Moonrise von MarySae (Untergang einer fremden Welt) ================================================================================ Kapitel 7: Das ist mein Leben! Auch wenn ich es nicht mehr will --------------------------------------------------------------- Kapitel 7 – Das ist mein Leben! Auch wenn ich es nicht mehr will Nach einer, für mich, ewig langen Nacht erwachte ich widerwillig aus meinen Träumen. Eben hatte ich noch mit meiner Familie zusammen Fernsehen geguckt und war mit meinen Freunden shoppen. Es war so schön, sie alle wiederzusehen! Doch ich wusste die ganze Zeit über, dass diese Bilder nur eine große Lüge waren. Dennoch hatte ich so sehr gehofft, dass sie wahr wären. Das Bild der Erde am Himmel hatte mich die ganze Zeit über nicht losgelassen. Immer wieder tauchte es vor meinem inneren Auge auf und wandelte die Freude in Trauer um. Ich wusste genau wo ich war. Und deshalb versuchte ich auch krampfhaft nicht aufzuwachen… Das Zimmer, in dem ich mich befand, roch nach irgendwelchen Medikamenten oder so etwas. Leute liefen ständig an meinem Bett vorbei oder unterhielten sich flüsternd. Ich lag nur unter einer weichen Bettdecke und hielt die Augen geschlossen. Niemand sollte wissen, dass ich wach war. Warum ich das nicht wollte? Entweder würden sich alle über mich lustig machen oder mit einer unglaubwürdigen Beileidsbekundung ankommen. Darauf konnte ich, ehrlich gesagt, verzichten. Nur Lucy und Ian würden mich verstehen. Doch auch diesen zwei konnte ich nicht zeigen, dass ich meine Umwelt wieder gedämpft wahrnahm. Ich fühlte, dass meine Hände mit weichem Stoff umwickelt waren. Wahrscheinlich eine Art Verband. Auch an meinen Knien und Unterschenkeln schien etwas zu kleben. Doch am nervigsten war der Verband an meinem Kopf. Er ziepte und juckte fürchterlich. Besonders dann, wenn man sich vorgenommen hatte, sich nicht zu bewegen. Es wäre etwas auffällig, wenn sich eine schlafende Person erst mal den Verband zu Recht rückte. Doch am schwierigsten war es, meine Tränen zu unterdrücken. So ganz gelang es mir zwar nicht, aber ich hatte gehört, wie jemand vermutet hatte, ich würde im Schlaf weinen. Meinetwegen. Soll mir Recht sein. Grund hatte ich allemal dazu. Ich war tausende Kilometer von der Erde entfernt! Es war also nicht ein anderes Land, oder was ich mir sonst alles ausgedacht hatte. Nein. Es war ein ganz anderer Planet! Wie sollte ich bitte mit deren Technologie hier zurück auf meinen Planeten kommen? Und sie hatten ihn auch noch Mond genannt… Das hieß, sie wussten nicht mal, dass es dort Menschen gibt. Und die Erde wusste genauso wenig über diesen Ort. Ich hatte noch nie von einem Planeten gehört, der so nah an der Erde dran war! Und dann war auch noch von Lebewesen bevölkert! Und zwar nicht nur kleine Mikroben, die die Forscher der Erde in irgendwelchen Wasserrückständen suchten, sondern Menschen, wie mich! Lebendige Wesen, die aussahen und sich benahmen wie die Menschen, die ich kannte… Wie war das nur möglich? Wie konnte ein bevölkerter Planet so neben der Erde existieren? Ich verstand das einfach nicht… Aber eines war mir klar. Wenn ich nicht bald sterben würde, weil die Menschen hier mich als Hexe oder so was bezeichneten, würde ich nicht mehr hier wegkommen… Na super. Gefangen auf einem anderen Planeten, gehasst von der einen Seite und wer weiß, was die anderen mit mir vorhatten… Erneut wallten salzige Tränen in meinen Augen hoch, doch ich ließ sie nicht gewähren. Das würde auch nichts bringen geschweige denn helfen. Also konnte ich es auch gleich sein lassen. „Lucy.