Blutige Lilie von Saedy (Der See des Vergessens) ================================================================================ Kapitel 5: Blackout ------------------- Fröhlich pfeifend, wie es sonst gar nicht seine Art war, ging Seto Kaiba auf den Spieleladen seines Lebensgefährten zu. Er freute sich einfach so sehr, nach diesem niederschmetternden Arbeitstag endlich Atemu wieder zu sehen. Eigentlich verwunderlich, dass er nach fünf Jahren immer noch so verrückt nach diesem war, dass er es kaum abwarten konnte. Dabei hatte er früher geglaubt, dass sei nur der Fall, wenn man frisch verliebt war. Mit einem Klingeln öffnete er die Tür des Ladens. “Atemu, ich bin da!”, rief er und bemerkte überrascht, dass der Laden leer war. Kurz warf er einen Blick auf die Wand hinter dem Tresen, wo ihm die neue Deko auffiel. Da hing doch tatsächlich ein Schwert, das wie echt aussah, in einer kunstvoll verzierten Scheide aus Leder. Kaiba schüttelte lächelnd den Kopf. Das war also die Überraschung, die sein Freund ihm hatte zeigen wollen. Aber wo steckte der bloß? Normalerweise stellte er ein Schild auf, wenn er nicht da war, selbst wenn er nur mal kurz auf’ s Klo musste. Nachdenklich öffnete Kaiba die Tür hinter dem Tresen und setzte gerade einen Fuß über die Schwelle, als ihm plötzlich Atemu in die Arme gelaufen kam. Fast hätte dieser ihn über den Haufen gerannt. “Hey, was ist los?”, erkundigte sich Kaiba überrascht und hielt ihn fest. “Nimm deine Pfoten von mir, du verdammter…” Atemu stockte mitten im Satz und schaute wütend nach oben, in Kaibas Augen. “Oh, du bist es”, stellte er lapidar fest. “Na, das ist ja mal ‘ne tolle Begrüßung. Was ist los?”, wollte Kaiba wissen. “Das geht dich nichts an!”, schlüpfte Atemu flink an ihm vorbei und in den Laden hinein. Kaiba schüttelte den Kopf. Was war denn seinem Freund nur über die Leber gelaufen? Er folgte ihm und wiederholte seine Frage, was mit ihm los sei. Schließlich schien sich Atemu zusammen zu raufen und erklärte, geringschätzig seine Fingernägel betrachtend: “Ach, da war nur so ein lästiger Kunde im Laden. Ich musste ihn rausschmeißen. Ich dachte schon, er wäre wiedergekommen.” “Hat er dir was getan?”, fragte Kaiba voller Sorge. “Nein, geht schon. Ich hätte ihn ja am liebsten erstochen, aber ich wollte dir nicht noch mehr Arbeit machen”, verkündete Atemu süffisant grinsend. Kaiba blickte ihn prüfend an. Manchmal kam ihm sein Freund wirklich wie ein anderer Mensch vor und er fragte sich, ob er jemals alle Geheimnisse seines Lebensgefährten lüften würde oder ob er das überhaupt wollte. Ohne Geheimnisse war das Leben ja schließlich auch langweilig. “Ist auch wirklich alles in Ordnung?” “Ja, wie oft denn noch?”, erwiderte Atemu und verdrehte genervt die Augen. “Hey, Schatz, ich bin’ s”, erinnerte Kaiba und nahm seinen Freund von hinten in die Arme. “Du tust ja fast so, als wäre ich derjenige gewesen, der dich belästigt hat. Was ist denn nun eigentlich passiert?” Sein Lebensgefährte zuckte unter der Umarmung zusammen, wie ihm mit Schrecken auffiel. “Hat er… dich etwa angefasst? Hat er dir wehgetan?” “Nein. Das hatte der Dreckskerl zwar vor, aber so leicht lasse ich mich nicht einschüchtern. Wie gesagt, habe ich ihn einfach rausgeschmissen. Und damit ist das Thema abgehakt, klar?”, mit diesen Worten befreite er sich aus Kaibas Umarmung. “Ich muss noch was erledigen”, erklärte er und lief