100 Themes Challenge von CrackpotCity (every day is writing day) ================================================================================ Kapitel 1: #1 [Introduction] ---------------------------- Fran-Dings Er wusste ganz genau, wohin er wollte, als er diesen Weg einschlug. Polizei? War ihm egal. Zeugen? War ihm egal. Es KONNTE nichts schiefgehen. Die Waffe, immer bei sich, immer im Hosenbund. Er zog sie, spürte ihr vertrautes Gewicht. Die Haustür hatte offen gestanden - und er wusste, er war sich sicher, die Wohnungstür war ebenfalls offen. Er griff nach ihr. Er öffnete sie. "HALLOOOO, FRAN-DINGS!", rief er munter in die Wohnung, eine geladene und entsicherte Waffe im Anschlag. Hach, was war er doch intelligent. Jaja, sehr intelligent, wirklich. Das würde er garantiert nie wieder vergessen. Dieses ganz besondere "Hallo", der Auftakt einer.. boah, dieser Arsch. Blöder, bekloppter, hirnverbrannter Mafiafritze! Sich das matschige Hirn mit Drogen zuknallen ..und dann erst diese halsbrecherische Verfolgungsjagd durch die halbe Stadt, die ihm wirklich fast den Hals gebrochen hatte. Rah, Idiot! Mit einem tonlosen Schnauben stellte Franquin ein Knie auf dem Handschuhfach ab und lehnte sich ein Stück weiter in den Sitz hinein. Selbst im Nachhinein war die Situation noch genauso aberwitzig, wie sie im ersten Moment auf ihn gewirkt hatte, vielleicht sogar noch ein Stück weit grotesker, jetzt, wo er ein wenig Zeit hatte, darüber nachzudenken. Gezwungenermaßen, denn zwischen ihnen herrschte angespannte Stille, nur das Summen des Jaguars war zu hören. Weit und breit Staub und Asphalt, laue Hitze und Fahrtwind. Und ein sehr angefressen wirkender Entführer am Steuer. Und ein wahnsinniger noch dazu. Das kann ja heiter werden. Ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, dieses wahnwitzige Bild. Würde ihm wohl noch manchen Albtraum bescheren. Pascal, dieser perverse Irre, den er gerade mal lächerliche zwei Tage lang kannte!, in seiner Wohnungstür, auf einem Tsunami aus künstlich gepushtem Adrenalin surfend und er selbst die Mündung einer scharfen Handfeuerwaffe im Gesicht. Dazu dieses euphorische Grinsen gegenüber; die vollkommene Absurdität des ganzen Auftritts ließ ihn jetzt noch fassungslos den Kopf schütteln. Schockwirkung von Drogen, in einer ihrer krassesten Formen, die er je gesehen und eigenen Leib erlebt hatte. Noch immer erlebte. Was zur Hölle hatte dieser Trottel sich dabei gedacht? Ach was, garnix. Der dachte doch keine zwei Meter weit, nicht vorhin und nicht jetzt und schon garnicht in der Zukunft. Dieser.. gemeingefährliche Killer! Unfähiger Entführer. Drecksjunkie! Er warf einen unauffälligen Blick nach links, maß eben diesen mit allerlei Schimpfworten bedachten jungen Mann (der allerdings um einiges älter wirkte, als dieser Polizist ihm hatte weißmachen wollen) aus den Augenwinkeln und rechnete schonmal seine Chancen aus. Aber er hatte es hier mit einem Wahnsinnigen zu tun. Die waren immer etwas unberechenbar. ..und wie der schon die Fingernägel ins Lenkrad krallt. Hat doch nicht alle Tassen im Schrank; ein einziges, nervöses Wrack. Ein gestörtes, unzurechnungsfähiges Wrack, so sieht's doch aus! Und in diesen Händen soll nun sein Leben liegen? Na gute Nacht. Der kommt doch nie im Leben bis nach Mexiko. Schon garnicht mit mir. Dem ist anscheinend nicht ganz klar, wen er da eigentlich verschleppt hat. Ich fall' doch auf wie ein bunter Hund. Mann, Mann, Mann. Der kommt keine paar Kilometer, wetten? Die Bullen nehmen den doch an der nächsten Kreuzung hoch. Und dann wanderst du ins Kittchen, Don Pascale! Von wegen kein Mörder. Das trau ich dir allemal zu. Du würdest ja nichtmal vor mir Halt machen, dem wichtigsten Menschen der Musikbranche; was dir verdammt nochmal nicht einmal klar ist, du Ignorant! Ich bin doch nicht einfach irgendwer! Ich bin nicht so ein unbedeutender Loser, nach dem kein Hahn kräht, ich bin verfickt nochmal VERDAMMT WICHTIG für die Welt und man wird dich solange jagen, bis ich wieder in Sicherheit und du hinter Gittern bist! Oh ja, das wird weitreichende Konsequenzen haben, mein Lieber! Dir wird der Arsch noch sowas von auf Grundeis gehen, dagegen ist das hier jetzt ein Spaziergang. Das ist also der Dank für meine Hilfe, du Penner. Lass dich auf meiner Couch schlafen, steck dich in neue Klamotten und spendier dir ein paar Biere - und wie wird mir das vergolten? Drecksau! Undankbarer Holzfäller! Zieht mich in seine bescheuerten und hypergefährlichen Mafiageschichten mit rein, DANKESCHÖN dafür, dass ich mir dabei fast ne Kugel eingefangen hätte! Boah, ich wünschte, ich hätte ihn damals einfach vorm Haus sitzenlassen. Kapitel 2: #2 [Love] -------------------- Keine Schmetterlinge Von wegen Schmetterlingen und so. Unsinn. Alles Unsinn. Schmetterlinge. Aus Klebstoff vielleicht. Besser noch: Teer. Oder Öl. Ja, Erdöl. Klebriges, dickflüssiges, stinkendes, schlickartiges Erdöl. Von wegen Schmetterlingen und so. Soll ich lachen? Das sind eher plumpe, schwarze, krächzende, mit Erdöl verklebte, abgrundtief hässliche Vögel. Die qualvoll ersticken, schwerfällig zucken unter der zähen Last. Und in meinem Magen liegen. In ihrer schwarzen, klebrigen Pfütze, wo sie jämmerlich verenden, immer mehr davon. Stapeln sich den ganzen Magen hinauf. Bis zur Speiseröhre und noch weiter. Ekelhaft, verstopfen alles unterhalb der Lungen, Atmen ist deshalb ne ziemlich anstrengende Sache. Und der Magen verklebt indes weiter, endlose Übelkeit, Tage, Wochen. Ich würde sie am liebsten alle auskotzen. Diese sterbenden, erbärmlichen Vögel, die sich verzweifelt an den Wänden festkrallen, im Todeskampf. Und sie schlagen wild mit den Flügeln, um ihrem Elend zu entgehen, brechen sich dabei in ihrer Panik die filigranen Knochen, stürzen ab, direkt in die Erdölpfütze. Krah krah, adieu, ihr hässlichen Viecher. Ist mir schlecht... Mir ist so furchtbar schlecht, dass ich dir am liebsten alles mitten ins Gesicht spucken würde. Das ganze erdölartige Zeug; das hast du dann davon. Damit du siehst, wie's in mir abgeht. Yeah, dirty dancing, das große Programm, ne riesige Party. Dafür ganz ohne Schmetterlinge. Ich schluck's wieder runter, die Vögel, das Erdöl; zurück bleibt Feigheit und der Drang, kaputtzumachen. Aber selbst dazu bin ich zu feige. Zu feige zu allem, weil es mich wahnsinnig macht, mal etwas zu riskieren. Ich trau mich nicht, zu garnichts, lasse mich auf keinen Kampf ein. Und sitze stattdessen auf dem Klo, auf irgendeinem Klo, glotze wie ein bekloppter Autistenemo auf ein Knie, Hände in den Haaren, aber was soll ich machen?! Und wieder ein paar sterbende Vögel mehr. Die armen Viecher ganz unten sind schon längst tot, erdrückt von dem Gewicht der neu- KRAH KRAH! Kopfweh. Wie lange saß er jetzt schon hier? In dem kleinen, gekachelten Raum, hellblauer Toilettensitz-Plüschbezug, das linke Knie in die Augenhöhle gedrückt. Saugte sich feucht die Haut an das Lid, oder umgekehrt. Es half ein bisschen gegen die Kopfschmerzen. Flacher Atem, immerhin. Er verharrte in seiner Position, blinzelte einäugig seine kalten Zehen auf dem Boden an, die sich eingruben in die Fliesen. Für eine weitere Minute genoss er die krepierenden Mistviecher im Bauch, ließ sich von einer Welle Selbstmitleid fortreißen, während die Finger sich in den Ansätzen verkrallten. Ein kurzes, wohliges Erzittern, ein gestochen scharfes Bild vor Augen. Ein Massensterben. Sieben Sekunden später hielt er sich an weißem Porzellan fest, versuchte so wenig Geräusche wie möglich dabei zu machen. Aber es kam kein Erdöl und auch kein einziger verklebter Vogel. Nur das Abendessen und viel Magensäure dazwischen. Die Drecksviecher blieben, wo sie waren und krähten schadenfroh. Schmetterlinge. Wer denkt sich so'n Scheiß aus? Kapitel 3: #3 [Light] --------------------- Äpfel im Ofen "Geh weg, das muss so." Nein, ich hab keine Ahnung, ob das so muss. Aber tendenziell hab ich erstmal Recht, also verpiss dich und lass den Fachmann ran, hoho! "..du fackelst dir noch die Bude ab." Blöder Pessimist. Aber meine gute Laune kann heute nichts trüben. Gar-nichts! Schon garnicht dieses pseudomürrische Getue. Ich kenn dich doch, du bist doch nur zufrieden, wenn du irgendwas bemeckern kannst. Und insgeheim freust du dich doch auch, gib's zu! Sonst würdest du schon längst wieder in deiner Ecke hocken und irgendwas zocken. Haha, ein Reim! ..und jetzt lass mich das machen. Wenn schon, denn schon. Das wird mein erstes Mal, das muss rundum gigantuös werden! Außerdem sind diese Plastikdinger total stillos und blöd. Dann muss man halt ein bisschen aufpassen und so. Wir sind doch keine Kinder. Übervorsichtig klemmte er eine kleine Metallzange an den Zweig, piekte sich dabei an den kalten, verdammt spitzen Nadeln und fluchte leise. Neben ihm schnaubte es amüsiert, aber bevor er noch Luft holen konnte, nahm ihm Pascal die Arbeit ab. Na, dann sollte der eben machen. Der musste ja auch nicht auf seine Finger achtgeben. "Aber mach nicht so viel kaputt", murmelte er mit Blick auf den Parkettboden, der sich leise knispelnd mit abgefallenen Tannennadeln bedeckte. Das machst du nachher alles wieder sauber. Aber gut, Pascal machte ja sowieso ungefragt immer alles sauber. Guter Mann. Und überbrückte die Zeit bis zum nächsten Reinemachen, indem er die ganzen weiteren Kerzenhalterchen am Baum festklemmte, machte sich lang, um an die Spitze zu kommen. Und zuckte kurz, wie er merkte, dass jemand zwei Arme um seine Taille geschoben hatte. Gut machst du das, sehr gut. Mach nur weiter. Das Hemd riecht nach Pascal, ist ganz warm unter der Wange. Klar, so wie der sich vorhin verausgabt hat. Mit nicht geringem Stolz verharrte der Blick für einige Momente an dem Tannenbäumchen, das sie beide um einen halben Meter überragte - frisch aus dem Wald geklaut, mit Zuhilfenahme einer Axt und zwei Plastiktüten. Und einer Thermoskanne Glühwein. Vor nichtmal zwei Stunden. Und schon steht das nach Wald duftende Kerlchen mitten im Wohnzimmer, behelfsmäßig in einem mit Sand gefüllten Eimer; an nen anständigen Baumständer hat natürlich keiner gedacht. Aber an Kerzenhalterklemmen. Sehr schön machst du das. Boah, riecht das gut. Nach Tanne. So hab ich mir das vorgestellt. Draußen ist's schon dunkel, Kunststück, später knallen wir noch ein paar dieser Äpfel in den Ofen. Ich mag eigentlich keine Äpfel, aber das gehört halt dazu, nich. Das gehört alles dazu. Der Baum, die kleinen Kerzen, Äpfel im Backofen, Glühwein vor allem, Schnee hammer auch dieses Jahr. Alles perfekt. Alles. Alles wunderbar und gigantuös. Davon hab ich schon so lange geträumt. Aber erklär das mal deinen Freunden, die der unverrückbaren Meinung sind, dass Feiertage auch zum Feiern da sind. Und feiern im Sinne von abrocken. Mit dröhnender Musik, viel Alkohol, irgendwelchen Drogen, noch mehr Weiber auf dem Schoß. Und grellpinken, kleinen Plastiktannen mit hellblauem Lametta behängt, äääch. Und dazu noch mehr Alkohol, viel-viel Spaß und glücklich kotzende Gäste, die du kaum kennst, im Klo, über der Schüssel, DEINER Schüssel in DEINEM Klo. Nichtmal zurückziehen kann man sich. Die letzten drei Jahre nur hirnverbrannte, rauschende Party; so laut, dass sie jede Sehnsucht einfach niederbrüllt, bis du selber glaubst, dass das die geilste und einzig wahre Art ist, Weihnachten zu verbringen. Und davor.. naja. Das sind so Dinge, die man erst so richtig vermisst, wenn man sie woanders aufgezeigt bekommt. Wie schön man es eigentlich hatte und es so nie wahrgenommen hat. Vielleicht liegt es auch am Alter. Obwohl. Vielleicht auch nicht. Dieses Jahr wird jedenfalls alles anders. Dieses Jahr ist alles genau so, wie ich mir das vorstelle. Mit Baum und Kerzen und Äpfeln und Geschenken. Ein bisschen Kitsch, ein bisschen vorgegaukelte Nostalgie, dafür aber viel Vorfreude. Und natürlich etwas ganz Besonderes.. "Neech, nicht ganz oben, da kommt doch ein Sternchen hin. Mach das noch irgendwo.. da hin oder so." "Was für ein Sternchen?" "Weiß nicht? Kommt da nicht so ein Sternchendings hin? Ich hab das schon öfter gesehen im Glotzophon." "Ich kenn das mit 'nem Engel." "Die Viecher mag ich aber nicht. Ich hab keine Engel." "Und nen Stern?" Uhm, eigentlich auch nicht. Zugegeben, allzu ausführlich hatte ich das nicht vorausgeplant. Aber Kerzen waren wichtig. Und die sind da. Kein Stern dafür, aber was soll's. Für's erste Mal ist das doch auch so ganz prächtig. Muss ja nicht egonmäßig superkorrekt sein. Ah! "Wir könnten doch was anderes hinhängen? Was Persönliches. Unser ganz persönliches Weihnachten. Da finden wir doch was!" Und während ich noch überlege, was das nun sein könnte, grinst er plötzlich, als hätte er wieder eine seiner wahnsinnig intelligenten Ideen. Und verschwindet kurz im Schlafzimmer. Wehe, der guckt in den Schrank, da steht sein Geschenk! Eine große Box. Ne riesige. Und darin in ne zweite Box. Und darin noch eine. Und da drinnen sind ganz viele kleine Geschenke, nach denen er tauchen und graben und suchen muss, weil alles voller Styroporkügelchen ist. Wird ne Riesensauerei, aber ich will ja auch meinen Spaß haben. Und ganz unten liegt dann der Schlüssel, ich darf die Kamera nicht vergessen. DAS Gesicht will ich auf Band haben! Wah, ich freu mich schon so! Als Pascal wiederkommt, hat er etwas Schwarzes in der Hand, etwas größer als eine Faust; ein Gegenstand, den ich nur zu gut kenne - und ich bekomme nen ausgewachsenen Lachkrampf. Ach herrlich. Herrlich unromantisch und jeder Christ würde bei dem Anblick in empörte Ohnmacht fallen. Ich weiß genau, wieso ich dich liebe. Los, lass uns die Kerzen anzünden, das gibt sicher ein übelst groteskes Bild ab, wenn das warme Licht drüberflackert, wenn es da oben baumelt, an der Spitze. Kapitel 4: #4 [Dark] -------------------- Unser Versteck Momentan haben wir die Auswahl zwischen stockdunkel und nur dunkel. Dunkel ist es tagsüber, wenn sich durch das schmale Fenster da oben an der Ecke ein bisschen dunstiges Licht verirrt. Und nachts fehlt selbst diese dumpfe Lichtquelle. Das Feuerzeug ist schon lange alle. Ich weiß, ich weiß. Ich bin schuld, dass du jetzt nicht mehr rauchen kannst. Versuch's doch mal mit Tabakkauen. War'n Scherz. Für nen Keller ist es zum Glück nicht allzu kalt, liegt vermutlich an den ganzen handwarmen Metallrohren, irgendwelche Leitungen. Ich dachte eigentlich, das Haus wär unbewohnt. Vielleicht sind das.. irgendwelche Versorgungsrohre für die ganze Straße. Immerhin funktioniert auch der Wasserhahn, ohne den wären wir wohl schon längst vertrocknet. Boah, hab ich nen Hunger.. "Okay?" "Mhm." Es ist so leise hier, wir flüstern beide, das gewöhnt man sich an. Zumal die Akustik sowieso jedes Wort verstärkt und ein lautes Dröhnen sollten wir erstens nicht riskieren und zweitens.. ist dieses kalte Hallen unangenehm. Momentan ist die Sicht recht gut, draußen muss wohl die Sonne scheinen. Details schälen sich aus dem Halbdunkel, die ich am liebsten garnicht sehen würde. Diese ganzen dunklen Flecken auf der miefigen Matratze, feuchter Moder an den Wänden, von denen der Putz krümelt. Wahrscheinlich ist das Wasser rostrot, genauso schmeckt es nämlich. Selbst, wenn man es zwei Minuten laufen lässt, es ist abgestanden und schmeckt metallisch. Vielleicht hat auch irgendjemand Gift reingekippt, damit wir krepieren. Der sich da draußen den Arsch ablacht, uns längst gefunden hat und sich nen Spaß daraus macht, uns langsam zu vergiften. Obwohl das garnicht nötig ist, irgendwann ersticken wir in diesem ganzen Dreck hier. Oder verhungern schlicht. Wie lange hält ein Mensch ohne Nahrung aus? Wie lange sind wir eigentlich noch handlungsfähig, nur mit Rostwasser, ohne Licht, eingepfercht in diese betonierte Sardinenbüchse, die an allen Ecken und Enden schimmelt. Gäh. Aber hey, immerhin leben wir beide noch. Ich hab's auch aufgegeben, wach bleiben zu wollen. Deshalb schlaf ich momentan viel. Kurz, aber oft. Auf dieser siffigen, müffelnden Matratze, in der sicher die abartigsten Pilze wuchern und deren Sporen mich wohl irgendwann in ein paar Tagen, wenn wir wieder hier raus sind, anfallen wie heimtückische Ninjas. Also so zu sterben wäre peinlich. Dahingerafft von ein paar ekeligen Bakterien. Ich wart ja eigentlich nur darauf, dass irgendwas derartiges passiert. Pascal steht grade auf, wortlos, rüber zum Waschbecken. Das sicher noch vor dem ersten Weltkrieg eingebaut wurde. So sieht's aus. Leises Plätschern. Während ich angespannt zu dem winzigen Fenster hochlinse, das etwa knapp drei Meter über uns in der Ecke klebt. Darüber ein dünnmaschiges Stahlgitter, eingelassen in dickes, gelbliches Sicherheitsglas. Nichts rührt sich, kein Laut, keine Veränderung. Dann läuft das Wasser, schräg hinter mir. "Hast du was gesagt?" "..nee? Hast du was gehört?" "Hab mich wohl getäuscht. Ich werd noch irre hier." Er wehrt sich auch garnicht, wenn ich mich neben ihn stelle und nach seinem Arm griffel. Er hat sich schon damit abgefunden, dass ich ihn öfter mal anfassen muss. Manchmal gar etwas panisch nach ihm suche und taste, nachts, wenn ich grade aufwache und nicht das kleinste Bisschen Licht verrät, wo wir sind. Dass ich den Kontakt brauche, um nicht durchzudrehen. "Ich auch. Fehlt bloß noch, dass irgendwo ein Bildschirm aus der Wand kommt und uns sagt, wir sollen uns gegenseitig umbringen." "Mit so ner Augsburger Puppenkiste-Marionette?" "Heh. Dann käm' ich mir aber verarscht vor." Wenigstens haben wir noch was zu lachen. Zumindest kurzzeitig. "Mh.. Pascal? Sagst du mir rechtzeitig Bescheid?" "Hä, was rechtzeitig?" "..mh, vergiss es." Ich werd's schon merken. Und selbst wenn nicht. Pascal ist ja auch nicht so der Freund kitschiger Szenen. Kapitel 5: #5 [Rot] ------------------- Mehr Licht, bitte. "Mehr Licht! Wir brauchen mehr Licht hier vorne! Nimm den Strahler von drüben weg, da hinten ist es sowieso zu hell. Beweg dich! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit! ..Nein, nicht direkt, wir wollen keine Überbelichtung. Oder vielleicht doch, aber erstmal ohne. Lass mich sehen. Geh noch ein Stück zurück damit. Okay, versuchen wir's, ihr wisst Bescheid." Lärm, überall rennen Leute herum, geben sich kaum Mühe, sich mal etwas leiser zu unterhalten, rufen sich Anweisungen zu, irgendeiner baut immer Bockmist; von vorne, von der Seite klickt es. Eigentlich unmöglich, sich hier zu konzentrieren, aber irgendwann gewöhnt man sich dran. Licht flammt auf, im Takt dazu, ein kleines, wunderschönes Klickergewitter. Heiß ist es. Unglaublich heiß und grell. Man erkennt in diesem unbarmherzigen Licht jeden Winkel meines Körpers ganz genau - und hier schauen auch wirklich Leute darauf und schieben diesen Menschen im erbarmungslosen Scheinwerferlicht herum, um ein paar winzige Unvorteilhaftigkeiten und Makel zu verstecken, die ich spätestens am Ende des Shootings reingewürgt bekomme. Dort mehr trainieren, da noch ein halbes Kilo zuviel, am Bauch könnte auch etwas mehr Substanz sein. Uff. Aber gefundenes Fressen für die Presse, wenn solche Fotos nach draußen kommen, das geht ja nicht. Also nochmal. Von allen Seiten Licht; Augen, die schauen; Lungen, die Luft holen in dieser grellen Wüste, wenn ich die Position verändere. Fremde Finger, die noch etwas korrigieren, meine Haare übers Gesicht zupfen, diese Beleidigung von "Kleidungsstück" verschieben, die mehr offenbart, als verhüllt. Aber das muss, Image und so. Image ist alles. Und vor allem harte Arbeit. Dadurch, dass jemand unregelmäßig mit dem Zerstäuber an mir herumsprüht, sieht man wenigstens nicht, dass ich wie ein Schwein schwitze, angestrahlt von mehreren Sonnen, die langsam aber sicher mein Hirn weichkochen. Diese Hitze macht unglaublich müde, strengt doppelt an, wenn man dabei noch hochkonzentriert arbeiten muss. Vier Stunden können eine Ewigkeit sein. Am liebsten würde ich meiner Erschöpfung nachgeben und in der Garderobe aufs Sofa fallen. Dann können sie mich alle mal am Arsch lecken. Aber ich bin ja selbst schuld. Hell muss es sein. Hell und viel Licht, immer. Das unterscheidet mich von diesen pseudotragischen Gothicgestalten. Mit sowas will ich mich doch nicht vergleichen lassen. "Den Kopf etwas höher, ja so ist gut!" Klick, klick. "Jetzt den Arm nach vorne, ja, weiter runterlehnen, Kopf schön oben lassen, yeah, schau etwas verruchter, sehr gut, sehr gut." Klick, klick. Klick. Na, das macht doch Spaß. Wenn ich mich vor der Kamera rolle, herumkrieche, an irgendwelchen Objekten oder Menschen klebe, lüstern reibe oder auf Knien rumrutsche. Bis dahin ist meine Birne so stumpf vor Hitze, ich weiß garnicht mehr wirklich, was ich da eigentlich mache. Aber es gefällt. Ich gefalle. Grenzt schon an Pornografie, dieses Geschlängel. Aber wirkt. Macht all die kleinen Unzulänglichkeiten wieder wett, die mir dennoch vorgehalten werden. Der Fotograf ist jedenfalls begeistert, er muss garnichts mehr sagen, nur noch knipsen, während ich mich vor seiner Kamera austobe, im grellen Licht, so dass mein Ego ins Unendliche wachsen muss, damit ich nicht vor Scham im Boden versinke. Aber ich bin doch Profi. Das wird mir jeder bestätigen. Eine kamerageile Schlampe. Dass ich mich nicht schäme. Ob ich mich denn gerne so verkaufe. Ja sicher, wie denn sonst? Und die Kamera liebt mich. Pause. Jemand hat mir ein nasses, kaltes Handtuch besorgt. Guter Mann. Oder Frau. Keine Ahnung, ist auch egal, das ist ihr Job. Ihr verdammter Job. Jemandem ein nasses, kaltes Handtuch besorgen. Loser. Absolute Loser. Sind doch alles verdammte Loser hier. Kann den Neid riechen. Sehen kann ich ihn nicht, oder nur kaum. Ich sehe nur Licht, grelles, strahlendes Licht. Selbst wenn ich die Augen zu habe. Alles hell und weiß und rein. So schön. Weitermachen! Mehr Licht, bitte. Kapitel 6: #6 [Break] --------------------- "Ich dich auch." Ich schäme mich. Es ging furchtbar schnell. Ich bin so anders als du. Wenn du mich sehen könntest. Vermutlich würde es dich mehr abstoßen als alles andere. Würde es mich auch, wenn ich es von außen sehen könnte. Da kann dir keiner einen Vorwurf machen. Würdest dastehen und dich fragen, wozu du überhaupt hergekommen bist. Und es würde dich verletzen, frustrieren, wütend machen. Oder deprimieren. Alles zusammen. Und würdest dich mit mir, für mich, schämen. Es ging schrecklich schnell. Es fühlt sich erbärmlich an. Wenn du mich sehen könntest. Ich habe Angst davor, vor diesem Blick. Deinem mitleidigen, angewiderten Blick. Der fragt, was passiert ist. Wieso. Und wie. Wie konnte das passieren? Schreit mir nicht ins Gesicht, sieht mich nur an und ich will unter diesem Blick wegsterben, um ihm zu entkommen. Dein Blick, der es nicht fassen kann; der mich nicht begreifen kann, nicht nachvollziehen, was mit mir passiert ist. Mich ansieht, wie einen Fremden, der vergessen hat, was Würde ist. Wie man Stolz buchstabiert. Der es nicht wert ist, dass man Mühen auf sich nimmt. Es tut mir so leid.. Es passierte so plötzlich. Ich hatte Angst, in dieses Loch zu fallen. Du kennst das Loch. Du standest doch schon öfter am Rand und hast reingeschaut, dich manchmal drin verloren. Das Loch ist gefährlich. Ich wollte nicht verschluckt werden, hatte Angst, nicht mehr zu leben. Lebendig, aber nicht am Leben. Du weißt, welches Loch ich meine. Ich saß am Rand, hab mich festgekrallt, völlig verzweifelt. Du hättest dich sicher verschlucken lassen. Hocherhobenen Hauptes. Oder auch nicht. Vielleicht wäre es garnicht so weit gekommen. Wahrscheinlich wärst du eher an deinem Lachen erstickt. Dich in Zynismus gerettet. Ich kann das nicht. Ich bin nicht so wie du. So ganz anders. Kein Held. Es waren nur ein paar Stunden. Du hättest Wochen so weitermachen können, ganz sicher. Du bist der Typ dafür. Du hättest das alles ertragen, ohne den kleinsten Riss in deiner Seele zurückzubehalten. Du bist so ganz anders. Härter. Stärker. Trotziger? Ich beneide dich. Was bin ich für ein Feigling. Eine feige Sau. Eine dreckige Hure. Verkauft hab ich mich, mit allem drum und dran. Ich dachte, ich halte es nicht aus. Verzeih mir. Verzeih meine Schwäche. Ich bin nicht wie du. So schnell habe ich aufgegeben. Ich will nicht, dass du mich so siehst. Mittlerweile habe ich mehr Angst vor deiner Reaktion, als vor allem anderen. Vielleicht ist es besser, wenn du mich gar nicht so siehst. Wenn du mich in Erinnerung behältst als das, was ich war. Oder wie du mich zumindest gesehen hast. Als du meine Schwäche noch nicht kanntest. Ich will nicht, dass ich dir deine Erinnerungen an mich kaputtmache. Ich ertrage diesen Blick nicht, der mir mit Verachtung begegnet. Abscheu. Ekel. Enttäuschung, bodenlose. Es tut mir leid, dass ich nicht stark bin! Dass ich den leichten Weg gehe, statt durchzuhalten! ES TUT MIR LEID! Egal, was du sagen wirst. Wie du mich ansehen wirst. Was passieren wird: Ich habe gesehen, wer ich bin; was für eine jämmerliche Gestalt das ist unter dieser glänzenden Schale; wie verrottet und schämenswert mein wahres Ich. Und jedes Mal, wenn ich in einen Spiegel sehe, werde ich mich daran erinnern und mich dafür hassen, was ich getan habe. Mal sehen, wie lange ich diesen Anblick ertragen kann. Kapitel 7: #7 [Heaven] ---------------------- Heiße Nächte (in Palermo?) Ein Stück davon, wenigstens. Und der Rest kommt dann von alleine. Dann ist alles locker, unkompliziert. Und weich und fluffig. Und wunderschön. Wie ein gewisser Jemand. Mit weichen und fluffigen Haaren. Die hemmungslos bearbeitet werden dürfen, harrr. Haut, Haare, dieser Duft.. "Pascal..?" "Mh?" "Schläfst du schon?" "..alberne Frage." Weiß ich doch. Muss trotzdem lachen über meine Blödheit. Ich vergesse vor lauter Glück sogar, wie wir hierher gekommen sind. Aber ist ja auch egal. Solange ich daliegen kann, neben dir, an dir, auf dir. Öfter mal unter dir, aber immer mit dir. Du Stück. Schimpfst mich gierig und kriegst dabei selber nicht genug. Von mir. Und ich von dir. Mrrrr, die Runden brauchen wir garnicht mehr zu zählen. Würde uns sowieso keiner glauben, nicht wahr, Schatz? Wie ausgehungerte Wölfe, so fallen wir übereinander her. Mal grausam, mal schleichend. Dann spielerisch, mit viel Gelächter, bis du mir den Mund stopfst. Und dann wieder rau und wild, als wären wir ungezähmte Bestien im Kampf auf Leben und Tod. Schwitzend, keuchend, fix und fertig. Ein paar Minuten Auszeit, dicht an dicht, du an mich. Aus dem Kuscheln wird nichts, du machst mich jedes Mal wieder so schrecklich heiß, wenn deine Finger irgendwo nur an mir kleben, wenn ich dich so nah an mir rieche, schmecke, fühle, die halbe Nacht hindurch. Dann können wir nicht voneinander lassen, müssen diese wunderbare Zeit ausnutzen. Bis zum Morgengrauen, damit wir, erschöpft, wie wir sind, einfach einschlafen, die ganzen Reize einfach wegschieben müssen, um nicht irgendwann in Ohnmacht zu fallen. Ah, noch ein kleines Stück davon. Dann werden aus zwei scheuen Rehkitzen richtige Berserker, zum Glück bevor sie noch in peinliche Stille verfallen. Mutieren zu blutrünstigen Monstern, ohne Rücksicht auf Verluste. Oder besser, ohne Rücksicht auf das Davor oder Danach. Leben und Sterben für den Augenblick, für die vielen Augenblicke des Glücks, die rigoros ausgekostet werden - was sonst? Wäre ja sonst Verschwendung. Genau, Verschwendung! "Kannst du nicht schlafen?" "Mh." "Ich bin auch noch garnicht müde." Subtilität war noch nie deine Stärke, deshalb muss ich deutlicher werden. Finger kriechen, ignorieren das feine Erzittern der Haut unter sich. Aha, du Sau. Ertappt. Hast dir nichtmal die Mühe gemacht, deine Shorts wieder anzuziehn. Du hast mich erwartet, gelle? Na los, hoch mit dir! Soll ich nachhelfen? Ein bisschen? Oh, doch ein bisschen mehr? Hehe. Die Geräusche, die du machst, sind einfach hinreißend. Du bist überhaupt ganz hinreißend, hab ich dir das schonmal gesagt? Wunderbar und liebenswert, ich könnte schreien vor Wohlsein. Das würde bis zu deinen Lungen hinunterhallen. Arrrh, du machst mich so scharf! Sag irgendwas Italienisches, Don Signore Pasquale! Ein kleines Stück vom Himmel, zerbröckelt, verrieben, gestäubt, gepresst und geschluckt. Wheee! Kapitel 8: #8 [Away] -------------------- Auf und davon Tja. Das war's dann wohl. Mit gemischten Gefühlen starrte er dem immer kleiner werdenden Punkt hinterher, bis die nächste Kreuzung ihn verschluckte, einfügte in den schmalen Verkehr. Franquin fröstelte, obwohl die Resthitze des Tages noch über dem Boden schwebte wie phlegmatischer Nebel. Da stand er nun, am Straßenrand, und kam sich etwas verloren vor. Nach dieser ganzen Zeit zusammen.. Er konnte es noch garnicht fassen, dass er jetzt wieder in die Freiheit abgeschoben worden war. Auf freien Fuß und ausgesetzt wie ein lästig gewordenes Haustier. Er wusste, dass der Vergleich so nicht stimmte und er allen Beteiligten damit Unrecht tat, auch sich selbst. Er sollte sich freuen, die Welt hatte ihn wieder, hatte ihren Joyau wieder. Und die nächste Zeit würde auch alles andere als langweilig werden. Was war zu tun? Presse. Viel Presse, denen er eine zurechtgelegte Story auftischen durfte, das würde hoffentlich anstrengend genug sein, um ihn am Nachdenken zu hindern. Er stand noch eine ganze Weile dort, wo sie ihn abgestellt hatte und musste sich zusammenreißen. Aber er hatte sich so sehr gewöhnt an diese.. Situation, dass es ihm jetzt schwerfiel, sich neu zu orientieren. Ach. Machen wir uns doch nichts vor. Seine Magenschmerzen und dieses betäubende Vakuum im Kopf konnte er schon richtig deuten. Und es würde noch viel schlimmer werden, wenn er erst wirklich begriffen hatte, was er nun eigentlich verloren hatte. Gefunden und wieder verloren - er wünschte, er hätte es nie gefunden. Mit einem Fuß kickte er ein paar kleine Steinchen auf die Straße zurück, ein paar Leute waren unterwegs, aber keiner beachtete ihn. Es war natürlich ganz unmöglich, dass der große Joyau hier alleine herumstand und so ziellos wirkte, als hätte er sein Gedächtnis verloren. Ganz unmöglich. Er wollte es ja nichtmal selbst glauben. Es war notwendig gewesen. Das konnte ja kein Zustand für die Ewigkeit sein. Er war Sänger, er musste wieder auf die Bühne, er hatte Fans, Freunde, Mitarbeiter, die sich um ihn sorgten und innerhalb der letzten Wochen wohl fast wahnsinnig geworden waren vor Angst, dass ihm etwas passiert sein könnte. Nun, passiert war ihm ja auch etwas. Aber anders vielleicht, wie man sich das vorstellt, wenn man von der Sache zu hören bekommt. Entführung. Geiselnahme. Mafia. Schusswechsel. Da denkt keiner an die Menschen hinter den Schlagzeilen. Die Geschichten, die sich entspinnen und Situationen, die sich gerafft genauso unglaublich anhören, wie ein Joyau, der irgendwo in der Pampa neben einer Landstraße steht und nur dumpfe Wut verspürt. Franquin seufzte und riss sich vom Bürgersteig los. Es hat doch alles wieder seine Richtigkeit, mal nüchtern betrachtet. Er war jetzt frei und konnte wieder zurück.. und Pascal würde erstmal untertauchen. War für sie beide doch das Beste. Pragmatisch gesehen sogar die einzig richtige Entscheidung. Freuen sollte er