein Strom auch noch gewissermaßen Wasser sein konnte? „Du verlässt das Jetzt zu Gunsten des Hier“, bemerkte die Schamanin vom Ast einer alten Eiche aus. „Suche nach dem Darüberhinaus.“ Für einen Augenblick sah die Schamanin als eine kauzige runde Eule von ihrem Ast herab. Mit zweihundertsiebzig Grad zurückgespanntem Kopf, um von der Ferne des Horizonts weg zu ihr zu blicken. Dann schoss ihr glasklarer Blick wie durch ein Schnappschloss zurück in die Ferne. Auf dem Ast saß mit baumelnden Beinen erneut eine alterslose Frau. Baumelnd, widerhallte es in Noras Kopf. Heißt es so, weil Dinge in einer archaischen Sprachurform normalerweise von Bäume heruntergehängt wurden, während sie 'baumelten'? „Du verlässt das Jetzt zu Gunsten des Wortes“, intonierte die Stimme der Schamanin erneut wie direkt in ihren Kopf. „Ich verlasse gleich vor allem den Keller zu Gunsten eines Friseurtermins, zu dem ich jetzt vermutlich zu spät komme, vor allem wenn ich darüberhinaus noch länger hier bleibe.“ Das Lagerfeuer in einer Mulde aus flachen Steinen knackte als sei es erbost über ihre Aussage. Das Feuer versteht keinen Spaß. „Das Feuer ist ein sehr ernstes Geschöpf voll brennendem Eifer und glühender Leidenschaft. Es ist zu engstirnig bei der Sache, um sich von Scherzen schütteln zu lassen oder Kompromisse einzugestehen“, griff die Schamanin erneut mit geschwindelten Fingern ihre Gedanken auf. „Ebenso wie dein Versuch deine brüchig und spröde gebleichten Haare zu retten. Was tot ist, soll ruhen und du solltest es überwinden. Zu einer ansprechenden Kurzhaarfrisur. Sie werden bald wieder in Mode kommen.“ Nora entfaltete ihre Beine und streckte sich. Emerson wimmerte leise neben dem Feuer , rührte sich aber nicht. „Ich nehme jedenfalls keine Ratschläge von jemandem entgegen, der die Elemente des Feuers zwei Meter Luftlinie vom Heizöltank heraufbeschwört.“ Sie blinzelte kurz nachdenklich in den Sonnenaufgang, der wie angegossen über der Waschküche erstrahlte. „Geschweige denn ihren halbnackten Lehrling neben besagtem Feuer angebunden hat.“ Wie von seiner Erwähnung durch Nora animiert, murmelte Emerson leise etwas von sich hin, das nach „Der Käse schmilzt. Ich glaub' ich muss lachen“ klang. Sie war sich jedoch nicht sicher, denn der Lehrling der Schamanin sprach noch leiser und undeutlicher als gewöhnlich. Dabei schien er ein so reizender junger Mann zu sein – und mit verbundenen Augen im Feuerschein sehr nett anzusehen. Trägt er einen Lendenschurz und eine Unterhose?, ging ihr eher beiläufig durch den Kopf. „Er vereinigt damit die alte und die neue Welt.“ Die Schamanin rutschte von ihrem Ast herunter und landete mühelos auf den Füßen. „Halbnackt und schwitzend in seiner Unterwäsche?“ „Emerson ist bereit mehr für den wahren Blick zu tun als deine nebensächlichen Bemühungen nebenher Erkenntnis zu erlangen, wenn es dir in den Tagesplan passt.“ „Ich wollte eigentlich lieber segeln“, kam es nuschelnd aus Emersons Richtung. „Seine Trance übersteigt deine alltäglichen Selbstverwirklichungen. Ist der Vorsatz wirklich völlig wertlos, solange keine effektiven Taten darauf folgen? Welcher Haarschnitt bringt meine Gesichtszüge zur Geltung? Welche Hose kaschiert am besten meine Oberschenkel?“, setzte die Schamanin fort ohne aus der Ruhe zu kommen. „Deswegen, schätze ich, ist Emerson auch gerade halbnackt, um sich nicht mit solchen Dingen zu beschäftigen.“ „Mitnichten. Ich übertrage seine Trance gleich live ins Internet. Damit finanziere ich die Nebenkosten. Nochmal vielen Dank, dass du vorbeigekommen bist, um mir deine Digicam auszuleihen.“ Sie erinnerte sich wieder, weshalb sie überhaupt heruntergekommen war. Noras Mund bewegte sich langsam als erwarte sie passende Worte, die erst aus einer speziell dafür angelegten Wörterdrüse herausgeschossen und hochgewürgt werden müssten. Sie gab es schließlich auf und wandte sich kopfschüttelnd zum Gehen. Emerson summte leise vor sich hin wie eine Libelle. „Du solltest außerdem den Bus nehmen, die Straßenbahn wird wegen vereister Schienen auf halbem Weg stecken bleiben.“ Fokalisierung ------------- Sie war schon da, als Er die Wohnung betrat. Er fand sie im Speicherzimmer. Sie stritten sich. Sie ging. Er kam spät nach Hause. Noch bevor die Tür ins Schloss gefallen war, sah er ihre Schuhe im Flur stehen. Er legte ab und durchstreifte die dunklen Räume, bis er sie im Speicherzimmer am Fenster stehend fand. Sie blickte in die Dunkelheit hinaus. „Wenn sie je den großen Orbitallift bauen, um uns zu den längst vergangenen Sternen hinaus zu tragen, dann werden sie deinen Blick als Leuchtfeuer von Planet Erde verwenden, da er noch durch Myriaden Galaxien und kosmischen Staub hindurch die Dinge unverklärt durchdringen würde.“ Er blieb in der Mitte des dunklen Raums stehen. Sie drehte sich um und ihre rechte Gesichtshälfte wurde von Laternenlicht beschienen. Sie sah müde aus. „Dieses Mal wird es nicht zu einer Geschichte. So einfach ist es nicht mehr“, stellte sie ruhig fest. „Ich könnte dich auch einfach auffordern zu gehen“, entgegnete er ebenso bestimmt. „Ich bin hier zu Hause.“ „Aber es ist nicht dein Zuhause.“ „In dieser Wohnung lebt noch genug von mir, um weiterhin ein- und auszugehen.