“, meinte Hugh plötzlich und unterbrach die Stille. Lucy, die auf einem Stuhl neben meinem Bett saß, rührte sich nicht. „Lass uns kurz frühstücken. Es wird Zeit, dass wir uns mal ein wenig ausruhen. Du hast die ganze Nacht hier gesessen!“ Ja, das stimmte. Sie war nie von meinem Bett gewichen. Jedenfalls nicht, wenn ich wach war. „Und was ist mit Hannah?“, kam ihre leise Stimme als Antwort. Ihr Lachen war seit gestern Abend verschwunden. Selbst gelegentliche Witze des Docs hatten sie nicht aufmuntern können. „Mach dir um sie keine Sorgen. Die Albträume scheinen aufgehört zu haben.“ Albträume? „Wir werden ja nicht lange weg bleiben.“ Nach kurzer Stille hörte ich, wie der Stuhl etwas zurückgeschoben wurde und zwei Personen durch eine leicht quietschende Tür, das Zimmer verließen. Ich wartete einen Moment, bis ich mir sicher war, dass sie nicht wieder umkehren würden und öffnete meine Augen. Das helle Licht einiger Fackeln blendete mich und ich legte die Hand schützend über mein Gesicht. Mit dem Verband der Hand wischte ich die letzten Tränen aus meinen Augen und von meinen Wangen. So müsste meine Haut bald aufhören zu jucken. Mit einem vorsichtigen Ruck setzte ich mich auf und legte die Beine sachte über den Rand des Bettes. Es tat so unbeschreiblich gut, sich mal wieder ausstecken zu können. Ich hatte mich schon eine gefühlte Ewigkeit lang nicht mehr bewegt. So konnte ich auch meine Verletzungen mal betrachten. Meine Knie waren mit zwei großen Pflastern, wenn man das so bezeichnen konnte, beklebt, doch an den Rändern waren sie schon leicht rot. Der Rest meiner Beine lag unter einem dicken Verband, genauso, wie meine Hände. Diese waren so gewickelt, dass ich aber trotzdem jeden Finger bewegen konnte. Zum Glück. Um meine schmerzenden Beine etwas Auslauf zu geben, stand ich vorsichtig von meinem Bett auf und als ich merkte, dass es kaum wehtat, ging ich rüber zu dem Bücherregal. Ob ich da etwas finden konnte? Vielleicht in dem Tagebuch, dass ich einmal entdeckt hatte. Schnell suchte ich zwischen all den Büchern das kleine, grüne Heft, welches damals schon meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Als ich es hinter einem der großen Bücher fand und es raus zog, strich ich ehrfürchtig über das alte Leder. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als würde es dem Besitzer sehr viel bedeuten. So schnell es ging, huschte ich zurück auf mein Bett, setzte mich im Schneidersitz darauf, was kurz ziemlich wehtat, und begann dann darin zu blättern. Das Buch war fast bis auf die letzte Seite beschrieben. Nur wenig Platz war geblieben. Als ich so über die Daten der Einträge blickte fiel mir auf, dass seit dem letzten Eintrag nichts mehr geschrieben stand, obwohl früher täglich etwas geschrieben wurde. Was mag mit seinem Besitzer passiert sein? Da ich jetzt das Zimmer hatte, musste er irgendwo anders sein. Aber warum hatte er es dann nicht mitgenommen? Ich war mir sicher, dass er oder sie das freiwillig nirgendwo liegen gelassen hätte. Ich blätterte zu einer der ersten Seiten. Vielleicht würde ich hier etwas finden, was mir wenigstens ein paar Fragen beantworten konnte. Als ich das Innere des Einbands aufblätterte, fiel mir gleich eine kleine Schrift am oberen Rand auf. Es