sich, aber der Jubel blieb ihm im Halse stecken. Im Gegenteil hatte er große Lust zu heulen. Jetzt war der Kerl ganz allein, verdammt. Schön, Maria würde ihm helfen. Ihm in den Hintern treten, falls nötig. Bei den ganzen Kontakten.. wäre es ein Leichtes, ihn für ein paar Jahre verschwinden zu lassen. Und dann? Werd ich dich überhaupt jemals wiedersehen? Etwas von dir hören? Ich hab es dir doch angeboten, ich regle das alles für dich. Du kommst nicht in den Knast, wenn Joyau die Hand für dich ins Feuer legt. Aber nein, das wolltest du ja nicht. Wahrscheinlich traust du mir nicht. Als hättest du einen Grund dazu! Als hätte ich dir in der ganzen Zeit auch nur einen Grund gegeben, mir nicht zu vertrauen! Was erwartest du denn noch von mir?! Du sturer Esel, ich hätte dir doch genauso helfen können, gerne, wenn ich nur.. Dann hau doch ab! Verzieh' dich ins Spaghettiland, kriech deinem Herrn Papa vor den Füßen rum, damit er dir den Arsch rettet. Ich hätte doch nie etwas dafür verlangt. Du bist doch mein Freund. Oder warst es zumindest. Für einen Moment lehnte er sich an die Hauswand neben sich, um in der Jacke nach einem Taschentuch zu kramen. Verdammt. Er wollte doch nicht heulen. Ach und wenn schon. Jetzt konnte es wenigstens keiner mehr sehen, er brauchte sich nicht vor irgendjemandem zu schämen. Nicht vor Pascal, der wohl etwas befremdet gewesen wäre. Und nicht vor Maria.. die ihn wenigstens verstanden hatte. Und trotzdem hatte sie zugestimmt, hatte in zurück in den Alltag geworfen, sie liebte ihren Bruder eben und wollte nur das Beste für ihn. Er wusste im Grunde ja genauso, dass es das Richtige gewesen war; dass Pascal den klügeren Weg genommen hatte, rein nach dem Verstand gehend. Da war eben kein Platz für irgendwelche Gefühle, wenn es um sein Leben ging. Mal wieder war er selbst der pure Egoist und dachte nur an sich; und an diese öde Wüste in seinem Brustkorb, die sich noch entwickeln würde. Ihm kam die Galle hoch, während er sich hastig die Augen wischte, aber einmal losgetreten wollte es garnicht mehr aufhören. Himmel, was tat er denn da. Flennte seinem Entführer hinterher, hat man das schonmal gesehen? Und erblickte zwei Häuser weiter ein bekanntes Schild, das verrauchte Lokalitäten und anonyme Problembewältigung mithilfe geistiger Getränke versprach. Oh ja. Er konnte ein wenig Hilfe jetzt gut gebrauchen. Kapitel 9: #9 [Cut] ------------------- Mein Emo-Pony Seit zwei Wochen saß der Scheitel links. Ungewohnt war das, wenn man jahrelang trotz immerwährenden Veränderungen diesen einen Fixpunkt beibehalten hatte. Er wollte nicht soweit gehen, zu behaupten, das könnte man mit seinem Weltbild vergleichen. Das Verlieren dieses einen festen Halts im Leben - das stimmte nicht. Er hatte einen Halt, auch, wenn er kurzzeitig verschwunden war und ihn mit blanker, nackter und existenziellen Angst konfrontiert hatte. So allein hatte er sich nie gefühlt, nichtmal damals. Klar, da hatte er auch noch nie das Zusammen geschmeckt. Man kann nur etwas vermissen, was man vorher kennengelernt hat. Ordentlich zog er die Linie zwischen den Haaren, die Pupillen auf die Haaransätze fixiert, mit Stielkamm wurden ein paar widerspenstige Einzelhaare zu ihrer vorgesehenen Seite genötigt und glattgekämmt. Momentan verzichtete er auf ausgefallene Frisurenkonstrukte. Dazu waren sie auch zu kurz. Er begnügte sich damit, sie zu kämmen, lange, mit einem feinzinkigen Kamm aus Horn, minutenlang, obwohl sie schon so weich und artig lagen wie eine neue Perücke. Gewissenhaft zog er den Pony glatt, Scheitel links, die Strähnen rechts tief in die Stirn hinein, vorsichtig bis zur Wange hinuntergekämmt. Nichts zu sehen, das beruhigte ihn. Mit einem Ruck warf er den Kopf zur Seite und wieder zurück in Ausgangsposition, da, siehst du, da sieht man noch was. Also nochmal. Neuer Scheitel, noch weiter links, wieder kämmen, vorsichtig die Haare neu sortieren, noch weniger Gesicht, immer mehr Haut unter der weißen Flut verscharrt. Ich seh aus wie ein scheiß Emo. Wie ein verdammter Emo! Scheiße, scheiße, scheiße! "Scheiße", murmelte er tonlos und legte seine flache Hand auf die Stirnhaare, die nun fast schon zwei Drittel seines Gesichts verdeckten. Drückte sie platt. Kämmte sie dann wieder locker. Wie ein verdammter Emo. Mit einem Seufzen lehnte er sich weiter über das Waschbecken dem Spiegel entgegen, drückte sich mit dem Zeigefinger auf die linke Augenbraue. Ein dünner Riss zog sich schräg durch die dunklen Haare, kaum zu sehen. Nur, wenn man ganz nahe ranging. Er strich ein bisschen darauf herum, ganz zart, fast liebevoll. Die andere Braue rührte er nicht an, er wollte den weißen Vorhang nicht zur Seite schieben. Den Emopony. Ist doch scheiße, Mann! Seine Finger griffen fest um das kühle Porzellan des Waschbeckens, aber seine Fingernägel rutschten auf dem glatten Material ab, als er sich festhaken wollte. "Ich seh aus, wie ein scheiß Emo. Du Arsch!", knurrte er sein Spiegelbild an, das genauso garstig zurückknurrte. Wieso auch nicht, er hatte ja Recht. Sah aus wie einer und verhielt sich aus so. Haha. Nur das Ritzen hatte ihm jemand abgenommen. Vielleicht ist das ja garnichtmehr so schlimm.. vielleicht.. Mit einem Finger fuhr er unter diesen grausigen, emomäßigen Vorhang, der sich über die ganze rechte Gesichtshälfte erstreckte, schob ihn langsam zur Seite, als hätte er Angst, mit zu hastigen Bewegungen eine Tretmiene auszulösen. Der dunkle Strich begann genau zwischen seinen Augen, verlief mit beängstigender Präzision schräg abwärts durch die schmale Stelle zwischen Nase und Auge bis zur Mitte der Wange. Stoppte dort, beschrieb einen spitzen Winkel und kletterte wieder hinauf, diesmal dicht an der anderen Seite des Auges vorbei, endete schräg über der rechten Braue. Rotes Braun, zwei zugespitzte dicke Linien, ein V. Franquin starrte lange auf diese perverse Form eines Stempels, nicht der einzige, aber der prägnanteste. Der sein Gesicht entstellte, für Monate, vielleicht für immer, wenn er Pech hatte. Er wollte nicht für immer als Emo herumlaufen. Die Schrei- und Heulphase hatte er zwar schon hinter sich, aber der Anblick war trotzdem noch jedes Mal verstörend. Wenn das ganze Zeug wieder in ihm hochkroch und ihn minutenlang in einen tauben Stupor schickte. Er zuckte wie ertappt zusammen, als es an der Tür klopfte. "Frankie..? Alles okay?" Dumpf klang die Stimme durch die massive Holztür. Angeredeter griff nach dem beige-braun gefleckten Kamm und strich den Pony wieder glatt. Nix mehr zu sehen. Das ist gut. Vielleicht noch ein bisschen mehr..? Zur Sicherheit. Bah.. selbst ein Emo würde mich damit auslachen. "Jaja. Alles klar. Ich komm gleich." Wenn ich hier fertig bin. Ich will nämlich nicht, das du das siehst. Ich merk doch genau, was du fühlst, was dir bei diesem Anblick durch den Kopf geht; wie du ausweichst und trotzdem immer wieder daran hängenbleibst und mich so.. anguckst. Du denkst wohl, ich merk das nicht. Dann hab ich doch lieber nen Emo-Pony in der Fresse. Kapitel 10: #10 [Breathe] ------------------------- Make me smile Gähnend lungerte er auf der Couch herum, noch zu wach zum Schlafen, aber zu müde, um sich großartig zu betätigen. Glotzte schon seit Stunden in die Kiste, die ihm mit der ganzen Handyklingeltonwerbung mittlerweile ganz schön auf die Nerven ging und schielte alle paar Minuten zur digitalen Uhr, die ihm vom DVD-Spieler entgegenleuchtete. Exakte Zeit war das. Ihm war das bisher eigentlich immer egal gewesen, er konnte sich noch gut an die Zeiten erinnern, in denen das Display penetrant geblinkt hatte. Hatte ihn damals nie gestört, aber Pascal hatte es ganz verrückt gemacht. Keine zwei Tage hier und er hatte sich davorgesetzt, im Schneidersitz, erstmal den ganzen Player konfiguriert oder eingerichtet, irgendwelche Einstellungen eben vorgenommen. Seitdem passte auch das Format und das Display zeigte beim Standby die genaue Uhrzeit. 'Atomzeit. Das ist pariser Weltzeit.', hatte er erklärt. Pariser, was? Haha. Für den schlechten Wortwitz hatte er sich ein schiefes Grinsen eingefangen. Lust, mal bei der Uhr vorbeizuschauen? Nah, so groß war das Interesse dann doch nicht. Seitdem konnte er sich auf die Uhr im DVD-Player verlassen. Seit vielen Monaten. Beim nächsten Stromausfall würde er ein Problem haben. Dann würde die Anzeige wieder blinken, auf 00:00 stehend und drauf warten, dass jemand sie nach Atomzeit stellen würde. Die blaugrünen Ziffern leuchteten ihm ein nüchternes 2:54 entgegen, eigentlich höchste Zeit, sich ins Bett zu bequemen. Aber wozu, Schlaf würde er sowieso keinen finden. Nicht, bis das Telefon geklingelt hätte. Sein Zeige- und Mittelfinger trippelten etwas lustlos auf dem Couchtisch herum, angelten sich irgendwann eine in dieser staubigen Sauerei herumliegende Zigarette. Er wusste gar nicht mehr, wieso er sie überm Tisch ausgeleert hatte. Vermutlich aus einem spontanen Wutanfall heraus, oder auch einfach aus Langeweile. Wütende Langeweile, haha. Here I am now, entertain me. Mit Blick auf den Fernseher, der gerade ein neues Video seiner Erzkonkurrenten in sein Wohnzimmer spuckte, fingerte er nach dem Feuerzeug und entflammte die Spitze der Nikotinquelle, während er einen tiefen Atemzug nahm. Einen Moment hielt er inne, beobachtete den Sänger von Red Five, der mit seinem abgekupferten Falsettogegurre seinen neusten Song auf den ersten Platz der Charts katapultiert hatte. Schwarze, lange Haare, die Spitzen in feuriges Rot getaucht. Klammerte sich am Mikrofon fest, als wäre es eine fremde Kehle, die es zu erdrosseln galt. Der Gitarrist schüttelte indes seine truen Haare zwischen die Saiten. Wie Metal, ernsthaft. Dann ließ er den Rauch aus der Lunge, ganz ruhig hauchte er die Wolke aus - er ärgerte sich schon lange nicht mehr. Der Dampf hielt sich einen Moment vor seinem Gesicht, bevor er nach oben verdunstete.. oder was er auch immer machte, war ihm auch egal. Mit der Linken griff er nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher auf stumm, das hohe Gekreische machte ihn ganz aggressiv und er wollte nicht schon wieder irgendwas kaputtmachen, über das er sich später dann aufregte. Reichte schon, wenn er dem Treiben da zusehen musste, den Text kannte er sowieso auswendig. "Take my breath, take my heart and make me smile. Settle down - in my mind, vandalize my wall and make me smile." Blöder Kitsch. Das Telefon klingelte 3:04, während animierte Handys über den Bildschirm tanzten, eine Liste aktueller Klingeltöne zum Supersparpreis anboten. Er starrte auf die Liste, über 50 Songs. Er stand auf Nummer 47, gleich hinter "My chica chica lemonade" von B4One. Dann, nach dem fünften Klingeln nahm er ab. Ohne auf das Display zu sehen meldete er sich mit "Bonsoir Danny". Seine Stimme war rauer und wohl etwas tiefer, als noch vor einem halben Jahr. "Tut mir Leid, dass ich so spät anrufe." Die Stimme am anderen Ende klang verschlafen, etwas monoton. Natürlich, du hast es vergessen. Mit geschlossenen Augen zog er seelenruhig an seiner Fluppe und lauschte den raschelnden Geräuschen, die zu ihm durch die Leitung drangen. Na, mit wem liegst du grade im Bett? Bist dort eingeschlafen, nicht wahr? "Du bist noch wach? Wieso bist du nicht ins Bett?" "Bin nicht müde." "Hör mal, Fr.. Joyau. Du kannst nicht jeden Tag drauf warten, dass ich anrufe! Geh endlich ins Bett! Hast du deine..?" Er schielte über den Tisch, der angebrochene Streifen lag etwas verdreht in Reichweite, neben dem Aschenbecher. "Hab's vergessen." Danny seufzte hörbar an seinem Ohr, er konnte die nicht sehr gut unterdrückte Genervtheit dabei deutlich heraushören und grinste schal. Du weißt, dass ich dir ins Gesicht lüge, gell? "Dann nimm sie wenigstens jetzt! Und dann geh ins Bett. Ich.. ich komm morgen mal vorbei. Ich glaub, wir müssen reden." Frankie antwortete nicht darauf, er nahm das mobile Telefon vom Ohr, sah es einen Moment lang an und drückte die Person am anderen Ende weg. Lehnte sich gemütlich in die Couch hinein und rauchte zuende. Kapitel 11: #11 [Memory] ------------------------ Pizza > Quiche "Kann ich deinen Pizzarand haben?" "..wenn du magst?" "Dann schonst du auch deine Beißerchen. Und ich knabber doch gerne." Und das mein ich nichtmal anzüglich. Pascal hat grad ein bisschen Zahnweh, deshalb brummt er auch nur leise und schiebt die abgefressenen Ränder auf meinen Teller rüber. Das arme Ding. Zahnschmerzen sind evil. Er trägt's mit Fassung - und wahrscheinlich wartet er auch drauf, dass ich ihn höchstpersönlich zum Zahnarzt trage. Von wegen Sprachbarriere und so; am Arsch. Der Doc sieht doch auch ohne Erklärungen was los ist und Schmerzenslaute interpretiert sowieso jede Kultur gleich. (Außer Kannibalen vielleicht, bei denen stellt sich der Pavlov'sche Speichelfluss ein, wenn sie jemanden kreischen hören.) Stellt sich an, der Junge. Hab ihm schon was versprochen, wenn er diese Woche noch hingeht, aber er springt nicht drauf an. Vielleicht brauch ich ein paar gewichtigere Argumente. Oder ich hau mal für nen Tag ab, dann geht er in der Zwischenzeit bestimmt. Und wenn ich wiederkomm', tut er dann so, als wär das Zahnweh von alleine verschwunden, ha ha! Ich kenn doch euch Kerle. Aber wenigstens kann er dafür gut kochen. Und sauber machen. Insofern gleicht er seinen Testosteronüberschuss wieder ein bisschen aus. "Ich schätze mal, das ist ein wohlgehütetes, original italienisches Mamma Santargo Pizza-Rezept, was?" "Ich hab's aus nem Kochbuch..?" "Ah bäh, zerstöre meine Illusionen nicht! Ich denk bei Pizza immer an diese Alberto-Werbung und den Spaghetti mit dem Schnauzer, der ein bisschen ausieht, wie der Bruder von Super Mario." Er grinst und wirft mir ein "Luigi" an den Kopf. Pascal als Pizzabäcker, das wär's. Der würde das Klischee zu 100% erfüllen. Tagsüber der emsige Fladendreher und nachts der kaltblütige Mafioso, so wie es jeder aus der Presse kennt. Der im Hellen Fische auf Pizzen trockenlegt und im Dunkeln die Pizzafresser dann zu den Fischen legt. Hohoho. Ich find's lustig, aber Pascal ist wohl nicht in Stimmung für Mafiawitze. Zu wenig Promille, das eine Bier ist etwas mickrig. "Was ist eigentlich mit deinen Eltern?" Die Frage kommt unvermittelt, aber ich hab damit gerechnet, dass sie irgendwann kommt. Hatte eigentlich schon viel früher damit gerechnet, wenn ich ehrlich bin - aber es ist ja auch nicht so wichtig. Und mir ist es ganz lieb, wenn ich es schnell hinter mir habe, dann muss ich keine Angst mehr haben, dass es zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt auf den Tisch kommt. "Weißt du doch, ich hab keine mehr." Vielleicht weißt du es auch nicht mehr, das is aber egal. Es war Nacht und wir waren mal wieder stockbesoffen. Und dein Gedächtnis ist ja auch nicht grade sehr zuverlässig. Ist manchmal sogar ganz vorteilig. "Mh." Stille, in der ich ungerührt Pizzarand knuspere. Na los, frag halt. Dann haben wir beide diese lästige Pflicht erfüllt. "Wann war.. ich mein, schon sehr lange?" Hoho. Wenn du wüsstest, WIE lange. Das ist fast schon lustig. "Oh, schon ne ganze Weile, ja. Unser Haus is damals abgebrannt, als ich bei ner Tante in den Ferien war. Ich war garnicht da, als das passiert ist. Ich bin danach dann ganz zu ihr gezogen." Das ist zumindest die offizielle Version, die wir ausgeknobelt haben, Danny und ich. Wasserdicht ist das nicht grade, aber für die Bravo reicht's. Ich seh's dir an, dass du grade am Überlegen bist, ich hab dir damals etwas anderes erzählt - aber das weißt du sicher nicht mehr so genau. Ist auch gut so und garnicht weiter schlimm. Wenn ich jetzt anfangen würde.. näää, das würd ich mir selber auch nicht abkaufen. Noch mehr Verwirrung ist auch nicht besonders förderlich momentan, nicht wahr? "Ahso. Und hattest du Geschwister?" "Jepp. N' paar gleich. Aber mit denen war ich nie sehr dicke." Na komm, jetzt guck nicht so. Ich weiß, es irritiert dich zutiefst, dass ich mal ausnahmsweise nicht abgehe wie die Dramaqueen schlechthin; obwohl ich ganz unüblicherweise wirklich mal nen berechtigten Grund dazu hätte. Wäre natürlich auch ne Möglichkeit gewesen, jetzt volle Kanne auf die Tränendrüse zu drücken und mitleidig zu plärren, dass ich nicht darüber reden will, weil es ja sooo furchtbar schmerzhaft ist (was ich bei sehr penetranten Fragestellern auch schon machen musste, jeez..) - das wäre für dich vielleicht sogar weniger verstörend, aber dafür doppelt so unangenehm. Pascal hat es ja nicht so mit trösten. Das wäre mehr awkward, zumal ich nichtmal in Stimmung bin. Und so berechnend, um auch noch erzwungenes comforting aus meiner Lüge zu schlagen, bin ich dann doch nicht. "Is' schon okay, mir geht's ja ganz gut, wie man sieht. Hab zwar nie gelernt, wie man ne Quiche macht, aber das kann ich glaub ich grade so noch verkraften." Wäre Pascal nicht Pascal, wäre dieses Thema wohl ein ganzes Stück problematischer. Aber der Mann neigt nicht dazu, sich fremde Probleme aufzuhalsen und auch noch darin herumzustochern, um vielleicht irgendwas zu finden, das man therapieren könnte. Ahaha, nein. Pascal nicht. Und dieses Desinteresse ist mir in diesem Moment auch ganz recht - das hält mich vom weiteren Lügen ab. Ich mach das nicht gern, glaub mir. Aber ich weiß, dass es dir sowieso nicht besonders wichtig ist, deshalb macht es auch nichts. Mir ist es ja auch nicht wichtig, also scheiß drauf. "Außerdem mag ich Pizza viel lieber als Quiche. Isst du das noch?" Kapitel 12: #12 [Insanity] -------------------------- Albtraumtänzer Geliebte, urbane Geräuschkulisse, die Nacht nach weit oben verbannt, angenehme Kühle weht unsichtbar vorbei und kitzelt in der Nase. Ein Schrittchen voran, ein Fuß vor den anderen, der schmale Grat zwischen Himmel und Hölle, nur klappt das mit der Anmut nicht mehr so gut. "Komm da runter." "Leck mich!" Franquin lachte und ruderte mit den Armen, als er ein weiteres Mal mit der Balance kämpfte, prustend und gackernd, hoch über den Dächern der Stadt. Und catwalkte so überzogen auf der Brüstung des alten Theaters herum, als wäre er beim Varieté gelandet. Es machte ihm Spaß, seinen unfreiwilligen Zuschauer zu ängstigen, das war überdeutlich. "Lass den Scheiß, ich hab's ja kapiert. Geh da runter, das macht mich nervös!" "Aaah, die Welt liegt mir zu Füßen! Siehste das? Der höchste Punkt der ganzen Stadt! Ich tanz' euch allen auffm Kopf rum, ihr dreckigen Wichser, WHO'S YOUR DADDY, WHO'S YOUR DADDY!!" Seine Stimme kreischte schrill die Häuserschlucht hinunter, er beugte sich über die ungesicherte Kante, um seinen harschen Worten nachzuglotzen, schwankte für einen Moment gefährlich in der Septemberluft, fing sich aber gleich wieder und gackerte hell, als sein Begleiter aufgesprungen war. Er lachte, lachte ihn aus und gab provokant eine Parodie des sterbenden Schwans auf dem schmalen Sims ab, grinsend, mit dem Hintern wackelnd wie eine notgeile Gogo-Tänzerin. Na, hast du Angst? "Sag's mir: Who's your daddy, mein kleiner Feigling?", gurrte er und balancierte ein paar Schritte zu dem Spielverderber zurück, in seinen schrecklich kitschigen weißen Cowboy-Stiefeln mit viel zu hohem Absatz. Aber er stand erstaunlich sicher darin. "Der Fernsehturm ist höher." "Ach fick dich doch, Klugscheißer! Du bist'n Arschloch, ein richtich blödes Arschloch!" "Hör auf.." "Sonst was? Was machst du sonst mit mir, hä?! Ahahaha, ich kann den Leuten auf'n Kopf spucken! Is das GEIL!" Geil ist das, endgeil. Die pure Freiheit und ein leerer Kopf, ausgefegt, mit dem Hochdruckreiniger alles Gekritzel weggefetzt, noch ein paar Reste eines roten Eddings an den Wänden. Schädeldecke! Hirnrinde! Grünspaneske Herzkranzgefäße!! Dieses Kribbeln ist der reine Wahnsinn. Tiefe, grausige Tiefe, aber keine Höhenangst, im Gegenteil. Gebt mir ein Seil! Da wackel ich auch noch drüber, zwischen den Dächern, hoch über der Straße, nur für mich, für dich, für uns zwei; nicht wie diese aufmerksamkeitsgeilen Wannabe-Seiltänzer im Park, die auf irgendwelchen zwischen Bäumen gespannten bunten Bändern herumstolzieren und sich dabei toll vorkommen. Oder noch schlimmer, diese peinlichen Jongleure. Oh, seht her, ich kann drei Bälle durch die Luft werfen. Ihr Loser! Oder sonstige sogenannte Akrobaten. "Ich könnt ma' n'Handstand versuchen. Das sieht sicher arschig geil aus von weiter weg. Oder von unten. Hassu nich' Lust, runter zu gehn und ein Foto zu machn? Ich mach dann nen Handstand. Hehe, yeaah!" Erst jetzt schenkte er seiner Linken wieder Beachtung, eine fast leere Halbliter-Flasche hing nämlich darin wie eine natürliche Verlängerung seiner klammernden Finger - kein Wunder, hatte er sie ganz vergessen. Der klägliche Inhalt schimmerte im Licht der rosafarbenen Neonreklame hinter ihnen logischerweise auch in einer pinken Farbnuance, wirkte wie eine Mischung mit diesem furchtbaren Red-Bull-Zeug, das nach viel zu süßen Gummibären schmeckte und von deren Geruch ihm normalerweise schon das große Kotzen kam. Nein, sein Getränk war sehr viel stilvoller; auch wenn es viel von seinem Stil einbüßte, indem es einfach aus der Flasche gesoffen wurde wie billiger Fusel. Er nahm einen großen Schluck, setzte ab und keuchte ein Lachen in die siffige Luft, die gerade vom Boden aufstieg, um sich ein paar Meter weiter über ihm mit kühleren Winden zu vermischen. "Du macht hier keinen Handstand! Und komm jetzt endlich da runter, verdammt nochmal!" "SAG MIR NICH, WAS ICH ZU TUN HAB!", blaffte er zurück, viel zu laut, zu schrill, "HALT DEINE VERFICKTE SCHNAUZE UND KOMMANDIER' MICH NICH HERUM! ICH MACH, WAS ICH WILL! UND NICHT DAS, WAS DU WILLST ODER SONST EINER, KAPIERT?!" "Du benimmst dich wie ein kleines Kind." "FRESSE!! HALT! DEINE! BLÖDE! FRESSE!" "PASS AUF, WO DU HINLÄUFST!" "LECK MICH AM ARSCH, ICH LAUF' WO ICH WILL! UND WENN ICH BOCK HAB, SPRING ICH EBEN RUNTER UND WENN ICH BOCK HAB, FANG ICH EBEN AN ZU FLIEGEN UND WENN ICH BOCK HAB, STOPF ICH DIR DEIN BESCHISSENES MAUL!" "Frankie.." Alkohol. Flüssigkeit. Seine Stimme hatte sich ein paar Male überschlagen, als wäre er mitten im Stimmbruch, verlangte nach einem Schmiermittel, der scharfe Alkohol brannte in seiner Kehle. Aber tat gut. "Nix da "Frankie", geh mir nich auffn Sack mit dei'm Gelaber, ich bin nich dein.. Wasweißichwas! Ich bin dein Garnix mehr, verstanden? Capisce? Soll ich's dir noch auf Spaghetti übersetz'n?!" Ein Taumeln, das ganze Schreien und Luftholen hatte ihn schwindelig gemacht und er hatte das Gefühl, zu fallen. Er fand es interessant, wie wenig ihn diese Tatsache juckte. "Du bist stockbesoffen." "Erzähl mir was Neues, Sherlock." "..es tut mir leid, okay?" "Scheiß drauf. Mach doch, was du willst. Mach ich auch. Sieh her!.." Und nun lachte er wieder, drehte sich wie ein Kreisel und verlor nun endgültig das Gleichgewicht - zum Glück fiel er auf die sichere Seite und legte sich hart auf den betonierten Boden, es klirrte. Pascal stand wie eine Salzsäule daneben, genauso bleich und wasserlöslich. Unter anderen Umständen hätte ihn dieser Anblick gerührt, aber dafür hatte er jetzt keine Nerven. Er musste aktive Sterbehilfe betreiben, metaphorisch zumindest. "Hol mir ne neue Flasche." Verdammte Scheiße. "Prontissimo! Und wennu morgen auch nur ein Wort erwähnst, bring ich dich um." Kapitel 13: #13 [Misfortune] ---------------------------- Hsgrmbl. "Dreitausend-fünfhundert-zwölf", murmelte er, "und ein paar Zerquetschte. Abzüglich hundert fürs Taxi, fünfzig für die Bar-" "Mach da auch hundert draus. Die Drinks sind hier sackteuer. Was denn, ich denk hier nur an dich, ich rühr keinen Tropfen Alkohol an, großes Indianerehrenwort!" "Also nochmal hundert", fügte er ansonsten kommentarlos an, aber dafür mit einem langen und nicht besonders begeisterten Blick zum Spiegel, unter dem Pascal hingebungsvoll herumhantierte. Nie wieder, das schwor er sich. Nie wieder würde er mit Pascal über irgendetwas wetten, und wenn es ihn den Stolz kosten würde! Franquin setzte sein Gesäß halb auf das Waschbecken auf, um etwas gemütlicher zu warten. Obgleich es keinen Unterschied machte zu seiner Laune, die ziemlich weit im Keller hing. Wie erbärmlich! Auf der Toilette! Aber Pascal war das anscheinend gewohnt (oder auch nur scheißegal), er war jetzt schon euphorisch genug, um ihm irgendwelche Bewusstseinserweiterungen vorzugaukeln, während er das feine weiße Pulver zu einer Linie zusammenkratzte, die er auf den weißen Kacheln fast nicht erkennen konnte. Verfluchte Wette! Dazu würde er sich nie wieder hinreißen lassen, das könnte der sich abschminken. Es war gruselig, Pascal so aufgeregt zu sehen, so lebhaft und fröhlich wie ein Kind vor einem riesigen Berg Geschenke, die alle ihm gehörten. Er fand das nicht gut, aber versprochen ist versprochen und Spielschulden sind Ehrenschulden. Auch wenn er sich dafür in den Hintern beißen könnte. Das würde ja wieder anstrengend werden heute abend. "Also Dreitausenddreihundert. Grob. Das reicht?" "Das ist mehr als genug", summte Pascal begeistert und schielte auf seine Brieftasche, in der er gerade nachgezählt hatte. "Skalpell, bitte." "Grins nicht so bescheuert. Man könnt meinen, du bist schon total high", seufzte er und fingerte einen Hunderter aus dem Portemonnaie, den Pascal sogleich zu einem dünnen Röhrchen einrollte. Igitt, schniefen ist doch total ekelig. Ein guter Grund, wieso er selbst weder Speed, noch Koks oder sonstwas derartiges konsumieren würde, das machte die Nase kaputt. Und keiner konnte ihm erzählen, dass sich das toll anfühlte, wenn das ätzende Zeug sich an die Naseninnenwände klebte und Löcher reinfraß, guah. Zwei Momente später war Pascal auch schon fertig, reichte den Geldschein zurück, aber Franquin verneinte dankend. "Das angesiffte Ding kannst du behalten. Kannste ja einem Croupier als Trinkgeld geben, wenn er gut war." "Ich geh nicht an den Roulettetisch", erklärte Pascal mit feierlichem Blick in die reflektierende Fläche, um eventuelle Überbleibsel zu entfernen. Aber er war sauber und grinste zufrieden sein Spiegelbild an. "Jaja, ich weiß, du pokerst nur. Weil Pokern was für coole Jungs ist, schon klar." "Und Black Jack." "..und Black Jack", brummte er und packte den Geldbeutel wieder in die Gesäßtasche. "Die Kartengeber werden Dealer genannt." "Nein, wie passend", ächzte Franquin und schwankte mit dem Kopf kurz zur Tür, die aufgesprungen war. Ein untersetzter Mittvierziger warf einen schnellen Blick zu ihnen und verschwand dann in einer der Kabinen. War anscheinend keine Seltenheit hier, dass sich die Klogänger bei Gelegenheit noch etwas reinpfiffen. Mann, Mann, Mann. Er hatte keine Lust, die ganze Nacht den Aufpasser zu spielen - aber noch viel weniger Lust hatte er auf Pascals hyperintelligenten Ideen, die er vorzugsweise bekam, wenn er von dem grausigen Zeug herumgekickt wurde. "Bist du fertig? Na dann los, ich muss noch die Jetons besorgen. Und du kommst gefälligst mit, ich behalt dich ab jetzt im Auge. Ich hätt mir ne Hundeleine besorgen sollen." "Ah, darauf stehst du also, sehr interessant.." "Ooh, halt die Klappe. Muss ich mir jetzt etwa den ganzen Abend diese Sprüche anhören?" "Verloren ist verloren." "..hsgrmbl." Kapitel 14: #14 [Smile] ----------------------- Shake it! "Bitte lächeln!" Uuuund klick! Der erste Schritt zu einem freien Leben. Das leise Rattergeräusch war fast nicht zu hören, als das EtwasmehralseinQuadratichhabdasWortvergessen durch die Schnellbildkamera geschoben wurde, schon sehnlichst erwartet von einem Franquin in Euporiestimmung und geschätzten eineinhalb Promille im Hirn. Ungeduldige Finger zupften das Blättchen aus dem Schlitz und wedelten damit durch die Luft. Shake it like a polarooooid! .. the polaroid. Ah, was auch immer. "..und wem willst du das jetzt schicken?", erkundigte sich Pascal misstrauisch, aber dem war ja grundsätzlich erstmal alles suspekt. Vor allem, wenn es mit einer Kamera zu tun hatte. Scheues Huhn. Aber das findet manchmal auch einen Korn. Höhöhö! "Das kriegt.. mal seh'n, Basket vielleicht. Oder dem Manager, der kann das gleich an die Presse weiterdingsen. Weil, das muss und so." Total logische Erklärung. Aber eigentlich auch voll nachvollziehbar. Welcher Geiselnehmer macht schon lustige Polaroids mit seiner Geisel. Ne? Er glotzte auf das Foto, das sich langsam entwickelte und musste erstmal anständig gackern, als sich da zwei aneinandergequetschte Grinsebacken aus dem Dunkel schälten. Oder zumindest.. waha. "Oh Goooott, kannst du auch mal nicht total bescheuert gucken?! Du siehst aus wie ein.. Tapir!" "Wtf! Ich guck' doch nicht wie ein Tapir! Wieso überhaupt Tapir, lass mal sehn, ichbindochkeinTapir!" und riss ihm das Foto aus der Hand, während Franquin sich ein bisschen kugelte. Musste aber gleich darauf husten, der Boden war ziemlich staubig und jede Bewegung wirbelte eine Menge davon auf, die jedem Feinstauballergiker ein aufgedunsenes Gesicht beschert hätte. "Weißt du überhaupt, wie ein Tapir aussieht?" "Nö, aber dein Gesichtsausdruck klingt danach. Ich hab doch gesagt, du sollst lächeln!" "Das IST mein Lächeln, verdammt!" "Bahahaha! Komm, das machen wir nochmal, und diesmal kein tapirmäßiges Gegrinse deinerseits, Freundchen!" "..gack!" Und einmal der Schwitzkasten im Kasten, hoho! "Käse!" Das wird der Brüller. Muss nur zusehen, dass ich genug Bilder mache, damit ich noch ein paar abzwacken kann. "Wir müssen mit dem Edding noch den Gruß draufschreiben. 