“ „Das ist keine philosophische Grundsatzdiskussion. Meine Wohnung. Meine Entscheidung.“ Seine Stimme erhob sich nur ein wenig. „So einfach?“ Sie machte wenige Schritte, bis sie ihm gegenüber stand. „So einfach.“ Er streckte die leere Hand aus. „Dein Schlüssel.“ „Wie ungewöhnlich“, murmelte sie im Vorbeigehen. Sie warf den Schlüssel an das andere Ende des Raums. Klirrend prallte er von einer Fensterscheibe ab und fiel zu Boden. Die Tür zum Speicherzimmer knallte hinter ihr zu und kurze Zeit später die Wohnungstür. Nachdem er einige Minuten im stillen Zimmer gestanden hatte, setzte er sich auf die Couch und legte den Kopf in den Nacken. „Wie ungewohnt. In der Tat“, redete er in den leeren Raum hinein. Draußen heulte ein Motor auf und das Scheinwerferlicht eines Autos streifte durch die Fenster, als der Wagen die Straße verließ. „Fuck. Das Miststück hat meinen Wagen kurzgeschlossen“, fügte er im selben Tonfall an. Die Sonne war oft aus. Wie immer, wenn er es bis nach Hause geschafft hatte. Er sah sie schon von den Fenstern in die Sterne spähen als die Pfütze Schmelzwasser um die Sohlen in das Parkett sickerten. Kurz danach bemerkte er ihre dazugehörigen Stiefel. Er sickerte durch die matte Leere, zielstrebig und unentschlossen wie Wasser auf Umwegen zum Meer. Bilder von ihr schwammen in den Pfannen in der Küche und auf den Stühlen und den Kissen auf dem Fußboden und vor seinen Augen. Nachbilder. Sterne. Wir sehen nur ihre alten Fotografien, aber haben keinen Einblick in ihre Gegenwart. Ich. Nicht wir. Ihr Blick war für ihn dicht und schwer wie Gespräche unter der Bettdecke zur Stunde der Wölfe und 'das beste Buch, das er je gelesen hatte'-weit entfernt auf den Weltraum in ihren Gedanken gerichtet. Sie blickte ihn mit schwarzem und weißen Gesicht an wie der verzweiflte Clown, der sie war. Schiefes Grinsen, halbe Wahrheit. Er sprach. Sie antwortete. Verwandle deine Angst in Fiktion. Abstrahiere deine Probleme zu einer Theorie. Wir habe Gründe zu vermuten, dass unsagbare Kraft in Zeichen und Worten liegt und sind bereit mit Vorschlaghammer und Nagelpfeile auf jedes Anzeichen loszugehen, dass es wagt seinen Kopf aus dem Whack-a-mole-Automaten des Lebens zu strecken. Nicht wir. Ich. Ihr Schlüssel schlug in das Fenster zum Hof ein wie keine Sternschuppe und es blieb heile, während sie in die Welt nach Draußen ging. Er lachte sich innerlich eine Hyäne als die Lichtkegel seiner Wagen das Fenster verließen und nur die Sterne übrigblieben. Er dachte an ihre erste Begegnung, wenn er auch nur eine Tasche mit Pfandflaschen von der Rückbank nahm. Überlagerung. Nachbilder. Momentaufnahmen. Gott sei Dank hatte sie den Wagen geklaut. Lange nachdem sie voneinander getrennt befanden nicht mehr zusammen zu gehören und kurz nach einer theatralisch wertvollen Trennung, stahl sie den Wagen, mit dem ihr gemeinsames Leben begann, um die Beziehung mit einer Identität von Anfang und Ende abzuschließen, die ihm – ihrer Vermutung nach – gefallen hätte und ihn nachdrücklich faszinierte. Grünes Wasser (30.04.10) ------------------------ Die Stadt schwamm in diesen Tagen in einem weichen Sprühregen, der die Straßen in ein unendliches Goldfischglas verwandelte. Patrick kam zehn Minuten zu früh bei Sørens und Noras Wohnung an. Er stromerte eine Weile auf den wenigen Metern vor ihrer Haustür herum als würde er gleich anfangen die Müllsäcke neben der Tür zu durchwühlen. Von einem unbewussten Gesetz geleitet, streifte er mehrmals an der Tür vorbei und blieb manchmal für kurze Zeit davor stehen, ging dann aber doch weiter. Er erkundete den Inhalt seiner Jackeninnentaschen, warf alte Zettelchen in einen Mülleimer und zählte mit den Fingern die Münzen in den Taschen, ohne diese herauszunehmen und zu kontrollieren. Nach wenigen Minuten war das Ritual vorbei und ein langer Finger mit zu langem glattem Fingernagel durchkämmte die Namen auf dem Klingelbrett. Seine Fingerspitze war haarbreit entfernt vom eckigen Knopf neben N. Winters / S.O. Crate / P. Salinger, als er nachdenklich verharrte. P. Salinger. Er las seinen eigenen Namen ein zweites Mal; dieses Mal bewusst und nicht nur im Überfliegen. Er schüttelte nicht den Kopf und würde sich nie daran gewöhnen irgendwo zu wohnen. Er kramte nach seinem Schlüssel. Das Treppenhaus war ein Flickenteppich aus widernatürlich sauberen Böden, Rostflecken und dem Geruch von Chlor, der in den Wänden wohnen musste. Soweit das möglich war. Patrick war sich nicht sicher. Er glaubte irgendwo Ginseng zu riechen, der erdig am Gaumen kratzte. Irden? Erdig. Patrick war der festen Überzeugung, dass es von elementarer Bedeutung war wie ein Mensch eine Treppe hinaufging. Für andere mochte der Gang oder die Körpersprache Bände sprechen, doch für ihn sagte das Treppensteigen alles über einen Menschen. Viele tippelten eilig die Stufen hinauf und auch hinunter, als liefen sie auf einem gigantischen mongolischen Grill in Staffelungsoptik. Andere erklommen zwei oder drei Stufen gleichzeitig, bis ihre Schultern beinahe die höheren Stufen berührten, und wirkten dabei wie ein städtischer Berggorilla. Patrick hatte schon Bananen auf die letzten Stufen mancher Treppen gelegt. In