wieder zurück in Richtung der Tür hinter dem Tresen. “Hey, warte!”, hielt Kaiba ihn auf, indem er ihn am Ärmel packte. “Sag, mal, kann es sein, dass du irgendwie sauer auf mich bist? Außerdem waren wir verabredet.” “Tu mir einen Gefallen, ja?”, wandte sich Atemu abrupt zu ihm um und Kaiba stockte, als er in die außergewöhnlichen roten Augen mit dem violetten Schimmer blickte, die nun zu fast schmalen Schlitzen zusammen gezogen waren. “Lass mich einfach in Ruhe, bevor ich mich vergesse!”, tippte er ihm auf die Brust. Es klang tatsächlich wie eine Drohung, was Kaiba überrascht zur Kenntnis nahm. Noch nie zuvor hatte Atemu so mit ihm gesprochen, auch wenn er sich manchmal komisch benahm. Der junge Polizist ahnte Schlimmes. Schließlich hatte er in seiner Polizeiausbildung gelernt, dass sich Menschen, die Opfer eines Schocks oder Traumas geworden waren, oft seltsam benahmen. Vielleicht war sein Freund doch überfallen worden, bevor er den Täter rausschmeißen konnte und schämte sich nur, das zuzugeben. Oder es war ihm durch den Schock unmöglich darüber zu reden und diese übermäßige Genervtheit war der Versuch, die Angst zu überspielen. Deshalb war Kaiba ihm in diesem Moment auch nicht böse, sondern höchst besorgt. Er ignorierte Atemus Drohung und folgte ihm. “Was willst du denn noch?”, rief der auch gleich genervt und lief ins Lager, wo er sich vor eine Kiste mit altem, unsortierten Spielzeug hockte und darin herumzuwühlen begann. Es schien fast so, als wolle er sich einfach mit irgendetwas beschäftigen, nur, um sich nicht mit Kaiba auseinandersetzen zu müssen. Doch der hockte sich einfach ebenfalls neben die Kiste und versuchte seinen Blick einzufangen. “Hey, Atemu. Vertraust du mir nicht mehr?”, erkundigte er sich sanft. “Hmpf”, brummte der lediglich und kramte weiter in der Kiste herum. “War das jetzt ein Ja oder ein Nein?”, lächelte Kaiba, der das Schmollen seines Freundes irgendwie süß fand. Plötzlich sprang dieser auf und da er schon befürchtete, dass Atemu wieder abhauen wollte, schnappte er ihn bei den Handgelenken und blickte ihm in die Augen. “Du weißt doch, dass du mir alles sagen kannst, oder? Alles, was dich bedrückt, mein Schatz. Wenn dieser Kerl dir was angetan hat…” Kaiba strich ihm zärtlich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Atemu senkte den Blick und schwankte, so dass er ihn festhalten musste. Liebevoll zog er ihn zu sich und streichelte ihm über den Rücken. “Ist dir schlecht?”, wollte Kaiba besorgt wissen. Atemu richtete sich wieder auf und schaute ihn überrascht an. “Was?”, guckte er sich verwirrt um. Es sah aus, als sei er gerade aus einem Traum erwacht. Vielleicht hat er jetzt den ersten Schockmoment überwunden, dachte Kaiba. “Es ist alles in Ordnung. Wenn dich etwas belastet, ist es besser, es rauszulassen.” “Nein, ich… Äh…”, stockte Atemu. Was war bloß passiert? Eben war er doch noch… Oh, Otogi, dieser Bastard! Er würde ihn umbringen! Ob nun Ryuchi sein Freund war oder nicht. Diesmal war dessen Onkel zu weit gegangen, eindeutig. “Was ist denn? Sagst du mir nun endlich, warum du so sauer bist? Willst du heute Abend vielleicht allein sein?” “Was, wie kommst du denn darauf? Ich bin nicht auf dich sauer.” Kaiba runzelte verwirrt die Stirn. Was war nur mit seinem Freund los? Diese Stimmungsumschwünge waren ja total merkwürdig. “Ich habe mich nur aufgeregt, weil dieser, argh, dieser Mistkerl