'Jo Basket.' Nein, warte, das wird cooler, 'Hoi mein Schokobär!', uhm, das klingt etwas schwul." "Käch, und ist zudem geklaut." "Sei still oder schlag was besseres vor! Tapirgesicht!" "Ich geb dir gleich Tapir-" "Wuahahaha, nicht die Rippen, NICHTDIERIPPENAHAHAHA!" Kapitel 15: #15 [Silence] ------------------------- Freizeichen Tuut-Tuut. Tuut-Tuut. Komm schon, nimm ab! Verdammt nochmal! Tuut-Tuut. Tuut-Tuut. Du blöder, sturer Esel! Geh ran! Tuut-Tuut. Tuut-Tuut. Du ... rah, Idiot, du siehst doch, dass ich anrufe! Jetzt stell dich nicht so an und geh an dein verfluchtes Handy! Tuut-Tuut. Tuut-Tuut. Pascal!! Tuut-Tuut. Tuut-Tuut-Tuut-Tuut-Tuut-Tuut-Tuut-Tuut. Scheiße scheiße scheiße! Entnervt feuerte er sein Mobiltelefon auf die Couch, feuerte sich einen Moment später dazu, stand wieder auf. Lief zur Tür, spähte durch das Fenster daneben, angestrengt, trommelnte Fingerspitzen auf dem Fensterbrett. Okay, dann hatten sie sich eben gezofft, aber das war doch nun wirklich nichts Außergewöhnliches. Vielleicht hatte er ein bisschen übertrieben, zugegeben, aber das war doch noch lange kein Grund, jetzt wirklich abzudampfen und.. Mann, Mann, MANN! Du riesengroßer Idiot! Das kann doch nicht dein Ernst sein! Nein, das ist auch nicht dein Ernst, du willst mir doch bloß Angst machen. Wahrscheinlich stehst du hinterm Haus und kettenrauchst deine Wut runter, ich kenn dich doch! Nicht, dass er da nicht schon längst nachgesehen hätte. Er ist wirklich weg, seit ungefähr zwei Stunden. Mit dem Wagen. Weg. Normalerweise geht er wenigstens zu Fuß, wenn er mal wieder genug hat. Oh Mann, Mann! Das kann doch nicht wahr sein! Er war ja schon so weit, zuzugeben, dass er eventuell Scheiße gebaut hatte, dass er mal wieder überreagiert hatte, aber zum Teufel, Pascal kannte ihn doch mittlerweile! Das meinte er doch nicht ernst. Oder zumindest nicht lange, dann tat ihm wieder alles leid, dann standen sie wieder zusammen und rauchten auf dem Balkon, entweder verzog sich danach jeder in eine andere Ecke oder zu zweit ins Schlafzimmer. Oder sonstwohin. Das klappte doch sonst auch immer! Und wieso heute nicht? Okay okay. Vielleicht braucht der Knabe auch einfach nur ein bisschen Ruhe. Daran ist ja erstmal nichts auszusetzen. Aber da gibt man doch wenigstens Bescheid! Er machte sich Sorgen, gerade weil Pascal so ein Kerl war, der spontanen Ideen nur zu schnell nachgab, obwohl sie nicht immer die intelligentesten waren. Vielleicht hatte er jetzt grade schon einen Unfall gebaut, lag irgendwo verblutend im Wald, wo ihn keiner finden würde! Oder hatte sich irgendwo verfranst und drehte gerade durch, weil alle um ihn rum nur französisch redeten und ihn nicht verstanden, wenn er nach dem Weg fragen wollte. Oder.. oder er stellte irgendwas Dummes an, landete im Gefängnis und er konnte dann wieder sehen, wie er ihn rausboxte!.. Oh ja, das sähe dir ähnlich. Vielleicht hängst du jetzt, in diesem Moment schon wieder in irgendeiner Straßenecke und versuchst an Speed zu kommen, damit du gleich von vorne anfangen kannst mit deiner dämlichen Leidensgeschichte! Franquin schnaufte schwer, drehte noch eine Runde durchs Zimmer und suchte nach Anhaltspunkten. Was hatte dieser Mann vor? Wo wollte er hin, was wollte er tun und wieso überhaupt? Aber in dieses Hirn konnte man ja nicht reinsehen. Beruhigung, Beruhigung, auf den Balkon, schon die halbe Schachtel leer. Du Arsch, wegen dir ruiniere ich mir noch ernsthaft meine Gesundheit! Wo bist du? Und wann kommst du zurück? Kommst du überhaupt nochmal? Lebst du noch? Nervös zupfte er sich ein Tabakröllchen aus der Schachtel und entflammte sie an der Kerze auf dem Tisch. Für Feuerzeug hatte er grade keine Nerven übrig, zumal er das sowieso nicht finden konnte. Wahrscheinlich hatte der Depp das wieder eingesteckt und mitgenommen. Mit einem Bein stand er auf dem Balkon, mit dem anderen drinnen, in einer Hand eine Zigarette, in der anderen das Handy. Falls er doch noch anruft. Vielleicht konnte er auch bloß nicht abnehmen, weil er sich grade beim Fahren konzentrieren hatte müssen. Ein paar Sekunden starrte er auf das kleine Display, wartete vergeblich darauf, sich etwas zu beruhigen. Sicher hatte er garkeinen Grund dazu, sich so aufzuregen. Vielleicht war Pascal ja nur runter in die Stadt gefahren, saß über einem Bier in der Kneipe und lachte ihn aus, weil er dauernd durchklingelte wie ein überbesorgter Vater beim Töchterchen, die das erste Mal bis zehn Uhr ausgehen darf. Und wenn nicht? Ach komm, zwei Stunden sind doch garnix. Er sollte sich wirklich nicht verrückt machen und Pascal war ja auch ein erwachsener Mann. Irgendwo. Der würde sich doch hoffentlich zusammenreißen und keinen Blödsinn anstellen. Franquin seufzte weinerlich, das Display blieb dunkel in seiner Hand. Höchstwahrscheinlich ging es Pascal auf den Sack, dass er ihn nicht in Ruhe ließ, nichtmal für ein paar Stunden. Dabei war er ihm doch schon so entgegen gekommen, sie hatten Kompromisse geschlossen, hatten so viele Auseinandersetzungen gehabt, dass es jetzt nurmehr um Kleinigkeiten ging, wenn sie sich zofften - und trotzdem. Ob der Wagen wenigstens vollgetankt gewesen war? Nicht, dass er nun irgendwo stand, in der Kälte, ohne Heizung.. Vielleicht hat er ja nur kein Netz? Nein, das hört sich anders an "The person you called ect.", du hast dein Mobi an, vielleicht auf lautlos, damit du nicht hörst, wenn ich dich zusammenscheißen will! Oh Mann, ich will doch nur wissen, ob alles okay ist. Oder willst du garnicht mehr mit mir reden? Ein kleiner Eiszapfen hangelt sich an der Dachrinne entlang und glitzert pervers hübsch in der Mittagsonne. Was fällt dem ein! Uh, Glatteis? Vielleicht ist er gerutscht. Und wirklich irgendwo gegengefahren. Oder ein anderer ist in ihn reingerannt. Gott, vielleicht versucht der Notarzt grade rauszufinden, wo er hingehört und sie finden nichtmal meine Adresse! Der Glimmstängel flippt zu Boden, nichtmal zur Hälfte aufgeraucht, Kurzwahl 1, Freizeichen. Tuut-Tuut. Tuut-Tuut. Mein Gott, nun geh doch an dein Scheißtelefon! Verdammte scheiße! Tuut-Tuut. Tuut-Tuut. Himmelherrgottsakramentnochmal! Wozu hast du denn das bescheuerte Ding, wenn man dich nicht erreicht!? Tuut-Tuut. Tuut-Tuut. Wen soll ich denn deiner Meinung nach anrufen, wenn du bis morgen noch nicht aufgetaucht bist? Die Polizei? Weißt du was, ist mir scheißegal! Nimm jetzt ab, sonst kannst du was erleben! Tuut-Tuut. Tuut-Tuut. Pascal!! Tuut-Tuut. Tuut-Tuut-Tuut-Tuut-Tuut-Tuut-Tuut-Tuut. Wieso gehst du denn nicht ran, verdammt!? Kapitel 16: #16 [Spit] ---------------------- See you on the other side Irgendetwas hatte er geträumt, nichts Wildes, aber dennoch ein klein wenig beunruhigend, weshalb er noch ein paar Herzschläge lang dalag, die Wohnzimmerdecke über sich fixierte und die vage Beklemmung abzuschütteln versuchte. Es war mitten in der Nacht und er war müde, gleich nachdem er sich von dem ersten Schreck des Aufwachens erholt hatte. Faszinierend, es war wie ein Fallen gewesen, oder besser ein Landen, während er von einer Schlafphase in das Wachsein geglitten war, als wäre er mit dem ganzen Körper in das Polster gedrückt worden. Nicht viel, ein paar Millimeter. War trotzdem ein sehr seltsames Gefühl. Ihm war heiß, noch etwas schwummrig und er schob ein Knie unter der Decke hervor, stieß damit gegen die Sofalehne. Er lag immer noch ganz rechts, obwohl er jetzt die ganze Breite des Klappsofas zur Verfügung hatte, aber ändere mal deine Gewohnheiten. Dieses seltsame Gefühl begleitete ihn noch eine Minute, bis ihm die Augen vor Müdigkeit wieder zufielen, begleitet von einem sanften Rauschen ferner Regentropfen auf Dach, Pflanzen und Erde, aber dann wurde sein Mund trocken und das Schlucken dafür schwer, er hustete wieder. Verdammte Grippe, jetzt fing DAS wieder an. Na, half nichts, erstmal was trinken, sonst konnte er weiterschlafen vergessen. Weit kam er allerdings nicht gerade, er hatte sich gerade in die Höhe gestemmt, da hörte er ein komisches.. Scharren? Hacken. Schaben und Stechen, unregelmäßig und von draußen kommend, hob sich sehr deutlich vom Regen ab, war aber nicht übermäßig laut. Was zur Hölle..? Ein Waldschrat? Einbrecher? ..Monster? Er war ja nicht so der Held, aber auf halbem Weg zur Treppe, um die restlichen Schlafenden zu wecken (die Leute mit den Knarren sollten sich das ansehen, er war nicht der allerfeigste Mensch der Welt, aber doch klug genug, nicht unnötige Risiken einzugehen), konnte er diese beängstigende Geräuschkulisse dann doch noch grob einordnen und dann war die Neugier größer. Leise schlich er von der Treppe wieder zurück durchs Wohnzimmer und sah dort durch die Balkontür nach draußen. Er musste sich garnicht anstrengen, trotz Regen waren genug Löcher in der Wolkendecke, um den Mond nicht ganz zu verdecken. Was.. soll das denn bitte..? Ungläubig starrte er durch das regenbesprenkelte Glas, die Silhouette kannte er mittlerweile schon zu gut, um sie nicht sofort erkennen zu können. Der Kerl hat doch nicht alle Tassen im Schrank! "..sag mal, was machst du hier?", fragte er in moderater Lautstärke, die niemanden wecken würde, aber Pascal hoffentlich auch erreichte. Dieser hatte innegehalten, als er nähergekommen war, stützte einen Arm auf den Spaten und schien ganz froh über eine kleine Pause zu sein. Das Hemd klebte an ihm wie eine Vakuumverpackung, die Haare an den Schädel geschmiert und die Hose.. konnte er wohl vergessen. Es war kühl, er fühlte den nieselnden Regen auf der Haut, die nackten Zehen im nassen, schlammigen Gras, aufgeweicht und bei jedem Schritt leise Schmatzgeräusche von sich gebend. Es war tatsächlich gruselig, so im ersten Moment, Pascal mit einem Spaten im Garten herumstochernd, mitten in regnerischer Nacht. Was soll man denn davon halten? Aber er wirkte nicht durchgedreht, im Gegenteil sogar ziemlich entspannt und sah ihn nicht an. "Tut mir leid, dass ich dich aufgeweckt hab. Ich grab' ein Loch", war die sehr informative Antwort, aber das war ja zu erwarten. Pascal schien den kühlen Regen zu genießen, hatte schon ein ordentliches Loch ausgehoben und die Erde neben sich aufgehäuft. "Das seh ich. Ich versuch' grade zu verstehen, wieso du nachts und bei dem Wetter hier draußen herumbuddelst, obwohl du schlafen solltest, wir müssen morgen früh raus. Und soviel haben wir doch garnicht getrunken..?" "Das wird mein Grab." Obwohl ihm bis vor ein paar Minuten noch schrecklich warm gewesen war, flutete jetzt eine Eiseskälte an ihm vorbei. Bamm. Na wunderbar. Emopascal ist wieder da und macht gleich einen auf großes Kino. Oder wollte ihn nur verarschen, weil er den Wald vor lauter Bäumen wieder nicht sah? Er suchte prüfend seinen Blick in dem Dreivierteldunkel, aber da war kein Grinsen, da war kein leerer Blick, da war einfach.. er konnte ihn nicht nachvollziehen, diesen Gesichtsausdruck; so trocken die Stimme, bar jeder Intention. Keine Spur von Melancholie, Deprimiertheit oder gar Spott. Er sagte das so zweckmäßig, als würde er über ein Blumenbeet sprechen, das er grade umgrub. "Lass den Scheiß", krächzte Franquin dann irgendwann, etwas hilflos amüsiert, weil es ja eigentlich nur ein schlechter Scherz sein konnte. Was denn sonst? So schlimm war die ganze Geschichte doch schließlich garnicht und überhaupt! Pascal hatte .. uhm.. "Ist mein Ernst. Wenn die Sache morgen in die Hose geht, soll Maria mich hier schnell einbuddeln. Einfach die Erde drauf. Gut, durch den Regen wird das wohl ein bisschen schwer werden", meinte Pascal nachdenklich und sah auf den Dreckhaufen, der bei anhaltendem Regen zu einem einzigen harten Klumpen zusammenbacken würde. "Vielleicht kann sie sich ja Hilfe dafür holen." "Pascal, du machst mir echt Angst..", gestand er und kam einen Schritt näher, oder auch zwei, hatte ein sehr dringendes Bedürfnis, aber der Totengräber blockte früh ab. "Weißt du, in unseren Kreisen gibt es so eine Unart", fing er an und schippte die lose Erde im Loch zur Seite. "Wenn du als Mitglied der Familie Schande über selbige gebracht hast, stehen nach der Beerdigung alle Mafiosi vor deinem Grab und spucken drauf. Das ist dann ein Ausdruck von absoluter Abscheu, die höchste Respektlosigkeit gegenüber des Toten und seiner ganzen Familie, auch noch über sein Ableben hinaus. Die ultimative Entehrung, wenn man so will." Er stach den Spaten tief in die Erde, gestemmt durch ein Bein - aber das Stück Erde brach vor ihm weg und er verlor fast die Balance, als der Spaten kippte. Witzig fand Franquin das nicht. Aber dafür absurd. Und verständlicherweise zog ihn das Ganze ziemlich runter, je länger er auf dieses "Grab" glotzte, wie kann der nur- "Auf mein Grab wird keiner spucken. Und außer ihr soll auch keiner wissen, wo ich liege." Energisch hackte Pascal weiter, während er selbst daneben stand, noch immer sprachlos und ein wirklich grauenhaftes Gefühl im ganzen Körper, das Pascal genauso energisch widersprechen wollte und auf der anderen Seite aber wie gelähmt von dieser Vorstellung war, die ihn dazu heimsuchte. Er sah ihm eine Weile beim Hacken zu, unterdrückte den Hustenreiz mehr schlecht als recht und fand noch immer keine passenden Worte, die seinen Freund davor abhalten würden, so pragmatisch über seinen eigenen Tod zu denken. Und die ihn selbst auch etwas beruhigen könnten. "Geh wieder rein, du bist noch erkältet", fühlte er sich angesprochen und könnte heulen vor lachen. Hörst du dir eigentlich selbst zu?! Ich hab doch selbst Schiss genug für zwei und jetzt kommst du da an, schaufelst dir buchstäblich noch dein eigenes Grab, obwohl du mir im Gegenteil Mut machen solltest! Und sorgst dich dann noch um meine Gesundheit; Scheiße, Mann! Wenn wir morgen draufgehen ist das doch sowieso egal.. "Dir ist hoffentlich klar, dass das nicht sehr ermutigend für mich ist", presste er mühsam heraus, seine Kehle war eng und seine Augen brannten. Aber im Notfall könnte er das auf den Regen schieben, der jetzt auch ihn langsam aber sicher durchnässte. Pascal schien einen Moment zu überlegen und starrte zu ihm hinüber. Schonmal dran gedacht, dass mich das genauso betreffen könnte, wie dich? "Keine Angst, ich werd schon verhindern, dass du draufgehst." Oh toll. Das beruhigt mich jetzt natürlich sehr! Schonmal dran gedacht, dass ich generell ein Problem damit haben könnte, wenn irgendjemand zu Schaden kommt?! "Ah, verstehe. Dein toter Körper ist also in der Lage, einen lebendigen Menschen zu beschützen. Muss wohl ne italienische Eigenart von Leichen sein, ich kenn das nämlich nur aus kitschigen Mysteryfilmen!" "Mann, Frankie! Von dir will doch sowieso keiner was! Die können überhaupt nichts mit dir anfangen! Und die töten in der Regel keine Leute, die ihnen egal sind. Aber wenn du solche Angst hast, dann bleib eben hier." "Oh vielen Dank! Jetzt weiß ich wenigstens, wie unglaublich überflüssig ich bin!" "Ich wäre GLÜCKLICH, wenn ich überflüssig wäre, verdammt! Dann müsste ich diese ganze Scheiße hier garnicht machen! Sei du lieber froh, dass du keine Familie hast, die dich unter solchen Druck setzt, die etwas von dir erwarten, das du nicht kannst! Die so wahnsinnig hohe Ansprüche an dich stellt, nur damit du nicht ausgestoßen und geächtet wirst! Dir deines Lebens nie sicher bist, egal, wofür du dich entscheidest! Ich würde es wirklich genießen, wenn ich allen scheißegal wäre!" "Aber das bist du nicht." "Nein, das bin ich nicht! Leider!" "Dann geh wieder ins Bett. Wenn du morgen total übermüdet bist, hilfst du keinem von uns. Wir müssen doch nen guten Eindruck hinterlassen." Pascal sagte darauf nichts, aber wahrscheinlich war er nur wütend, rammte den Spaten noch ein paar Male kraftvoll in die nasse Erde, dass der Schlamm gegen seine Hosenbeine spritzte. Kapitel 17: #17 [Blood] ----------------------- Pascaaaal! "Pascaaaal!", kreischte er, den Tränen nahe und so aufgelöst, als hätte man ihm das geliebte Haustier massakriert. Was immerhin zur Hälfte stimmte. Nicht, dass er ein Haustier gehabt hätte - aber von einem Massaker konnte man hier definitiv sprechen. Da hat man einmal seinen sozialen Tag und nimmt sich vor, die Küche ein bisschen aufzuräumen (und dem angeschlagenen Pascal ein bisschen Arbeit abzunehmen - der arme Kerl plagt sich schon fast eine ganze Woche lang mit einer fiesen Grippe herum) und wie wird es einem gedankt? Er konnte nicht hinsehen und hielt seinen Arm deshalb weit von sich gestreckt - wo er ein wenig zitterte - und starrte zur anderen Seite, wo hoffentlich bald Pascal erscheinen würde. Aber er kam nicht, auch nach mehrmaligem Rufen nicht und da erinnerte er sich, dass er wohl grade unter der Dusche stand. In Pascalmanier, was ihm sagte, dass es noch eine ganze Weile dauern konnte und zudem seine Heißwasserrechnung in die Höhe schrauben würde. War ihm im Moment allerdings scheißegal, er verzweifelte nur gerade ein bisschen. Abspülen hatte er wollen, voller Elan und Tatendrang, stolz auf sich, auch mal ein bisschen was beizutragen zum Haushalt und die Anhäufung von schmutzigem Geschirr zu dezimieren, die sich mittlerweile auf der Ablage stapelte. Kaum fiel Pascal mal für ein paar Tage aus, verwandelte sich das ganze Haus schon in ein Dreckloch und lieferte ihm ein falsches Bild von sich selbst. Er war kein Schwein, dem ne schmutzige Umgebung egal war. Er hatte es ja gern sauber und war nur meistens zu faul, selbst dafür zu sorgen. Deshalb war er heute auch ziemlich engagiert gewesen bei diesem Vorhaben, mal selbst wieder was zu tun, hatte herzhaft in der mit Wasser gefüllten Spüle herumgegraben, um dieses Stöpseldings zu finden, um neues, heißes Wasser reinzulassen - und hatte dabei seine halbe Hand an einem Kochmesser aufgespießt, das irgend ein Trottel da einfach reingeworfen hatte! (Okay, der Trottel war er selbst gewesen.) Aber trotzdem fühlte er sich durch diese Aktion bestätigt, dass Küchendienst nichts für ihn war und außerdem verblutete er grade! "Oh scheiße, was mach ich jetzt!", jammerte er, weiterhin sein verletztes Händchen weiiiiit von sich gestreckt, als wäre er dann etwas weniger dafür verantwortlich, mochte noch immer nicht hinsehen, denn der erste Blick hatte ihm schon vollkommen gereicht. Egal, wie oft man ihn damit aufziehen mochte. Er wäre eine Dramaqueen, ein Feigling, ein Schwächling, Jammerlappen, Mädchen oder noch nettere Bezeichnungen. Er konnte sich einfach nicht "zusammenreißen", wie man so schön von ihm verlangte. Und wenn sie ihn dreimal auslachten, wenn er angesichts einer so "lächerlichen Wunde" schon die Augen verdrehte und ihm so schlecht wurde, dass er nicht selten die Kloschüssel umarmte. Es war ja auch garnicht der Schmerz, der ihm zu schaffen machte - im Gegenteil tat es nichtmal sehr weh, brannte ein bisschen; aber sobald er Rot sah, war es vorbei mit seiner Fassung. Was niemand verstand, der nicht ebenfalls diese übertriebene Abneigung hatte, die man nicht einfach nur mal abschalten konnte, wenn es unangenehm wurde. Blöde Wichser! Machten sich noch einen Spaß daraus, ihm jedes Mal irgendwelche Wunden unter die Nase zu reiben in der Hoffnung, er würde in Ohnmacht fallen. Zum Glück passierte das nun wirklich selten. Aber Rufschädigung war es allemal. Er machte den Fehler und schielte kurz zur anderen Seite, nur um festzustellen, ob seine Hand in einem spontanen Anfall von Lepra schon abgefallen war; die ganze Handinnenfläche war rot und tropfte momentan ein bisschen vor sich hin, ihm wurde schlecht und sein Magen ballte sich zusammen. Er sollte ein Pflaster draufkleben, oder zumindest mal Küchenkrepp draufdrücken, aber das.. er konnte ja nichtmal hinsehen, geschweigedenn den Gedanken ertragen, da selber mit der Hand herumzudrücken, sich vielleicht die Finger blutig zu schmieren und.. mit blutigen Fingerspitzen verband er sowieso schon traumatische Erlebnisse und.. guaaah, Pascal!! In dem Moment hörte er eine Tür und japste sofort los, konnte gleich darauf den Anblick eines sieben-Achtel-nassen Pascals mit Handtuch um die Hüften garnicht gebührend genießen und deutete nur nach hinten. Und Pascal sagte zum Glück auch nichts, er war es schon gewohnt, dass solche Bagatellen ihn schon außer Gefecht setzten. Und mittlerweile rollte er auch nichtmal mehr genervt mit den Augen, wenn er sich wieder mal geschnitten, gepiekst oder aufgeschürft hatte und deswegen fast durchdrehte, als hätte man ihm ein Körperteil ohne Betäubung amputiert. "Wie ist das denn passiert?", fragte Pascal mit einer rauen, bröckelnden Stimme, die er innerhalb der letzten Tage voller Husten und Röcheln kultiviert hatte. Franquin zeigte nur kommentarlos zur Spüle, mit der gesunden Hand natürlich, während Pascal mit Küchentüchern seine lädierte (die er dabei nicht ansah - Pascal machte das schon gut so) bearbeitete und dabei ein flüchtiges Grinsen zeigte. Kapitel 18: #18 [Under] ----------------------- Schon wieder Starbucks! "Irgendwann dreh ich noch durch, spring über die Theke und würge diese Typen so lange, bis sie mir nen ganz einfachen Kaffee machen", knurrte Pascal, schwer angenervt mit zwei riesigen Pappbechern in einer Hand, in der anderen einen gigantischen Kuchen mit Vanilla-Frosting, klassischer Rüblikuchen oder sowas. Was er auf der einen Seite ebenfalls etwas pervers fand, eine Süßspeise aus etwas zu machen, das weitläufig als Gemüse bekannt war. Aber er war lecker, außerdem hatte er eine Schwäche für Kuriositäten des Alltags. Pascal teilte diese Ansicht weniger, man konnte ihm ansehen, dass er sich unwohl fühlte mit einem weißglasierten Kuchen in der Hand, inmitten von Yuppies, denen ein "White Caffè Mocha low fat mit Karamellsirup, ohne Sahne, tall zum Mitnehmen" genauso flüssig wie das Gesöff selbst von den Lippen tropfte. Aber versuch mal, hier einen einfachen Kaffee zu bestellen. Franquin grinste entzückt, als der Teller vor seiner Nase landete, oder besser vor seinen Knien, denn die Tische hier waren so gnadenlos auf Couchtischniveau, dass auf dem Weg von Teller zu Mund immer die Hälfe der Gabel auf dem Tisch landete. Womöglich was ja so beabsichtigt. Vielleicht sammelten sie die Krümel wieder ein und bastelten daraus einen dieser seltsamen Muffins in der Auslage, die aussahen, als wären sie frisch in die Pubertät gekommen. "Nimm's nicht so schwer. Normalen Kaffee kriegst du schließlich auch daheim. Mille grazie!", flötete er und nahm seinen Mocha in Empfang, während sich Pascal auf den breiten Polsterstuhl fläzte, neugierige Blicke dabei formvollendet ignorierend. "Wer wollte denn hier rein, ich oder du?" "Jetzt hör auf zu jammern", entschied er und stocherte an seinem Kuchen herum, den er wie jedes Mal bewunderte. Nicht zu süß, nicht zu karottig und nomnomnom. "Willst'n Stück? Der ist riesig, den krieg ich nie gegessen." "Nee, lass mal." "Mmmmh, die Creme ist ja sooo lecker", summte er und leckte genüsslich an der Gabel herum, nur ein kleines Bisschen lasziv, um den Pascal'schen Zustand wachsenden Unbehagens zu genießen, der sich öfter einstellte, wenn er öffentlich Anspielungen machte. Oder ihm französische Gemüsesorten ins Ohr hauchte. "Hör auf damit, die gucken schon" - und rettete sich an seinen Pappbecher, dessen Inhalt aber noch viel zu heiß war, um sich daran nicht herzhaft die Zunge zu verbrennen. "Na und?" Zugegeben, es war etwas schwierig, unterhalb dieser pervers niedrigen Tische zu bleiben, aber wenn er sich weit vorbeugte, konnte er grade noch so.. "Was wird das?!", zischte Pascal warnend, zusammengezuckt unter seinen Fingern, die sich eine kleine Wandertour erlaubten, während er ungerührt seinen Kuchen weitermampfte. "Oooh, da hat wohl einer Angst..?", grinste er und Pascal starrte zurück, auf eine Weise, die er gut kannte. Und gleich darauf kitzelte sein Oberschenkel, stetig weiter hinauf zog sich das Gefühl prickelnden Reizes und er starrte in blaugrüne Irgendwas-im-Meere, biss sich auf die Lippe und ließ Kuchen vorerst mal Kuchen sein. Yeah, du willst es auch. Die Toiletten sind gut besucht, aber das sollte uns nicht stören. Wir können's auch direkt hier auf dem lächerlichen Tisch treiben, vor aller Augen, wieder und wieder, oh Gott, das ist so heiß, mir kommt's ja schon, wenn ich nur dran denke - du willst es doch auch, ich seh es deinem zuckenden Blick an, deinem energischen Vorpreschen, oh ja.. uuh, wen haben wir denn da? Pascal stieß einen hohen, wimmernden Laut aus und zuckte zurück, das Gesicht eine einzige Grimasse der Qual - ahahaha, LOSER. "Gaychicken kiiiing!", gröhlte er lachend und warf die Hände in die Luft. Kapitel 19: #19 [Grey] ---------------------- Lucca Oh, wie ich sowas hasse! Ausgerechnet er, der er eine nur lantent geringere Abneigung gegen diesen Kerl hatte, wie die andere noch verbleibende Person, die gerade ihren Rausch ausschlief. Immerhin hatte sie Vorarbeit geleistet. Trotzdem bombardierte er sie jetzt mit äußerst skeptischen Blicken, zu Recht, wie er fand. Und rührte in dieser Zeit starrend und energisch in seiner Tasse Kaffee herum, obwohl er bislang weder Zucker, noch Milch hinzugefügt hatte. Wie kam er eigentlich dazu, diese ganze bekloppte Familie zu therapieren?! Okay, es war ja schon von Anfang an falsch gelaufen und sie hatte es auch gleich gemerkt, dass man ihm schon etwas weiter trauen konnte, als Pascal lieb war. Aber das hier, das war völlig verkehrt. Er saß mittlerweile so sehr fest in diesem familieninternen Netz, dass er mit allem und jedem direkt oder indirekt zu tun hatte (ungewollt!) und Maria war wohl der Ansicht, dass er seine Pflichten als familieninternes Netz-..Dings auch entsprechend wahrnehmen sollte. Wtf. Als wäre er nicht für seine Oberflächlichkeit bekannt, wieso sollte er nun Psychotherapeut spielen? "Du weißt aber schon, dass er ein Mörder ist und ich ganz ehrlich Angst um mein Leben habe, wenn ich alleine da reingehe", meldete er sich nach ihrem langen Monolog zu Wort und beobachtete sie eindringlich. Du weißt ganz genau, dass dieser Kerl eine Flasche Nitroglycerin ist! Wieso willst du mich da reinschicken?! Der fliegt mir doch um die Ohren! Naja gut, das vielleicht nicht. Dieser Irre hat ja was für mich übrig, aber.. das ist trotzdem nicht sehr beruhigend. "Jaja, ich weiß, er würde mich ja nie wirklich umbringen, aber du weißt hoffentlich noch, was er stattdessen vorhatte!" "Beruhig' dich, er hat keine Waffen im Zimmer. Außerdem ist er noch auf Valium, er wird also nicht über dich herfallen können." Das wäre meine nächste Frage gewesen. Für einen Kerl, der jünger und auch noch kleiner ist als ich, ist der nämlich verdammt kräftig und falschen Stolz muss man teuer bezahlen, wenn man dieses Biest dahingehend unterschätzt. Der Kerl ist auch ohne Hilfsmittel ne echte Bedrohung. Aber Valium ist gut. Hoffentlich hat er genug intus, um ein Pferd ruhigzustellen - aber Maria würde mich auch sicher keinem solchen Risiko aussetzen. "Es wäre nur sehr lieb von dir, wenn du ein paar Minuten mit ihm reden könntest", fuhr sie fort und kreiselte mit einem Finger über den Tassenrand. "Er ist momentan ziemlich verwirrt und es wird ihm guttun, wenn du mit ihm sprichst. Er wird sicher auf dich hören." Sie machte eine kleine Pause. "Ich habe Angst, dass er zu Vincent zurück will." Sie war ehrlich besorgt, die toughe Maria, Pascals Goldstück und sein Ersatzschwesterchen (auch wenn er das vor Pascal nie erwähnen sollte). Schon allein die Vorstellung war allerdings absurd. Wieso sollte irgendjemand zu Vincent zurück wollen? Jeder, der diesen Mann persönlich kennengelernt hatte, war entweder tot oder gezeichnet fürs Leben und möglichst erpicht darauf, diesen Wahnsinnigen für immer aus dem Weg zu gehen. Aber gut, Lucca war ja auch verrückt. Vielleicht war das der springende Punkt. Gleich und gleich gesellt sich gern. Aber es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, wie Vincent die Launen seines kleinen Bruders ertragen konnte, ohne ihn früher oder später einfach abzuknallen. Das Problem war: Momentan hatten sie Lucca auf ihrer Seite, aber dieser Bastard hatte ja schon hinfällig bewiesen, dass er wirklich gut im Petzen war; ob er nun Vincent steckte, wo sie sich momentan aufhielten, oder ob er im Gegenzug diesen Ausrutscher bei ihnen beichtete, wenn er dann die Hosen voll hatte. Und deshalb bewegte sich Lucca immer in einer Zone, wo es unmöglich war, dem Kerl wirklich zu vertrauen. Lucca schwankte die ganze Zeit hin und her und schien nirgends hundertprozentig dazugehören zu wollen. Oder zu können. Zumindest kam es ihm so vor. Man fällt schließlich nicht den eigenen Leuten in den Rücken! Buchstäblich. Er ist ja im Grunde selbst schuld; soll er nicht so ne Scheiße machen! Aber wer hat in seinem Leben keine Scheiße fabriziert? "Okay, ich werd' mit ihm reden. Aber nur, wenn du an der Tür mithörst, falls er plötzlich austickt", brummte er und hatte eigentlich keine Ahnung, was er mit dem Kerl besprechen sollte. Gut, solche Sachen wie "Respekt" und "friedliches Miteinander" und "Gewalt ist keine Lösung, schon garnicht, wenn du Pascal abstechen willst". Er hatte nur Befürchtungen, dass Lucca dann irgendwann doch wieder an ihm kleben würde, total benebelt sexuelle Andeutungen machte und ihn mehr nervte als irgendwas anderes. Mit Lucca konnte er (er!) doch kein vernünftiges Gespräch führen! Aber er würde trotzdem reingehen und mit ihm reden, Maria diesen großen Gefallen tun, und wenn es wirklich für die Katz' wäre. Er fragte sich einen kurzen Moment lang, ob es nicht sogar besser wäre, wenn Lucca wieder abziehen würde zu seinem fiesen großen Bruder. Also.. nicht zu Pascal jetzt. Immerhin hätten sie dann diesen Doppelagenten nicht mehr in den eigenen Reihen. Der Freund, der gleichzeitig der Feind war. Dann wären wenigstens die Fronten wieder klar und ein Stressfaktor weniger - die Bösen sind alle bei Vincent und die Guten sind alle hier. Aber Lucca.. der stand mittendrin, weil er jede Seite verraten hatte und nun alle gleichermaßen sauer auf ihn waren. Im Grunde schon ein armes Würstchen. "Danke." Maria lächelte ihr warmes, liebevolles Lächeln, das ihm sagte, dass er das Richtige machte. Was würde er drum geben, so eine Schwester zu haben.. Diese ganzen Irren wussten sie doch garnicht zu schätzen. Es war nur unheimlich, dass er diese wunderschöne, unheimlich sexy Mafiabraut schon eine ganze Weile nicht mehr mit den sexuell-orientierten Männeraugen sah, wie noch vor einigen Tagen. Naja. Auf zur Couch. Kapitel 20: #20 [Fortitude] --------------------------- Von fehlenden Worten Wir haben's beide nicht so mit dem Akzeptieren neuer Lebensumstände. Jeder hat so seine ganz eigene Art, damit umzugehen, die Probleme dabei zu umschiffen, überzutapezieren oder einfach zu ignorieren. Wir sind beide nicht die Typen, die sich hinsetzen und zusammen darüber diskutieren, was passiert ist und wie man jetzt damit klarkommen soll. Wir setzen uns zwar hin und reden miteinander, aber ganz bestimmt nicht über irgendwelche Themen, die unangenehm sein könnten. Über vieles will man schon garnicht näher nachdenken. Die werden so akzeptiert, mehr oder weniger zumindest - oder auch völlig geleugnet, je nachdem, wie man grade drauf ist. Klare Worte gibt es nicht. Das alles ist furchtbar schwammig und jeder fischt irgendwo im Diffusen herum, angelt sich je nach Laune den ein oder anderen Zustand als momentane Wahrheit heraus und verwirrt nicht nur den anderen, sondern auch sich selbst damit. Wie eben jetzt. Hat alles so gut geklappt in letzter Zeit, eine unausgesprochene Tatsache schwebte in der Luft und wurde von beiden angenommen. Bis heute. "Wo willst du hin?" "Geht dich nichts an!" "..bist du lange unterwegs?" "Wirst du schon sehn." Und weg ist er. Setzt seine Hoffnungen mal wieder in die Flucht. Naja, besser bin ich eigentlich auch nicht, ich hätte genausogut selbst anfangen können. Aber in der Hinsicht bin ich genauso feige wie er. Nur ich habe Angst vor ihm, während er Angst vor sich selbst hat. Vor mir brauch man keine Angst zu haben, das hat er sicher schon gemerkt. Aber gerade in solchen Momenten wie jetzt bräuchte ich eine klare Antwort, an der ich mich festhalten könnte. Wenn es gut läuft, brauch ich keine verbale Sicherheit, da reicht mir schon das Feeling. Doch jetzt, wo er weg ist, da frage ich mich natürlich, ob ich das alles nicht nur falsch eingeschätzt habe. Dass es nicht so ist, wie ich es mir vorgestellt habe; weil niemand auch nur ein Wort darüber verloren hat, was es für ihn bedeutet. Ich kann ihm nichtmal was vorwerfen, wenn er wiederkommt und Scheiße gebaut hat, die mich wahnsinnig aufregen würde, wenn ich mir denn sicher wäre, woran ich bin. Aber so.. kann ich ihm nicht viel anhaben. Wir sind nicht "zusammen". Keiner hat gefragt, keiner hat geantwortet, für mich war das eine Sache der