Gedanken zumindest. Søren fuhr eher über Treppen, statt zu gehen. Die Sohle seiner Schuhe verschmolzen mit dem Untergrund. Sein Körper schien in Berührung mit zu meisternden Stufen eine unmenschliche Gleitkraft zu entwickeln, die ihn schlurfend dahinschweben ließ wie eine Schnecke auf Speed. Nora tänzelte über Treppenstufen als seien verborgene Tanzschritte in den gesprenkelten Stein oder die Masterungen des Holzes gebannt, die nur sie sehen und befolgen konnte. Er hatte sie einmal nach dem Abzählreim gefragt, der währenddessen in ihrem Kopf ablief. Sie hatte gelächelt und etwas in sein Ohr geflüstert, das von weißen Füchsen und Brombeerbüschen handelte und in dem Moment aus seinem Gedächtnis verschwunden war, als sie geendet hatte. Doch es war mit relativer Sicherheit wunderschön gewesen. Patrick hörte Nora aus dem Wohnzimmer kichern, als er die Wohnungstür aufschloss. «Hee, Salinger.» Noras Grinsen strahlte wie überdrehte Straßenlaterne. Sie galt eindeutig als sekundäre Lichtquelle. «Wir haben schon gedacht, du kommst nicht mehr.» 'Ich bin pünktlich' wollte Salinger beinahe sagen, doch es klang schrecklich spießig in seinem Kopf. Er hasste es verklemmt oder übertrieben ordentlich und vor allem berechenbar zu erscheinen. Fast so sehr wie den Umstand, dass Nora ihn dazu brachte als Salinger über sich selbst zu denken. Noras zu langes Pony graste mit einer Seelenruhe auf ihrer Nasenspitze. Sie lag in das Sofa geschlungen da wie es ein Mensch nur schafft, indem er sehr lange dort liegt und beschließt nicht viel mehr zu tun als sich herumzuräkeln. Søren tat in etwa dasselbe – nur mit ihren nackten Beinen. Die Gesichtshälfte, die Patrick sehen konnte, trug ein bis an die Ohrläppchen durchtriebenes seeliges Grinsen. «Wann genau habt ihr währenddessen entschieden, dass Hosen überflüssig sind?», erkundigte er sich in einem Tonfall, den er selbst nicht deuten konnte. Er streifte Tasche und Jacke von den Schultern und ließ sie achtlos zu Boden fallen wie alte Schuppen. «Es erschien adäquat», murmelte Søren in Noras Oberschenkel. Dann verließ ihn seine Aufmerksamkeitsspanne. Er lachte leise durch die Nase als habe er etwas Komisches gesagt. «Irgendwann. Vorhin. Glaube ich.» «Dass er nicht mehr kommt», kicherte eine Stimme, so leise und schal wie der mögliche Wind in rein theoretischem Laub. Emerson lag ausgestreckt auf dem Esstisch und betrachtete die getäfelte Zimmerdecke als sei sie der Sternenhimmel in einer Sommernacht. Er war im Vergleich zu Patricks bisherigen Begegnungen mit dem seltsamen Nachbarsjunge erstaunlich bekleidet. Die ebene Silhouette seines Körper gegen das regenbestäubte Fenster wellte sich vor innerem Lachen als woge gerade die unglaublichste Pointe des Kosmos hindurch. «Wer hat Shyguy eingeladen und was hat er und/oder sie ihm und/oder euch gegeben?» Patrick zog einen Stuhl vom Tisch zur Couch hin und ließ sich darauf nieder wie weiches Karamell. Nora wälzte sich mit einer anmutigen Langsamkeit vom Sofa in eine aufrechte Position herauf, während Søren dabei in den Kissen versank ohne sich zu rühren. Patrick fragte sich, ob ihn zuerst die existenzielle Problematik der Notwendigkeit von Sauerstoff, oder aber atmen zu müssen wieder ans Tageslicht befördern würde. Nun ja, Abendlicht. Nachmittagslicht? Spielte es eine Rolle im maßlosen Grau dieser Tage? «Grünes Wasser», sagte Nora eindrücklich. Es schien in diesem Moment alles in der Welt zu erklären. Sie blies gegen eine dunkle Strähne, die sogleich wieder an Ort und Stelle landete. Ihre Hand mit den knubbeligen Fingern deutete zum kleinen Couchtisch. Eine flache Tonkanne stand auf ihrem passenden Teeofen. Das Teelicht war die einzige Lichtquelle im Raum, realisierte Salinger erst jetzt. Ehe ihm eine intelligente Antwort einfiel, griff Nora nach einer Tasse und füllte sie. Als seine Gedanken bei 'Ach ja, du bist..' angekommen waren, streckte sie ihm bereits die Tasse mit beiden Händen entgegen wie den heiligen Gral oder.. nun ja, eine Tasse ohne Henkel eben. Ein Becher. Genau. Er schüttelte den Kopf. War es geistig inkonsistent hier drin oder war das nur er? «Grünes Wasser», wiederholte Nora, als habe er sie beim ersten Mal nicht richtig verstanden. «Was auch immer», brummte Salinger. Unbedarft gegenüber den Konsequenzen und Gefahren seiner Handlungen (bis diese in Form von verfilzten abgeklärten Endzeitbiestern Türen eintraten, um auf seinem Fußboden zu kampieren), nahm er Nora den Keramikbecher aus der Hand. Ihre Finger waren wärmer als der Becherrand. Der Geschmack in seinem Mund war in seiner Bitterkeit über jede Genießbarkeit erhaben, jedoch davon abgesehen durch und durch grüner Tee, der zwei bis vierzig Minuten zu lange gezogen hatte. Weiter nichts. «Das Zeug ist ja abartig.» Grässlich? Fürchterlich? Ungeheuer? Räudig? Eine dieser semantischen Situationen mit zu vielen Optionen. Er ließ theatralisch die Zunge aus dem Mund hängen, obwohl er es gar nicht mal so schlimm fand. Søren und Nora kicherten nur und verzweigten die Finger miteinander zu einem schrägen Geflecht. Emerson summte, gleichsam wie sich Patrick den Gesang eines Leguans vorstellte. Er überlegte sich, einfach in sein Zimmer zu gehen und den Rest