sah aus wie ein Name. Larry Higgins stand dort in derselben Schrift, in der auch die anderen Seiten beschrieben waren. Larry. Das musste also sein Tagebuch sein. Neugierig blätterte ich weiter und las den ersten Eintrag des Buches. „Endlich sind wir da! Endlich haben wir die Stadt erreicht! Die einzige menschliche Stadt, die noch existiert. Diese Dinger, die uns überfallen hatten, haben sich wahnsinnig schnell ausgebreitet. Sie schafften es, innerhalb eines Tages, eine Stadt mit mehreren Tausend Einwohnern zu übernehmen. Es war schrecklich. Ich musste mit ansehen, wie meine geliebte Frau ihnen zum Opfer fiel. Wenn ich nur was hätte tun können! Ich hätte alles getan. Es wäre mir lieber gewesen, wenn sie mich geholt hätten und nicht sie... Wenn ich das hier schreibe, ist sie wahrscheinlich schon tot. Meine beschwerliche Reise hatte noch weitere drei Monate gedauert. Zwei ein halb Jahre. Zwei ein halb Jahre bin ich, größtenteils alleine, durch diese Welt gezogen. Oder besser gesagt durch das, was von ihr übrig ist. Nirgendwo sieht man noch Menschen. Überall sind diese Dinger, die uns alle ausrotten wollen. Und wenn sie so weiter machen, werden sie das auch bald geschafft haben. Wenn es stimmt, dass ein Mensch nur zwei Jahre überleben kann, wenn sie erst einmal infiziert sind, dann dürfte bald die gesamte Menschheit ausgerottet sein. Kein Wunder, dass sie verzweifelt auf der Suche nach neuen Wirten sind. Einer der Leute hier meinte sogar, dass sie extra viele Kinder gebären, die sie dann befallen, um weiter hier leben zu können. Widerlich. Absolut Widerlich… Wenn man nur etwas gegen sie tun könnte. Doch leider kennen wir ihre Schwäche nicht. Soll das das Ende der Menschen sein?“ Geschockt starrte ich diese Seite an. Stimmte es, was dort stand? Konnten diese Bakterien die Menschen so schnell befallen, dass sie in wenigen Stunden ganze Städte auslöschten? Und dann gebären sie auch noch viele Kinder, um auch in späteren Generationen die Erde besetzten zu können? Das ist krank. Echt krank. Schnell blätterte ich um, und las den zweiten Eintrag. „Heute kamen noch zwei Flüchtlinge hier an. Ich musste sie gestern knapp verpasst haben. Sie erzählten, dass sie aus dem Norden kamen, und dort schon die einzigen Menschen waren. Diese Dinger hatten sie überrannt und alles an sich gerissen, was nur möglich war. Außerdem sollten sie jetzt eine neue Methode haben, um Menschen einzufangen. Ihre stechend blauen Augen konnten eine Person kurzfristig total verwirren, sodass sie nicht mehr fliehen konnten. Ich weiß aber nicht, ob das wahr ist. Ich hoffe mit ganzem Herzen, dass das nur Gerüchte sind. Was haben sie den Menschen nur angetan?“ Wie bitte? Sie konnten Menschen hypnotisieren? Wie soll das denn funktionieren? Doch Moment… War mir auf der Erde nicht dasselbe passiert, als dieser seltsame Typ mich angesehen hatte? Mir ging es damals so seltsam und mein Körper wollte mir nicht gehorchen. Hatte ich etwa Recht? War der Typ wirklich einer von den Menschen, die infiziert wurden? Aber was bedeutete das? Etwas schürte mir den Magen zu. Bedeutete das, dass sie auch schon auf die Erde gelangt sind? Geschah dort im Moment genau dasselbe wie hier? Waren meine Eltern und Freunde schon…? Oh Bitte, lieber Gott! Lass ihnen nichts passiert sein… „Hannah?