nonverbalen Kommunikation. Wenn es, wie gesagt, gut läuft. Aber jetzt beiße ich mir in den Hintern, dass ich nie nachgefragt habe, ob Pascal das wirklich genauso sieht. Und immer, wenn ich mir ein Herz fassen will, wenn es wirklich gut läuft und ich den Mut gefunden habe, dann denke ich daran, was Pascal für ein Mensch ist. Und ob so ein paar kleine Worte nicht auch viel kaputtmachen können. Sobald sie einer ausspricht, wird diese trübe, undurchsichtige Brühe klar und bekommt eine Form. Und ich weiß nicht, ob Pascal das so will und kann. Wenn er sich nicht mehr je nach Laune eine Antwort zusammenbasteln kann, sondern es stattdessen eine feste Größe gibt. Ob er das ertragen kann. Ob ihn solche Worte nicht fertigmachen, wenn es mal nicht so gut läuft und er Panik bekommt. Wenn er keine Ausflüchte mehr findet, die Tatsache aber so nicht akzeptieren kann. Vielleicht würde ihn das zu sehr abschrecken. Das ist meine Überlegung, wenn es mir schon auf der Zunge liegt. Und dann rutscht mir das Herz in die Hose und ich krieg das Maul nicht mehr auf, genieße stumm die schöne Zeit, auch wenn mir diese Worte, die mir eine so wunderbare Sicherheit geben würden, klebrig in der Kehle hängen. Ich will das nicht kaputtmachen. Ich weiß, dass Pascal wiederkommt, wenn er sich beruhigt hat. Wenn er sein Gewissen damit beruhigt hat, dass das alles nichts Ernsthaftes ist. Ich kenn dich zu gut. Dann sind wir für ein paar Tage wieder die besten Kumpels, bis dein Inneres zufrieden ist. Und dann steigert sich das allmählich, wir landen in der Kiste - Ausrutscher über Ausrutscher, kuscheln irgendwann auch schon nachmittags und glotzen uns verknallt in die Augen, ich fühle mich dann sicher und überlege, ob ich es wagen soll, uns beiden Klarheit zu geben - und plötzlich drehst wieder durch, lässt alles liegen und stehen und haust ab. Fliehst vor meiner Zuneigung, als wollt ich dich damit irgendwie kaputtmachen. Und das sagt mir, dass ich richtig entschieden habe, dir nichts zu sagen. Und solange du nur wieder zurückkommst, behalt ich es auch gerne für mich und hoffe einfach, dass es nicht irgendwann so unerträglich wird, dass ich es dir einfach an den Kopf knalle. Kapitel 21: #21 [War] --------------------- Souvenir "..wie ist das nochmal passiert?" Ein teils belustigt- und teils neugieriger Blick streifte seinen Unterkörper, der sich zur Hälfte in einer grün-schwarz-getigerten Hüfthose versteckte. Zwischen Bauchnabel und Hüftknochen schlängelte sich dort eine dunkelrote Schnittnarbe entlang, verschwand im Hosenbund, den die junge Frau zurechtzupfte. Natürlich war das aufgefallen, nicht zu knapp und es war sehr wild darüber spekuliert worden. Gerade im Bezug auf die vermeintliche Entführung, die angeblich niemals stattgefunden hatte. Die Medien hatten sich draufgestürzt wie Piranhas, die Fans dagegen wie fanatische Gläubige; dieser Riss war promotiontechnisch erstaunlich gut angekommen und neun von zehn Mädels fanden es Umfragen zufolge äußerst sexy. Und er hatte sich noch Gedanken darüber gemacht, ob es ihn nicht entstellte, aber im Gegenteil war es nur ein weiteres Wiedererkennungsmerkmal, das oft und gerne hervorgehoben wurde auf den Fotos. Was natürlich auch an der pikanten Platzierung lag. Die Fangemeinde war jedenfalls begeistert und es hatte tatsächlich schon eine Stange Nachahmer gegeben. "Alte Kriegsverletzung", grinste er und nahm einen Schluck Kaffee aus dem Pappbecher, während die junge Stylistin an ihm herumdoktorte. Im Grunde stimmte das. Es wusste noch genau, wie es dazu gekommen war - angefangen hatte es mit einer Waffe, Handschellen, einer Mutprobe und daraus resultierendem Kleinkrieg. Und den Ergebnissen, die Dank seiner unsäglichen Dämlichkeit in dieser Wunde geendet hatten. Aber er konnte darüber lachen, zumal sowieso Pascal an allem Schuld gewesen war. Natürlich. Wäre der nur nicht so stur gewesen. Und überhaupt. Das war quasi der Auftakt zu einer neuen Ebene ihrer seltsamen "Beziehung" gewesen. Da hatte er ihn geküsst. Unfreiwillig zwar, hatte sich ja selbst dazu gezwungen, aber abstreiten konnte es dennoch keiner von beiden. Erstaunlich, wirklich. In immerhin drei Jahren Showbiz hatte es kein Kerl geschafft, ihn derart anzuheizen - obwohl es dazu Gelegenheiten genug gegeben hatte. Gerade bei Shootings oder auf der Bühne, wenn mal wieder Fanservice angesagt war, um die Massen zu befriedigen. Mal ganz zu schweigen von Jeels ständigen Kabbeleien im Backstagebereich. Gut, war auch eine ganz andere Situation gewesen, damals, in Luccas Gemäuer. Eine seltsame Stimmung, die im Nachhinein fast sogar etwas Verzeifeltes gehabt hatte, wenn er ganz nüchtern zurückdachte. Die Suche nach einem Ventil, mehr nicht. Er hatte in dieser Zeit wirklich gedacht, er wäre schwul. Oder zumindest bisexuell. Verknallt in einen Kerl; sowas Dummes. Dabei war es ja nur das rein körperliche Sehnen nach Zuneigung gewesen, was da mit ihm durchgegangen war, hatte ihm Basket ganz vertrauensvoll erklärt. Wenn man erstmal in dieser Stimmung ist, is' es scheißegal, wer da grade an einem herumschraubt oder rumknutscht und vor allem, wenn auf unbestimmte Zeit auch keine Weibchen in Sicht sind. Wenn eine Vertrauensbeziehung aufgebaut wird und man niemanden anderen um sich hat -praktisch gezwungenermaßen ständig beieinanderhockt-, dann hat man kaum eine Chance, sich dem zu entziehen. Da kann man eine tiefe, seelische Verbundenheit schonmal leicht mit "Liebe" verwechseln. Eine Laune. Das ist wie im Knast, eine vorübergehende Phase, temporäre Homosexualität, weil eben nix anderes da ist; ganz pragmatisch. Und dazu natürlich noch das nicht zu vernachlässigende Stockholm-Syndrom, ne. Unglaublich, wie fies und hinterhältig diese Psychologie einen erwischen kann. Wobei natürlich ne gewisse Sympathie vorhanden sein muss, um sich so sehr verwirren zu lassen. Und ja, Sympathie war definitiv vorhanden gewesen. Immernoch. Aber der panische Hintergrund war jetzt weg, seit ein paar Wochen und die ganze Intention ihrer Freundschaft hatte sich drastisch verändert; jetzt, da sie nicht mehr aufeinander angewiesen waren, nicht mehr in permanenter Lebensgefahr schwebten und er Pascal nicht mehr als einzigen Halt in seiner Welt ansah. Die Spannung war raus und mit ihr hatte sich auch jede Form der Zuneigung verflüchtigt, die über eine Freundschaft hinausging. Natürlich sahen sie sich noch, ab und zu, zum Kaffeetrinken. Aber das euphorische, herzklopfenverursachende Kribbeln, das er immer verspürt hatte, wenn er in diese blau-grünen Augen gesehen hatte, war verschwunden. Manchmal, wenn er wieder mal mit zwei Miezen im Arm im Bett lag, erschöpft und noch zu wach zum Schlafen, da vermisste er dieses berauschende Gefühl der Verliebtheit. Dieses Flattern und Hoffen, selbst den Schmerz, der diese Zeit begleitet hatte. Das Sorgen und Sehnen, es war so einfach gewesen, ihn glücklich zu machen; eine Geste oder nur ein einzelnes Grinsen. Unglaublich. Er wünschte sich oft einen Krieg zurück, mit dem diese wundervoll-schreckliche Gefühlsachterbahn wieder beginnen würde. Aber sie blieben beide auf Distanz, wenn sie sich trafen, im stillen Einverständnis, dass das alles eine einmalige Sache gewesen war, aus einer reinen Not heraus geboren. "..nur ein Andenken", murmelte er halblaut, mehr zu sich selbst, als zu seiner Stylistin, deren Namen er nichtmal kannte. Kapitel 22: #22 [Mother] ------------------------ Toast > Pizza "Nichts da, Kaffee und Zigaretten. Ihr setzt euch an den Tisch und frühstückt richtig!", schimpfte sie und scheuchte ihren Bruder aus dem Wohnzimmer, der schon wieder verdächtig nach etwas Ausschau gehalten hatte. Pascal bedachte sie mit mürrischen Blicken, während er selbst der Aufforderung gerne nachkam. Rauchen war für seine Lungen momentan sowieso nicht drin und er fühlte sich von seinem Körper aufgefordert, endlich mal wieder ein paar Kohlenhydrate ranzuschaffen. "Für dich hab ich nen Tee, die Toasts sind schon im Toaster und lasst euch bitte Zeit beim Essen. Jeder kriegt ein Aspirin zum Nachtisch und falls Lucca es irgendwann runterschafft, schmiert ihm halt einer ein Brötchen, okay? Ich bin nochmal kurz in der Stadt." Fehlt noch das Mobiltelefon am Ohr; ansonsten hat sie definitiv das Zeug zum multitaskenden Chef. Fleißig wie ein Bienchen, erklärte, packte irgendwelche Tüten zusammen und zog sich die Jacke an, warf ihnen gleichzeitig liebevolle (in seinem Fall) und strenge (die waren an ihren Bruder gerichtet) Blicke zu, ohne dabei im Mindesten gestresst zu wirken - was bei einem solchen Bruder wie Pascal, um den man sich mit aller Kraft kümmern musste, schon wirklich eine Kunst war. Ergeben ließ er sich auf dem Küchenstuhl nieder, schnüffelte eine Nase voll Kräutertee, während die Haustür ins Schloss fiel. Pascal folgte ihm nach ein paar hadernden Sekunden, in denen er wohl überlegt hatte, ob er sich aus Trotz dem Willen seiner Schwester widersetzen sollte. Er schien darauf gekommen zu sein, dass sie es wohl doch nur gut mit ihm meinte und dass sich ein knurrender Magen für den Rest des Vormittags nicht lohnte, nur um irgendwelche Prinzipien durchzuboxen. Na, jedenfalls war er ganz froh, dass er nicht alleine frühstücken musste; das war irgendwie so ungemütlich. Wenn er nicht grade kalte Pizza vom Vorabend vertilgte, nebenbei auf der Couch beim Fernsehen. So richtig frühstücken mit allem drum und dran, das war für ihn schon fast ein kleines Event. Und wenn es nur Butter mit Marmelade war. Er erinnerte sich noch lebhaft an das Frühstück vorgestern, als sie alle zusammen am Tisch saßen wie eine kleine Familie, mit einem gutgelaunten Lucca, der seinen Bruder anviechte, einer schlichtenden Maria und einem sich hinter der Zeitung versteckenden Pascal. Hah, unfair. Pascal nahm auf dem Weg zum Tisch gleich die fertigen Toasts mit, die geräuschvoll ausgespuckt worden waren, sah aber wie immer nicht sehr begeistert aus. Wunderte ihn sowieso, dass der Kerl sich wirklich mal was sagen ließ. Aber gut, war ja auch Maria. Wer lässt sich denn von Maria nichts sagen. Er summte leise, als er sich dem Kräutertee näherte, der allerdings doch noch zu heiß zum Trinken war und nahm vorsorglich die Lippen von der Tasse, als Pascal sich an den Tisch setzte. "Das hat sie eindeutig von unserer Mutter", knurrte der, was aber nicht sehr genervt klang, eher wie eine ihn manchmal noch verwirrende Tatsache. Die zwei Toasts wurden brüderlich auf ihre Teller verteilt und er musste grinsen. "Sei froh, dass überhaupt mal jemand nach der mütterlichen Seite schlägt. Väterlicherseits sind ja bislang eher.. mehr oder weniger bizarre Geschöpfe entstanden", krächzte er, noch etwas heiser so früh am Morgen. Aber wenigstens hielt sich mittlerweile der Husten in Grenzen. Er klammerte sich an die Tasse, die gerade so heiß war, dass er nicht nicht daran die Finger verbrannte und pustete den aufsteigenden Dampf weg. "..da hast du nicht ganz Unrecht", gestanden die vernebelten Brillengläser von gegenüber, die in einem Anfall von letztem Trotz zuallererst den Kaffeebecher in Angriff genommen hatten, statt sich um den Toast zu kümmern. Pascal schien gedanklich kurz abzudriften und er vermutete, dass dieser sich grade vorstellte, wie sein Leben ohne Maria und stattdessen mit noch einem verrückten Bruder abgelaufen wäre. Die Vorstellung schien ihn zu überfordern, eine verirrt-gewellte Steilfalte bildete sich zwischen seinen Brauen. Kunststück. Ihm würden in dem Fall wohl ein paar wichtige Eigenschaften fehlen, die ihn von den anderen beiden Monstern unterschied, die diese krude Familie hervorgebracht hatte. Mh.. er fragte sich, wie eine einzige Mutter mit drei solchen verdrehten Kerlen zurechtkommen konnte - insbesondere mit Vincent. So eine.. Kreatur konnte doch nichtmal die eigene Mutter lieben. "Dass du sie zur Schwester hast, ist allerdings schon beneidenswert. Wenn deine Mutter so ist wie Maria, dann würde ich sie wohl auch mögen." Allerdings bezweifelte er stark, die werte Dame einmal persönlich kennenzulernen. Er hatte da so ein Bild vor Augen, das ihm sehr sympathisch war - eine kochlöffelschwingende, immerzu auf Italienisch schimpfende kleine Frau mit viel Herz und Durchsetzungsvermögen, was wohl auch Grundvoraussetzung war in einer Position, in der man eine solche Familie zusammenhalten musste. Was für eine herrliche Vorstellung. Klischee, aber dennoch. Alle verrückten und mafiösen Kerle zusammen an einem großen Esstisch, laut und heftig über Unmengen selbstgemachter Spaghetti Carbonara gestikulierend und Mamma Santargo dazwischen zetert mit einem harten Akzent (für den Pascal ihm spontan eine scheuern würde): "Keine Gessäfte beim Essen!" Eine Familienfeier mit allen Verwandten und engen Freunden artete wohl regelmäßig in einem unvorstellbar lauten Chaos aus. Das er ja zu gerne mal miterleben würde. Da Pascal nichts auf seine lauten Gedanken erwidert hatte und sich stattdessen gerade die Butter angelte, fuhr er fort mit seinem Kopfszenario. "Ob sie mich wohl auch mögen würde? Was meinst du? So als-" Im gleichen Moment fühlte er sich unangenehm angestarrt und hatte das Gefühl, als wollte Pascal ihm ein Loch in den Schädel brennen. Vielleicht hätte er es auch geschafft, wenn er ein paar Superman-Gene abbekommen hätte. "Wenn du dich an meine Schwester ranmachst, muss ich dich leider umbringen." "..schon klar, Häuptling Großer Bruder. Aber darf ich dich daran erinnern-" "Umbringen!", wiederholte sich Pascal, während er ihm todernst mit seiner Toastkante über den Tisch hinweg drohte. Seine Schultern zuckten schon verräterisch und er klemmte sich an seine Tasse Kräuterwasser, um nicht laut loszuprusten. Er fing sich trotzdem einen Tritt unterm Tisch ein, verbrannte sich die Lippen am Tee und fing sofort an zu schimpfen, während Pascal zufrieden grinsend in seinen Toast biss. Ach ja. Viel besser als kalte Pizza auf der Couch. Kapitel 23: #23 [Distasteful] ----------------------------- Pascaaaal! II "Pascaaaal!", plärrte es, mal wieder durchs ganze Haus. In letzter Zeit wurde dieser Name so inflationär gebrüllt, dass es kaum noch die Dringlichkeit transportieren konnte, die Frankie zweifellos beabsichtigt hatte. Was aber auch kein Wunder war, wenn er dreimal am Tag den Weltuntergang prophezeite. Momentan hatte er wirklich viel zu brüllen, denn es war Spätsommer. "Komm schon, ich kann nicht duschen und mir is waaarm!", krähte er lamentierend, unruhig von einem nackten Bein aufs andere wackelnd, die Duschkabine widerwillig im Auge. Allerdings wurde er schnell ungeduldig, da sich nichts regte und kein Pascal in der Tür erschien, um seiner Pflicht nachzukommen - dabei war er sowieso schon viel zu spät dran und in ein paar Minuten würde wieder das Telefon klingeln, blabla, wieso bist du noch nicht unterwegs. Auch mehrmaliges Geschrei machte ihn nicht weniger einsam, so dass er sich gezwungenermaßen selbst auf die Suche machen musste. Sicher war Pascal draußen, schrubbte am Wagen herum oder kontrollierte das Poolwasser; der hatte immer irgendwas Unnötiges zu tun, das ihn beschäftigte. Anstatt die wirklich wichtigen Dinge in Angriff zu nehmen, die ihm das Leben erleichterten, verdammt! Da es hier oben sowieso keine fremden Leute gab, die sich eventuell daran stören konnten, verzichtete Frankie großzügig auf Kleidung, zumal es draußen sowieso brütend heiß war. Er kam sich zwar kurzzeitig wie Wheelers Verwandter vor, den alle nur "den FKK-Hippie" nannten, aber er hatte jetzt größere Probleme, um auf Äußerlichkeiten zu achten. Und überhaupt, da sollte sich nur mal jemand über diese tolle Aussicht beklagen! "Pascaaaal!" Natürlich. Am Pool hockt er. Der Schuft! Anbrüllter hob den Kopf, als Frankie von tapsenden Geräuschen begleitet die Treppe hinaufstieg, oben angekommen die Hände in die Hüften stemmte und missbilligend die Miene verzog. Pascal hingegen hob nur die Brauen ein Stück weit, als die nicht mehr so ganz tadellose Haut mit leichtem Sonnenbrand sich ungeschützt seinen Blicken offerierte wie besonders unsubtile Werbung. "Wieso antwortest du nicht, wenn ich rufe?! Im Bad ist SO ein riesiges Ding! Ich muss duschen, ich komm zu spät, mach das Vieh weg! Pronto! Ich sollt' schon längst unterwegs sein!" "Jaja." Pascal erhob sich vom Poolrand, etwas schwerfällig, wahrscheinlich hatte er sich da grade gemütlich eingesessen. Wenn Frankie Zeit und Muße gehabt hätte, wäre ihm sicher das Wasser im Mund zusammengelaufen. Die Sommersonne hatte diesen Oberkörper beneidenswert lecker gebräunt und die Balkonrenovierung vor einem Monat konnte man ihm auch noch ansehen. "Weißt du, an wen du mich erinnerst mit deiner bekloppten Spinnenphobie?" "Klappe. Und mach das grässliche Teil schnell weg. Das ist SO ekelhaft! Und hockt mitten in der Dusche, so ein großes, schwarzes, fettes Viech in aller Seelenruhe und ewig langen Beinen, mach das weeeeeg, ich will doch nur duschen-!" "..ti desidero acuto." Frankie hatte keine Ahnung, was Pascal da wieder für Pasta an ihn hinklatschte; aber sie verfehlte ihre Wirkung dennoch nicht. Nie. Selbst schuld, wenn man in dem Aufzug vor einem Italiener herumstolziert. Dann muss die Arbeit eben warten. Kapitel 24: #24 [Want] ---------------------- Die vielen Phasen der Sehnsucht Klar kann ich ne Weile ohne dich auskommen. Was ist denn das für ne Frage? Als wär ich nicht in der Lage, mich mal mit mir selbst zu beschäftigen. Wir müssen ja nicht die ganze Zeit wie ein altes Ehepaar aufeinanderkleben, das wird mit der Zeit auch nervig. So ein bisschen Abstand tut uns ja auch beiden gut, ne? Ich kann mich mal wirklich auf meine Karriere konzentrieren und du.. machst, was auch immer du da unten machen musst. Irgend so ein familiäres Gedöns, ich kenn das doch. Ist ja nur für zwei Wochen. Vielleicht drei, je nachdem. Is doch kein Problem! Wobei es natürlich schon etwas komisch ist, heimzukommen und das ganze Haus ist wie ausgestorben. Kein Essensgeruch, kein Gehacke oder Geklicke aus deinem Zimmer, kein Zitronenduft des Glasreinigers, in der Küche stapelt sich das dreckige Geschirr. Dabei bist du grade mal drei Tage weg. Beängstigend, wie schnell ich mich an diese gemütlich-aufregende Daueranwesenheit deiner Person gewöhnt habe. Das Problem der Stille hatte ich doch früher auch nicht? Gut, da ging auch jeden zweiten Tag ne Party, vor dieser ganzen Geschichte in Crackpot City. Was wohl meine alte Wohnung macht? Werd mir wohl oder übel ne neue suchen müssen, ich will ja nicht auf ewig hier wohnen bleiben. Mal ganz davon abgesehen, dass du in dieser Abgeschiedenheit irgendwann zwangsläufig durchdrehen würdest. Aber ansonsten geht es mir prächtig! Mein Manager ist begeistert, wie sehr ich mich momentan engagiere. Und weniger abgelenkt bin, während der Proben, Shootings und dem sonstigen Kram. Was glaubst du wohl, wieso? Hehe. Ich hab auch schon ein paar neue Songs im Kopf - wird langsam Zeit, mal wieder was zu produzieren. Die liegen mir schon dauernd in den Ohren, ich sollte mal endlich die Tour nachholen - was das alles an Werbung gekostet hat und so, das sollte man ja nicht allzulange gammeln lassen. Zumal schon viele Karten verkauft wurden und die wollen jetzt natürlich Ersatztermine haben. Vielleicht hat er Recht, ich sollte mal wieder auf die Bühne, ich bin doch kein Studiomusiker! Allerdings wär ich dann mindestens ein Vierteljahr unterwegs. Das macht dir doch sicher nix aus. Es macht ja auch Spaß. Klingt jetzt vielleicht blöd, aber es ist schrecklich geil, da oben zu stehen und zu sehen, wie die Leute dich anorgasmieren. Das verstehst du nicht, du traust dich ja nichtmal vor die Kamera, wenn wir auf ner Presseveranstaltung herumlungern. Das ist eben nicht deine Welt. Wobei deine Welt auch ziemlich.. du weißt, was ich meine. Also gesund auf keinen Fall. Wenn du da mal nur keine Scheiße baust! Dieses Mal bin ich nämlich nicht dabei, um auf dich aufzupassen, also versemmel das nicht! Ich finde es sowieso seltsam, dass du nach alledem trotzdem noch darauf erpicht bist, dich bei deinen Verwandten einzuschleimen. Die wären bei mir schon längst untendurch! Die brauchst du doch überhaupt nicht! Ich kann mich dran erinnern, wie du dich beschwert hast, dass sie dich jedesmal wieder aufspüren. Dass du eigentlich garnichts mit der ganzen Scheiße zu tun haben willst. Klar, du bist halt in dieses Metier hineingeboren und es ist wohl auch ein Stück weit "Nostalgie", wenn du in Kalabrien herumhängst, alte Bekannte besuchst (und sei es nur auf dem Friedhof). Himmel, pass bloß auf dich auf. Ich hab mal ne Dokumentation darüber gesehen; da unten sind ja sogar schon die Ortsschilder total zerschossen! Du musst dir richtige Kleidung anziehen, die dich gut tarnt. Sollst ja kein gutes Ziel abgeben. Mafia-Ninja, denk an meine Worte! Ich hätt' ja auch mitkommen können, wir sind doch ein gutes Team! Mehr oder weniger zumindest. Ich weiß, ich weiß, ich pass da erstens nicht rein und zweitens is das zu gefährlich und drittens hast du dann nur noch mehr zu tun und viertens.. die ganzen typischen Argumente eben. Ich kann nichtmal Italienisch. Außer "molto bene", "scusi" und "affanculo" - und ein paar Gemüsesorten - krieg ich ja nix raus. Aber ich glaube, selbst wenn ich die Sprache fließend beherrschen würde, hättest du mich doch daheimgelassen, du Arsch. Ich warne dich. Falls das irgendeinen anderen bescheuerten Grund gehabt hat..! Glaub bloß nicht, dass ich dich nicht finde, wenn du vorhast, abzuhauen! Das könnte dir so passen. Und es würde auch erschreckend gut in dieses Bild von dir passen - einfach still und heimlich die Flatter machen! Vorher noch schön einen auf "Es ist alles wunderbar, könnte nicht besser sein" und dann einfach untertauchen in aller Heimlichkeit, feige und ohne eine Erklärung! Familiengeschichten my ass! Ich dreh dir den Hals um, wenn du nicht dreimal in der Woche hier anrufst! Und in spätestens drei Wochen stehst du hier vor der Haustür, sonst komm ich rübergeflogen und mach dir Beine! Vor deiner tollen Familie hab ich keine Angst (außer vor Vincent, aber der zählt nicht als Familienangehöriger), die können mich mal! Und überhaupt, dass die es nach dieser ganzen Geschichte überhaupt noch WAGEN, dich herzubeordern! Als hätten sie nicht langsam gemerkt, dass sie dir, nein, dass sie UNS damit tierisch auf den Sack gehen! Die sind wohl erst zufrieden, wenn dich einer dieser Nadelstreifenkerle tatsächlich umgenietet hat und sie alle gemeinschaftlich auf dein Grab spucken können. Das ist doch sowieso nur ein Verein hoffnungslos veralteter, archaischer Saftsackfamilien, deren Männer mit Mull im Maul von "Ihrer Sache" labern, als würde das noch irgendjemanden beeindrucken. Is doch peinlich! Du willst doch hoffentlich auf deine alten Tage nicht doch dazugehören wollen? Der vorbildliche Mafioso mit Frau und Kindern (vorzugsweise männlich), der tagsüber Pizzen dreht und nachts die krummen Geschäfte. Das passt doch garnicht zu dir! Wieso sagst du zu sowas nicht einfach "Nein"?! Was wollen sie denn tun? Dich enterben? Schätzchen, Geld ist doch das geringste Problem. Familienehre? Du hast wohl vergessen, dass du seit einer ganzen Weile sowieso schon total unten durch bist in dieser Hinsicht. Mit deiner Lebensweise und so. Da ist doch sowieso nichts mehr zu retten. Und außerdem, falscher Stolz ist unangebracht, der bricht dir nur das Genick! Idiot! Wieso hast du überhaupt zugesagt? Du bist doch wohl kaum da runtergeflogen, um ein paar alte Tanten zu besuchen! Lust auf Suizid oder was!? Ah verdammt. Mach doch, was du willst. Ich kann dich ja sowieso nicht halten, wenn du dir was in den Kopf gesetzt hast. Wenn du Urlaub von mir brauchst, bitte! Aber dann hättest du dir auch ein anderes Urlaubsziel suchen können. Aber vielleicht brauchst du den Nervenkitzel, die Lebensgefahr, eine Knarre in der Hand und viele äußerst coole Kerle um dich rum, damit du dich mal wieder unter Männern fühlst. haha. Hast du überhaupt ne Ahnung, was für Sorgen ich mir hier mache?! Ich krieg noch graue Haare von deinem kleinen Abenteuer da unten! Komm nur in einem Stück wieder zurück. Komm überhaupt wieder zurück. Und ganz schnell bitte. Kapitel 25: #25 [Lurking] ------------------------- Tempo Er weiß nichts davon. Würde mir wohl die Hölle heiß machen. Obwohl, er ist ja selbst auch nicht besser. Vielleicht würde er ja nur lachend den Kopf schütteln, statt irgendetwas anderes. Das ist eigentlich ganz gut möglich, er ist ja nicht so wie ich. Ich würde toben und tödlich beleidigt sein, ich kenn mich gut. Aber er dagegen würde womöglich nur darauf bestehen, selbst wieder damit anfangen zu dürfen. Ha. Und verbiete mal jemandem diesen Umgang, den du selbst pflegst. Er würde sich, (verständlicherweise, muss man dazusagen) total verarscht vorkommen und fragen, wie lange schon. Und dann würde er sicher die ganze Zeit aufholen wollen, ja, das sähe ihm ähnlich. Dieser Kerl würde doch eh nur darauf herumreiten, wie unfair es wäre und dass ich eine Doppelmoral hätte. Hab ich ja auch, das kann ich garnicht abstreiten. Verbiete es ihm unter strengsten Auflagen und dann fang ich selbst mit der Scheiße an. So bin ich eben. Unfair und verlogen, aber was soll ich denn machen. Er ist doch schon kaputt genug. Und ich brauch momentan eben mehr Energie, ist ja nicht für lange. Vielleicht weiß er es ja doch schon..? Und sagt einfach nix dazu. (Und klaut sich womöglich schon regelmäßig was davon?) Weil es ihm im Grunde egal ist? Er vertraut wohl darauf, dass ich selbst weiß, was gut für mich ist. Dass ich alt genug bin, um selbst zu entscheiden, was ich mit mir anstelle. Und keinen Aufpasser brauche, der mir sagt "Mach das nicht, das ist nicht gut für dich". Mann! Soll ich mich jetzt darüber freuen, oder was? Kapitel 26: #26 [Europe] ------------------------ Alles > Spaghettis Nachdenklich wiegte er das Blatt Papier in der Hand, starrte abwechselnd auf das Schwarz auf Weiß und seinen Daumen, dessen Nagel an einer Seite etwas eingekerbt war. Ein Fall für die Maniküre. "Wieso trete ich eigentlich, in all den drei Jahren, nie in Italien auf? Frankreich, England, Deutschland, Spanien, Tschechien.. Österreich! Wieso nie in Italien? Und sagt jetzt bloß nicht, da besteht kein Bedarf!" "Wieso ist dir das so wichtig? Spanien ist doch ganz ähnlich. Oder Frankreich." "Wollt ihr mich verarschen..?" "Denen bist du wohl einfach zu provokant. Vergiss nicht, da sitzt immerhin der Vatikan und hat noch irgendwie seinen Daumen drauf - und die Italiener sind in der Mehrheit sowieso ziemlich konservativ, was solche Dinge angeht." "Wem sagst du das. Aber ich hätte zumindest gedacht, nach dieser Geschichte wäre das Interesse an meiner Person etwas gestiegen." Er war beleidigt, das konnte man ohne Zweifel an seinem Gesichtsausdruck ablesen. Mit Kritik oder Desinteresse an seinem Ich als Gesamtkunstwerk kam er nicht gut zurecht, aber das war auch kein Geheimnis. "Naja, ich glaube, eher das Gegenteil ist der Fall. Diese Katholiken sehen es nicht gerne, wenn man.. gleichgeschlechtliche Beziehungen so öffentlich zur Schau stellt. Und auch noch ein Landsmann involviert ist. Ich glaube, das nagt an ihrem Image. Dann werden sie wohl kaum scharf darauf sein, einen Künstler einzuladen, der diese Lebensweise auf der Bühne propagandiert." "Boah!", schnaufte er und ansonsten blieb ihm erstmal die Spucke weg. Das ist ja.. peinlich! Und er dachte immer, Amerika wäre prüde. Und rückständig. Aber diese Spaghettifresser setzten dem ja noch die Krone auf. Ha, jetzt wusste er wenigstens, wer Pascal diese Scheuklappen angeboren hatte. "Außerdem glaube ich, dass es auch keine so gute Idee wäre, dich dort auf den Präsentierteller zu legen. Du hast ja jetzt Erfahrungen genug gesammelt in diesem.. Metier. Und das da unten ist quasi die Hochburg schlechthin. Das ist, als würdest du dich freiwillig bei nem Spiel Crackpot City gegen Juvenile in den falschen Fanblock setzen. Ich denke, es ist besser, sich nicht in eine Region zu begeben, in der man von allen Seiten böswillig beobachtet wird." "Ach komm, hör doch auf. Du tust ja so, als würden mich jetzt alle Mafiosi dieser Welt hassen, nur weil Pascal wegen mir in den Schlagzeilen war. Das passiert doch alle Nase lang, dass solche Typen sogar noch wegen mehrfachen Mordes in die Bild-Zeitung kommen." "Aber du bist Joyau. Bisher hat noch keiner dieser "Typen" etwas mit einem solchen Star zu tun gehabt. Und das schafft natürlich Publicity in jeder Hinsicht, die denen wohl kaum Recht ist. Das scheint dann fast so, als hätte die Mafia ihre Finger im Spiel gehabt. So.. mit deinem Erfolg und so." "Ich heiß' doch nicht Frank Sinatra! Also, zumindest nicht Sinatra", plusterte er sich auf, konnte aber nicht leugnen, dass es nach außen vielleicht wirklich so erscheinen könnte. Pffff. Aber sowas hatte er doch garnicht nötig! "Ich will nach Italien!" "Wenn du unbedingt nach Italien willst, dann mach dort eben mal Urlaub." "Ihr besorgt mir einen Auftritt in Venedig. Ansonsten ist diese Tour gestorben, klar?" Das werden wir doch mal sehen! Als ob er Angst hätte vor diesem Verein! Und wehe, der kommt nicht zum Konzert! Kapitel 27: #27 [Foreign] ------------------------- - Venexia - "Hier bist du echt aufgewachsen..?" Die Frage war weder rhetorisch, noch eine wirkliche Frage, denn er hatte schließlich selbst verlangt, diesen Ort in Augenschein zu nehmen. Unablässig wurden dabei neue Erinnerungen in ihm hochgeschwemmt - kein Wunder, so wenig, wie sich die ganze Gegend verändert hatte. Gute wie schlechte Erinnerungen, in ihrer Gesamtheit, rein vom moralischen Standpunkt aus betrachtet, sicherlich negativ zu betrachten. Aber Spaß hatte er hier trotzdem gehabt. Sie standen fröstelnd auf der Ponte Storto über einem Seitenkanal des Rio della Misericordia, nach zwei Stunden Nieselregen und einer kleinen Führung durch die Gassen Cannareggios, wo er sich vor Jahren nur zu oft herumgetrieben hatte. Schmale Gässchen und dünne Seitenkanäle, mit Stuckfiguren überwucherte, wettergegerbte gotische Palazzi, unromantisch tuckernde Transportboote auf dem Canałazzo, das Gheto novo. In diesem Teil Venedigs trieben sich, zumal im tristen November, so gut wie keine Touristen herum, die sonst die ganze Stadt wie eine einzige Sehenswürdigkeit belagerten. Aber heute war kein einziger Rucksack zu sehen, keine Kameraobjektive, die Souvenirshops hatten ihre Fensterchen und Türen geschlossen. Ein paar Venezianer mit aufgespannten Schirmen liefen vorbei, den Kopf gesenkt, entweder in Gedanken oder mit ihrem Handy beschäftigt, das sie gegen die feinen Wassertröpchen abschotteten. Grauer Himmel, lethargisch ziehendes Wasser unter ihnen. Die Atmosphäre passte groteskerweise zu seiner Stimmung. "Ich hab mir das romantischer vorgestellt", murrte es neben ihm. "Mehr singende Spaghettis in Gondeln und so. Wofür gibt es denn die ganzen Klischees?" "Die gibt's nur für die Touristen." "Und ich bin kein Tourist?" Fangfrage. Aber ich weiß schon, was er hören will. Langsam bekomme ich den Dreh raus. "Nein, du