zu belassen wie vorgefunden. Seine klare Sicht schwamm für eine Sekunde und plötzlich stand er zehn Fuß hoch über den Dingen und sah aus der Stratosphäre auf den dämmernden Wohnraum hinab. Er setzte sich vorsichtshalber wieder hin. Auf einmal vermisste er jeden. Ein Goldfisch schwamm an der Lampe vorbei durch die Punktstruktur der Decke. «Dass wir uns getroffen haben», legte Søren einen Arm um ihn, «ist eine ziemlich metaphorische Angelegenheit.» «Tatsächlich», murmelte Patrick aus dem Augenwinkel heraus glaubte er zu sehen wie sich Emerson vom Tisch aufbäumte. «Dasselbe Leid mit drei Blickwinkeln vollkommen anders ergriffen und gelöst und zum selben Ziel gekommen, aber mit anderem Ergebnis.» Søren grinste das fiese Grinsen, welches unter keinen Umständen nicht zu mögen war. Er tauchte ab in die Wellen des Couchbezugs. Emersons Gesicht war zu einer Hundsmaske aufgetürmt, die bis an die Decke reichte und glimmende Feuerfäden hinterließ, als er sich langsam im Tanz zu wiegen begann. «Keinen Schimmer, was das bedeutet», kommentierte Patrick die Schattengestalt auf dem Ikeawohnzimmertisch und Sørens Gefasel. «Aber mit Metaphorik hat das nichts zu tun.» «Søren will sagen, dass er uns alle sehr gern hat und froh ist uns getroffen zu haben.» Noras wie Espenlaub flüsternde Stimme knusperte sehr nah an seinem Ohr entlang. «Außerdem traumatisiert es ihn vermutlich, dass er nie ganz erklären kann, was eine Metapher ist.» Der Hundekopf tanzte Emerson wild auf der Nase herum und sein Körper zappelte gezielt umher, während er johlte und Nora ihn zustimmend anheulte wie den Mond und die Sterne und eine gemeinsame Nacht in einer Hängematte. Wundervoll unerreichbar weit entfernt. «Es sind mehr die Allegorien und Allegoresen und Vergleiche und Symbole und dass ich in einem übereiferten Moment deine Brüste anfassen würde, Nora; wenn es nicht das ausgelassene, aber schmalspurige Vertrauensverhältnis zwischen dir, mir und Sal ruinieren würde.» Søren war aus den Kissen zurückgeflutet und seine Arme lagen um Nora wie ein Halsband. «Du bist irre und du hast Recht und heb' dir solche Aussagen für Nächte auf, in denen mehr als grünes Wasser im Spiel ist», räkelte sich Nora ungelenk unter seinen Handgelenken. «Der skeptische Mann spielt gute Karten schlecht aus», grinste Salinger. Er lehnte sich auf die Couch irgendwo zwischen den beiden und nippte an seiner zweiten oder dritten Tasse. Becher. Emerson war ein Himmelskörper des weiten Wohnraums und wälzte sich kichernd auf dem Boden umher. «Der nachdenkliche Mann fragt sich, ob es überhaupt Karten gibt, auch wenn sie nur Metaphern sind, und ob wir sie – wenn ja – spielen können oder von ihnen gespielt werden.» Es wirkte als wispere Søren weitere Worte in Noras Ohr, während seine Stimme mit Salinger sprach. «Ich würde euch jetzt bei den großen Geistern schwören lassen, dass wir nichts getrunken haben als grünen Tee», versuchte Patrick sich klar über das Meer in seinem Kopf hinweg zu äußern. «Aber die Unterhaltungen sind gewöhnlich so, dass es auf der anderen Seite überflüssig ist.» «Selber überflüssig», murmelte Søren. «Du bist überflüssig», antwortete Nora. «Ich bin überfluid!», raunte eine bellende Stimme unter dem Wohnzimmertisch hervor. «Wir sind hypofluid!» Die Stimmen im Raum überschlugen sich und brachen in Gelächter übereinander zusammen. Mit einem Mal ergriff eine Melodie Patrick bei den Gehirnwindungen und zog seine Aufmerksamkeit zu sich wie man Menschen am Kinn ergreift, um sie dazu zu zwingen einen anzusehen. Seine Fantasie sah der Melodie in die Augen und war bereits verloren, nicht mehr imstande sich aus eigener Kraft zu lösen. Der Text des Lieds brach zwischen seinen Lippen hervor als wäre er unter Wasser und müsse Luft ausstoßen, die in zitternden Blasen zur Oberfläche schoss. «Father can you hear me / this is not how it was meant to be / I am safe and so are you / as for the other's destiny» Und mit leicht falschem Einsatz fiel Søren ein, um das Lied zum Kanon zu machen, der es war: «I believe that situations / all depend on circumstance» «Look away / Look away», sang Nora zwischen beiden hindurch in das Lied hinein und Emerson erhob sich wie ein erwachter Dämon vom Fußboden und verkündete: «Pictures at an exhibition / played as he stood / in his trance / staring at his inhibitions / all the time believing / that it now came down to nothing but this chance» Das Gewebe ihrer Stimmen schwang vom Rhythmus des Kanons angetrieben durch den Raum und als es eine weitere Runde vollführt hatte ohne zu zerreißen, mischte sich aus den Tiefen die Schamanin in ihren Gesang und begleitete alle vier Stimmen zugleich; jede einzelne mit einem anderen Ton. Sie kollabierten gemeinsam und ineinander und einstimmig, um verflochten und atmend zurückzubleiben, wo das Lied endete. «Wer war die Stimme?», fragte Salinger ohne das Verlangen sich näher zu spezifizieren. «Die Schamanin in meinem Keller.», antwortete Nora. «Oh», murmelte Søren. «Du erwähntest da was.» «Du hast mich eine neopseudopaganische Wunschirre auf Halluzinationsentzug genannt.» «Sagte ja, du erwähntest da was», gab Søren zurück, bevor er von der Couch hinab auf den Fußboden versank. «Wirst