“, eine Stimme ließ mich hochschrecken. Mir fiel das Buch aus meinen Händen und ich starrte die Person neben meinem Bett an. Lucy blickte mich mit einer Mischung aus Erleichterung und Sorge an. Sie war schneller wieder zurückgekommen, als ich gedacht hatte. „Seit wann bist du wach? Wie geht es dir?“ Jetzt konnte ich nicht mehr so tun, als würde ich schlafen. Aber vielleicht war das auch gut so. Ich blickte an ihr vorbei und merkte, dass sie alleine gekommen war. Ihr konnte und wollte ich vertrauen. „Noch nicht lange. Ihr wart weg, als ich meine Augen geöffnet habe.“ Ich hatte damit nicht gelogen. Und die zweite Frage ließ ich erst mal aus. Ich nahm meine Füße aus dem Schneidersitz und schwang sie über die Bettkante. „Und mir geht es gut.“, lächelte ich leicht. Das war nur die halbe Wahrheit. Meine Beine schmerzten und mein Kopf pochte. Doch das war nichts, was ich nicht wegstecken konnte. „Da bin ich aber froh.“, lächelte sie und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, um einige letzte Tränen wegzuwischen. Erst da sah ich, dass sie zwei Teller in den Händen hielt. „Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht.“, meinte sie, als sie sich neben mich aufs Bett setzte und mir einen Teller hinhielt. Hunger hatte ich tatsächlich. „Danke“, meinte ich und nahm ihr den Teller ab. Er war voller Obst und Früchte, die extrem lecker aussahen. Ohne groß zu warten nahm ich etwas und begann zu essen. „Ich habe mir ziemlich Sorgen gemacht…“ Ich stockte. Ich wusste, dass es gemein von mir war, sie so lange im Unklaren zu lassen, doch ich brauchte meine Ruhe. „Tut mir Leid.“, meinte ich leise. Ich sah, wie sie ihren Kopf schüttelte. „Nein, du musst dich nicht Entschuldigen. Nachdem, was gestern… passiert ist, kann ich mir gut vorstellen, dass das ein ziemlicher Schock für dich war.“ Ich nickte leicht. „Ich kann noch immer nicht glauben, was du uns da erzählt hast.“ Ich holte tief Luft und ließ ein Seufzen hören. „Das hatte ich mir nicht anders gedacht. Es war für mich selber ein Schock, meinen Planeten dort oben am Himmel zu sehen. Ich hatte ihn zuerst für einen Mond gehalten.“, versuchte ich so ruhig wie möglich zu sagen und kämpfte gleich wieder mit den Tränen. Doch diesmal würde ich nicht anfangen. Zu lange habe ich mich jetzt schon zusammengerissen. Ich würde jetzt nicht wieder schwach werden… Lucy nickte. „Ja, das glaube ich dir. Wir wussten es nicht. Wir hatten keine Ahnung, dass dieser Mond, oder auch Planet, bewohnt ist! Wir wussten einfach nichts davon. Es gab keine Anzeichen dafür!“ Ein erneutes Seufzen meinerseits. „Und wir wussten nichts von euch. Dieser Planet hier… ist von der Erde aus nicht sichtbar. Und das obwohl wir schon das halbe Universum erforscht haben.“ Und das war die Tatsache, die mich am meisten wunderte. Wieso konnte man von hier aus die Erde sehen, doch von dort diesen Planeten nicht? Wie war das möglich? „Ist das dein ernst?“ Lucys Stimme klang etwas trocken. Ich nickte nur zur Antwort und fixierte weiter meinen Teller. „Das ist… unglaublich.“ Ich nickte zustimmen. Unglaublich. Das war das richtige Wort. Aber noch ehe ich etwas erwidern konnte, wurde die Tür mit einem lauten Krachen aufgerissen, sodass wir sogar fast die Teller fallen ließen. Schnell sahen wir, wer uns zu dieser Zeit, so stürmisch besuchte. Hugh kam keuchend in den Raum und stütze sich sogar an der Wand ab, um sich kurz vom scheinbaren Sprint zu erholen. Verwundert sahen Lucy und ich uns an und blickten dann wieder auf den Doc. „Was ist los, Doc?