bist der Freund der Familie, der zu Besuch ist." Ha, jetzt grinst er. Das gefällt ihm. Erstaunlich einfach, wenn man mal darauf kommt. "Diese Ecken hier sind das wahre Venedig, nicht diese Postkartenidylle mit Karnevalsmasken aus Porzellan und singenden Gondolieri." "Jah. Dafür Brackwasser, kalter Regen und dreckige Häuser auf Stelzen." "Sei froh, dass du nicht im Sommer hier bist, da stinkt es noch schlimmer. Wir haben sogar schwimmende Ratten." "Ist nicht wahr!" Der Regen wurde penetranter und mit übergestülpten Kapuzen stellten sie sich unter, ein winziges Restaurant mit ebenso winziger überdachter Terrasse, die das Wasser mit hohlem Plock-Plock auf dem Weg zum Boden aufhielt. Keine drei Sekunden später fühlte er sich beobachtet und gewahrte eine Bewegung auf der Seite; die Tür zum Restaurant war nach innen aufgegangen und ein müde wirkender alter Mann mit faltigem Gesicht und fleckiger Schürze sah sie zunächst wortlos an, hob dann die Nase. "E indove xe ke de soito se sociałidha pì de gusto se no intorno a na toła?" "Ich hör' irgendwas von Essen!", tuschelte Frankie mit mühsam unterdrücktem Stolz, mal ein Wort verstanden zu haben. Er tat sich schon mit Italienisch schwer genug, aber das harte Venezianisch überforderte seine weichliche Franzosenzunge wohl endgültig. Wenigstens gab er sich Mühe. "Ich würde einen Kaffee nehmen. Oder Espresso, was trinkt man hier so? Bestell mir was, Pasquale!" "Podemo batarse, ma su ła kuxina e el magnar łe difarense łe xe solkè de xona." "Ałora vanti!" "Sí, avanti!", setzt Frankie hinterher, so unglaublich arrogant, als hätte er NATÜRLICH jedes Wort verstanden. Der Restaurantbesitzer lachte und ich musste schmunzeln. Irgendwo putzig. "Nein Francesco, nein. Das erklär ich dir ein anderes Mal. Setz dich hin und genieß einen original venezianischen Café au lait." Dieses Gesicht ist Gold wert. Kapitel 28: #28 [Sorrow] ------------------------ - Er würde rotieren! - Ein kalter, nasser Regentag hätte viel besser zu seiner Stimmung gepasst. Stattdessen schien die Sonne hell und wärmte seine Haut, ließ das satte Grün leuchten wie ein HD-Bildschirmhintergrund mit ein paar bunten, fehlerhaften Flackerpixeln, wenn der Wind die vielen Blumen immer wieder sanft anschubste und das sonst starre Bild bewegte. Es fiel ihm schwer, angesichts dieser sommerlichen Pracht zu frösteln, die ihm wie ein Verrat vorkam - eine Beleidigung seiner Stimmung und seiner Gefühle, die sich nach hemmungslos ausgelebtem Trübsinn sehnten. Er wartete darauf, dass die bunten Farben und der aromatische Hauch blühender Pflanzen ihn depressiv machten, gerade WEIL sie so taktlos hübsch und fröhlich waren, aber nichts dergleichen passierte, was ihn maßlos ärgerte. Immerhin knirschte der Kies etwas trostlos unter seinen Füßen und seine Augen brannten ein bisschen. Vielleicht auch nur durch die umherschwirrenden Pollen, aber tröstlich war es trotzdem. Ein Jahr ist eine lange Zeit. Oder auch nicht, das kommt wohl auf den Standpunkt an. In diesem Fall war dieses Jahr zu einem Jahrzehnt herangewachsen, zumindest in seinem Kopf. Als wäre das alles schon vor so langer Zeit passiert, dass man sich kaum mehr daran erinnern konnte. So alt, so weit entfernt, dass alles schwammig, diffus und auf eine gewisse Weise auch gleichgültig geworden war. Darin war er sowieso immer gut gewesen. Er senkte den Blick, aber die hellen Kiesel auf dem Boden waren schon wieder so grell, dass er wegsehen musste, den Kopf heben und nach oben blicken - und wie kitschig ihm das vorkam. Als würde das Schicksal ihn mit Holzhammermetaphern bombardieren; dieser wunderschöne Sommertag, die bunte Welt, strahlend blauer Himmel, Vogelgezwitscher und kein einziger Punkt, an dem er seine Traurigkeit festmachen könnte. Es war alles zu schön, zu positiv, zu.. anders. Aber nicht einmal richtig frustriert konnte er darüber sein, dass man seinen Stimmungen so dazwischenfunkte und er setzte sich auf die warme Steinplatte, aufgeheizt von der Sonne, wohlig warm. Auch das ärgerte ihn. Er hätte seinen iPod mitnehmen sollen, voll trauriger Musik. Er könnte sich auch auf den Finger beißen, bis es so sehr schmerzte, dass es einen Grund gäbe, zu heulen. Es wäre zwar irgendwo Beschiss, aber immerhin ließ ihn auch das Wetter im Stich. Und überhaupt alles und jeder. Ach verdammt. Mann. Wenigstens hatte er jetzt doch einen Grund zum Heulen gefunden und kostete ihn aus, inmitten omnipräsenter Fröhlichkeit; weit draußen, mitten im Nirgendwo zwischen Bäumen, blühenden Büschen und Blumen am denkbar ungünstigsten Ort überhaupt, um in Stimmung zu kommen. Aber damals.. war es die beste Alternative gewesen. Niemand spuckt auf dein Grab. Er lehnte sich zurück, bis seine Schultern den warmen Granit unter sich spürten und fuhr blind mit einem Finger über die Erhebungen und Vertiefungen auf dem Grund unter sich. Fuhren den Buchstaben nach, ein schwungvolles S. Ein zittriges Seufzen floh an die frische Luft, erwischte Fliederduft und stob beschämt davon. "Tut mir leid", flüsterte er leise und hob die Hand über die Augen. "Den Busch säg ich noch ab." Kapitel 29: #29 [Urban] ----------------------- - Ich hab nen Vogel - "Ach was. Ich will dich doch nicht einsperren." Eigentlich will ich genau das. In einen Käfig sperren, an die Leine legen. Und dich nur rauslassen, wenn ich in der Nähe bin, mit wachem Blick, damit du mir nicht abhaust. Wie der Vogel. Der wochenlang zu meiner Fensterbank flatterte, um scheu ein paar Krümel Brot zu picken, die da verstreut herumlagen. Der sich nach Monaten des gegenseitigen Belauerns, Distanzverringerns und argwöhnischem Dulden endlich anfassen ließ. Ganz vorsichtig. Mit einem unendlich langsamen Finger, der ganz zart übers Gefieder streichelt. Das hat dir gefallen. So viel Aufmerksamkeit von jemandem, der in dir kein flatterndes Mittagessen sieht. Es HAT dir immer gefallen. Nun sitzt der Vogel in einem großen, hellen Käfig aus Puderzucker. Im Warmen, gefüttert mit den besten Biokörnern, immerzu beschäftigt, damit ihm nicht langweilig wird. Ein gigantisches Gehege, ein kleines Zitronenbäumchen, eine große Terracottaschale mit Wasser für ausgiebige Bäder, handgeschöpftes Quellwasser, die Zuckerstäbe sieht man doch kaum. Und kein Adler oder Bussard weit und breit, das Paradies. Ich traue mich nicht, die Fenster zu verhängen, um dem Vögelchen den Blick nach draußen zu versperren. Immer sitzt es da, auf seinem trockenen Ast und starrt in den Himmel. Es hat doch genug Platz zum Fliegen, aber stattdessen sitzt es einfach nur da und sieht nach draußen. Und stößt sich den Schnabel an den Käfigstäben, immer und immer wieder, wenn ich nicht hinsehe. "Ich bin überhaupt nicht eifersüchtig! Ich mache mir einfach nur Sorgen, ist das denn so abwegig?" Und was mache ich mir Sorgen, wenn das Vögelchen mal nicht aufzufinden ist. Manchmal drückt es seinen kleinen Leib durch die Gitterstäbe und versteckt sich irgendwo im Haus. Hinterm Schrank, unterm Sofa, es war sogar schonmal in der Waschmaschine. Dabei werde ich doch ganz krank vor Sorge. Hier in der Gegend schleichen viele Katzen herum, es wäre nicht das erste Mal, dass eins dieser Biester meinen Balkon erklimmt. Aber das Vögelchen versteht das nicht. Es ist doch auch nur ein dummer, kleiner Vogel. Der mir trotzig in die Finger hackt, wenn ich das eingeklemmte Ding unter der Spüle aus dem Röhrengewirr entknote. Willst du denn da drin verhungern? Dir die Flügel brechen? Und glotz mich nicht so an! Selbst schuld. "Dann geh halt? Ist mir doch egal. Den beschissenen Videorecorder krieg ich auch ohne dich programmiert!" Und jetzt ist es weg. Das kleine Vögelchen. Hat mich letztendlich doch weichgekocht. Ich hab ein gutes Herz, nicht wahr? Wie soll ich denn mitansehen, wie das kleine Ding hier an Kummer krepiert. Soll es eben wieder da draußen herumflattern. Oder auch nicht. Ich hab es nie wieder gesehen. Ich streu immer noch Körner aufs Fensterbrett, jeden Morgen. Ich verstecke mich sogar manchmal und warte, ob sich etwas hinter der Scheibe bewegt. Aber es kommen immer andere Vögel und picken gierig, was sie bekommen. Mein Vogel ist verschwunden, untergegangen in einem riesigen Schwarm graubrauner Flugsaurier. Unmöglich, das kleine Ding in dieser gewaltigen Kolonie noch einmal zu finden. Es will wohl auch garnicht gefunden werden. Der Anblick des leeren Käfigs frustriert mich, aber ich kann mich auch nicht dazu aufraffen, ihn wegzuschaffen. Er ist auch viel zu groß und schwer und und ist mit meinem Wohnzimmer verwachsen. Ich bring da blöde Ding doch garnicht durch die Tür. Und kaputtmachen.. das war doch viel zu teuer. Außerdem. Vielleicht brauch ich es ja nochmal irgendwann. Wenn der Winter kalt wird, vielleicht-- "Nö. Ist mir auch egal, wo der steckt. Irgendwo wird er schon sein." Wahrscheinlich wurde es von der Katze gefressen. Oder einem Habicht. Oder von einem perversen Franzosen abgeschossen, in Wein eingelegt und schließlich genüsslich verspeist. Wir machen so widerliches Zeug. Kapitel 30: #30 [Rain] ---------------------- - Traum - "Ich hab geträumt, wir hätten einen Streit gehabt." Wobei das ja nichts Außergewöhnliches ist bei uns; das passiert ja mittlerweile fast täglich. Oder gar mehrmals am Tag - so garnicht harmonisch. Wie es sich eben gehört. Da fliegen die Fetzen, oder zumindest die harschen Worte hin und her, bunt gemischt, mal deutsch, englisch, französisch oder italienisch (was ich unfair finde, denn letzteres klingt unerhört sexy), je nach Denkfähigkeit. Und die ist nach ein paar Bieren nun wirklich nicht mehr auf hundert Prozent, da kommt das Sprachzentrum gerne mal durcheinander. Macht aber auch garnichts, wenn man kein Wort versteht. Am Ende zählt nur, dass man den anderen verletzen will. Und zumindest das schaffst du mittlerweile mit nahezu vollendeter Präzision. Du kennst ja meine Schwachstellen und weißt, wo es besonders weh tut. "Und wir waren angepisst." Auch schon ein Dauerzustand. Du weißt genau, was ich meine. Tapirgesicht. "Dann bist du abgehauen, ich glaube eine Kneipe war's. Und irgendwie haben wir dort Billiard gespielt, aber du wolltest mich nicht anständig spielen lassen und hast es dann nicht gepackt, ein paar blöde Biere zu bestellen." "Absurder Traum. Zum Bierbestellen brauch ich nichtmal Worte." "Deshalb sind es ja auch Träume, du Held. Es muss nicht unbedingt etwas mit Realität zu tun haben." Ein bisschen vielleicht. Sagt man doch. Dass in Träumen ein großer Teil dessen verarbeitet wird, was man den Tag über gesammelt hat. Solche.. Dinge, die gerne mal in der Versenkung verschwinden, werden rausgezerrt wie zitternde Flüchtlinge aus ihrem Versteck. "Jedenfalls sind wir dann wieder heimgelaufen. Durch die Stadt, am Friedhof vorbei, untenrum, hat geschüttet wie bekloppt. So richtig dicke, fette, schwere Mördertropfen. Und arschkalt. Und so." Ich sehe es dir trotzdem an, obwohl es in deinem Gesicht kaum arbeitet, während du versuchst, dir das alles vorzustellen und in Gedanken den Weg nachläufst, den ich dir hier vorgebe. Du fährst die Strecke oft genug mit dem Auto und hättest wohl lieber Straßennamen von mir gehabt, würdest du sie denn verstehen. Es amüsiert mich manchmal sehr, wie du dir eine halbe Stunde vorher schon einen abbrichst und darüber sinnierst, wie man dieses verfluchte "Sante Marie aux Mines" wohl ausspricht. "Und dann?" "Dann haben wir uns hingesetzt, an der Bushaltestelle vorm Place du Rois. Beim Brunnen. Und haben da gewartet. Auf den Bus, oder auf den Regen. Ich glaube, ich bin dabei eingeschlafen." Was gibt es denn da zu grinsen? Einen Moment lang denke ich wirklich, du kannst in meinem Kopf sehen, die Bilder betrachten, die in meinem Gedächtnis kleben. An einer Wand voller geheimer Polaroids, die nur mich was angehen. "Du PENNST in deinem eigenen Traum?" Ach, das meint er. Na gut. Vielleicht nicht so unglaublich spektakulär. Aber er hat schließlich gefragt. Meine Schultern zucken von ganz allein, ich kann da auch nix machen. Der Traum hat sich eingebrannt, irgendwie; ich weiß nicht, wieso. Und so oft ich mich erinnere, wenn es draußen regnet, werde ich ganz ruhig. Und meine Fingerspitzen werden warm.. und ich ertappe mich dabei, müde zu lächeln, als wäre ich wieder kurz vorm Einschlafen. Über mir das harte, arhythmische Geprassel des Regens, eine eisige Kühle, die durch nasse Kleidung sickert und trotzdem -völlig paradox- die angenehme Wärme, wenn sich der Kopf auf die Schulter nebenan legt und die Augen schließt. Ein bisschen ausruhen, ein bisschen Frieden, ein bisschen Sicherheit. Ein bisschen Körperwärme schnorren und das Maul halten. Wenn wir uns nicht grade angiften, kommen wir doch eigentlich ganz gut miteinander aus. "Das war's. Weiter geht's nicht." "..öde. Da hätte ich mir bei dir was Besseres vorgestellt." "Du meinst, vollgestopft mit Kitsch und vor Schmalz triefenden Liebesschwüren und so'n Scheiß? Pfff!" Jaja, so schätzt du mich eben ein. Da muss ich dich enttäuschen - Träume, in denen du mal richtig liebevoll bist, gehen in der Regel eher übel aus. "Also, bist du zufrieden damit? Dann bist du an der Reihe. Dein schönster Traum. Ever." Du starrst durchdringend auf einen Punkt über mir; mitten in die Luft, die erschreckt ihre Blöße bedeckt. Siehst du so aus, wenn du ernsthaft nachdenkst? Du öffnest den Mund und ich klebe an deinen Lippen. Auf deinen Sinn für Romantik bin ich gespannt. "Es war dreckig, überall. Staub in der Luft, man konnte kaum was sehen. Und dunkel, teilweise. Hab mich durchgeschlichen, grade an der Grenze zum Krepieren und ich dachte nur: 'Das schaffst du nie, der nächste Gegner macht dich platt', aber ich bin weiter gerannt, immer weiter, hab ein paar Headshots aus dem Hinterhalt abgegeben, Adrenalin in den Adern; mit dem allerletzten Lifepoint hab ich diesen übelst schwierigen finalen Level geschafft und dann--" "Pascal. Ist es das, was ich denke?" "Counterstrike..?" "Du schläfst heute Nacht auf der Couch." "WAS." Kapitel 31: #31 [Flower] ------------------------ - Sie nannten ihn Blumenkohl - Mon petit chou-fleur.. Woher er das nun wieder hatte? Es war süß. Irgendwo. Deshalb erst garnicht nach den Hintergründen fragen, bevor wieder irgendwas Profanes herauskommt, wie "Das hab ich bei einem perversen Gemüsehändler aufgeschnappt" oder dergleichen. Wobei hier hoffentlich nicht meine Haare gemeint sind, denn ich sehe nicht aus wie eine Spätrentnerin, die sich grade beim Friseur eine Minipli verpassen hat lassen! Aber ansonsten-- Franquin kratzte sich am Ellbogen und gähnte ungehemmt in die Welt hinaus, die momentan lediglich aus einem abgedunkelten Zimmer bestand; draußen wüteten Regen, Donner und ein paar weit entfernte Blitze. Er hatte sich so langsam daran gewöhnt und verkroch sich nicht gleich jedes Mal unter die Bettdecke, wenn sich der Himmel in ein paar große Scherben verwandelte. Neben ihm eine Tasse lauwarmen Kaffees, ein halb gefüllter Aschenbecher, aus dem sich ein kaum sichtbarer, feiner Rauchfaden an die Decke zog und viel Papier. Verpackungen, beschriebene Blätter, Rechnungen, Zeitschriften, ein halber Baumstamm. Unten rechts auf dem recht kontrastarmen Bildschirm die Uhrzeit. Halb vier. Schon wieder. [Frankie]: ey. ich sollte mal pennen demnächst, ich muss heut noch arbeiten [Pasquale]: Nur zu. [Frankie]: gehts du nicht ins bett? [Pasquale]: Ich bin grade noch beschäftigt. Wahrscheinlich wieder am Zocken, so wie ich dich kenne. Terroristen über'n Haufen schießen oder ähnlich spaßige Szenarien. Mal ehrlich, was ist so toll daran, virtuelle Menschen abzuknallen? Du bräuchtest ein ganz anderes Betätigungsfeld, irgendwas mit kniffligen Rätseln oder so, das passt viel besser zu dir. Irgendwas, das deine Intelligenz fordert. Und nein, Kriegsplanung gehört nicht dazu. [Frankie]: auf der anderen seite wirds auch bald hell. vielliecht mach ich ja einfach durch, mit drei stunden schlaf is auch kienem geholfen [Pasquale]: Ach was, du bist todmüde. Geh ins Bett, wir können ja morgen weiterreden. Oder eher heute Abend. [Frankie]: woher willst du das wissen hast du hier kameras installiert du kliener perverser voyeur? ;) [Pasquale]: Nein, aber du machst mehr Tippfehler als sonst. L: Du Stück. [Frankie]: ..touché, mister holmes, touché. sag mal.. Er glotzte auf den Bildschirm und überlegte, wie er die Frage formulieren sollte. So einfach war das nicht. Immer heikel, dieses Thema. Brannte ihm jeden Abend unter den Fingernägeln, aber er tippte die Frage nur selten ein. Die Reaktion darauf war meist ernüchternd und artete langsam in Frust aus. Vielleicht sollte er einfach warten. Aber wenn er wirklich darauf wartete, dass der Querkopf von selbst auf solche Ideen kam, würde er sich nur dumm und dämlich warten. Auf der anderen Seite konnte er sich auch gut vorstellen, dass seine Penetranz irgendwann auf die Nerven gehen musste. [Pasquale]: Noch da? Oder bist du wieder eingepennt? [Frankie]: nö, ich sitz am tisch heut [Pasquale]: Also, was soll ich sagen? [Frankie]: nich so wichtig, hat sich erledigt [Pasquale]: M'kay. Bin kurz afk. Immerhin ist es schon knapp drei Monate her. Zwar chatten wir fast täglich; ist quasi schon ein fester Bestandteil unseres Lebens geworden, stundenlang über irgendwelche Dinge zu reden, die eigentlich nicht der Rede wert sind - das ist schön, weil alles so ungezwungen ist und weniger awkward und man sich vorher genau überlegen kann, welche Antworten man gibt und so. Aber.. das ist doch nicht dasselbe. Und jedes Mal blockst du ab. Du willst mit mir reden, aber mich nicht sehen. Weil du mir so ganz ungehemmt irgendwelche niedlichen Sachen an den Kopf werfen kannst, ohne dafür die Konsequenzen tragen zu müssen. Du Bastard. [Frankie]: ich glaub, ich geh wirklich ins bett. ab wann bist du dann wieder hier, darling? [Pasquale]: Ah, ich hab heute Nachtschicht, seh ich grade. Also wohl erst morgen Nachmittag. [Frankie]: okay, dann bis dahin. mach nicht mehr so lange [Pasquale]: Ja ja. Schlaf gut! [Frankie]: kein gutenacht-küsschen für deinen blumenkohl? :} [Pasquale]: Morgen wieder. [Frankie]: geizhals! nacht :P /[Frankie has quit the channel: mi manchi] Kapitel 32: #32 [Night] ----------------------- Guten Morgen Mit zunehmender Helligkeit verschwindet dieses erschöpfte, depressive Gefühl und lässt den metallenen Kuckuck im Kopf zu einem armseligen Schmodder schmelzen, der eklig träge an mir runterläuft wie zu flüssiger Wackepudding; salziges Wasser, in dem die Zehen nervös vor sich hin treten und sich noch erkälten werden. Oder auch nicht. Is ja auch egal. Heute war ich mal schlaflos, aber im Gegensatz zu dir hab ich auch garnicht versucht, mich dazu zu bringen, eine ruhige Nacht zu genießen. Nachts kann ich ungestört emo werden, heulen, mich selbst bemitleiden und das Leben verfluchen. Kann mich wenigstens keiner bewerten und beurteilen. Ja, das ist mir peinlich, und? Häuft sich in letzter Zeit. Wird immer schwerer, mich so herzurichten, dass man die verquollenen Augen nicht mehr sieht. "Nachts ist alles anders." War schon immer ne gute Ausrede, nech? Und auf den Alkohol kann man sowieso vieles schieben, ein dankbarer Grund, um sich am nächsten Tag nicht schämen zu müssen. Oder zur Verantwortung gezogen zu werden - das könnte peinlich werden. Im besten Fall. Da ist Klappehalten doch noch die beste Alternative. Klappe halten und den Zustand genießen, Veränderung bedeutet Unsicherheit und das kann ich momentan garnicht gebrauchen. Mann. Was gäb ich drum, nur einmal.. Mittlerweile fast jede Nacht, wenn das so weitergeht, sind wir bald beide zu kaputt, um weiterzumachen. Immer betrunken sein zu müssen, ist auf Dauer echt anstrengend. Das macht uns doch beide fertig, dass musst du doch auch merken. Aber nein, jeden Abend das gleiche Spielchen. Und jede Nacht ist wie immer alles anders. Immer ähnlich, aber eben.. anders. Gott, wie ich das hasse. Ich liebe es, für eine so kurze Zeit und hasse es danach umso mehr, argh! Da sagt man doch, Menschen sind lernfähig! Aber anscheinend bin ich da die große Ausnahme. Fall' immer wieder drauf rein, auf diesen fiesen Cocktail, auf diesen Bastard. Oh Mann. Ich mach das echt nicht mehr lange mit. Und jeden Tag der gleiche Vorsatz. Sag's ihm doch, tu doch was, hast du keine Eier in der Hose oder was? Jaja. Können vor lachen. Dann hab ich halt Schiss, leck mich doch! Lass mich doch. Dann hab ich eben Angst. Vor Veränderung. Tagsüber Kumpels, nachts Sex. Da sieht man nichts, da hört man nichts, das Hirn ist ausgeschaltet. Alkohol und das Wissen, dass man tagsüber nicht damit belästigt wird. Eine knappe Stunde vielleicht. Hitze, Sehnsucht. Meins, meins, meins. Ich will ihn garnicht loslassen, hierbehalten, uns zusammennähen. Aber dann kommt diese kalte Angst, dass er sich losreißt und nicht wieder kommt. Und ich lasse locker, hoffe jedesmal vergeblich, dass er von sich aus liegenbleibt. Nie. Kein einziges Mal. Kein einziges, verficktes Mal. Und das war's dann. Weg ist er, hinterlässt eine Sauerei sondergleichen. Auf dem Bett wie in meinem Kopf. Und beide muss ich alleine aufräumen,.. dieses Arschloch. Gott, das ist nicht zu fassen. Wir sind doch sowas von...! Ach Mann. Nur einmal. Wenn die Sonne kitschig durch die Ritzen in den Fensterläden reinpiekt. Vielleicht ein Muster auf die flauschigen Haare scheckt, wie jetzt auf die Bettdecke. Mit meiner Nase in deinem Nacken, weil ich den Duft mag. Weil der viel intensiver ist, als auf dem Kissenbezug. Und es ist ganz warm, kuschelig, deine Haut so weich und angenehm und ich könnte heulen vor Freude. Stattdessen setze ich dir einen trockenen Kuss in den Nacken, weil ich merke, dass du wach bist. Und du sagst brummig "Guten Morgen", ganz leise und wir bleiben noch ne Weile liegen. Irgendwann macht dann einer Kaffee. Verdammt, Mann. Kapitel 33: #33 [Wrath] ----------------------- Me loved you long time Who'd have thought, this night would end this way. You would've laughed rolling on your bed. A rusty smile carved through a sweating face is staring for a while on how I spilled your red. I'll never forget your bewildered gazing as I won the bet and took your life. You happy now? Satisfaction this way comes - I kept my vow and ended a strife. Me loved you long time. Me loved you long time. Me loved you so much for committing a crime. Unable to bear anything but happiness you had to fear myself as a thread. Weird mind games, yes, we played them alot. I've given you names, now I call you dead. Me loved you long time. Me loved you long time, Me loved you so much for committing this crime. Kapitel 34: #34 [Moon] ---------------------- - - "Können wir nicht mal ein kleines bisschen kitschig sein? So ein winziges Fünkchen?" "Ich.. bin nicht gut in sowas." Das hab ich gemerkt. Schenkt mir zum Geburtstag eine Flasche Cavados, eine Jahrespackung Halsbonbons und eine Fleecedecke. Da merkt man so richtig, wie da die Liebe drin steckt. Nicht. Nein, ich bin nicht enttäuscht - immerhin hat er dran gedacht und überhaupt was besorgt. Das ist mehr, als man von den meisten Kerlen erwarten kann. Hab ich mir sagen lassen. Aber.. irgendwie ist das doch ziemlich random. Und nicht irgendwie.. naja. Es muss ja auch nix Großes oder Teures sein, nur vielleicht halt so ein bisschen was mit.. Herz oder so. Aaaaaber, was erwarte ich, es ist immerhin Pascal. "Was guckst du so, das ist alles sehr praktisch! Du magst dieses Zeug sicher und die Bonbons sind gut für deine Stimme. Und weil du beim Rauchen auf dem Balkon immer meckerst, dass es so kalt ist..", rechtfertigt er sich und ich muss lachen. Boah, er's so niedlich, wenn er unbeholfen is. "Jaja, hast ja vollkommen Recht, ich kann es tatsächlich gut gebrauchen. Ich find's auch sehr lieb von dir. Und dass du dran gedacht hast, sowieso." "Es steht eigentlich unübersehbar dick eingekringelt im Küchenkalender.." "Sscht!" Und jetzt ziert er sich wieder, wenn ich ihm auf die Nase küsse. Mensch, guckt doch keiner. "Ich muss los, ich hab Aufnahmen. Kann spät werden, aber ich komm dann gleich, 'kay? Öääh, übrigens hat der Typ von der Anzeige vorhin angerufen, ich hab dir die Nummer aufgeschrieben. Der klang ziemlich interessiert. Uh, okay, bis heut Abend!" - Und wie es Abend ist. Ich komm aus dem Gähnen gar nicht mehr raus.. aber das schlaucht auch immer so furchtbar im Studio. Immerhin haben sich die Halsbonbons schon bezahlt gemacht; es kratzt nicht mehr so heftig. Aah.. und jetzt vor die Glotze und berieseln lassen und dabei einpennen, yay! "Hoi Pascal, wieder da", ein Wink, er ist anscheinend grade in der Küche. Uh. Es riecht verdammt lecker, merk ich grade? "Nicht reinkommen!" - das klingt hingegen ziemlich gestresst. Und die Geräusche klingen auch nicht sehr vertrauenserweckend.. "..alles okay? Kann ich was helfen?" "Nein! Alles bellissimo! Ich.. bin gleich fertig. Du kannst schonmal auf den Balkon!" ..whä? Balkon? Was soll ich jetzt da draußen, es ist arschkalt? Eine rauchen oder was?.. Meinetwegen, ich bin grade ziemlich neugierig, um ehrlich zu sein. Das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass er sich jetzt echt noch ins Zeug legt - der backt mir sicher nen Kuchen, huuuuh! Und draußen die nächste Überraschung. Das komplette Sofa hat er auf den Balkon gezerrt, dazu den Couchtisch. Und da liegt auch schon meine neue Fleecedecke. Awww. Oh Mann. Ist das süß. Ich.. nehm alles zurück. "Vorsicht, heiß!" "Was zum..! Ist.. sind das Crêpes? Ist das ne brennende CRÊPE-Torte?!" "Flambiert. Das.. macht man doch so, oder? Ich hab das Rezept aus dem Internet, da steht, dass der Calvados angezündet wird." Oh Gott, ich fang gleich an zu heulen. Oh Gott, oh Gott! "Setz dich, ich hol noch das Messer." Und auf einmal ist alles ganz schrecklich romantisch. Eingemummelt in die neue Decke (die ist wirklich arg warm!), auf dem Sofa. Pascal daneben, der raucht natürlich und sieht aus, als wäre er nnur ganz zufällig hier. Und dazu ein fast voller Mond irgendwo Rand des Sichtfelds. Den man nur sehen kann, wenn man sich gegen eine fremde Schulter lehnt. Und die Crêpe-Torte brennt noch ein bisschen, bis Pascal sie hektisch auswedelt, weil grade die Ränder ankokeln. Ich finde nichtmal Worte um zu beschreiben, wie wunderbar das alles ist. Zu schön, um wahr zu sein. "He. Bevor du einschläfst: Alles Gute zum Geburtstag." "Pascal, das ist ungelogen der schönste Geburtstag, den ich je hatte. Von wegen, du kannst nicht kitschig.." Gib mir mal deine Finger, meine Hände werden kalt. "..ich hab halt gegoogelt, was--" "Halt die Klappe." Dann stopfe ich dir eben deinen unromantischen Mund für heute Abend. Kapitel 35: #35 [Walk] ---------------------- Bier und Kippen Die Stille hatte sie hinterrücks überrumpelt. Durch die angelehnte Balkontür trug ein lauer Wind nur diffuses Rauschen und den Geruch vom Innenhof hinein: Grillgut, Gabes Hyazinthen und nasse Erde. In der Ecke gegenüber lag Alex wie ausgeknockt auf einer Isomatte, die Gliedmaßen von sich gestreckt wie die Stadtteile einer wuchernden Metropole. Die Lichtverschmutzung, die von den Straßenlaternen hinauf hallte, schälte sein affig gesträhntes Haar aus dem Schatten. Nur im Schlaf konnte dieser Typ so derart erschöpft und lethargisch wirken. Es war viel zu warm. Pascal verzog das Gesicht und drehte sich in dieser Nacht das achte Mal von links nach rechts. Er hatte mitgezählt. Irgendwie hatte er erwartet, schlafen zu können. Sie waren um die Häuser gezogen, lachend; dank Happy Hour hatte Pascal sich auf Cocktails eingelassen und festgestellt, dass man davon irgendwann genau so betrunken war. Jetzt war er fast wieder nüchtern. Mit einem leisen Schnaufen drehte Pascal sich auf den Rücken. Das siebte Mal. Und kurz sinnierte er über seine eigene Zählweise nach - kurz zwischendurch auf dem Rücken zu landen, das reicht nicht. Das würde die ganze Statistik durcheinander bringen. Nur, wenn der Rücken wirklich das Ziel der vorherigen Wendung war, gilt sie auch. Ach. Das ist doch albern. Pascal schob sich an die Sofakante und stand auf. In der Küche brannte noch ein kleines, weiches Licht, und alle Oberflächen sogen sich voll mit warmem Gelb. Pascal kniff die Augen zusammen und öffnete den Kühlschrank; er fand ein altmodisches Bier ohne Obst oder Strohhalm und bemühte sich, es ohne Klirren aus den Fängen des Plastikregals zu entfernen. Kippen hatte er keine mehr gefunden. Als er die Tür wieder schloss, schaute er auf halbem Wege nach rechts und sah Gabes Profil aus der Nische ragen. Auf dem Küchentisch vor ihm stand ein Laptop, und seine Spinnenhände ruhten immer noch auf der Tastatur. Im nächsten Moment hatte Gabe den Kopf gedreht; hinter der gelben Reflexion der runden Brille konnte Pascal es nicht sehen, aber zumindest meinte er, angesehen zu werden. "Konnte nicht schlafen", brummte er schulterzuckend und kippte kurz die Bierflasche. Allerdings interessierte Gabe sich weniger für sie - als er den Torso etwas drehte, war die Reflexion verschwunden, und Pascal verfolgte den blassblauen Blick zu seiner Schulter zurück. Ah. War irgendwie zu warm gewesen für ein T-Shirt. Das hatte er so ein bisschen vergessen. Aber Gabe verkniff sich jeden Ausbruch an Emotionen. Er hatte die Lippen etwas zusammen gepresst und die Stirn gerunzelt, als würde er den Bruchteil einer Schusswunde spüren, sah dann über die Bierflasche Pascal ins Gesicht und klärte seine eigene Miene. "... Ich auch nicht." Er steckte immer noch in seinen Alltagsklamotten, und Pascal kam sich etwas inadäquat vor, ohne es zugeben zu wollen. Einen Moment blieben beide regungslos und schauten nur. Pascal fühlte gerade noch, wie ihm ein bisschen Blut in den Kopf stieg. Merkwürdige Atmosphäre, Gabe. Bist du das? Ist das deine Schuld? Denkst du-- denkst du vielleicht gerade darüber nach, ob du mich vögeln würdest, oder sowas Krankes? Und was schreibst du da?! Du wusstest sehr gut Bescheid über diese-- seltsamen Geschichten in dem Forum, wenn ich rausfinde, wie dein Account heißt, dann--! Gabe atmete aus und schloss wie beiläufig seinen Laptop, als er aufstand. Und im nächsten Moment fühlte sich Pascal gescholten wie als kleiner Junge, als er kurz nach der Kirche einen nassen Frosch auf Marias Sonntagskleid fallen gelassen hatte. Er starrte kurz auf seine Fußspitzen. Öffnete dann das Bier mit einem Zischen, und wollte ruckartig kehrt machen. "Hast du Lust auf 'nen Spaziergang?" Gabes Brillengläser reflektierten wieder. Und selbst, wenn nicht, hätte Pascal den Augen dahinter die Intention wohl nicht ablesen können. Er hob die Hand um den kühlen Flaschenhals und murmelte: "Aber das Bier..?" "Nimm es mit?" "... kay. Ich... zieh mir... Moment." Als ob das Gelb einem die Worte vom Mund schluckt. Wenigstens wehte draußen Wind. Es war trotzdem noch warm, so dass Pascal selbst in seinem T-Shirt schwitzte. Über die Shorts hatte er sich nichts gezogen - die waren lang genug, fast wie Badeshorts, und mit den Geklapper seines Gürtels hätte er Alex womöglich geweckt, und außerdem war in dieser Gegend sowieso tote Hose, war ja nicht