du mir gleich sagen, dass ich in dich verliebt bin», sagte Nora mit demselben vagen Grinsen, das sie seit Stunden nicht abgelegt hatte. «Vielleicht, weiß nicht. Ich würde gerne», setzte Salinger an, bevor er sich und einem monumentalen Seufzer um Nora auf die Couch vergoss. «Aber selbst in den augenblicklichen Wachzuständen, in denen du mit deiner Liebe über mich herfallen willst, um das zweifelhafte Vergnügen auf den Boden der Tatsachen zu ziehen und endgültig zu begraben, das dir dieser Schwebezustand bereitet. Selbst in diesen Momenten gestehst du dir ein, dass du nur für den mentalen Komfort nicht allein zu sein, in mich verliebt sein könntest.» «Da habe ich wohl Recht.» Nora verschlängelte sich in ihn und legte ihre Lippen auf seine. Patrick war nun wie am nächsten Morgen zu verquer und aufgekratzt, um festzustellen, wie lange es andauerte, sich anfühlte oder existierte. Er war sich nur sicher währenddessen oder kurz danach eingeschlafen zu sein und am nächsten Morgen nachmittags in seinem eigenen Bett erwacht. Von Nora, Søren und Emerson war nur das Chaos zurückgeblieben und eine höfliche Notiz, sie seien in der Stadt unterwegs. Seufzend stolperte Patrick über Kissen und Kekspackungen zurück in sein Zimmer und zur unteren Schublade, in der ein Waffenschrank von Putzutensilien aufgereiht lag. Es würde eine herausgeputztes Massaker werden. In seinem Traum war er eine hohe Straße direkt in Luft hinaufgeschritten. Nora war ein grünes Fohlen. Sie stand hoch am Himmel zwischen den Wolken und fragte: «War das über meinen Schwebezustand eigentlich von dir?» «Weiß nicht.» «Ja oder Nein?» «Ich glaube von irgendsoeinem Berliner Geniekind geklaut oder ihren oszillierenden Luftschnapp-Exzessen nachempfunden.» «Scheiße. Selbst dein Traum ist Plagiat, Salinger.» «Du bist Plagiat.» Nora wiehert kichernd, als Patrick aufwachte. Harass my mind, Mr. Spaceman! ----------------------------- Ihr globales Positionierungssystem wurde lokal angesprochen. Die nächste Maps-Station befand sich folglich noch im selben Sektor und war bereit auf Anfrage binne Sekundenbruchteilen ihre derzeitige Lokalisierung im ergoogelten Teil des Universum zu bestimmen. Sim stocherte alles andere als gehetzt mit synthetischen Fingernägeln – kurz und abgerundet zur optimierten Displaykompatibilität – auf dem Touchscreen ihres Handgelenkcomputers herum. Nicht bereit; begierig wäre zutreffender, dachte sie verbissen auf ihrer Unterlippe herumkauend. Zwei Klicks und jeder von Mum und Dad bis zum potenziellen zukünftigen Arbeitgeber wüsste, dass sie sich gerade grundlos in einem verlassenen Quadranten aufhielt. Die Ortung ihrer unzählige Lichtjahre von zu Hause entfernten Tochter Simfonie Cellar dauerte 0,23 Sekunden. Vielen Dank für ihre Suchanfrage. Kunden, die ihr Kind Simfonie genannt haben, interessierten sich auch für... Nicht dass es verboten wäre sich ohne Grund irgendwo aufzuhalten – es war nur nicht vollständig dokumentiert. Sie haben in ihrem chronologischen Lebensverlauf eine Passage von Zweistundenundvierunddreißigminuten exklusive An- und Abflug in einer aufgegebenen Raumstation ohne Funktion, die nicht näher kommentiert ist. Möchten Sie sich dazu äußern? Sim drückte die lächelnde Stilisierung einer jungen Bibliothekarin auf kleinen Bildschirm beiseite, die ihr zum wiederholten Mal anbot ihre derzeitige Beschäftigung mit einer Statusnachricht oder zumindest einem Tag zu versehen. Das Display glühte wie ein überfressenes Glühwürmchen in der staubigen Dunkelheit des Korridors. Sie wischte mit der Rückseite der fingerlosen Handschuhe darüber und zerfurchte sich die Stirn über eine verbliebenen gelbliche Kruste. Auf der rudimentären Karte der Navigationssoftware leuchtete im Raum hinter der nächsten Tür ein Geo-Caching-Signal als roter Punkt auf, getrübt durch den darüber haftenden Fleck. Nach zwei Kratzern hingen ihr die Überreste unter dem Nagel und während sie darüberleckte, sprang eine Voicemail an, die sie versehentlich aktiviert hatte. Instantbrühe. Roastbeefgeschmack. «Hey Bro», setzte die pubertäre Stimme in einer Mischung aus peinlich berührt und routiniert an. «Keine Ahnung, wie lange du noch in den Wrackteilen herumtrollen willst. Der Captain hat gesagt wir verlassen den Sektor, ETA 45 Minuten-» Sim schnaubte verächtlich über den fehlerhaften Militärslang, der sich durch die SS Allyourbase zog wie Käse; metaphorisch sowie olfaktorisch. «-Jedenfalls bleiben wir nicht länger in der Nähe einer Mapstat als nötig. Also schwing' deinen A-arsch hierher. ASAP.» Sie wünschte sich nicht Jephs Gesicht in dem Moment zu sehen als ihr Dasein als weiblicher Körper mit den Gepflogenheiten seines «Brocodes» kollidierte. Sim fantasierte über die Auslese seines Catscans. Die Ausdifferenzierung des neuronalen Moments, in dem es geschah. Die Realisation der physikalischen Eigenschaften von Sims mentaler Repräsentation in Jephs Bewusstsein, welche in die mentale Repräsention ihrer funktionalen Sozialeinordnung crashte wie ein flachbrüstiges psychophysisches Geschoss mit knöchrigem Hintern. Sie verstand nicht einmal ein Drittel von dem, was sie gerade dachte; doch sie empfand die Vorstellung trotzdessen als