“, fragte die Blonde neben mir den jungen Mann, der sich schnell wieder aufrichtete. „Es gibt Ärger! Taylor ist mittendrin! In der großen Halle!“, brachte er hervor und verschwand genauso schnell wieder aus dem Raum, wie er gekommen war. Zuerst rührte sich niemand von uns. Wir beide sahen geschockt zu der Stelle, an der der Blonde eben noch gestanden hatte. Es gab Ärger? Weswegen? Und warum war Hugh extra noch einmal zurückgekommen, um uns bescheid zu sagen? Ich sah Lucy von der Seite an. Sie war blasser, als noch vor ein paar Minuten. Sie sah mit leerem Blick auf die Tür. Vorsichtig sprach ich sie an. „Lucy?“ Erst rührte sie sich nicht, doch dann sprang sie plötzlich auf, sodass ihr noch halb voller Teller klirrend zu Boden fiel und in viele Teile zerbrach. „Warte hier!“, meinte sie noch, ehe sie aus der Tür rannte und verschwand. Ich starrte ihr mit offenem Mund hinterher. Was bitte war das eben? Erst herrschte volle Hektik, dann war Lucy nicht ansprechbar und am Ende saß ich alleine hier, ohne auch nur das Geringste zu wissen. Was war das für Ärger? Ging es um mich? Wenn ja, warum sollte ich dann nicht kommen? Wäre es nicht wenigstens angebracht, dass ich es mitbekomme, wenn es über mich ging? Und was sollte Hughs Anmerkung, dass Taylor darin verwickelt war? War Lucy deshalb so blass geworden? Waren die zwei so gut befreundet? Aber wie auch immer. Was sollte ich jetzt tun? Hier warten, bis jemand kam und mir endlich sagte, was eigentlich los war? Oder sollte ich mich selbst davon überzeugen? Aber würde ich dann Ärger bekommen? Ich musterte meine verbundenen Hände und Beine. Doch das war mir egal. Schnell sprang ich auf und zog meine blutigen Klamotten aus. Ich zuckte zwar kurz zusammen, da meine Beine heftig ziepten, aber davon ließ ich mich nicht beeindrucken. Am Fußende meines Bettes lagen mehrere Kleidungsstücke. Ich hatte mitbekommen, dass Lucy mir diese zurechtgelegt hatte, damit ich meine dreckige Kleidung waschen konnte. Es war ein schwarzes, knielanges Unterkleid mit Spaghettiträgern und für den Oberkörper gab es ein weißes Oberteil, welches aus mehreren Teilen bestand. Das weiße Top mit einigen roten Bändern verdeckte den Bauch und ließ das schwarze Unterkleid in Brusthöhe herausgucken. Für die Arme waren zwei vom Top getrennte, weiße Stoffschläuche, die mit schwarzem Band an den Oberarmen festgebunden wurden, vorgesehen. Dazu gab es noch schwarze, fast knielange Stiefel. Mir gefiel das Outfit. Und zwar sehr. Doch dafür hatte ich gerade überhaupt keine Zeit. So schnell mich meine Beine ließen, verließ ich den Raum und versuchte erneut den Weg zur großen Halle zu finden. Ich war in meinen Träumen diesen Weg so oft gegangen, dass mich die schwache Beleuchtung kaum noch störte. Zielsicher bog ich in die verschiedenen Tunnel ab und schon bald hörte ich ein lautes Stimmengewirr. Als ich die große Halle betrat, schien die Sonne gerade durch das Loch in der Decke und warf ihre Strahlen auf das Gemüsebeet. Da der Tunnel, durch den ich kam, sehr dunkel war, brauchten meine Augen einige Sekunden, ehe sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Erst dann sah ich die große Menschenmenge, die sich nicht weit von meinem Tunnel befand. Es waren alle vertreten, die mir schon mal begegnet waren, aber auch einige andere, die ich nur im Vorbeigehen gesehen hatte. Ich konnte Rose, Amanda und Ian in einer der hinteren Reihen sehen. Vorerst blieb ich halb in dem Gang stehen und linste um die Ecke. Ich wollte nicht, dass mich gleich jemand sah. Außerdem verstand ich das Gespräch auch von hier ganz gut. „Das kann ja wohl nicht wahr sein!