so, als würde ihn jemand sehen, und vielleicht war er auch einfach immer noch ein kleines bisschen betrunken. Im nächsten Moment bereute er die Aktion jetzt schon. Die Bürgersteige in diesem Viertel von Herzberg waren schmal, brüchig und gesäumt mit Laternen, die aus der Ferne eine Reihe leuchtender Stecknadelköpfe bildete. An der nächsten großen Kreuzung leuchtete noch eine Bar, und die Stimmen nasser Studenten wehten ab und zu hinüber, aber Gabe bog bereits davor in eine kleine Seitenstraße ab, die bald in eine Fußgängerzone mündete. Breites Pflaster verlief zwischen Wohnblöcken; dazwischen ragten ein paar Büsche hervor, vereinzeltes Grün, mit Bänken und einem maroden Spielplatz im Herzen. Es war dunkel, aber nicht sehr. Das Erbrochene der Lichter färbte die Ränder des Himmels bräunlich. Fast wie in Crackpot City. "Du kannst ziemlich oft nicht schlafen", stellte Gabe schließlich gleichmütig fest; er konnte einen Tonfall treffen, bei dem es selbst Pascal schwer fiel, eine Anschuldigung hinein zu interpretieren. "Schichtarbeit", antwortete er und nahm einen Schluck Bier. "Bringt den Schlafrhythmus durcheinander." Gabe nickte. Als Rezeptionist konnte er das nur allzu gut verstehen. Er blieb jedoch still, und gab stattdessen einen Weg am Rande eines Wohnklotzes vor, in dem nur vereinzelt Lichter brannten. Selbst Studenten müssen wohl irgendwann schlafen. "Auch wenn du nicht arbeitest?", fragte er dann schließlich. Pascal zuckte mit den Schultern und trottete hinterher. Ein plötzlicher Wind schien ihm genau die Shorts hinauf zu wollen, und er bekam eine ausgeprägte Gänsehaut, die ihm für einen Moment die Sprache verschlug. "Es gibt auch andere Dinge, die einen durcheinander bringen", brachte er schließlich heraus, als die Gänsehaut sich halbwegs gelegt hatte. Mehr Bier. Mehr. Und mitten im nächsten Schluck fiel ihm auf, dass sein ursprünglich drogenbesetzter Gedanke etwas falsch interpretiert werden konnte, und er bekam einen kleinen Hustenanfall. "Nicht, dass--", krächzte er, und musste dann wieder Luft holen. Immerhin war er so beschäftigt mit Husten, dass er den prüfenden Blick diesmal gar nicht mitbekam. "... ich meine... ist einfach stressig." Und verwirrend, setzte er still hinzu. Trotz Hustenanfall hatte es sein Bier sich nicht mit ihm vergrätzt. Gabe streckte sich, einen Meter weiter voraus, und atmete tief ein - ein dürrer Hüne, der im ausgelaugten Mondlicht fast schon an Slenderman erinnerte. "Selbstverständlich. Darf ich?" Er hatte sich umgedreht, und zeigte jetzt auf die Bierflasche; Pascal presste die Lippen zusammen und schnaufte schon fast, was wird das, was wird das hier?!, vielleicht war das wirklich nicht gut für ihn, vielleicht, er nickte schließlich stumm und hielt Gabe die Flasche hin. "Das ist auch immer so 'ne Sache mit Alex", murmelte dieser nach einem Schluck und starrte kurz den Flaschenhals hinunter. Pascal schoss wieder Blut ins Gesicht. "D--!" Gabe unterbrach ihn und beendete seelenruhig: "Ich meine, mit seinem Bier." Oh Gott. Oh Gott. Ich hab keine Ahnung, wovon du redest. Pascal blieb stumm. Trottete etwas mehr an den Rand eines ausgestorbenen Beetes, wrang die tatenlosen Hände und bemerkte kaum die seltsame Note in seiner Nervosität. Es ist Nacht. Nacht, weißt du. "Er ist da immer etwas zimperlich. Ich glaube, er glaubt an so etwas wie indirekte Küsse oder so?" Gabe lachte trocken. "Ausgerechnet Alex." "Eine Flasche von Frankie würde er bestimmt mit Handkuss nehmen. Zungenkuss", brummte Pascal beiseite. Neben ihm tauchte ein Gebüsch auf, in dem etwas zirpte, und er blieb kurz daneben stehen. "Vielleicht." Er hörte das Bier in der Flasche schwappen. "Aber die würde er sich auch eher ehrfürchtig ins Regal stellen, statt erst mal das Bier auszutrinken." "Du nicht? -- Ich meine... Rough Diamond..." Von der Terrasse des Wohnblocks hinunter hallte ein Geräusch, das ein bisschen klang wie ein triumphaler Tusch. Sie setzten sich wieder in Bewegung; es hörte gerade etwas auf, so warm zu sein, und Pascal hing kurz den Gedanken nach, alle Dinge, die Frankie in dieser Wohnung berührt hatte, in einer Ecke auszustellen. Und dafür Eintritt zu nehmen. "Ich halte nicht viel von Memorabilia. Mehr von Erfahrungen. Und saufe das Bier von jedem. Flasche, Glas, frisch oder vollgesabbert." Sie tauschten einen Blick, der für Pascals Geschmack eindeutig zu seitlich lag. "D--" "Es hilft, nicht so viel darüber nachzudenken." Ich habe immer noch keine Ahnung, was du meinst, dachte Pascal, und gleichzeitig brannte es ein bisschen unter seinen Haarwurzeln. Tief im Keller schaufelte sein Gehirn irgendwelche Kohlen oder so, er wollte gar nicht an die befeuerten Ofen denken. Und trotzdem waren das Rauchschwaden. Die nicht verschwanden, wenn er nicht hinsah. "... Bier ist Bier", schloss Gabe seinen Vortrag und platzte in schallendes Lachen heraus; er schüttelte sich im Vergnügen wie ein Baum im Sturm und drückte Pascal das Bier zurück in die Hand, damit er es nicht verschüttete. Das herzhaft filmreife Gelächter trug wohl bis nach oben; kurz unter dem Dach gingen zwei Lichter an, und vielleicht linste sogar eine Silhouette hinaus. "... Gabe", sagte Pascal schwach und bedachte die Bierflasche mit einem zögerlichen Blick. "Du bist immer noch betrunken, oder..?" Er wartete ein paar Sekunden auf seine Antwort, denn so lange brauchte Gabe, um halbwegs wieder seine Fassung zu erlangen. "In vino veritas", gluckste er vergnügt und räusperte sich dann. "Sorry. Das war gerade so schön dämlich. Nichts weiter." Er tappte Pascal mit der Hand auf die Schulter und nickte nach links. "Lass uns gehen, nachher wacht Alex noch mit der Vision auf, das ganze Bier zu besabbern, bevor es ein anderer tut." Und während Pascal hintendrein trottete, wehten seine Shorts wieder etwas im Wind; erneut wanderte eine Gänsehaut bis hinauf zu seinen Schläfen, während er das Bier zwischen seinen Fingern mit einem langen Blick bedachte. Nicht, dass er jetzt-- aber erst mal würde er es in die Küche stellen. Im Laufen zu trinken war irgendwie doof, und außerdem brauchte er jetzt sowieso erst einmal dringender als alles andere eine Kippe. Noch vor der Haustür fiel es ihm wieder ein. Seine Chesterfields waren ihm längst wieder ausgegangen. Aber als er im Treppenhaus Stufe um Stufe stieg und sich dabei auf die Zunge biss, wuchs in ihm ein neuer Beschluss, der auf der Fußmatte der Wohnungstür endlich verbalisierte Gestalt annahm. Zeit, Gauloises zu probieren. Kapitel 36: #36 [Precious] -------------------------- Kleinod Als Frankie die Treppe hinauf kam, brannte im Schlafzimmer noch ein winziges Licht. Oder zumindest sah es danach aus; Pascal kauerte, halb ausgezogen, über dem Leuchten seines Laptops und schien hochkonzentriert. Es musste ihn so sehr gepackt haben, dass nicht einmal Zeit geblieben war, sich seiner zweiten Socke zu entledigen. "Ich dachte, du wolltest schlafen?" Milde grinsend schob sich Frankie auf die Bettkante. Es hing ein willkommenes Gemisch aus Gerüchen in der Luft: Frische Laken, ein bisschen Zahnpasta und Pascal - der womöglich mit all seiner Kraft Geschlechtshormone in die Luft pumpte und dabei den Abgelenkten mimte. Zumindest hätte genau das für Frankie passieren können, es wäre nicht viel anders gewesen. Erst jetzt sah Pascal auf. Es wäre wohl filmreif gewesen, hätte sich der Bildschirm in seiner Brille gespiegelt, aber dazu war seine Brille zu teuer gewesen, zu gut entspiegelt. Er zögerte einen Moment - immer noch wägte er stark ab, welche Teile seiner Gedankenwelt er in welchem Detailgrad offen legte. "Ich hab nen Link ans Smartphone gekriegt", erklärte er schließlich, "und am Smartphone lesen ist scheiße." Das war für seine Verhältnisse auch schon fast ein Roman. Und das, obwohl es Nacht war. Aber dafür war er auch weitestgehend nüchtern. Frankie linste im Licht des Laptops auf ein Stück Haut unter dem offenen Hemd, mit der gelockerten Krawatte, die zur Seite geschoben war. Manchmal, wenn Pascal einem Treffen mit Leuten bevorstand und ihn das nervöser machte, als er zugeben wollte, schmiss er sich bewusst in Schale. Es konnte wirklich niedlich sein, wie er dann mit eiserner Miene Krawattenknoten knöpfte, als wollte er zu einem Geschäftsessen mit der Famiglia. Inzwischen reagierte er auch nicht mehr ganz so widerborstig auf Frankies Einmischungen; mit seiner Hilfe ließ sich die Geschichte ein bisschen besser als charakteristischen Stil verkaufen. Bodyguard-Chic, oder so. Mafiöse Anklänge. Mal davon abgesehen, dass es zugegeben ziemlich heiß aussehen konnte. "Hmm." Stück für Stück kam Frankie näher, sobald Pascal sich wieder seinem Bildschirm gewidmet hatte, und alsbald kletterte eine Hand unter das weiße Hemd. "Vielleicht hättest du dich davor doch besser ganz ausgezogen." Er drängelte sich von der Seite in Pascals Sichtfeld und fischte nach dessen Lippen - eine Geste, die Pascal gerne zurückgab. "Warum?", fragte er in einer kurzen Pause nach einem langen Austausch, und in Wellen kam der nächste, "Hätte das", "meine Chancen", "bei dir", "verringert?" Reden war ziemlich schwer, wenn der Mund zwischendurch derart beschäftigt war, aber seine Mundwinkel schoben sich trotzdem aufwärts. Diesmal machte Frankie eine Pause, um zu überlegen, oder zumindest so zu tun. "Hmm. Nö", entschied er schließlich grinsend und schob sich vom Bett auf Pascals Schoß; er merkte noch, wie er eine kühle Kante streifte, es gab kein Rauschen oder irgendetwas Dramatisches, nur ein Krachen, ein Knacken, und es war dunkel. Pascal fror ein. "... Das ist jetzt nicht dein Ernst", sagte er. Die Frage klang nur halb so rhetorisch, wie Frankie es sich gewünscht hätte. "Ähm. Sorry. Ich..." Dabei hatte er gerade das lästige Hemd gefunden. Jetzt hielten zwei Hände seine eigenen umklammert, und wenig später beförderte ihn Pascal zurück auf die Matratze. Der Mensch konnte eine beachtliche Kraft entwickeln, seitdem er sich regelmäßig am Haus zu schaffen machte und zumindest einige ärztliche Ratschläge beachtete, was seine Verletzung anging. Kurz war es still - bis auf Pascals Schnaufen, das klang wie ein Seufzer-Understatement. Einige stoffliche Geräusche des Bettlakens bezeugten Pascals Ansinnen, aufzustehen. "Mach das Licht an." Frankie bewegte sich erst einmal nicht. "Das war ein Versehen. Ist bestimmt nichts passiert." Er bildete sich ein, Pascals Zähne knirschen zu hören. "Mach das Licht an", wiederholte der mit einer mühsam kontrollierten Komponente in seiner Stimme. "Mach das doch selbst...? Du stehst gerade." Dafür, dass Pascal die meiste Zeit über wie ein monumentaler Gletscher pro Jahr eher zentimeterweise durch Emotionsfjorde glitt, konnte er manchmal ziemlich Drama machen. Frankie sah das Problem gerade nicht. Wenn sie beim Vögeln eine Nachttischlampe umschmissen, hatte das Pascal bisher auch reichlich wenig gejuckt. Außer natürlich, dass er hinterher manchmal Scherben auffegen durfte oder so, hehe. Inzwischen hatte Pascal es aufgegeben und selbst die Nachttischlampe angeschaltet. Ein milchiges Orange suppte den Raum voll und ließ alles warm und spät wirken. In diesem Licht gab er sich die größte Mühe, den Schaden zu betrachten, vor dem er sich hingehockt hatte; als Frankie das nächste Mal hinsah, wurde er hingegen selbst angestarrt. "In letzter Zeit kotzt du mich an", sagte Pascal ohne größere Gefühlsregung und wandte sich ab. Oh, du..! Na ja. Es wäre nicht Pascal ohne diese knochenbrechende Ehrlichkeit manchmal. "Ja, sorry, es tut mir Leid." Frankie verdrehte die Augen ein bisschen, ohne darüber nachzudenken, aber das hier war so albern! "Es war'n Versehen, jetzt mach mal nicht so'n Drama hier. Ich kauf dir 'nen neuen." "Darum geht es nicht!" Pascal fauchte. Bei jemand anderem hätte Frankie vielleicht niedliche Wildkatzenvergleiche anstellen können, um das Geschehen dem Lächerlichkeitspegel in seinem Kopf anzupassen. Aber dazu konnte er Pascals frustrierten Gesichtsausdruck zu gut sehen, und die Schussnarbe, die hinter dem Hemd hervorblitzte - alles, was er in dem Moment sah, war der Mensch, der mit Waffen hantierte, der Leibwächter einschüchterte und Faustschläge austeilte, die unter Umständen ziemlich saßen. (In der Hinsicht hatte Frankie recht wenig vergessen.) "Mann, okay-- aber worum geht es dann?!" Sobald Frankie wieder sprach, war dieses tiefere Unbehagen verflogen. Stattdessen plusterte er sich auf, in (wie er fand!) gerechtfertigter Rage. "Ich bin kein Gedankenleser, Senor Don Pasquale! Da stellst du dich hin mit deinem scheiß Pokerface und meinst, ich wüsste jetzt über dein Verhältnis zur Innenpolitik von Timbuktu Bescheid." Etwas leiser setzte er hinzu: "Aber selber nicht mal Lachen von Weinen unterscheiden. Scheiß Nerd." "Ach, halt doch die Fresse." Pascal warf in müdem Frust ein Plastikteil von sich, das offenbar abgebrochen war. "Du kannst ja deine Schrottkiste da heiraten. Mit der musst du wenigstens nicht reden." "Ich sagte, halt die Fresse!" "Oooh, willst du mich rumkommandieren?" Frankie wackelte ein bisschen mit den Fingern und fühlte sich wie ein Raubvogel, der fotogen mit seiner Beute spielte. "Na los. Zwing mich doch." Und dann sah er den Blick, und wie sich Pascals Muskeln unter dem Hemd spannten, und wie er in einer ruckartigen Bewegung über Frankie stand - sich auftürmte - und Frankie fühlte sich nur noch wie ein Vogel, der sich nur zur zwanzigfachen Größe aufgeplustert hatte. Vor einem halben Jahr war der bei den Luscontis aufmarschiert - bei deren Chef sogar - und hatte ihn nach Strich und Faden zerstört. Zerstört. Weil der Typ Marias Herz gebrochen hatte. Und Pascals Einstellung dazu, seine Liebsten zu beschützen, durch einige Ereignisse in den letzten zwei Jahren etwas Fundamentalistisches gewonnen hatte. Aber das waren mehr die Nebensätze in Frankies Hirn. Das hier war ein Mensch, der sich selbst über einem Mafiadon auftürmte. (Einem, der - den Erzählungen zufolge - ungefähr groß und breit genug war, dass Pascal angeblich zwei mal in ihn rein passte. Mindestens.) Jede angespannte Sekunde wurde zur Qual, auch wenn nichts passierte. Gerade, wenn nichts passierte. Und sie einander nur anstarrten. Und dann wandte sich Pascal ruckartig ab, die Hände ineinander verkeilt, als müsste er sich selbst unter Kontrolle halten. "Du hast keinen Respekt vor meinem Zeug", sagte er schließlich leise. Sehr, sehr leise. Frankie musste gut aufhorchen, um überhaupt etwas von den Worten mitzukriegen, ehe die dunklen Ecken des Schlafzimmers sie verschluckten. "Ich hänge halt an Sachen." "Ja. Mehr als an mir", triezte er trocken. Noch war er ein bisschen angeviecht. "Ich halte das für was Pathologisches." "... Eben nicht." Pascal pausierte einen Moment, aber diesmal ließ Frankie Stille walten; er hatte gerade genug Gift gespuckt. Außerdem dauerte das manchmal mit Formulierungen und Pascal. "Es ist", begann er ohnehin bald genug, "doch nicht so schwer, zu sagen, 'Lass uns vögeln' oder sonstwas, einfach klare Ansage und dann leg ich den Kram auch weg, spätestens nach zwei Minuten, aber..." Der Rest des Satzes ging im Nichts unter, aber das war in Ordnung. Frankies verwundertes Gackern war derweil lauter geworden und sprang jetzt ein. "Klinge ich wirklich so?" "Natürlich." Pascal sah über seine Schulter und zog die Augenbraue hoch. "Du bist vulgär. Und plebiszitär." "... und du ein kleinkarierter Spießer!" Frankie fielen gerade noch schöne Sticheleien zum Thema Vögeln und Terminkalender ein, aber er ließ es bleiben. Stattdessen streckte er die Zunge nach ihm heraus; Pascal zog im Angesicht dieser ungerechtfertigten Bezichtigung den Kopf zurück und machte ein getroffenes Gesicht. Eigentlich hätte der noch ein bisschen Zucker verdient, nach dieser ungeahnten Offenheit. Das war schließlich... erstaunlich okay gelaufen. Dafür, dass sie irgendwie über ihre Beziehung zueinander sprachen. Ohne Herumzuschreien oder Beleidigtsein. Da wollte Frankie am liebsten gleich weiter machen - nur übertreiben durfte er es nicht. Sonst fuhren bei Pascal wieder alle Gitter runter, ehe man Zapfenstreich sagen konnte, und der menschliche Panzer der Eisklotzigkeit war zurück. "Du, Pascal..?" Gerade hockte er wieder über dem Laptop, hatte ihn in beide Hände genommen und schüttelte ihn vorsichtig. Er lauschte, aber es klapperte nichts. "... Was?" Darüber hatte Frankie nicht besonders gut nachgedacht. Er wog einige Formulierungen ab, ehe er sich entschied: "Du hast deinen Swag angelassen." "B... bitte was?" "Du bist so... so mafiös. Manchmal. Wenn wir streiten. Und wenn ich daran denke, was du schon alles... gemacht hast... und wem du so die Fresse poliert hast - zumBeispielmir - dann ist das--" Vielleicht kam das besser an, wenn er es in Pascal-eigenem Vokabular ausdrückte: "Etwas beunruhigend." Er ließ die Botschaft sinken. Pascals Stirn runzelte sich langsam, ehe sich die Spannung auf einen Schlag löste: "Oh." Nachdenken. "So wollte ich nicht rüberkommen." Ein bisschen Sich-Selbst-Überreden. "Tut mir Leid." Langsam ließ er sich zurück auf die Bettkante sinken, legte dabei den Laptop behutsam in seinen Schoß wie ein verletztes Tier. Der weißblonde Haarschopf Frankies flauschte sich von unten links in sein geschätztes Sichtfeld. "Pascaaal? Können wir jetzt..." Die Lippen wurden ein bisschen geschürzt und die Augen ein bisschen schmaler. "Dort weitermachen, wo wir aufgehört haben?" Sie tauschten einen Blick. Frankie gab sich Mühe, den seinen ein bisschen erotisch aufzuladen, wie bei so einem Magazincover, nur nicht ganz so unverbindlich. "... Nö." Pascal zeigte sich unbeeindruckt. "Erst mal will ich sehen, ob die Kiste noch läuft." "Mah..." Frankie zog ein paar dramatische Grimassen und fläzte sich bequem zurecht. Andererseits war der Tag auch ziemlich lang gewesen. Und so ein Bett war schon relativ bequem. Bett mit Pascal gerade doppelt. Der mit seiner mies weichen Stimme. Wer hatte ihm das erlaubt? "Okay", murmelte Frankie schließlich und setzte die Augen auf Halbmast. "Aber währenddessen erzählst du mir die Geschichte, wie du diesen Rettich von den Luscontis...!" "Rico?" "Genau, Rico! Wie du den fertig gemacht hast." "Aber..." Pascal hob die Schultern und sah zweifelnd hinunter. "Das kennst du doch alles schon." "Na dann langweilt es mich prima in den Schlaf. Wenn ich nicht anderweitig wach bleiben muss." "Pff. Banause. Diesmal mach ich's dir so spannend, dass du die ganze Nacht nicht schlafen wirst." "... Oh wirklich? Gähn..." Eine Hand ließ Pascal zur Strafe auf Frankies Gesicht fallen. Mit der anderen drückte er auf den Power-Knopf. Kapitel 37: #37 [See] --------------------- Reste Es ist die Geschichte - die völlig pragmatische Geschichte - von zwei Menschen, die das gleiche Problem haben. Morgens stehst du auf, in deiner riesigen Villa, und findest die Zimmer kahl und lieblos vor. Und während du noch in der Dämmerung frierst, raffst du Hammer und Meißel zusammen und gehst nach draußen. Steigst über den Zaun und durch das Dickicht, um in der unterkühlten Wildnis draußen auf den perfekten Stein einzuklopfen. Stück für Stück. Tag für Tag. Du hast keine Ahnung, was du da tust. Du bist nicht einmal Bildhauer. Alles, was du im Kopf hast, ist dieses Bild. Diese Vision, die sich perfekt in deinem Foyer machen würde. Im Flur. Auf deinem Kamin. Im Schlafzimmer. Aber soviel du weißt, könnte der Stein beim nächsten Schlag unter deinen Händen zerbröckeln. Du klopfst mit aller Vorsicht - gerade so, dass du es spürst. Tag für Tag. Woche für Woche. Manchmal bist du müde. Es hatte angefangen mit unverbindlichen Gesprächen. Doch Gabe war gut darin, die Stimmung aufzufangen, die Blicke, die betrunken wanderten, das bisschen Lachen und die blöden Kommentare. Und Frankie war gut darin, anzugreifen, zu kitzeln und zu provozieren, bis Gabe in die Knie ging und sich bekannte. Sie sahen sich noch öfter. In Nächten, die sonst Pascal gehört hätten, saß Gabe im kränklichen Licht seines Bildschirms in der Küche und tippte unentwegt. Wenn er nicht gerade stockte oder prokrastinierte, schrieb er. Traurige Geschichten, wie er Frankie verlegen grinsend anvertraut hatte. Fernweh, in dem er sich selbst wieder fand. Manchmal tauschte er nicht einmal mehr die Namen aus, sondern versteckte die Datei nur in den Untiefen seiner Festplatte. Und eines Abends zögerten sie beide, klebrig vom gelben Licht der Tischlampe, und tauschten einen Blick. Es hingen noch die Reste eines Witzes in der Luft, wie alles so viel einfacher sein hätte können. Vorsichtige Fingerspitzen stießen aneinander, und die Konzentration aufeinander versetzte sie in fast schon synchrones Entgegenkommen. Aus dem Echo der Körpersprache, das zwischen ihnen hin und her hallte, erwuchs schließlich Gabes Schatten, über den er sprang und Frankie küsste; und Frankie war überrascht, natürlich, vielleicht ein bisschen irritiert. Aber es war warm, und er war willkommen - mehr noch, gewollt. Gebraucht. Glatter, polierter Stein schmiegte sich ihm dort entgegen, wo er sich am Felsen sonst die Finger aufriss. Im selben Boot kann es zu zweit ziemlich einsam werden. Es folgten seltene, wortkarge Arrangements. Trafen sie unverbindlich aufeinander, scherzten und lachten sie. Aber manchmal schickte Gabe eine kurze Nachricht, einen Clubnamen und eine Uhrzeit, und dort fanden sie sich - "Ich will nicht, dass Alex das sieht" - und manchmal nahm Frankie sich ein Zimmer in dem Hotel, unter der Ausrede eines Fotoshoots oder Drehtermins, "Pascal sollte nicht davon erfahren", nach Feierabend schlich Gabe sich die hintere Treppe hinauf in den dritten Stock. Sie waren zwei Verhungernde, und ihre Lösung war ein Schlag in den Magen. Frankie war responsiver. Aber sein Griff war mittlerweile ziemlich fest, und dazu braucht man nicht hinzusehen. Gabes Haare waren zu lang, aber beim Küssen bückte er sich ein Stück, und Frankie hätte schwören können, in den blauen Augen manchmal einen Grünstich zu finden. Er war rationaler: Statt passiv-aggressiv zu verschwinden, kommunizierte er in klaren Worten, über Ideen und Grenzen. Löst einen Knoten und knüpft einen anderen. Eine willkommene Abwechslung, natürlich. Keine permanente Geschichte, natürlich nicht. Aber wenn die eigene Villa gähnend leer steht, schaut man nicht mehr so genau hin, wenn eine schöne Statue im eigenen Vorgarten auftaucht. Heute war es das Medication, ein Club in einer ehemaligen Brauerei in Tagewerk. Während über dem Kupferkessel bedrohlich ein DJ-Pult schwankte, hallte der Beat aus dem hohlen Metall. Das sorgte für den eigenwilligen Sound, der von den Gästen beschrieben wurde; ein kaputtes, zitterndes Gefühl, ein intensives Vibrieren knapp unter dem Bauchnabel. An den Mauern wanden sich Treppen aus Metall in die Höhe, die von meist schwerfälligen Pärchen erklommen wurden. Ein Stück weit über dem lauten Gewimmel, am Fuß der hohen Sprossenfenster mit den milchig-dicken Scheiben, waren kleine Nischen eingerichtet, mit bequemen Polstern und Bezügen, die Flüssigkeiten gut vertrugen. Als sie - getrieben von der Musik und relativ lakonischen Trieben - die Treppe aufwärts taumelten und sich Mühe gaben, nicht über das Geländer zu fallen oder das Geländer über sie, und als der Beat unter ihrer Gürtellinie zerrte und zuckte, und als sie schließlich oben ankamen, stolperten sie fast in eine belegte Nische. Kaum bemerkt von den zwei Typen, die die Welt fast so sehr ignorierte wie einander - soweit das möglich war, wenn man aneinander hing, und dabei noch aufeinander lag. Es waren ein bisschen schwarzes Haar zu sehen und milchigweiße Spinnenhände, und mehr weißes Haar und ein Winden, Bewegungen wie eine Schlange, und sie taumelten wieder zurück, um sich eine andere Nische zu suchen. Sie wussten nicht, was das für eine Geschichte war. Und während es nach jedem Treffen obsolet werden kann, so kann jedes Mal das letzte sein. Und dann lacht man an einigen Tagen vor Vorfreude, schwärmt einander vor und wünscht sich Glück, und an anderen weint man, während man im Bad eingeschlossen ist, weil man eingekeilt ist und beim drohenden Schachmatt weder vor noch zurück weiß. Aber schließlich gibt es auch jene Tage - jene häufigen, häufigen Tage - an denen sich einfach nichts bewegt. Schulterzuckend, ohne eine Krise heraufzubeschwören. Wenn der Status Quo nur von einigen gelegentlichen Träumereien durchsetzt ist, und vielleicht durch den Griff zum Telefon. Es sieht nicht aus, als würde sich heute der Wind noch drehen. Also lass uns wenigstens miteinander Spaß haben, ehe wir noch völlig verbittern. Und dann sind die Magenschmerzen kaum zu spüren. Natürlich ist es nicht das, was du dir gewünscht hast. Aber es ist nah dran. Mach einfach die Augen zu. Kapitel 38: #38 [Abandoned] --------------------------- Auf's Maul oder: If you leave your swag on, you're gonna have a bad time. Schnaufend lehnte er sich über die hohe Seitenlehne der Couch und versuchte eine bequemere Sitzposition zu finden - und schnüffelte dann prüfend am Jeansbezug, als ihn ein neuer Geruch streifte. Ein bisschen süßlich, aber nicht schlecht, vermutlich irgendeine Febreze-Variante. Seit sie diesen Hund hatten, roch die Wohnung so ganz anders. Was er nicht unbedingt negativ belegen wollte, aber so ein bisschen befremdete es ihn auch. Alles änderte sich in letzter Zeit. Er war sich nicht sicher, ob das gut oder schlecht war. Vermutlich normal, aber es machte ihm trotzdem Angst. "Also?", fragte Basket und schenkte sich noch einen Schluck Schwarztee nach. Das war hingegen ein vertrauter Geruch, in den er sich mental hineinkuschelte. "Was also", fragte er unmotiviert; aber es war ein altes Spiel, das sie spielten und am Ende verlor er doch. Meist früher als später. "Lass das und erzähl es mir einfach. Das wievielte Mal ist es? Und nun lüg dich bitte nicht selbst an." Das helle Klickern seines Teelöffels in der Tasse überbrückte die Zeit, in der von leisem Trotz über vage Einsicht zu schaler Resignation schlich und irgendwann ergeben nachzählte. Aber so einfach war das nicht. Wo zieht man die Grenze? Was ist noch okay und was ist nicht mehr okay? "Weiß nicht. Vielleicht drei. Vier. Ab wann soll ich zählen?", brummte er und griffelte nach seiner Tasse; eine dünnwandige, filigrane Teetasse mit leicht ausgestelltem Rand und passendem Unterteller. Sie kam ihm so klein und unzweckmäßig vor im Gegensatz zu seinen großen Kaffeebechern zuhause. So hübsch und man konnte sich nicht wirklich daran festhalten, zumindest sah sie dafür viel zu zerbrechlich aus. Diese Tassen hier waren dazu gemacht, den Inhalt zu genießen, und zwar auf einer ganz höheren Ebene, als "Mmh. Kaffee." Hier ging es darum, zusammen Tee oder Kaffee zu trinken. Gemeinsam. Bewusst Zeit miteinander verbringen, allein um der anderer Person Willen. Nicht wegen "Mmh. Kaffee." Er beneidete Basket ein bisschen für diese Unsubtilität, die trotzdem funktionierte, oder besser: gerade deswegen. Die dünnen Schlangen tropften bitteres Gift auf ihrem unablässigen Weg durch seinen Magen und ihm wurde noch ein bisschen schlechter. "Frankie, dir ist hoffentlich klar, dass das so keinen Sinn macht. Es ist nicht in Ordnung. Auch, wenn ihr beide Kerle seid und man sich vielleicht nicht so mit Samthandschuhen anfasst." Basket sah ihn ernst an; er hob die Tasse an die Lippen, um sein pastellig-buntschillerndes Kinn zu verdecken. Aber es war schon viel besser geworden. Gestern hatte das noch richtig übel ausgesehen. Ein Ausrutscher. Was denn sonst. Zudem war er auch nicht gerade das Unschuldslamm. Es lief doch immer gleich ab. Irgendeine banale Sache und Meinungsverschiedenheiten. Dann Kränkungen auf beiden Seiten, verbales Gezanke, das irgendwann eskalierte. Es gehören schließlich immer zwei dazu. "Ich hab's ja irgendwie selbst zu verantworten", murrte er zwischen zwei Schlucken und er genoss die süße, warme Würze in seinem Mund. Tee mochte vielleicht versnobt und uncool sein, aber irgendwie schmeckte es ihm gerade unheimlich gut. Jah. Das waren Teetassen, keine Kaffeetassen. Es passte alles so perfekt zusammen. Die Wärme machte ihn schläfrig und er blinzelte müde. Er hatte lange nicht mehr geschlafen. "Das hast du nicht!", fuhr Basket ihn scharf an und er zuckte ein bisschen zusammen, "Es kann nicht sein, dass er dir alle paar Wochen einfach aufs Maul haut, wenn ihm die Argumente ausgehen!" "Wüste Beleidigungen sind auch nicht grade 'Argumente'!" "Und Worte sind keine Fäuste! Wie lange soll das so weitergehen? Bis irgendwann seine wahnsinnigen Mafia-Gene komplett durchkommen und er dir tatsächlich ne Kugel verpasst?" Franquin prustete und winkte ab. Er hatte eine Gänsehaut und hielt die Tasse umklammert, um sich aufzuwärmen. "Das würde der nie tun, Pascal ist kein Mörder. Der hat vielleicht Temperament, aber das.. is halt italienisch und so. Ach, du verstehst das nicht, es ist mehr so wie.. ein Unfall. Es tut ihm hinterher auch immer furchtbar leid und ist so klein und jämmerlich wie ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist." "Ah, verstehe. Ein Unfall. Ich frage mich, wieviel Prozent der Opfer häuslicher Gewalt sich das auch einreden. Vielleicht 90%?" Also nein, das meinst du jetzt hoffentlich nicht ernst! Franquin stellte die Teetasse wieder auf den Tisch und zog die Füße auf die Kante der Sitzfläche. "Pfffffh, jetzt übertreib mal nicht, das ist was ganz--" "--anderes? Ach echt? Inwiefern?", hakte Basket nach und beugte sich interessiert über den Tisch. Franquin verzog sich störrisch hinter seinen Wall aus Beinen und spitzte die Lippen. Basket raffte das überhaupt nicht! Der wusste nicht, wie das ablief zwischen ihnen. Der sah nur die Ergebnisse und schloss daraus, dass Pascal ein unzurechnungsfähiger Irrer war, der ihn regelmäßig krankenhausreif prügelte - was definitiv nicht der Fall war. Vielmehr war es so, dass er Pascal oft derart überreizte, dass ihm daraufhin irgendwann der Kragen platzte und sich nicht mehr zu helfen wusste. Entweder, er verschwand dann für Stunden oder gar Tage (und er wurde inzwischen krank vor Sorge und heulte Rotz und Wasser [und Basket die Ohren voll], weil Pascal ihn ja für immer verlassen haben könnte, etc.), oder aber die Variante 'Eine aufs Maul'. Dann war Ruhe, jeder konnte seine Wunden lecken (ob nun mental oder körperlich) und sich beim anderen entschuldigen, und danach war wieder alles gut und es gab am Ende eventuell sogar eine Runde interessanten Wiedergutmachungssex. Das hatte bis jetzt immer gut funktioniert. Unangenehm wurde es eigentlich erst, wenn man äußerlich sehen konnte, dass es zwischen ihnen mal wieder geknallt hatte. Dann musste er sich immer irgendwas ausdenken und alles wurde verdammt awkward, wenn noch andere Leute mithörten und.. ja, und natürlich wegen gestern Abend. Deshalb saß er auch heute hier auf Baskets Couch und fühlte sich ein bisschen wie in der anonymen Lebenskrisenberatungsstelle. "Ich weiß halt nicht, wann ich damit aufhören muss. Ich trieze ihn immer weiter und streu' Salz in offene Wunden und das tut ihm mit Sicherheit mehr