verdammt heiß und/oder sexy. Miteinander verschmorte Hirnverbindungen, die rebellischen Hass auf Vorschulphilosophiekurse zu einem widerspenstigen Kick übersetzten. Es synappten unter den bewussten Gedanke hervor nach allem, das im Alltagston reibungslos einen abhängigen Nebensatz im Konjunktiv bilden konnte oder die Welt nebensächlich mit logischen Operatoren beschrieb. Deine Großhirnrinde hat sicher einen ziemlich feschen Assoziationskortex, zählte zu den Randbemerkungen, mit denen sie die Besatzung der Allyourbase auf so vielen Ebenen (und deren Metaebenen) überforderte. Sim rotzte darauf als allgemeingültige Abschlussmeinung und trat die Tür vor ihrer Nase ein. Das mit Wellblech ausgebesserte Stahlschott war nicht beeindruckt; die Realität ließ nur eine Sporenwolke von Dreck und Vernebelung aufschäumen, bis sie hustend an der fettverstaubten Korridorwand hing und glaubte gleich Eisenspäne zu kotzen. Es kommt alles zurück. Retro, Baby. «Scheiß Materie», murmelte sie heiser den vagen Konturen der Tür entgegen und kramte das Stemmeisen aus dem Rucksack hervor, das mit schwarzen Vögeln bekritzelt war. Sie rammte es beherzt zwischen Tür und Fassung. Der ganze Gang kreischte bei jeder Bewegung eisern auf, mit der sie ihr Fliegengewicht gegen den Widerstand stemmte. Sie meinte ein rotes Glimmen im bleichen Licht hinter dem aufgehebelten Spalt zu sehen. Wahrscheinlich irgendwas im Standby-Modus, sagte sie sich selbst. Wenn wir uns bereits aus diesem Universum gebombt haben oder allesamt ins Licht getreten sein, dann wird noch eine Spezies von Geräten im Ruhezustand auf uns warten; treu einen getakteten Blink darauf harrend reaktiviert zu werden. Mit einer Runde pausierten Runde Tetris. Mitten in einem wirklich guten Song. Sim liebte vergessene Dateien: liegengelassene Audiochips (6 TB groß und nur ein Lied von Jonny Cash darauf);E-Ink-Palms mit Tagebucheinträgen oder wahllosen Notizen oder aufgenommenen Podcast, die nur darauf warteten auf der nächsten Wifi-Welle ins kollektive Gedächtnis einzureiten wie ein Surferboy mit grauen Strichen in der Mähne; veraltete Datenträger, für die man durchs halbe Universum pilgern musste, um eine Zuflucht zu finden, die ihr Abspielmedium beherbergte. Vergessenheit, um deretwillen sie Grund hatte durch endlose Leere zu reisen. Oder zumindest etwas zu tun gegen die Langeweile, die allein – ihrer Meinung nach – größer war als das Universum. Sie beschloss vor Jahren ins All abzuhauen, um ihren Eltern zu verdeutlichen, was sie von einer Karriere im zukunftsträchtigen – in Sims Konversationslexikon ein Synonym für allverschlingend – Sektor der Neuroinformatik hielt. Doch schon damals wurde ihr kribbelig beim Gedanken an Galaxien, über die bisher nur knappe oder lückenhafte Wikipediaeinträge existierten. Kaum war der Türspalt dürr genug, um sich hindurchzuquetschen, stampfte sie durch den ausladenden Raum am Panoramafenster vorbei, vor dem ein Planet hing wie eine riesige Mottenkugel, zum größten Schrank und riss die Schubladen heraus. USB-Sticks rasselten neben ausgegossenen Büroklammern und Notrationen an Schokoriegeln zu Boden. Das Gemisch aus liegengelassenen Kleinigkeiten warf lange Schatten, während Sim es mit ihrer iMaclite anstrahlte und mit pickenden Finger durchforstete. Sie stopfte zwei Billy-Idol-Schallplatten aus einer Containerschublade in den Rucksack und solange Kleinkram hinterher, bis die Reißverschlüsse beim Zuzurren rebellierten und Knicke bekamen. Ein Seitenblick in das ausgeschlachte Regal spannte die konstante Linie unterhalb ihrer Nase zu einem Bogen auf. Ein klobiger Schatten klebte an der Schrankwand hinter dem Ende der Schubladenrillen. Sie langte durch die Öffnung, schrabbte sich den Ellenbogen und riss den Behälter mit dem Schmatzen von Klebeband von der Wand. Der schwarze Ton des Aluminiums hatte kaum unter den Jahren in der Einsamkeit einer stillgelegten Raumstation gelitten; nur der «Afri-Cola»-Slogan war leicht vergilbt von herumstreunernden Feinstpartikeln. «I smell win», murmelte sie und schraubte das obere Drittel der Coladose mit routinierter Ungeschicktheit auf. It's bigger from the inside war mit pikierter Normschrift auf den inneren Rand geschrieben. Der kleine Behälter war bis knapp darunter mit Micro-SD-Karten gefüllt, die Sims Gedächtnis fast eine Analogie zu schwarzem, plattgedrücktem Gold abrangen. Ihre Nasenflügel zuckten. Gefühlvoll zitternde Fingerspitzen zupften eines der Plättchen heraus und schoben es in die Öffnung auf der Unterkante ihres Computers. Sie seufzte leise auf, als er ohne Anfragen und Fehlermeldungen die Dateien auslas und auflistete. Sie tastete nach Play. «Heda Fremder! Du bist meinem Signal in die Ungewissheit und vielleicht sogar ins Unheimliche gefolgt, um mit der willkürlichen Schönheit unseres Weltraums belohnt zu werden.» Sim rieb nervös über den Knopf, doch die Ansage ließ sich nicht überspringen. «Wenn dies nicht dein erster Randomchip ist, dann versuchst du mittlerweile entnervt mich zu überspringen, um an die gute Willkür zu kommen. Falls nicht, schalt' dein Bewusstsein aufmerksam, n00b: Ich bin zufällig kopierte Daten großer Server, derer mein Algorithmus habhaft