versucht hat, mich zu betatschen.” “Was? Wer hat das getan?”, fuhr Kaiba vor Wut bebend auf, als er das hörte. Derjenige, der seinen Atemu anfasste, konnte sein blaues Wunder erleben! “Ach, nicht so wichtig”, wich der jedoch aus und blickte zur Seite. Das wäre gar nicht gut, wenn jetzt Kaiba Ryuchis Onkel zusammenschlagen wollen würde. “Hey, nicht so wichtig, sagst du? Was hat er mit dir gemacht, hm? Du bist ja völlig durch den Wind. Hat er etwa mehr getan, als nur versucht, dich anzufassen?”, packte er ihn aufgebracht bei den Schultern. “Nein, wirklich nicht”, versicherte Atemu. “Er hatte ein Messer dabei”, gab er nun zu. “Und deshalb konnte ich mich nicht wehren. Aber er hat mich nicht angefasst. Er wollte es, aber er hat es nicht getan, glaube ich.” “Glaubst du? Was meinst du damit? Du musst doch wissen, was er mit dir angestellt hat”, wunderte sich Kaiba. “Tja, das ist ja das Komische. Ich erinnere mich nicht, was passiert ist, nachdem er mich mit dem Messer bedroht hat. Ich weiß nur noch, dass ich fürchterliche Angst hatte und dann…nichts mehr. Ich hatte wohl einen Blackout”, fuhr sich Atemu nachdenklich mit der Hand durch die Haare. “Aber du hast ihn rausgeschmissen”, stellte Kaiba fest. “Wirklich?”, guckte Atemu ihn überrascht an. “Das hast du doch vorhin selbst gesagt. Erinnerst du dich nicht mehr?”, wunderte sich Kaiba. “Nein”, erwiderte Atemu und fragte sich verwirrt, ob die Sache mit den Blackouts jetzt schon wieder anfing, die er seit fast fünf Jahren überwunden geglaubt hatte. “Ich erinnere mich an nichts mehr, was passiert ist, nachdem der Kerl mich mit dem Messer bedroht hat. Er drängte mich in die Kaffeeküche und dann…”, der junge Mann zuckte mit den Schultern. “Ich weiß wirklich nicht mehr, was danach passiert ist. Aber wenigstens ist er weg”, schauderte er in der Erinnerung daran, was beinahe passiert wäre. Oder, war doch etwas passiert und er konnte sich deshalb nicht erinnern, weil sein Gehirn quasi den “Ausschalter” betätigt hatte? Wenn er Otogi tatsächlich rausgeschmissen hatte, dann hieße das doch, dass weiter gar nichts Schlimmes passiert war…, oder? Wieso konnte er sich also nicht erinnern? Atemu wollte im Moment nicht länger darüber grübeln und schaute auf. Kaiba hob die Hand und streichelte ihm über die Wange, was er mit einem erleichterten Seufzer zur Kenntnis nahm. “Vielleicht solltest du besser zu einem Arzt gehen und dich untersuchen lassen”, schlug Kaiba vor. “Wer weiß, was der Kerl mit dir gemacht hat, an das du dich nicht erinnern kannst. Wenn du einen Blackout hast, muss es was Ernstes gewesen sein.” “Aber es geht mir gut”, versicherte Atemu. “Nein, keine Widerrede. Ich begleite dich und pass auf dich auf.” Na toll, jetzt wollte Seto schon wieder den Beschützer spielen, wie Atemu genervt feststellte. “Mir geht es wirklich gut”, wiederholte er daher und weigerte sich standhaft, bei einem Arzt aufzukreuzen. Er hasste Ärzte und erst recht, wenn es darum ging, den Intimbereich zu untersuchen. Da konnte ihm sein Lebensgefährte sonst was erzählen. Außerdem merkte er doch, dass er nicht verletzt war, Blackout hin oder her. “Oh, hast du überhaupt schon meiner neuen Deko die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt?”, lenkte er nun Kaiba ab und deutete auf die Wand über dem Tresen. “Oh, ja, das Schwert, das hab ich schon gesehen”, erwiderte sein Freund mehr oder weniger begeistert und tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn, während er die Arme über der Brust gekreuzt hatte - so einfach wollte er sich nicht davon abbringen lassen, seinen Beschützerinstinkt auszuspielen. “Und hast du schon die kuriose Geschichte gehört, wie ich es gefunden habe?”, lehnte sich Atemu mit funkelnden Augen über den Tresen zu Kaiba hinüber. “Was, dazu gibt es auch noch eine Geschichte?” Vielleicht sollte er Atemu doch erstmal eine Ablenkung gönnen, um ihn später überreden zu können, sich untersuchen zu lassen. Außerdem interessierte ihn das jetzt doch. “Ja, stell dir vor: Eines Morgens habe ich es hier im Laden gefunden, einfach so! Als hätte es da jemand vergessen. Aber wer vergisst schon ein Schwert? Also hab ich es kurzerhand aufgehängt. Vielleicht kommt der Besitzer ja noch vorbei, dann hab ich halt Pech gehabt”, zuckte Atemu mit den Schultern. “Was, das war es schon? Und ich dachte, da kommt jetzt eine große Story mit Blut und Leichen…”, spöttelte Kaiba. “Nö, das hast du doch schon genug auf deiner Arbeit, oder?”, zwinkerte Atemu zurück. “Außerdem findet man nicht jeden Tag ein Schwert, noch dazu im eigenen Laden.” “Da hast du allerdings Recht. Das ist wirklich merkwürdig. Wer weiß, was für ein Freak dir das hinterlassen hat. Aber nun zurück zu diesem Kerl, der dich belästigt hat…” Atemu stöhnte genervt. Er wollte auf keinen Fall, dass Kaiba erfuhr, wer ihn angegriffen hatte. Denn dann würde auch sein Freund Ryuchi davon hören, was für ein Dreckskerl sein Onkel war und wäre am Boden zerstört - oder er glaubte Atemu gar nicht erst und würde nicht mehr mit ihm befreundet sein wollen. “Wer war das?”, vollendete Kaiba seine Frage. “Keine Ahnung”, log Atemu ohne mit der Wimper zu zucken. “Dann gehen wir auf’ s Revier und lassen ein Phantombild machen”, verlangte sein Lebensgefährte. “Weißt du, ich bin wirklich müde. Lass uns doch einfach nach Hause gehen, ja?”, bat Atemu. “Aber du kannst doch nicht zulassen, dass dieses Schwein einfach so davonkommt. Vielleicht kommt er sogar wieder und versucht es noch einmal… Atemu, du solltest wirklich…”, beschwor ihn Kaiba. “Ach, ich habe Kopfschmerzen. Lass mich einfach in Ruhe, okay?”, wies sein Freund ihn ab und machte sich daran, seine sieben Sachen, die er wieder mit nach Hause nehmen wollte, in eine Tasche zu packen. “Manchmal verstehe ich dich wirklich nicht”, erklärte Kaiba, um Fassung ringend. Am liebsten hätte er seinen Lebensgefährten jetzt bei dem Schultern gepackt und durchgeschüttelt, bis er wieder zur Vernunft kam. Und das, obwohl sie doch nun schon fünf Jahre zusammen waren und sich eigentlich besser kennen sollten. Doch Atemu blieb nach wie vor ein Rätsel. “Hey, tut mir leid, Schatz. Ich wollte nicht so schroff sein”, kam dieser nun auf ihn zu und gab ihm einen liebevollen Kuss auf die Wange, als er bemerkte, was er mit seinen gedankenlosen Worten angerichtet hatte. “Ich bin einfach fürchterlich gereizt durch den ganzen Stress und möchte nur noch in mein Bett.” Kaiba nickte geschlagen. “Schon gut. Aber morgen früh gehen wir gleich zu einem Arzt und danach lassen wir ein Phantombild erstellen, versprochen?”, guckte er ihn aus seinen blauen Augen so erwartungsvoll an, dass Atemu schmunzeln musste. “Okay, versprochen”, erwiderte er, tat noch ein paar Handgriffe im Laden, bis beide rausgingen und er abschloss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)