weh, als ne Faust aufs Kinn - das ist praktisch Notwehr", maulte er leise und fuchtelte unsinnig mit der freien Hand. Es war nicht so einfach, zuzugeben, dass er in dieser Hinsicht ein wirklich rücksichtsloses Arschloch sein konnte, das vor keinem Stich Halt machte. Wie Pascal, explodierte er selbst auch, nur eben in verbaler Form und warf ihm dann Dinge an den Kopf, die wirklich grausam und zutiefst verletzend waren. Im Nachhinein betrachtet war es schon irgendwie ein Wunder, dass Pascal noch nicht völlig Amok gelaufen war. "Das ist keine Entschuldigung", bemerkte Basket trocken und betrachtete den Bodensatz seines honigfarbenen Tees. "Wie würdest du reagieren, wenn ich derjenige wäre, der Debbie ein blaues Auge verpasst hätte? Und Debbie sagt so: 'Er wollte das gar nicht, und eigentlich bin ich auch selbst Schuld - ich sollte eben meine Klappe halten, und es kommt außerdem auch nicht so oft vor.' Wie klingt das in deinen Ohren? Hörst du dir selbst zu? Mann Frankie, hör endlich auf, so ein blöder Fußabtreter zu sein! Es ist nicht deine Schuld, wenn er dich schlägt - es ist seine! Er muss lernen, dass ihm solche "Unfälle" einfach nicht passieren dürfen! Es ist NICHT okay!" "Was soll ich denn machen?! Soll ich nen Karatekurs belegen, damit ich mich--" "Nein, er sollte eher ne Therapie machen. Oder besser noch ihr beide", er kratzte sich an der Nase und sah ihn nicht an, "hmm.. so hart es klingt, aber vielleicht passt ihr auch einfach nicht zueinander. Wenn es so starke Reibungspunkte zwischen euch gibt.. Verstehst du, wenn ihr beide überhaupt in der Lage seid, euch derartig zu verletzen, dann zeugt das nicht von besonders großer.. Liebe." Die Schlangen in seinem Magen rumorten wild und stießen gegen die Innenwände. Basket stand auf und kam langsam um den Tisch und setzte sich neben ihm auf die Couch. Er sah es nur verschwommen, aber er merkte es um so mehr, als ihm ein Arm um die Schultern gelegt wurde. "Ich male nicht gern den Teufel an die Wand,", fuhr Basket leise fort und strich ihm sachte über den Arm, "aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das auf Dauer gutgeht. Ich sehe dich mehrmals die Woche und es ist ein ewiges Auf und Ab. Mal platzt du vor Glück und guter Laune und dann bist du wieder am Boden zerstört und lässt deine miese Laune an uns aus - das soll jetzt kein Vorwurf sein. Naja. Vielleicht ein bisschen." Franquin hob den Kopf und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, während er die Nase trotzig hochzog: "Das war vorher auch schon so, das hat mit Pascal garnix zu tun!" "Sagen wir so, es ist jetzt anders. Wenn du schlecht drauf bist wegen einem Kater, ist das eine Sache. Unangenehm, aber mein Gott; ein Aspirin und gut ist. Aber wenn man tiefergehende Probleme mit sich herumschleppt, ist das eine andere Geschichte. Das wird nicht besser mit der Zeit, sondern immer schlimmer. Es immer von sich wegzuschieben, bis es einen wieder einholt, ist keine Lösung für die Ewigkeit. So ne Beziehung sollte einen positiven Einfluss auf dein Leben haben. Und nicht sowas", Basket piekte kurz sein buntgebatikte Kinn an und er murrte leise, "Ich weiß, der Vergleich zu mir und Debbie hinkt etwas, aber.. wir haben uns im Lauf unseres Zusammenseins beide verändert, zum Guten hin. Das klingt furchtbar kitschig, i know i know. Aber das war eine Art "sanftes Angleichen aneinander", das das Zusammensein so viel angenehmer und unkomplizierter macht." Also angeglichen haben wir uns definitiv schon, das kann uns keiner ankreiden. Pascal ist definitiv weniger klotzig und ich bin nicht mehr.. uhm.. weniger schnell beleidigt. Oder so. "Ein bisschen Rücksichtnahme ist nicht immer ein Verlust", fuhr Basket fort, "denn wenn du jemanden wirklich lieb hast, passiert das ganz automatisch; du denkst in dem Moment nicht mal daran, dass du auf irgendwas verzichtest. Aber, ihr beiden, ihr nehmt überhaupt keine Rücksicht aufeinander. Ihr glättet eure Spitzen nicht. Ein bisschen Auf und Ab ist ganz normal, aber nicht so.. krass. Ihr zwei seid wie eine seismographische Zitterlinie bei einem Erdbeben. Extreme Ausschläge nach unten und oben. Statt den einen zu beruhigen, wenn er auf 180 ist, lasst ihr euch in die krasse Stimmung mit hineinziehen und dann fliegen irgendwann die Fetzen." Franquin blieb still und genoss dumpf die Wärme seines besten Freundes an der Seite. Was er sagte, machte irgendwie Sinn, aber schüttelte gleichzeitig einen neuen Käfig Schlangen in seinen Magen. Sie machten schon irgendwo Kompromisse, vermutlich jedoch nicht genug, um es funktionieren zu lassen. Harmonisch war ihre Beziehung sicherlich nicht. Aber es war okay, immerhin HATTE er eine Beziehung, so stürmisch und ungewiss sie manchmal auch sein mochte. Immerhin hatte er eine. "Ich will aber nicht ohne ihn", murrte er und fühlte sich dabei, wie ein beleidigtes kleines Kind. Das Gefühl verstärkte sich durch die Finger, die ihm gerade durch die Haare wuschelten. "Dann arbeitet daran! Sonst verliert ihr euch eher früher als später. Wo ist Pascal jetzt?" Ein paar Schlangen bissen zu. Er zuckte mit den Schultern. Keine Ahnung. War geflüchtet. Hoffentlich hatte er auch jemanden, mit dem er reden konnte. Oh bitte mach keine Dummheiten. "Was ist passiert?" "Uh..", er seufzte und versuchte die aufsteigende Übelkeit zu ignorieren, die langsam seine Speiseröhre hinaufkletterte, "..es gab wieder Stress wegen.. fffh.. ich weiß nicht mehr. Ich hab halt irgendwann sein Smartphone gegen die Wand geworfen und er ist logischerweise ausgeflippt.. und ist weggerannt." "Hat er..?" "Nein." Nein, das hatte Pascal nicht, diesmal nicht. Trotzdem war es irgendwie schlimmer gewesen, als sonst. Aufgehitzt hatte Pascal sich, aufgebaut zu einem wütenden Berserker, dem die Sicherung durchgebrannt war. Zu dem Zeitpunkt hatte er sich schon in die Ecke verzogen. Mit diesem schrecklichen Gefühl von 'Gleich wird es wehtun'. Der große Knall von vor drei Tagen hatte sich noch nicht aus seiner Erinnerung verabschiedet und flutete sofort eine Collage aus Schmerzen im Kiefer und Blut im Mund in seinen Kopf; er wollte das nicht noch einmal erleben und hatte im Reflex die Arme um den Kopf geschlungen. Aber Pascal hatte nicht zugeschlagen - ihn nur angestarrt, bestimmt mehrere Sekunden lang, denn als er die Arme wieder hatte sinken lassen, stand dem Berserker das blanke Entsetzen im Gesicht. Kreidebleich und so tief erschüttert, dass er sofort jegliche Furcht verloren und sich stattdessen ernste Sorgen um ihn gemacht hatte. Und dann war Pascal wortlos geflüchtet. Seitdem hatte er kein Lebenszeichen von ihm gehört. Wie auch, ich Genie hab sein Smartphone kaputtgemacht. Sein Grinsen wurde zur Grimasse und er bekam kaum noch Luft, er wollte auf eine Toilette, sich einschließen, ein paar Schlangen auskotzen und ein bisschen heulen und darauf warten, dass er von außen an die Tür klopfte und sich entschuldigte, wie sonst immer. Das war doch so Tradition. Du kannst jetzt nicht einfach verschwinden! Aber dieser Gesichtsausdruck war so schrecklich gewesen, er bekam davon tatsächlich jetzt noch Zustände. Franquin wusste, dass es Pascal sehr belastete, was er (fast) getan hatte und sich deswegen heftige Vorwürfe machte. Er hoffte nur inständig, dass er.. keine wahnsinnig intelligenten Ideen bekam. So gerne hätte er ihm gesagt 'Ist schon okay, ich verzeihe dir und es tut uns beiden furchtbar leid, komm nur wieder zurück!' Wie kann er mich in so einer Situation nur allein lassen?! Ich.. krieg das allein nicht auf die Reihe! Diese Schlangen fressen mich doch auf, das kannst du nicht einfach so zulassen! "Denkst du, er kommt wieder..?", fragte er schwach und seine Stimme verließ ihn dabei fast. Diese Frage stellte er nicht zum ersten Mal, Basket hatte sie schon mehrfach gehört (nicht zuletzt vor einer Stunde am Telefon) und ihm blieb wie immer nur das Seufzen. "Kann ich dir nicht sagen. Was tust du, falls er zurückkommt?" "..? Mich freuen?!" "Und dann?" "..ich weiß nicht." "Und was tust du, falls er nicht mehr zurückkommt?" "Ich.. ich.. weiß es nicht", presste er heraus und legte den Kopf auf seine Knie ab. Ihm war schwindelig und die Augen brannten. "Weißt du was, wenn er wieder da ist, schick ihn einfach mal zu mir." "Du willst.. Pascal therapieren?", fragte er ungläubig und hob den Kopf wieder. "Reden, nicht therapieren! Das soll mal schön ein Profi machen. Ich werd ihm höchstens drohen, dass ich ihm Jeel auf den Hals hetzen werde, falls er dir nochmal ein Haar krümmen sollte." "Das will ich sehen." "Das will keiner sehen", murmelte Basket und stand wieder auf, "Und du gehst jetzt gefälligst heim und schläfst dich aus. Es nützt niemandem etwas, wenn du völlig übermüdet gleich in Ohnmacht fällst, sobald er wieder auftaucht. Das wäre eventuell etwas kontraproduktiv. Also ab ins Bett." "Ja, Mama." Er nickte und lächelte schal, ein bisschen Hoffnung war zurückgekehrt und die Aussicht auf einen Ausweg für das Wir. Das kriegen wir hin. Und Basket hilft uns dabei, der kennt sich aus. Hörst du? Also komm endlich wieder heim. Er kam nicht heim. Kapitel 39: #39 [Dream] ----------------------- - Weiß umgab ihn. Es war wie eine Zelle, als sperrte es ihn ein. Gleichzeitig sah es aus wie die grelle, unendliche Weite. Ein Stich. Seine Augen blieben unfokussiert. Das Bettgestell drückte von unten gegen seine Oberschenkel. Mehr Weiß. Das Weiß blendete ihn, zuerst auf dem einen Auge, dann auf dem anderen. Nur für eine gewisse Zeit. Bleierne Müdigkeit schubste ihn in Schräglage, während Stimmen an seinen Kopf klopften, ohne je wirklich hinein gelassen zu werden. Watte hallte durch seinen Schädel. Watte und ein laues Ziehen, ein Pochen, ein Fehlen. Fast wie Schmerzen. Dazwischen, verwoben mit den Falten, lag ein bedeutungsloses Wort. Maria. Maria, Maria. Seine Zunge drehte es unschlüssig in der Kehle herum. Es durchlöcherte ihn, dort, wo es fehlte; die Wucht schleuderte ihn aus dem Kopf. Ein paar Fäden hielten ihn. Ihn und sie nicht. Seine Hände schlossen sich um das warme Metall auf seiner Handfläche, ganz von alleine. Sein Finger zitterte. Der Abzug fehlte. Sein Kopf schwebte. Kalter Boden drückte von unten gegen seine Fußsohlen. Vor ihm eine Weite, an deren Ende sich Weiß verschluckte. Lang. Das Wort reckte den Kopf aus seinem Kopf. Es dampfte durch die Löcher in seiner Kehle. Lang. Gang. Langer. Gang. Eine warme Hand lag auf seiner Schulter. Sie blieb. Auch, wenn seine Füße einen Schritt machten - ungelenk, zitternd, schlurfend. Wenn der Boden unter ihnen sich jedes Mal verlor. Wenn sie in der Kälte hingen. Wenn seine Hand, das warme Metall in der Hand, aber sein Fuß, ein brauner Fleck, ein weicher Fleck, und sein Gelenk, es zerstach, mit einem Ruck, die Hand um den Arm, Schweben, das Metall in der Hand, das Metall klapperte, seine Kehle hustete: "Maria?" Lang. Gang. Weiß drehte sich. Drehte ab. Seine Füße rutschten beiseite, Fäden verhakten sich zu einer Schlinge, einem warmen Seil, das ihn drückte. Das ihn hielt. Seine Augen öffneten sich. Weiß. Die Decke war weiß und starrte zurück. Die Matratze drückte sich von unten in seinen Rücken. Nur von links nicht. Links fiel sie sanft ab. Seine Finger tasteten beiseite und gaben auf halbem Wege auf, auf einem weichen, warmen Untergrund. Es wurde dunkler. Ecken und Ritzen schnitzten sich aus dem Weiß, bis es abblätterte, bis es verfloss und in ein sanftes Gelb überging. Es nahm seine Augen als Einstieg. Fraß sich langsam vorwärts in sein Gehirn. Langsam. Wasser rollte ihm aus dem Augenwinkel. Er. Er atmete. Ein. Aus. Ein. Er zwinkerte. Dann vergrub er den Kopf in der Armbeuge. Und rollte sich ein. Kapitel 40: #40 [4:29 PM] ------------------------- Vollidioten Für den Nachmittag nach einer Probe war es ziemlich ruhig. Und das, obwohl Basket fehlte. Er war vor einer halben Stunde mit Debbie verabredet gewesen - mit einem Fuß in der Tür hatte er noch gesagt: "Macht keinen Unsinn, Jungs." Nicht, dass er jemals daran geglaubt hätte; ohne seine Anwesenheit war der Rest der Truppe die meiste Zeit über ein einziges Pulverfass. Aber dann hatte er sein Taxi erspäht und war hinaus in den Regen gehechtet, statt den Ernst seiner Mahnung spielerisch zu betonen. Irgendwo sind das auch erwachsene Menschen, müsste man meinen. Eigentlich hatte Pascal fast Lust, die Situation mit der Kamera aufzunehmen. In einer Ecke - dort, wo die Steckdosen waren - hingen Daze und er still an ihren Laptops; Daze hatte konzentriert die Stirn in eine fotogene Steilfalte gelegt und schlürfte neben erratischem Herumschieben auf seinem Touchpad an einem Soja-Latte-Gemisch, während Pascal gegenüber etwas träge in seinem Sessel hing und wie betäubt durch größere Musikblogs scrollte. Frankie saß am Kopf des Tischs, einen Kopf auf die Hand gestützt, und kritzelte mit der anderen unermüdlich auf kariertem Papier herum. Er hatte sich fast eingekugelt auf dem schäbig-schicken Ohrensessel, die Knie unter der Wolldecke angezogen, und musste sich die Schulter verrenken, um überhaupt schreiben zu können. Sogar Jeel zeigte sich ungewöhnlich friedfertig und fläzte sich bromantisch mit Wheeler auf der Couch, während sie mit Glimmstängeln in den Mundwinkeln das aktuelle Programm im 46-Zoll-Fernseher kommentierten. In einem Anfall von Großmut - motiviert durch seine stark verbesserte finanzielle Lage - hatte Pascal ihm vor ein paar Tagen angeboten, seinen beträchtlichen Vorrat an Kippen mit ihm zu teilen, und seitdem herrschte zwischen ihnen statt aufgesetzter Animositäten eine Art widerwilliger Waffenstillstand. Pascal gähnte hinter vorgehaltener Hand und griff zögerlich nach dem Camcorder. Daze war da schon auf der richtigen Spur mit seinem MoccaSin-Becher - es war Zeit für einen Muntermacher - und auf dem Weg zur Küche konnte er zumindest eine kurze Panorama-Aufnahme der Ruhe machen. Irgendwo konnte er die bestimmt gewinnbringend reinschneiden. Oder zumindest Screenshots davon benutzen, wie Frankie erschöpfend niedlich auf seinem Block herumkrakelte. Es war fast nicht fair. Die waren hier alle furchtbar fotogen. In der Küche kramte er mit einer Hand im Hängeschrank neben der Tür herum, mit der anderen hielt er die Kamera, das Display ausgeklappt, und sah sich die Aufnahme von vorhin an. Am Anfang hatte seine Bildwahl noch ziemlich gezappelt, aber langsam wurde seine Hand ruhiger und er verzichtete immer öfter auf ein Stativ. Ah, das war doch ein gutes Bild, mit Daze und Frankie in dem verregneten Licht. Winzig kleine Bewegungen, fast wie Idle-Animationen für irgendein Computerspiel. Vielleicht könnte man-- wha-? Pascal bekam tatsächlich eine ausgeprägte Gänsehaut und schnaufte überrascht. Mit dem Blick folgte er seiner Hand, die im Schrank ins Leere gegriffen hatte. Ins... ins Leere..?! Aber das kann nicht, das wird nicht, das--!! Nein. Kein Zweifel. Etwas halbherzig schob er Müslikartons und Teegläser beiseite, aber der Fall war klar. Und so sehr er sich auch ans Herz fassen musste, dafür gab es nur eine Lösung. Er stürmte aus der Küche. Frankie sah von seinem Zettel auf und erschrak fast. "Wohin willst'n du?" Pascal brauchte einen Moment lang, um sich zu sammeln; er hatte sich hinunter gebeugt und das Bein angewinkelt, um in seinen zweiten Schuh hineinzukommen - dabei hüpfte er ein, zwei Mal, und endete an den Türrahmen gelehnt, und verkündete von dieser Warte aus seine Hiobsbotschaft: "Wir haben keinen KAFFEE mehr!" Bis auf den Fernseher im Hintergrund, und das Plätschern draußen, war es im folgenden Moment ziemlich still. "Und du rennst jetzt echt los..?" Frankie hob eine Augenbraue und nickte zum Fenster. "Draußen regnet's." "Es gibt Kleidung!" Mit Schwung, der aus pragmatischer Panik geboren war, schlängelte Pascal sich im nächsten Moment in einen dicken Hoodie. Eigentlich brauchte Frankie nicht zu überlegen - diese verzweifelte Energie, die ihm entgegen sprühte, rollte ihn in einen gewissen Enthusiasmus ein - aber er tat trotzdem, als müsse er nachdenken, einen Moment lang, bevor er nickte und den Stift weglegte. "Ich komme mit!" Er warf die Wolldecke von sich, sprang auf und drängelte sich zu Pascal in den Windfang. Wenig später knallte die Tür. Daze fuhr zusammen und sah auf. Sein Blick schwamm etwas unsicher über die Sitzgruppe neben dem Tisch, die plötzlich so vakant war; bis sein Gehirn nach dem Tape schnappte und die Situation, die an ihm vorbeigerauscht war, aufzurollen begann. "Leute", begann er leise, "es ist doch..." "Spar's dir." Jeel war heute gnädig. Er drehte sich nicht einmal um. Sie waren von dem Moment an durchnässt, in dem sie draußen standen. Das laute Prasseln vom düsteren Himmel - das Knurren in der Ferne, das sich erst beim Nachdenken anhörte wie Donner - es herrschte Weltuntergangsstimmung, die niedere Instinkte weckte, so dass sie Hals über Kopf in die erstbeste Richtung hetzten. Erst an der Kreuzung blieb Pascal stehen, hielt Frankie an der Schulter. "Weißt du, wo wir hinmüssen?", fragte er über den Regen hinweg. "Ich dachte, du wüsstest..!" Weiter musste Frankie nicht sprechen. An seinem Arm bugsierte Pascal ihn unter eine Baumkrone, die zumindest die Hälfte der Tropfen abzuhalten schien. Dann holte er sein Smartphone aus der Hosentasche. "Wir werden wohl noch den nächsten Supermarkt finden", murmelte Pascal. Sie waren erst vor kurzem hergezogen, und meistens kaufte er auf dem Rückweg von der Arbeit ein - oder Maria brachte etwas mit, oder sie ließen sich etwas liefern. Das hatte er jetzt von dieser tödlichen Vernachlässigung. Eine absolute Krise! Während er auf sein Smartphone eintippte, und Finger wie Bildschirm immer nasser wurden, reckte Frankie den Hals, um die Straßen der Kreuzung hinunter zu schauen. In einer Richtung sah er eine Post und einen Erotikshop - klang zwar nützlich, aber noch nicht für den Augenblick. In der anderen Richtung führte eine halbwegs leere Brücke über den Kanal, da war bis auf Stahlträger nichts zu sehen. Und geradezu sah er eigentlich nur alte Wohnblöcke, dicht an dicht und mit vom Regeln verdunkelter Fassade. "R-M-A--", buchstabierte Pascal leise, bevor er etwas lauter fluchte und mit dem Ärmel des Pullovers über sein Handy wischte. Das brachte nichts, und er fluchte noch einmal. "Es ist zu nass", sagte er, "so kommen wir nicht weiter." "Ich glaube", erwiderte Frankie unschlüssig und starrte in Richtung Kanal, "auf der anderen Seite der Brücke leuchtet ein Hochmarkt-Schild..." Pascal folgte dem Fingerzeig und nickte. Natürlich hätten sie auch einfach wieder heim gehen können. Aber die Nässe ging direkt ins Blut und brachte das Herz zum Schlagen, und darunter waren sie warm und entschlossen, und außerdem ging es hier um schwarzes Gold, also war jede weitere Debatte überflüssig. Sie jagten über die Brücke, durch die Pfützen unter den Stahlseilen, und als das uncool wurde, verfielen sie in eine Art schnellen Trab. Ein Auto raste heran und und Pascal zerrte Frankie beiseite, damit die Spritzfontäne sie nicht erwischte - was reichlich sinnlos war, da Frankie schon bis auf die Knochen durchnässt war. Was er keine zwanzig Meter weiter bezeugte, indem er ausgiebig nieste. "Du hättest dir was überziehen sollen!", rief Pascal und warf einen Blick auf den dunklen Kanal, der - gepeitscht vom Sturm - brüchig wie Schuppen den dunklen Himmel spiegelte, als wäre eine hungrige Seeschlange aus ihrem Nest gefallen. "Wir hätten das Auto nehmen sollen!", erwiderte Frankie und breitete die Arme aus; Pascal schnaufte und fühlte sich kurz wie ein Idiot, aber dann wäre es wohl nicht dasselbe gewesen, also lachte er nur und Frankie lachte mit. "Deine Nase ist schon ganz rot! Warte, lass mich--" Ehe Frankie Einwände erheben konnte, zog sich Pascal sich seinen Pullover über den Kopf, der zumindest nicht ganz bis auf die Innenseite nass geworden war. Dabei rutschte ihm seine Brille von der Nase und fiel zu Boden; er spürte, wie sein Hemd schwerer wurde, als er die Augen zusammenkniff und den Bürgersteig absuchte - bis Frankie ihm die Brille vor die Nase hielt, und Pascal sie gegen den Ball aus Pullover tauschte. "Du spinnst doch!" Allerdings lag Frankie nichts daran, das Angebot abzulehnen - er fror erbärmlich, und dagegen halfen neben mehr Klamotten wahrscheinlich nur die warmen Aussichten auf nassen Stoff, der an Pascals Haut klebte. Und Pascal wollte auch keine Einwände erheben. "Jawohl!", verkündete er, und kaum war Frankies Kopf durch den Ausschnitt aufgetaucht, fing der sich einen Kuss auf den Mundwinkel, ehe Pascal an seinem Ärmel zerrte und ihn bedeutsam durch den Regenschleier auf seinen Gläsern ansah. "Wir sollten weiter." Das Schild leuchtete vielsagend von oben auf sie herab - die letzten paar Meter beschleunigten sie wieder, den Unterstand vor der Tür anvisiert - doch als sie im weitestgehend trocken gebliebenen Bereich zum Stehen kamen und auf dem hellgrauen Boden Tropfenspuren verstreuten, fiel vor allem ins Auge, wie dunkel es hinter den Scheiben war. Frankie stürmte vorwärts. Die Tür war zu - er rüttelte an der Klinke. Nichts. "Nein!", jaulte er - etwas überdramatisiert - und kratzte mit den Fingern an der dunklen Glastür wie eine frustrierte Katze. "Das könnt ihr uns doch nicht antun! Was ist loooos?" Und dann wanderte langsam die Frucht der Erkenntnis über Pascals Gesicht; er hielt sich eine Hand gegen die Stirn und spuckte die Kerne aus: "Kann es... kann es sein, dass heute Sonntag ist?" Frankie drehte ihm den Kopf zu. Und so sahen sie einander schweigend an, und selbst mit Regen und Verkehr konnte es keinen stilleren Moment geben als den, den sie gerade teilten. Und dann brachen sie in Gelächter aus. "Wir sind", begann Pascal, sobald er etwas Luft bekam, "wir sind solche--" Er stolperte nach rechts, als Frankie ihn näher an sich zog, und schaute geradewegs in grau-grüne Augen, und sah verklebte Haare und ein nasses Gesicht und angelte nach einer Wange und weißblonden Strähnen, "-- solche Vollidioten", stellte er fest, und dann, dass Grinsen und Küssen gleichzeitig irgendwie schwierig war, aber dass ihn das nicht daran hinderte. Sie fielen ineinander, unter der Schicht aus Wasser und dem Geruch nach Erde warm, erhitzt; beide hatten immer noch Herzklopfen, und sie küssten und lachten so viel, dass kaum noch Platz war, um Luft zu holen. Sie waren Idioten. Solche Vollidioten. Schließlich ließen sie schnaufend voneinander ab, auch wenn Pascal immer noch eine Hand zwischen den nassen Strähnen hatte. Er reckte den Hals in die Richtung, aus der sie gekommen waren. "Dann müssen wir wohl zurück", seufzte er, seinerseits überdramatisch, und kam gar nicht erst auf die Idee, ein Taxi zu rufen. "Und zu Hause empfängt uns nicht einmal heißer Kaffee! Wie soll ich morgen erst von den Toten wieder auferstehen?!" Er fuchtelte mit seiner freien Hand, und zur Krönung schnappte Frankie forsch nach seiner Unterlippe. "Morgen bring ich dir was mit, vom MoccaSin. Gleich früh", versprach der im nächsten Moment und ließ sie los, "ans Bett." "Heh... Ernsthaft?" Pascal neigte sich vorwärts, die Augen auf Halbmast. "Versprochen." Und die Lippen von Pascal trafen nur Luft, weil sich Frankie nonchalant losgerissen hatte und quietschend zurück in den Regen gestürzt war. "Und jetzt beweg dich, du alter Sack!" Vor Entrüstung klappte Pascal glatt der Kiefer hinunter. Seine Hand ballte sich zur Faust, und er schüttelte sie Frankie angriffslustig hinterher - ehe er einsah, dass der seinen Vorsprung für ein bisschen Gestikulieren ganz bestimmt nicht opfern würde. "... Na warte..!!" Kapitel 41: #41 [Citric Acid] ----------------------------- Sorbet Der Geruch umhüllte ihn wie einen hautengen Neopren-Anzug. Frankie schnupperte; heimlich und geräuschlos, und reckte dabei den Hals. Über die Lehne hinweg schielte er auf den Boden hinunter und entdeckte ein Paar herrenlose Füße unter dem Couchtisch hervorlugen. In unregelmäßigen Abständen war ein leises "Pfft pfft" zu hören. Risotto-Reis blubberte zusammen mit Gemüsestücken in der Pfanne, ein aggressives Tacktacktack zeigte die restliche Zeit bis zum fertigen Ciabatta und seine Zehen rollten sich ungeduldig auf dem kühlen Küchenboden ein. In der Hand eine Flasche Wasser, in der Nase ein seichter Duft von Limetten. Und dazu das meditative Scharren eines Schwammes auf gebürstetem Stahl. Im Schneidersitz auf der zugeklappten Toilettenschüssel, mantschte sich in den Haaren herum, drehte summend den Kopf ein bisschen und folgte den ausholenden Bewegungen und dem sonor quietschenden Wischgeräusch, das sie begleitete. "Der Spiegel ist sowieso das Wichtigste", bemerkte er mit allem nötigen Ernst in der Stimme. Pascal hielt nur kurz inne, sah ihn an und hob eine Braue. Und fuhr dann fort, das verglaste Silber auf Hochglanz zu polieren. Die Sonne verschwand hinter einer Wolkenwand und Franquin schob die getönte Brille hoch in die Haare; im Mundwinkel eine glimmende Zigarette, auf dem Schoß die neue Ausgabe der Rolling Stone. Im Hintergrund prasselte harmonisch feines Wasser auf feines Metall. Der frisch gewischte Tisch krächzte ängstlich unter ihnen; mehr oder minder rhythmisch drängelte sich das hölzerne Knirschen zwischen das atemlose Keuchen. Haut klebte an Haut, Hände ineinanderverkettet, im Rücken die eingeritzten Überbleibsel einer betrunkenen Nacht. Wabi Sabi, was? Genießerisch saugte er die schwüle Luft zwischen ihnen in seine Lungen und lachte leise. Das knarrende Krächzen wurde gedehnter und ein irritiert gehauchtes "Hah?" fand seinen Weg aus einer heiseren Kehle. "..ich fühle mich, als würde ich ne Zitrone vögeln", kicherte er und lachte auf, als Pascals erhitztes Gesicht unter ihm abstürzte, "Wenn du auch den ganzen Tag in Putzmitteln bad-- AUAUAU!", jaulte Frankie lachend und bekam langfristig den Mund gestopft. Das hatte er vermutlich verdient. Kapitel 42: #42 [Still] ----------------------- Neuorientierung Pascal klappte den Laptop zu und sah auf die Uhr. Was er sah, überraschte ihn nicht einmal. Es war halb drei in der Nacht; in letzter Zeit war es ständig halb drei in der Nacht, und Pascal saß mit Laptop auf dem Bett, weil ihn noch niemand von der Seite angemault hatte, dass er es doch wenigstens mal mit Schlaf probieren könnte. Frankie war weg, schon wieder. Kam in letzter Zeit häufiger vor. Er arbeitete lang und schlief woanders, und wenn er einmal da war, dann wirkte er müde und abwesend und... erstaunlich nüchtern. Keine sinnlosen Zickereien, aber auch keine kleinen Niedlichkeiten; als wären sie selbst dann durch eine Lage Zellophan getrennt, wenn sie mal Seite an Seite saßen und Wärme tauschten. Statt dass Frankie wieder die dritte Nacht in Folge außer Haus verbrachte. So wie jetzt. Sogar sein Geruch, der sonst immer subtil über dem Bett hing, verblasste langsam. Unwillig starrte Pascal sich auf die Fingerspitzen, die regungslos auf dem kühlen Chassis des Laptops ruhten. Die damit verbundene Freiheit genoss er immer noch. Es war schön, über einen längeren Zeitraum ungestört zu sein, und sich mit erfrischender Rücksichtslosigkeit lange vernachlässigten Plänen oder Beschäftigungen zu widmen - einfach mehr Zeit zu haben, die er nach gusto investieren konnte. Dass er seine Tage auch so verbringen konnte, hatte er in den vielbeschäftigten Wochen davor fast schon vergessen. Und jetzt war es fast wie früher. Nur, dass er in einer Wohnung herumhing, die ein anderer Mensch eingerichtet hatte, und die ihm damit ins Gesicht drückte, dass etwas fehlte. Früher wäre er nicht auf die Idee gekommen, das zu vermissen - aber früher hatte er das auch nicht gekannt. In all seinen kleinen Details, die sich mit ihren Widerhaken in seine Erinnerungen gebohrt hatten und jedem Zittern seine Gedanken auf ein Neues durchlöcherten. Und trotzdem saß er auf diesen unmöglich großen Bett und stieß sich das Gehirn an all den fremden Dingen, die ihn hier umringten. Statt einfach seine Sachen zu packen. Und es so zu machen wie früher. Vielleicht hatte Frankie ihn einfach satt. So etwas kam vor, besonders, wenn man zu lange aufeinander hing - dahinter steckte keine böse Absicht, manchmal lebten sich Situationen eben aus. Er hatte einfach genug von ihm, und zu viel Mitleid, um es ihm mitzuteilen. Oder zu viel Angst - Pascal kam es lächerlich vor, dass irgendwer vor ihm Angst haben konnte. Aber er war sich seines Temperamentes bewusst, und so sehr er da auch an sich arbeitete (denn das war absolut nicht okay, das sah er ein), er konnte auch nichts ungeschehen machen. Er war auch kein einfacher Mensch. Das gab er sofort zu. Er war schweigsam und unaufmerksam und hatte nicht besonders viel Selbstbewusstsein. Es war schrecklich anstrengend, ihn aus den Löchern zu ziehen, in denen er keinen Therapeuten der Welt stochern lassen wollte. Und dann wurde er wieder furchtbar wütend oder war angespannt und provozierte deshalb Streit. Gleichzeitig war er zu lethargisch und introvertiert, um mit Frankies Drängeln und Unternehmungslust mitzuhalten. Und schlussendlich war er ja auch keine Frau. Denn dass Pascal für Frankie eine riesige Ausnahme gemacht hatte, war von Anfang an klar gewesen. Aber dass das umgekehrt ebenfalls der Fall gewesen war, das war erst nach und nach zu ihm durchgesickert. Er hatte nicht damit gerechnet. Nicht bei Frankies Image, und nicht bei seiner Optik - er hatte manchmal so feminine Züge, und das hatte Pascal im Gewirr von Stereotypen und Schubladen falsch abbiegen lassen. Wahrscheinlich war er da zu Anfang etwas einfältig gewesen. Es war irgendwie ein wunder Punkt - Frankie war durchaus ein Mann, und doch tänzelte er zwischen Bezeichnungen und Rollen und streckte ihnen die Zunge heraus. Hinreichend geschminkt und zurecht gemacht wäre er trotzdem als Frau, oder zumindest als undefinierbar durchgegangen; das machte es Pascal leichter. Er selbst hingegen war ziemlich fest im Kerlsein verwurzelt. Die Putzgewohnheiten, mit denen er auch in Frankies Abwesenheit die Wohnung halbherzig bewohnbar hielt, gehörten schon zu den größeren Ausschreitungen, die er sich so erlaubte. Vielleicht hatte sich das am Ende für Frankie doch nicht als erträglich herausgestellt. Und jetzt schlich er um den heißen Brei herum, indem er auf irgendwelchen Sofas pennte, oder vielleicht auch in fremden Betten. Mit dem Geschlecht, zu dem er sich leider eben hingezogen fühlte. Mit einem unwirklich lauten Geräusch zog Pascal die Luft ein und zählte abwesend die dicken Kratzer in der hölzernen Schranktür, die er im schummrigen Licht der Papierlampe ausmachen konnte. Dass er einmal über so etwas nachdenken würde, hätte er nie gedacht. Nicht bei dieser Klette, deren weißblonder Schopf wie ein kleiner, fahrender Leuchtturm immer wieder durch sein Sichtfeld tänzelte; die kleine "Pascaaal"s zwischen seine beschäftigten Gedanken schubste, oder ausführliche Drama-und-Schock-Tänzchen um das Auftauchen von Spinnentieren veranstaltete, oder mit spitzen Fingern gegen verkrampfte Rückenmuskeln andrängelte. Und das machte es eben so seltsam. Pascal schloss die Augen. Wenn