geworden ist. Es gibt nichts, was du mit mir tun oder lassen musst, außer meinem ersten und letzten Gesetz: Gib' mich weiter. Versteck' mich. Lass mich auf den Signalwellen weiterreiten und ewig leben.» Endlich sprach die Software auf ihren wiederholten Tastendruck an und ein Video sprang auf, das eine junge Japanerin zeigte, die Kuchen aß. Eine Sekunde bevor Sim Shuffle drückte, peinlich berührt die Hand über das Bild legte. Zahlenkolonnen einer Tabellenkalkulation. Shuffle. Programmcode. Shuffle. Das Bild eines Androiden im Smoking, der eine übergewichte Braut in den Armen trug. Shuffle. «I hopped off the plane at LAX with a dream and my cardigan / Welcome to the land of fame excess am I gonna fit in» Shuffle. «Wenn ich mich an ein Versprechen halte und dabei an jedes einzelne Wort hänge, bis meine Hände bluten, dann wird das Idiom für mich zum Abgrund. Jede Handbewegung in eine--» Shuffle. «Ich bin aus Metall. Meine Schaltkreise glühen. Hier spricht der Open-Source-Überwachungssatellit Electric Eye – Jeden Tag im Orbit eines anderen propietären Planeten, um ungeschützte Privatdaten auf Sendung zu schicken und eure fragmentierten Verbraucherhirne mit dem zu beschallen, was der ganze Kosmos über euch wissen könnte. Für die nächste Stunde senden wir heute brühwarmen Stoff aus der Umlaufbahn von Starbucks Omnikron und hoffen ihr ...» Stop. Sim war gerade dabei ein selbstzufriedenes Lächeln über sich auszubreiten, auch wenn es niemanden gab, der es sehen konnte. Sie blinzelte, als sich im Gerümpel einer Raumecke etwas zu bewegen schien. Auf den zweiten Blick tat sich nichts in den aufgestapelten Überresten, sondern das Gerümpel in der Ecke war jemand. Die Gestalt lehnte überragend und grau gegen die verchromte Wand und dunkelblaue Linien formten sich in Sims Kopf. Der letzte Teil musste Einbildung gewesen sein. «Ich tu' dir nix, ich bin nur mit der Miete und meiner Neugier hinterher!», raunte sie durch den Raum; noch nicht überzeugt, ob sie mit einem intergalaktischen Hausbesetzer sprach oder ihren Hirngespinsten gut zuredete. Als die Kontur sich von der Wand abhob und einen Schritt nach vorne machte, verdichtete sich ein hellblaues Muster in Sims Blickfeld, das in Verzahnungen und Haken ein Raster bildete. Sie war um die Gewissheit froh, ihr Leben lang clean gewesen zu sein und selbst jede herumgereichte Flasche Nebula Spirit abgelehnt zu haben. Eine Erklärungsmöglichkeit weniger. «Sprich' mit dir, Pal!» Sie schwenkte die Taschenlampe dorthin, wo der Schatten in den Lichtschein des Panoramafensters trat und erhellte einen unförmigen Körper, der groß und grau im Raum stand wie niemals bewegt. Das hellblaue Raster stülpte sich zu einem Planeten um und gezackte Linien breiteten sich aus seiner Mitte aus. Das Bild veränderte sich kein Stück durch das Licht. Ihr Kopf schmerzte. «Behalt' dein Psycho-Mojo für dich!» Tatsächlich war sich Sim alles andere als sicher, ob das Universum psychisch begabte Lebewesen beherbergte. Die abgefahrenen Kuriositäten und Übernatürlichkeiten, denen sie bisher über den Weg gelaufen war, waren dieselben geblieben; nur die Medien waren besser als auf Heimatplanet Erde in der Vergangenheit. Nicht, dass sie die Erde oder jene Vergangenheit je außerhalb eines Videos gesehen hätte. Doch die Geschichte war da, strahlte mit jeder Dekade in einem wärmeren Glanz und wurde mit jedem Lichtjahr Entfernung obskurer. Der blaue Planet, den Sim deutlicher sah als die graue Gestalt, zerfloss und wurde zur Lichtreflektion der Sonne in einem Schwimmbecken. Zeichen schienen durch die mäandernden Schlieren zu treiben, doch sie vermochte nichts darin zu erkennen. Die Muster verschwanden wie sie gekommen waren und Nachbilder im Orange alter Glühbirnen breiteten sich aus, bis es in den Augen stach. Gerade noch in Schockstarre verharrend, erinnerte sie sich daran, dass es eine gute Idee war seine geplünderte Beute zu greifen und das sinkende Schiff zu verlassen, wenn die Crew allzu gespenstig wurde. Graugestalt stand ruhig an Ort und Stelle. Sie schirmte die Augen gegen die Glühbirnensonne ab und musste feststellen, dass ihre Hand hinter den Bildern lag. Wie aus Reflex ballte sie die Faust darum, doch es war vor ihren Fingerknöcheln. Sie kniff die Augen so fest zu wie es ging und das Bild war so klar zu sehen wie ein Traum, an den man sich noch am nächsten Morgen und den Rest seines Lebens genau erinnert. Die Sonne schien. Aus Reflex kniff Sim die Augen zu – zu spät bemerkend, dass diese bereits geschlossen waren. Mit konzentriert gesenkten Augenlidern atmete sie tief durch, schob die aufwallende Panik hinab vom Bauchnabel in den Unterleib. Sie versuchte nicht daran zu denken, wie oft und ob ihre Augen geschlossen waren. Wie eine Belohnung wurden ihre Backen warm vom Sonnenschein. Die Wärme flimmerte erwartungsvoll vor ihren geschlossenen Lidern. Sie erinnerte sich nicht, wann sie zuletzt Sonnenlicht gespürt hatte wie es auf den privilegierten Planeten mit erdähnlicher Atmosphäre zu finden war. Dann öffnete sie die Augen. Graugestalt stand unverrückt vor ihr und sah im Tageslicht aus wie ein in Zement gegossener Astronaut aus alten Videodateien. Alles außer ihm hatte sich