“ „Ihr glaubt das auch noch?“ „Wollt ihr uns alle umbringen?“ „Sie muss hier weg! Und zwar sofort!“ „Nein, das können wir nicht machen. Wenn sie die Wahrheit sagt?“ „Ja, natürlich! Dort oben ist ein Mond. Da wohne ich! Lasst mich dorthin zurück fliegen! Haha!“ „Sei ruhig, Bernd.“ „Er hat Recht! Wir können sie nicht einfach hierbehalten! Wer weiß, was für Lügen sie uns noch aufbindet!“ „Wieso verurteilt ihr sie? Ihr habt euch nicht mal die Mühe gemacht Hannah richtig kennenzulernen!“ Das war Ians Stimme. Das war die einzige, die ich aus dem Stimmengewirr heraus erkennen konnte. Ich hatte also Recht gehabt. Es ging wirklich um mich. Super, dass man so was hinter meinem Rücken beredete. Wieso konnten sie mich nicht selbst fragen? Dachten die wirklich, dass jedes Wort, das ich sagte, gelogen war? Wieso konnten die nicht akzeptieren, dass ich ein Mensch war? Einfach nur ein Mensch? „Sie kennenlernen? Bist du verrückt Kleiner? Wie sollen uns mit dem Feind treffen und am besten noch alle unsere Geheimnisse ausplaudern, damit sie uns einfacher umbringen können?“ Zustimmendes Murmeln. Mir wurde schlecht. „Sie ist kein Feind! Sie ist ein normales Mädchen, welches sehr darunter leidet, Millionen von Kilometern von Zuhause weg zu sein und dort zu leben, wo sie jeder am liebsten gleich umbringen würde!“ Lucy! Ihre weiche Stimme hörte man aus der Menge heraus. „Ach die Arme! Sie muss leiden, weil wir leben wollen! Dann lasst sie doch tun, was sie will! Im schlimmsten Fall sterben wir halt alle! Aber ihr geht es gut!“ Die Ironie und der Hass des Mannes waren nicht zu überhören. Tränen der Wut wallten in mir hoch. „Genau so ist es! Sollen wir das Überleben von uns allen davon abhängig machen, ob sie Lust hat uns zu verraten oder nicht?“ „So seh’ ich das auch! Wer sagt, dass sie uns nicht jeden Moment verraten könnte?“ Das reichte. Auch ich musste mir nicht alles gefallen lassen. „Wieso habe ich es dann nicht schon längst getan?“ Die Leute fuhren Augenblicklich zu mir herum, während ich langsam aus dem Schatten des Ganges heraus kam und einige Schritte auf sie zuging. „D-da ist sie!“, kreischte eine alte Frau und versteckte sich hinter einem jüngeren Mann. Sie alle starrten mich hasserfüllt an und ich tat es ihnen gleich. Es reichte. „Was hast du gesagt?“, fragte derjenige nach, der mich eben so beschimpft hatte. „Na, wenn ich doch so eine Lügnerin wäre, die bei der ersten Gelegenheit jeden verrät, warum habe ich es dann noch nicht getan? Wieso bleibe ich hier und höre mir von jedem an, dass ich besser sterben sollte? Dann hätte ich es doch auch schon lange, den von euch so gefürchteten Infizierten, sagen können. Was auch immer sie damit anfangen könnten, dass es hier dunkel ist.“ Ich ließ meinen angestauten Ärger heraus. Jeden Tag, den ich hier schon verbracht habe, habe ich mir von fast jedem anhören müssen, dass ich von allen gehasst und verachtet wurde. Jetzt wollte endlich ich mal meine Meinung sagen. Auch wenn das bedeutete, dass sie mich entweder töteten oder einfach in die Wüste schickten. Vielleicht würde bald mein Wunsch erfüllt werden… „Hannah!