er sich konzentrierte, konnte er einen weit entferntes, rhythmisches Brummen hören - mehr ein unbewusster Druck auf den Ohren, von irgendeiner weit entfernten Straße. Er spürte eine prickelnde Nervosität, die ihm unter der Haut aus den Augen floss, und ein sinkendes Gefühl in seiner Kehle. Noch einmal klapperte sein Blick all die Kratzer in dem Furnier ab. Dann griff er nach seinen Kippen, stieg aus dem Bett und öffnete die Tür. Schlafen konnte er ja sowieso nicht. Kapitel 43: #43 [Die] --------------------- Rien de rien "Und wie lief es bisher?" "Naja." Er zeigte ein verirrtes Grinsen, als hätte ihm jemand einen Stapel ungewaschener Bettwäsche geschenkt, und kratzte mit einem Fingernagel an der Stuhllehne. Sie war aus kühlem Metall, darüber eine dünne Polsterung aus Kunstleder, das er gerade versuchte anzuschaben. Die Stelle hatte in der ganzen Zeit schon ein bisschen gelitten. Der Blick, der ihn dabei beobachtete, war nicht vorwurfsvoll, registrierte das Vorhaben eher mit verhaltenem Interesse. Keine Uhr tickte, durch das halbgeöffnete Fenster drang entferntes Stadtgeräusch in den Raum, das ihn daran erinnerte, dass sie sich weit oben befanden. Es gab viele Punkte, an denen er sich festsehen konnte; kleinteilige Collagen hinter Glas, gläserne Figuren hinter noch mehr Glas, penibel poliert; eine Bücherwand direkt vor der Nase. Ein, zwei Titel las er, bevor seine Augen wieder zurückwanderten, sein Gegenüber streiften und schließlich am Schreibtisch verweilten. Wohl etwas im Stress, dort stapelten sich die Aktentaschen. Eine ganze Weile blieb es still, nicht besonders unangenehm, aber auch nicht beruhigend. Die anfängliche Panik war immerhin schon lange nicht mehr präsent - nachdem ihm ungefähr vier Millionen Male versichert worden war, dass er nichts zu befürchten hatte. Seit.. wie lange nun? Ein knappes halbes Jahr vielleicht? So genau konnte er sich gar nicht mehr erinnern. Ha ha. Man hatte ihm ausführlich erklärt, dass sich im Hirn mitunter sehr seltsame Dinge abspielten. Dass sich gerade Erinnerungen teilweise grotesk veränderten, je öfter und intensiver man darüber nachdachte. Nein, du erinnerst dich nicht plötzlich an Dinge, die dir vorher nicht aufgefallen waren. Es wurde nachträglich in deinen Kopf eingebaut. Gruselig, wie sich das Hirn zu einem guten Teil einfach irgendwelche Dinge dazuinterpretiert, Gefühle und Gedanken der Vergangenheit manipuliert, verzerrt oder gar völlig andere erfindet, um die Erinnerung möglichst voll auszuschmücken. Ein großer Schwindel. Unzurechnungsfähig. Das Zauberwort. Er schnaubte leise und seine Mundwinkel zogen sich eine Spur auseinander. "Was ist?" Diese Stimme klang immer so weich. Interessiert, aber nicht bohrend. Man hatte nicht den Drang, sich alles aus der Nase ziehen lassen zu wollen, weil es sich gut anfühlte. Das berufliche Interesse war zwar eine Notwendigkeit, aber man vergaß das schnell. "Ich hab nur gedacht..", fing er an und seine eigene Stimme dagegen war so rau in seinen Ohren. Dann war das Gefühl weg und mit ihm das Bedürfnis, es zu teilen. Das Kratzen an der Lehne war nicht zuhören, aber er fühlte die angeraute Stelle unter seinen Fingerkuppen und fing an, die Stelle wieder glattzustreichen. "Was haben Sie gedacht?" "Hm, ich hab's vergessen." "Das ging ja schnell." Ja, das ging schnell. Nicht einmal zwei Sekunden. Keine Frage und keine Antwort, keine Option und keine Wahl. Nur ein Reflex, nicht wahr? Affekt. Noch ein Zauberwort. "Ja. Mein Gedächtnis ist, wie wir wissen, nicht das Beste." Ha, jetzt macht er sich doch eine Notiz. Ist auch schon etwas länger her. Und dazu ein ungutes Gefühl in der Magengegend. "Hat es sich denn tatsächlich verschlimmert? Oder nur gerade?" Hm. Sein Blick kletterte die Decke hinauf, hängte sich dort an die hellrote Pendelleuchte und schaukelte ein bisschen daran. Dabei hatte er den Rückstoß noch so deutlich im Gefühl, im ganzen Körper, er konnte es jederzeit wieder zurückholen. Und dazu den Geruch nach nasser Erde und die fürchterliche Kälte in den Gliedern, die den Stoß so schmerzhaft gemacht hatte. "Alles okay?" "Ja. Ja, doch. Sorry. Wie war die Frage?" Ein bisschen mehr Gekritzel. Mit einem leisen Seufzen lehnte er sich im Stuhl zurück - er war ergonomisch unkorrekt und verdammt bequem - und glotzte nach draußen. Die einzige größere Fläche im Raum, die absolut leer war bis auf eine faserige Wolke, die er für ein bisschen anvisierte. Bewegte sich kaum. Bis gar nicht. Nie wieder. "Schon gut, das macht nichts. Also, wie war die Arbeit?" "Geht so. Ich wollte eigentlich wieder richtig einsteigen. Gestern." "Eigentlich?" Das interessiert ihn jetzt, ich kenne den Ausdruck. "Was war denn los?" Frankie fing an zu grinsen, schnaubte dann amüsiert und seufzte dramatisch. Diese Blicke. Diese entsetzten, verstörten Blicke und die anschließende beklemmende Stille. Heh. "Wir hatten uns gezofft. Wie immer. Ich hab' Jeel angeschrien, er hat zurückgeschrien. Und dann hab ich gemeint..", er machte eine Pause und runzelte die Stirn, "..'ich bring dich um, Alter.' Jah. Das fand er nicht lustig." Das hatte niemand lustig gefunden. Er schloss für einen Moment die Augen, während leises Schaben an sein Ohr drang. Durch einen kleinen Spalt schielte er hinüber; nun furchte sich auch die andere Stirn, eifrig am Schreiben. Frankie senkte die Lider wieder und dahinter formten sich in der Dunkelheit Stelzen; ein schwarzes, dürres Etwas, gebeugt und suchend. Tastend. Beißende Kälte und ein alles erstickender Wunsch. "Das kann ich mir vorstellen. Sie sollten mit solchen Ausdrücken in Zukunft etwas vorsichtiger umgehen. Natürlich, im Streit ist man nicht sehr aufmerksam, mit welchen Floskeln man um sich wirft. Aber.." Er schlug die Augen auf und lächelte entschuldigend. "Ich weiß, ist mir rausgerutscht. Ich hab es einfach.. vergessen." Mehr Notizen, mehr Notizen. Brauche ich zum Glück nicht. Ich habe alles glasklar in meinem Kopf, für den Rest meines Lebens. Mit all den verzerrten, ausgeschmückten Einzelheiten, die man sich von seinem Hirn nur wünschen kann. Nur fair, wenn man bedenkt, dass ich es nicht das kleinste Bisschen bereue. Kapitel 44: #44 [Two Roads] --------------------------- Slalom Am Rand von Raoul lag der Karossendealer von Pascals Vertrauen. In Crackpot City mochte die Auswahl riesig sein, und für jede bedeutendere Marke existierten zich Spezialgeschäfte - und dafür musste man sich durch einen Haufen Müll wühlen und übereifrige Verkäufer ertragen. In diesem Laden in Raoul, hatte er todernst erklärt, ließ man sich stattdessen durch eine streng ausgewählte Reihe von Glanzstücken führen, bei denen es sich wirklich lohnte, sie sich näher anzuschauen. In einem Gourmet-Restaurant war die Karte ja auch verschwindend klein. Frankie war das nur recht gewesen. Bei der begrenzten Auswahl hatte er gehofft, die Sache schneller über die Bühne zu bringen; immerhin war es schon Ende August und mörderisch heiß. Pascal betrachtete gerade eingehend die silberne Karosserie irgendeines Sondermodells und unterhielt sich dabei mit der Händlerin; Frankie hing ein paar Schritte hinterher und warf alle paar Sekunden den Blick auf sein Smartphone. Die Uhr war nicht besonders kooperativ darin, die Zeit schneller verstreichen zu lassen, und er empfand eine plötzliche, neue Empathie dafür, weshalb von Pascal in Möbelhäusern oder Shoppingzentren irgendwann nur noch ein gereiztes Knäuel aus Unterbeschäftigung und Ungeduld übrig blieb. Unter normalen Umständen hätte Frankie sich auch gar nicht auf einen Trip zum Autohändler eingelassen. Schöne Autos wusste er zu schätzen, aber sobald das technische Gelaber anfing, schaltete er ab. Autoliebe verband er immer noch ein bisschen mit Proleten, aber nüchtern betrachtet waren sie genau so nerdig wie Typen, die sich ihren PC selbst zusammen schraubten. Und mit Pascals bizarrer, inniger Liebe zum Gefährt konnte er sowieso nicht mithalten. Er hatte doch nicht mal einen Führerschein. Seufzend wischte er sich den Pony aus dem Gesicht und gab sich ein kleines bisschen Mühe, nicht total gelangweilt zu wirken. Immerhin hatte er Pascal ja dazu angestachelt, seinem "Das willst du nicht" und "Bist du sicher?" zum Trotz. In der Hoffnung, einen Hinweis aufzufangen und ihn dieses Jahr mit einem Geburtstagsgeschenk völlig aus der Fassung zu bringen-- positiv, natürlich, sonst könnte er ihm auch einfach einen Smart in die Küche stellen. Ha. Immerhin konnte er schon Witze reißen wie ein echter Profni. Er schnaubte kurz und rieb sich den feuchten Haaransatz. Alter, was ist es hier so heiß? Haben die hier keine Klimaanlage? Suchend drehte er den Kopf und fand schließlich das kreisrunde Düsenmuster in der Decke ein paar Meter weiter. Er warf einen Blick zurück zu Pascal - der würde wohl nicht in den nächsten zwei Minuten sein Traumgefährt finden, so sehr, wie er hier alles auseinander nahm - schlappte hinüber und stellte sich in den kühlen Luftstrahl. Ahhh. Da vergeht die Zeit doch gleich ein wenig schneller. Nach einigen Sekunden öffnete er die genießerisch geschlossenen Augen sogar - primär, um Pascal und Verkäuferlady, er hatte ihren Namen vergessen, nicht aus den Augen zu verlieren - da fiel ihm etwas auf. Es war ein Auto, natürlich, da gab es nicht wirklich ein Mysterium. Es war schnittig gebaut, dunkelblau und stand ganz normal in der Reihe - auf Anhieb stellte er keinen offensichtlichen Makel daran fest. Das Seltsame daran war: Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Pascal sich das Teil überhaupt angesehen hatte. Er musste einfach daran vorbei sein. Während er sonst so ziemlich jedes der Autos hier genauer begutachtet hatte, wenigstens für ein paar Minuten - weshalb sie hier auch so langsam vorwärts kamen. Vielleicht hatte er es aus latenter Langeweile verdrängt? Er riss sich von der Klimaanlage los und trat an das Fahrzeug heran. Ein wirklich hübscher Wagen - sportlich, aerodynamisch - damit konnte Frankie sich identifizieren. Die Marke erkannte er nicht, aber das musste nicht wirklich etwas heißen. Wenn es schon hier stand, bei Pascals Händler des Vertrauens... "Pascal?" Angesprochener sah auf, und für einen Moment nicht aus wie er selbst. Es war der Gesichtsausdruck - erstaunlich unverkniffen und ungrimmig für seine Verhältnisse - ein Anblick, der es fast schon ein kleines bisschen wert war, sich zumindest ein paar Minuten lang dieser Langeweile auszusetzen. Er schien wirklich Spaß an der Sache zu haben. "Musst du los?", fragte er, und nur ein Zucken im Mundwinkel verriet den Rest: Oder willst du einfach nur los, weil dir öde ist? Eigentlich war Pascal - auf seine bekloppte Art und Weise - auch so ein bisschen ein Kommunikationsmeister. Er schaffte es, ganze Sätze auf Millimeter von Muskelbewegungen zu komprimieren. Man musste nur genau hinsehen, und ordentlich Vokabeln pauken. Frankie lächelte ihn werbereif an - auch bei Langeweile noch gut aussehen, das muss man als Star seines Kalibers draufhaben - und schüttelte den Kopf. Dann zeigte er auf den Wagen vor sich. "Was ist mit dem hier?" Die Puzzleteile verschoben sich in Pascals Gesicht. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, und seine Oberlippe wanderte ein kleines Stück aufwärts. Eine Mischung aus unwillig und peinlich berührt - Frankie war Pascalflüsterer. Gezwungenermaßen. Vielleicht konnte er das wenigstens in seine Referenzen schreiben, oder in den Lebenslauf auf seiner Webseite. Kann gut mit verbal unkommunikativen Säcken. "Das ist 'n Elektro-Auto", erwiderte er, als hätte man ihn auf das Regal mit den alternativen Pornos hingewiesen. "Oha! ... Ist das schlecht?" Pascal fing an, herumzudrucksen und zu gestikulieren. "Die Leistung...", fing er an. Im Gesicht der Verkäufer-Lady blitzte einen Moment lang ein amüsierter Gesichtausdruck auf. "Die steht einem Benziner in nichts nach", erklärte sie und stellte sich zu Frankie. "Und dank der Akku-Technologie immerhin 250 km Reichweite. Traumhaftes Fahrgefühl, ist ein Auto zum Spaß haben." Liebevoll tätschelte sie die Kühlerhaube. Leina, erinnerte sich Frankie. Leina war ihr Name. Und wenn sie gerade versuchte, Pascal etwas anzudrehen, dann bekam sie den Eindruck, die Teile genau so zu lieben wie er, unheimlich authentisch hin. Ihr seid alle seltsam. Das schien Pascal gerade auch zu denken; er hatte ein Gesicht aufgesetzt, als ob sie Sizilianisch mit ihm geredet hätte. "Aber das Tanken...", fing er an. "Außerhalb vielleicht. In Weißwurst County sind wir ziemlich gut ausgestattet. Der Schatz hier kann auch Induktion - einfach auf einem passenden Parkplatz stehen lassen, und es lädt. Ganz ohne Kabel." "Uuuh...!" Frankie konnte sich das nur bedingt vorstellen, aber für ihn klang das gerade ziemlich abgefahren. Pascal schwenkte um. "Kann mir nicht vorstellen, dass das Fahrgefühl was taugt." Seine Lippen waren etwas schmal geworden, und er geriet ins Schwimmen - Frankie verstand nicht, weshalb. Leina fasste ihn ins Auge, als hätte sie ihn durchschaut. "Bist du schon mal Elektro gefahren?" Er zögerte, bevor er langsam den Kopf schüttelte. "Nein, aber-" "Dann sei mal nicht so konservativ!", mischte Frankie sich ein - die Aussicht, aus dieser drögen Halle herauszukommen und bei heruntergekurbeltem Fenster eine Runde zu drehen, erfüllte ihn mit plötzlichem Enthusiasmus. "Können wir uns das Gerät mal ausleihen?" "Klar." Leina grinste. Diese Sorte von Auto musste ein Abwehrschild gegen Miesepeter mit Brackwasseraugen haben. Zumindest führte Pascal sich so auf. Die Formalien hatten sie schnell geklärt, und als sie in der kleineren Halle am hinteren Tor ankamen, stand der Wagen bereits da - Leina musste ihn dort vorgefahren haben, denn sie übergab Pascal wortlos die Schlüssel. Für ihren kleinen Trip war alles bereit. Und trotzdem machte er keine Anstalten, sich dem Wagen auch nur auf zwei Meter zu nähern, als würde dieser nach drei Tage altem Fisch müffeln. Aber - und das war auch so eine Pascalflüsterer-Sache - dieser Mensch muss manchmal zu seinem Glück gezwungen werden. Er baut geradezu darauf. Ohne große Umschweife packte Frankie ihn am Ellenbogen und zog ihn in Richtung Auto. "Los jetzt!" Er warf einen hoffnungsvollen Blick zum sperrangelweit offen stehenden Tor; der blaue Schönwetterhimmel glitzerte verheißungsvoll und er hätte in dem Moment auf alles geschworen, was ihm heilig war, dass er die einzelnen Sonnenstrahlen neckisch winken sah. "Wir drehen jetzt 'ne Runde in der Schüssel." "Aber-" Er ignorierte, was Pascal zu sagen hatte, öffnete die Beifahrertür und ließ sich in den schwarzen Ledersitz sinken. Auch wenn er sich lieber von diesen Freaks distanzierte, konnte er gar nicht anders, als wohlgefällig den Neuwagengeruch hier drin zu bemerken. Vielleicht war es auch der Kontrast zum Geruch der Chesterfields, die Pascal rauchte, und deren Aroma sich dementsprechend auch über kurz oder lang auf dessen Karre abrieb. Er kroch halb auf den Fahrersitz, stieß aufforderungsvoll die Tür auf und grinste Pascal von unten an. "Dann kannst du wenigstens aus Erfahrung sagen, dass das Fahrgefühl stinkt. ... Jetzt zieh mal nicht so ein Tapirgesicht", setzte er hinzu und piekste ihn in die Seite, denn Pascal sah aus wie eine Kuh auf halbem Weg zum Schlachter. "... Mpf." Pascal kniff die Augen etwas zusammen. In einer ungeduldigen Geste scheuchte er Frankie zurück auf den Beifahrersitz und schob sich vor das Lenkrad. Mit einem kurzen Blick nahm er Inventur von dem Armaturenbrett - und zog eine betrübte Miene. War ihm wahrscheinlich zu übersichtlich. Ein Mann seines Kalibers fühlte sich bei unter fünf Zahlenrädern mit wippenden Zeigern wohl überfordert. Düster sah er wieder auf und starrte geradeaus. Leina stand bei der nächsten Säule, einen halben Meter links von der Fahrertür, ein kryptisches Lächeln auf den Lippen. Er bemaß ihr keines Blickes, sondern zog die Fahrertür vorsichtig ins Schloss - bei all der Geringschätzung war das Auto immer noch fremdes Eigentum, und dementsprechend pfleglich ging er damit um. Der Schlüssel in seiner Hand sah aus wie ein Spielzeug; es war die Haltung, mit der er ihn in der Hand hielt, und ihn jetzt in die Zündung schob und drehte. Es blieb sehr, sehr still. Pascal kniff die Augen ein Stück zusammen und rüttelte am Schlüssel. Dann warf er einen Blick zur Seite, stieß die Fahrertür wieder auf und sagte ziemlich trocken zu Leina: "Der Motor geht nicht an." Sie trat zwei Schritte näher und warf einen bemessenen Blick durch die Scheibe. Dann neigte sie den Kopf und lächelte freundlich. "Der Motor-- ist an." Die Muskeln um Pascals Mundwinkel fingen an zu arbeiten. Ein paar Millimeter - ein Anflug von Spott - dazu musste Frankie nicht einmal näher hinsehen. Wenn man Chinesisch flüssig lesen konnte, setzte man sich schließlich auch nicht mit jedem einzelnen Strich im Zeichen auseinander. Der Vergleich mit Pascals Mienenspiel erschien Frankie in diesem Augenblick sogar ausnehmend passend, und er grinste zufrieden. Pascal wandte gerade das Gesicht von dem leuchtenden Armaturenbrett ab - der Spott war versackt, ein dunkler Schock flackerte kurz über seine Miene - mit einem Seitenblick fing er das China-Grinsen auf und bekam es spontan in den falschen Hals. Der Strich, den er Mund nannte, sackte nach unten, und zog seine Augenbrauen mit. Kurz angebunden nickte er Leina zu und zog die Tür mit einem lakonischen Knacken erneut ins Schloss. "Das ist doch lächerlich", brummte er. "Als ob das Ding keinen Motor hat. Wie viel Leistung kann da schon drin stecken." Dann trat er aufs Gas, zwei Augenpaare weiteten sich, der Wagen flutschte nach vorne in einer seltsamen, mühelosen Beschleunigung und kam unter Pascals hektischem Gepaddel nach einer Haarnadelkurve ruckend wieder zum Stehen, und auf seiner Stirn zuckte etwas, aber Frankie verstand in diesem Moment kein Chinesisch mehr, weil er zu beschäftigt mit seiner eigenen, bösen Vorahnung war. "Das Ding fährt viel zu ruhig." Tatsächlich war es mehr, wie in einem Flugzeug zu sitzen, als in einem Auto. Frankie hatte das Fenster hinunter gelassen und genoss den Wind, der ihm durch die Haare zottelte. "Ich finde es eigentlich ganz angenehm", erwiderte er nonchalant, die Augen halb geschlossen, die Vorahnung halb vergessen. Im Flachland vor der Stadt fehlte der ganze Verkehrslärm, und ohne einen brummenden Motor konnte man die Atmosphäre sogar richtig genießen. Neben ihm klopfte Pascal mit den Daumenknöcheln auf dem Lenkrad herum. "Man bemerkt den Motor gar nicht. Fühlt sich nicht wirklich an wie ein Auto", maulte er. Frankie linste zufrieden unter seinen Lidern hervor, auf die weite, mit trockenen Büschen gesprenkelte Landschaft, die an ihnen vorbei zog. "Dein Dreitagebart fühlt sich auch nicht an wie ein brasilianisches Supermodel", bemerkte er leichthin und zog nicht einmal präemptiv die Schultern hoch. "... Haben die keinen Bart?" Statt einer Faust schlug ihm nur milde Verwirrung entgegen. "Pfft." Frankie kippte den Kopf und sah Pascal mitleidig von der Seite an. "Wie denn?" "Die Kerle auch nicht?" "... Um die geht's doch gar nicht..!" Pascal runzelte die Stirn und schüttelte sanft den Kopf, was im Laufe seiner nächsten Überlegung in ein sanftes Nicken überging. "Doch, die bestimmt..." Entweder, er hatte nicht zugehört, oder er wollte den Einwand nur nicht zur Kenntnis nehmen. Frankie fummelte sich die Sonnenbrille aus dem Hemdkragen und parkte sie auf seinem Nasenrücken, um Pascal nicht ins Gesicht zu springen. Übersprungshandlung. "Seit wann kennst du dich mit brasilianischen Supermodels aus?" Hilflos zuckte Pascal mit den Schultern, das Fahren lenkte ihn offenbar von seiner zugedachten Rolle als Wortklauber aus; stattdessen hatte Frankie jetzt die Ehre. "... Du weißt genau, wie ich das gemeint habe." Einen Moment lang blieb Pascal still. "Dass... die sich lasern lassen?" Er klang immer noch verwirrt. Aber immerhin motzte er nicht mehr. "Rasieren ist schon nervig, aber ich mag es, prinzipiell die Möglichkeit zu haben, dass da was wächst..." Sein Gemurmel ging nahtlos in seinen Fahrstil über - während Frankie noch überlegte, ob das Gespräch überhaupt noch irgendwo hinführen würde, purzelten ihm im nächsten Moment die Gedanken einfach aus dem Kopf; der Wagen hatte einen Rutscher, einen Sprung nach vorne gemacht und den Worten in seinem Gehirn einfach den Boden unter den Füßen weggezogen. Stattdessen krachte ihm die dunkle Vorahnung ziemlich unsubtil direkt durchs Schädeldach. Seine Hand kroch zu seinem Anschnallgurt und er starrte geradeaus auf die leere Straße. "... Oooh!" Pascal machte einen kurzen Schlenker - die Reaktionszeit des Autos war übelerregend schnell. "War das ne Anspielung auf Brazilian Waxing?" Noch ein Schlenker. Dazu machte er ein Gesicht wie eine Katze, die gerade den spielerischen Wert von Schnürsenkeln entdeckt hatte. "Pascal...", schnaufte Frankie. Zugegeben, das war schon irgendwie niedlich, nur konnte er sich im Augenblick nicht wirklich darauf konzentrieren; er spürte, wie ihm ein bisschen Farbe aus dem Gesicht wich und er seinen monumentalen Fehler realisierte - die Langeweile beim Autohändler musste ihn lebensmüde genug gemacht haben, sich bei einer Probefahrt mit Pascal mit rein zu setzen. Aber woher hätte er auch wissen sollen, wie verflucht willig dieser Wagen auf seinen Fahrer reagieren würde? Seine andere Hand kroch hinunter zum Sitz und krallte sich in die Seite, während er die Röte in Pascals Wangen, und die Zahl auf dem Armaturenbrett in die Höhe schießen sah. Dann bremste Pascal ab; die Gedanken, die hinten zurückgeblieben waren, holten auf und knallten Frankie gegen die Stirn, während sich sein Hinterkopf in ds Sitzpolster drückte. "Das ist hier draußen doch Zeitverschwendung." In ihm regte sich die plötzliche Hoffnung, dass dieses Auto Pascal trotz allem nicht beeindruckt hatte - aber der Realist in ihm brauchte nur einen Blick auf die Geschwindigkeit zu werfen, und dann einen zweiten Blick auf das ungesunde Glitzern in Pascals Augen, um zu wissen, dass da noch etwas kommen musste. Und es kam. "Das Ding ist für Stadtverkehr gebaut." Frankie schluckte kurz; er war von Pascal einiges gewöhnt, aber nicht, dass ihm so ein müheloses Fahrwerk zur Verfügung stand. "Bitte brich mir nicht den Hals..." "Ach was. Hab ich jemals einen Unfall gebaut?" Die genüssliche Note, die sich in Pascals Stimme geschlichen hatte, war in dem Augenblick das Gegenteil von beruhigend; ein Tonfall, der mit einem halben Grinsen konform ging, und ein bisschen mit dem Konsens, schmutzige Dinge zu tun. Oh Gott. Pascal... Es war gut, dass Frankies Gefühlsgemisch in diesem Augenblick von seinem rebellierenden Magen in Grenzen gehalten wurde. Das Knirschen der Reifen auf dem Kies vor der Einfahrt war das einzige Geräusch, als das Auto vor das hintere Tor der Ausstellungshalle rollte. Ein paar graue Wolken fläzten sich über den Himmel und warfen kühle Schatten auf die Karosserie. Der Wagen kam zum Stehen; nur ein Blick auf das Armaturenbrett sagte Frankie, dass Pascal den Motor abgewürgt haben musste. Mehr Anlass brauchte er auch gar nicht; er stemmte sich gegen die Tür und stolperte, sobald sie nachgab, benommen an die frische Luft hinaus. Ein paar Strähnen klebten in seiner Stirn, und seine Beine bebten bei den ersten Schritten noch unter dieser ruckeligen Art der Fortbewegung. Erst, als er nicht mehr das Gefühl hatte, jeder Windstoß könne ihn umwerfen, blickte er zum Auto zurück, wo Pascal - ganz der blöde, irre Eisklotz, der er war - völlig gefasst neben der Tür stand und sich eine postcarrossale Kippe anzündete. Frankie richtete sich die Haare, schnaufte noch einmal und reckte dann den Hals nach Leina, auf dass sie Pascal bitte diesen Teufelsschlüssel abnehmen möge. "So ein Auto gehört definitiv nicht in deine Finger", stöhnte er und strich es von der imaginären Liste potentieller Geburtstagsgeschenke. Mit der Kippe im Mund schlenderte Pascal in Richtung Tor und zog eine kleine Rauchfahne hinter sich her. Er sagte nichts. Er grinste nur. Kapitel 45: #68 [Hero] ---------------------- Ragequit Für eine Weile hörte man nur schweres, vibrierendes Atmen. Er hörte das Zittern in der Stimme, obwohl der Raum kein Echo warf, der Teppich schluckte einen Großteil der Akustik und erinnerte ihn schmerzlich daran, dass es kein Albtraum war - dafür klang es viel zu natürlich. Den Kopf hatte er zwischen die Arme gesteckt, damit er es nicht mitansehen und mitanhören musste; verdrehte sich den Hals beim Versuch, die Ohren mit den Oberarmen schalldicht zu bekommen, aber es fehlten immer ein paar Milimeter. Dieses leise Keuchen, das sich so sehr bemühte, sich zurückzuhalten. Wieder zerrte er an den Handschellen - und wieder gaben sie kein Stück nach. Das mittlerweile warme Metall schnitt scharfkantig in seine Haut und wäre er dazu in der Lage gewesen, er hätte sich beide Hände einfach herausgerissen. Schnaubend zuckte sein Kopf; der Knebel drückte so fest in seine Mundwinkel, dass er sich nicht einmal Zunge abbeißen konnte, um dem zu entkommen. Das wollte er um keinen Preis miterleben müssen und doch sah es so aus, als würde man ihm keine Wahl lassen. Sein letzter Ausweg war blockiert und es machte ihn rasend und starr vor Angst. "Pasquale. Wenn du dich sehen könntest. Verkriechst dich in dir selbst. Meschino." Und da war es. Das leise Wimmern, das sich wie ein eiserner Kabelbinder um sein Herz legte und sich mit jedem Schlag enger zog. Bitte.. bitte tu mir das nicht an. Alles, aber nicht das. Aber der Bastard wusste genau, welche Register er aus seiner persönlichen Hölle ziehen musste. Er hatte den Joker. Und er würde ihn nicht hergeben. "..as.." Nein, sei ruhig. Bitte nicht, sag nichts, versuch nicht, mich zu Hilfe zu rufen! Ich würde alles tun, alles, du weißt es, du hast mich gehört! Und du hast ihn gehört. Das ist es, was er will, nichts anderes. Bitte.. bitte sag nichts und sterbe. Schnell. Mit einem Auge schielte er über seine Schulter und streifte Weiß und Schwarz. Vincent hatte sich nicht einmal dazu herabgelassen, in die Knie zu gehen. Er stand, bedrohlich wie der Tod selbst, nur dass er statt einer Sense einen ordinären Baseballschläger zwischen den langen Fingern hatte. Die andere Hand war vergraben in weißen Strähnen, ein starker Zug, das Gesicht in Splitter zerteilt durch ein rotes Spinnennetz. Vincent schnaufte amüsiert und zerrte zur Seite, der Körper folgte unwillig wie eine störrische Puppe. Es knallte dumpf, als das Schlagholz auf Knochen traf; der Schrei war tief und kurz, gefolgt von leisen, langgezogenen Lauten, wie er sie noch nie von ihm gehört hatte. Frankie, bitte. Spiel nicht den Helden, das fordert ihn nur heraus. Das willst du nicht - du willst, dass er schnell das Interesse an dir verliert. Du heulst doch sonst immer wegen jeder Kleinigkeit, du musst mir nichts beweisen. Bitte. Ich bitte dich! "Was meinst du.." Die Stimme klang leise amüsiert und gleichzeitig ein bisschen angewidert, als würde ihm etwas durch den Kopf gehen, das sich die Waage hielt zwischen sehr lustig und absolut abstoßend. Er hob den Baseballschläger und sah ihn abschätzend von unten bis oben an, ein paar Spritzer Blut klebten daran und er runzelte die Stirn. Dann wischte er ihn vorsichtig an Frankies Wange ab, mit dem Ergebnis, dass er ihn damit nur noch mehr verschmierte. Vincent zischte tadelnd. "Kssssh. Jetzt hast du ihn komplett versaut. Dabei habe ich grade überlegt, ob ich dir kleinen Schwuchtel sogar noch ein Geschenk mit auf den Weg gebe. Was meinst du,", er klopfte grinsend mit dem Holz gegen die fremde Hüfte, "ist das in etwa Pasquales Größe?" Die Luft gefror, sein Herz setzte ein paar Takte aus. Frankie japste, als Vincent nach seiner Hose griff; er zuckte zusammen und presste den Kopf krampfhaft wieder zwischen die Arme, aber er hörte es trotzdem. Oh Gott. Das Kämpfen, Klirren von Metall, Frankie schrie. Er schrie wirklich, ohne jede Zurückhaltung. Die blanke Panik wurde aus dem anderen, so bekannten Mund direkt in sein eigenes Knochenmark geschleudert und setzte es unter Strom. Nein,.. NEIN! Dieses.. Monster! Das wirst du nicht tun! Dafür bist du dir zu schade, das.. das machst du nicht! Er zerrte so scharf an dem Metall, dass er seine Haut aufreißen spürte. Du machst das.. nicht! "Haha. Nur ein Scherz. Ich weiß, du stehst drauf, aber diesen letzten Wunsch erfülle ich dir nicht. Wo doch jeder weiß, wie winzig--", lachte Vincent und verzog dann überrascht das Gesicht, als er einen Tritt von hinten in die Kniekehle bekam, der ihn tatsächlich aus dem Gleichgewicht brachte. Ein herzhaftes "Affanculo!" ließ Pascal aufsehen, ein winziges, mikroskopisches Schimmerchen Hoffnung glomm hinter seiner Stirn; sein Bruder auf den Knien mit einer Hand auf dem Boden, Holz polterte; sein Hinterkopf stand in Flammen - und wie Frankie anscheinend erkannte, dass sie eine Chance bekommen hatten. Eine so wahnwitzig geringe Chance, dass sie auch schon vorrüber war, bevor Frankie irgend etwas tun konnte. Aber er stand. Noch immer mit den Armen auf dem Rücken gefesselt, gebeugt, wackelig und keuchend, aber er stand verdammt nochmal auf seinen eigenen Beinen. Und zwischen all dem Schmerz, das seine verzerrten Züge zeichnete, fand er so viel Trotz und Verbissenheit. Natürlich hatte er keine Chance. Er könnte selbst im besten Zustand und mit freien Händen kaum etwas gegen Vincent ausrichten, wenn er ihm nicht gerade eine Kugel direkt durchs Hirn jagte. Frankie und er, sie würden hier trotzdem sterben, das wussten sie alle drei. Aber er hatte Vincents Stolz getroffen und ihm die tadellose Tour vermasselt. Seine Gestalt streckte sich, es war ihm, als würde er sich aufplustern wie ein wütendes Rotkehlchen. "Kein Grund, vor der kleinen Schwuchtel gleich auf die Knie zu gehen. Du bist leider nicht ganz mein Typ", krächzte es leise und sein Herz schlug Purzelbäume, als er sah wie Frankie, ein Frankie, den er überhaupt nicht mehr wiedererkannte, provokant einen halben Schritt auf seinen Bruder zumachte, mit dem Kopf zuckte, um die weißen Strähnen aus dem Sichtfeld zu werfen. Du willst hier also doch den Helden spielen, hm? Jetzt, da du nichts mehr zu verlieren hast. Pascal schnaubte anerkennend und sah ihn an. Go get 'em, Tiger. Frankie grinste zurück. Mit dieser furchtbaren, zerrissenen Visage, aber er sah nicht mehr nach einem Opfer aus. Ich bin so stolz auf dich. "..so ein Stück Scheiße", knurrte Vincent wütend während er mit zwei großen Schritten den Schläger schwang. Und dann hörte Pascal das Krachen; ein dumpfes, splitterndes. Kein Schrei dieses Mal, nur etwas ersticktes. Das Blut war bis zu seinen Fußspitzen gespritzt, er musste nicht hinsehen um zu wissen, dass dieser unbeherrschte Schlag mehr als ausgereicht hatte. Vincent sah ziemlich verärgert aus und das ließ ihn in seinen Knebel grinsen. Der Teppich färbte sich schnell dunkelrot. Na komm schon, bringen wir es hinter uns. Du bist grade so schön in Fahrt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)