verändert. «Hallo», sagte der Astronaut und etwas in seinem Gesicht bewegte sich, um zu sprechen. Sim war sich nicht sicher, ob es ein Mund war. Die grünen Gräser breiteten sich unter der Sonne bis zum Horizont aus. Sie stutzte, als sie sich selbst dem Astronauten gegenüber sah; während sie ihn ansah. Dreck zog sich in Mustern durch ihren Allzweckoverall und die halb verrosteten Antigravstiefel (aus ausgemusterten Militärbeständen natürlich) sollten mal wieder geputzt werden. Der Scheitel ihrer ausgebleichten Haare lag in unvorteilhaften Wellen über die Stirn geklebt. Nur der Werkzeuggürtel um ihre Hüfte schimmerte aufpoliert und mutete unwahrscheinlich groß an – oder anders gesagt: fokussiert. «Ich habe einige Versuche gebraucht, um mich dir verständlich zu machen», sagte er äußerst durchschnittlich. Träger Wind strich durch das Gras und leckte ihrer Kleidung. Erfolglos klopfte sie sich den Staub ab. «Und dabei offenbar einiges an meinen Brüsten euphemiert», gab sie zurück, während sie sich umsah. Nichtviel zu sehen, außer Gras, der Graugestalt und jede Menge Himmel. «Du bist hier genauso wie sonst auch.» Er machte einen merklichen Schritt auf sie zu. Sie sah in dieser Situation nicht den Grund, einen Schritt zurück zu machen. Sim schnaubte. «Wo wäre ich denn gerade? In einer abgefahrenen telepathischen Illusionen gefangen? Gedankenkontrolliert durch die Realität wandelnd? Narnia?», fragte sie und fuhr sich durch die Haare. Obgleich es sie nicht scherte morgens länger als eine halbe Minute in den Spiegel zu sehen, war es irritierend sich selbst andauernd zu beobachten wie ein Außenstehender; und gleichzeitig mit eigenen Augen. «Keineswegs», setzte er an und sein Kopf neigte sich nach unten als blicke er zu ihr herunter. «Ich kommuniziere mit dir auf geistiger Ebene.» «Also bist du in meinem Kopf.» «Was sollte ich in deinem Kopf wollen?» Sie schwieg und sah dabei ihr sprachloses Gesicht, das in etwa so dämlich dreinblickte wie sie es sich immer vorgestellt hatte. «Ich berühre deine mentalen Erzeugnisse, um einen Treffpunkt zu haben», sagte er. «Warum redest du nicht einfach mit mir, statt die ganze Show abzuziehen?», fragte sie und ließ den Blick erneut über die Landschaft schweifen. «Ich kann nicht sprechen.» «Du sprichst gerade.» «Nein.» Er schüttelte minimal den Kopf. «Ich habe an einer Kreuzung unserer mentalen Schritte eine geistige Ebene aufgebaut, in der meine Kommunikation mit deiner kompatibel ist.» «Du hast dich selbst und mich in ein Szenario gepackt, in dem du sprechen kannst, aber du kannst nicht einfach reden?» Sie versuchte der Vorstellung nachzugehen und fühlte sich wie ein Hund, der seinen eigenen Schwanz verfolgt. «So in etwa.» «Bullshit», blaffte sie den Zementastronauten an und setzte sich mit einer Abfälligkeit auf den Boden, zu der nur wenige Menschen in der Lage sind. «Eine Wirklichkeit psychischer Ereignisse ohne physikalische Repräsentationen ist seit Jahrzehnten widerlegt.» «Ich weiß.» Er klang enttäuscht. Aber war das auch nur die Einbildung. Inwieweit auch immer das gerade möglich war. Sim tastete umher und ihre Fingerspitzen spürten das kalte Metall des Stemmeisens in den Grashalmen. «Findest du eine Theorie ansprechender, in der ich gerade direkt in dein Hirn eindringe?» Statt zu antworten zog sie die Hand nach oben und eine handvoll Grünzeug flog durch die Luft, während ein tumber Schlag den Astronauten zur Seite wanken ließ. Er stöhnte in einem hohlen Ton auf, doch rührte sich kaum. Sie dagegen bekam eine Schlaufe ihres Rucksacks zu fassen und stolperte durch die Wiese, bis sie auf das Gefühl einer soliden Wand traf. «Das gibt tagelang Körperschmerzen», ächzte die Stimme hinter ihr. «Kannst du nicht einfach sagen, dass ich dich in Ruhe lassen soll?» «Sorry, Psychederelict», murmelte sie und tastete sich zur Tür vor. «Meine Philosophie lautet Mach' kaputt, was nicht in deine Hypothese passt.» Sie fand den Türspalt und quetschte sich hindurch, warf die Navigationsfunktion ihres Handgelenkcomputers an und folgte der Wegbeschreibung auf dem Display durch die Graslandschaft. Ihr ging ein fremdes Zittern durch den Kopf und die Wirbelsäule hinab, das sie an Lachen denken ließ. «Du weißt ja, was girl in der virtuellen Welt bedeutet», hörte sie die Stimme des Astronauten ein letztes Mal. «guy in real life.» Dann lag der Korridor unterbelichtet vor ihr und sie konnte die bemalte Tür ihres Shuttles am Ende des Gangs ausmachen. Die Pixel eines Space Invaders hoben sich weiß von der zerkratzten Hülle ab. «Ja danke, du Bastard», dachte sie, als sie die Luke entriegelte und ihre Beute neben dem Steuersitz fallen ließ. Ein halbes Dutzend neuer Nachrichten zappelte auf dem Kommunikationsinterface umher und die grafische Lokalisierung des SS Allyourbase dümpelte gemächlich zur Sektorgrenze. Die stilisierte Bibliothekarin erkundigte sich höflich nach ihrem Status der letzten 43 Minuten, während die Googlestartseite ihre Beute nach kategorisierbaren RFID-Markern absuchte. Wissenschaft gab Sim in das Statusfenster ein und starte die Maschinen. «Vielleicht bekommst du doch einen Artikel bei WikiSpecies.» Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)