“, rief Lucy, während sie auf mich zu rannte. Sie legte ihren Arm um meine Schultern. Doch ich ließ mich nicht so einfach beruhigen. Ich kreuzte die Arme vor meinem Oberkörper und starrte die Menschenmenge, die wütend grummelte, an. Langsam kamen auch Ian und sogar Taylor auf mich zu. Ian lächelte mich an, doch Taylor sah nicht ganz so begeistert aus. „Hannah. Wir können dich nicht vor denen beschützen, wenn du sie derart reizt.“, begann Taylor mich zu tadeln, als er neben mir stand. Ich prustete. „Ich kann aber auch nicht nett und freundlich sein, wenn mich alle anderen mit ihren Blicken töten.“, zischte ich wütend. „Hannah…“, meinte Lucy beruhigend und streichelte meine Schulter. „Hannah hat aber Recht! Soll sie die Liebe, Nette spielen, während keiner auch nur versucht, ihr zu glauben?“, schrie der Junge neben mir und redete dabei mehr mit der Menschengruppe als mit Taylor. Diese sah nun auch ihn böse an. Doch die Szene änderte sich schnell, als sich einige Leute aus der Gruppe lösten und zu uns rüber kamen. Ich erkannte Rose, Amanda, Hugh und Rob, den Jungen, den ich an meinem ersten Tag hier kennengelernt hatte. Er hatte damals versucht sich an mich ranzumachen. Aber es kamen auch noch drei andere auf uns zu. Es waren ein älteres Ehepaar und ein junges Mädchen. Auch sie stellten sich zu uns. So stand unsere kleine Gruppe gegen die große andere Gruppe. „Was soll das?“, fragte einer der Männer der großen Gruppe die Leute, die sich zu uns gestellt haben. „Wir verurteilen das Mädchen nicht. Denn auch wenn wir nicht glauben können, oder wollen, was sie uns erzählt, heißt das noch lange nicht, dass sie uns belügt.“, meinte die ältere Dame. „Wir dürfen ihr nicht wehtun.“, sagte das kleine, schwarzhaarige Mädchen schüchtern. Das Gemurmel auf der anderen Seite wurde fortgesetzt. Es sah aus, als würden sie sich beraten oder so was in der Art. „Lucy, bring Hannah bitte wieder in ihr Zimmer.“, meinte Taylor leise zu der Blonden. Diese nickte und wandte sich zu mir. Doch ich fand diese Idee gar nicht gut. Sie wollten mich also wieder wegsperren, während es sich entschied, ob ich bald sterben würde oder nicht. Nein, diesmal nicht. Es war mein Leben! Über mein Leben wurde gerade bestimmt! „Nein, ich will nicht zurück. Ich will hören, was mit mir passieren soll.“, kam es bestimmt von mir. Ich hörte den schwarzhaarigen Mann neben mir seufzen. Dann sah ich wie Taylor Lucy zunickte und diese etwas von mir abließ. Plötzlich traten Simon und Jack aus der Menschenmenge heraus und die anderen verstummten. „Wir hatten bereits gesagt, dass dem Mädchen hier nichts passiert. Aber die Szene auf dem Dach von gestern wirft neue Fragen auf.“, meinte Jack versucht ruhig. „Die müssen geklärt werden.“, fügte Simon hinzu. Taylor sah mich an und ich nickte ihm zu. Ich wusste gleich, was er sagen wollte. „Dann trefft euch mit ihr in ihrem Zimmer. Dort wird sie euch bestimmt die Fragen beantworten, die euch so brennend interessieren.“ Die beiden sahen sich kurz an. Dann nickten sie sich zu. „Ja, so werden wir das machen.“, meinte Simon und beide wandten sich zum Gehen. „Lasst uns auch gehen.“, sagte Taylor und diesmal folgte ich Lucy und Ian freiwillig. Doch ich hielt noch einmal inne. Ich wandte mich an die anderen, die mir eben beigestanden haben. „Vielen Dank! Danke!“ Diese lächelten nur. „Nichts zu danken.“, sagte die alte Frau und ging mit den anderen in Richtung des Speisesaals. Ein paar Sekunden später waren Hugh, Ian, Taylor, Lucy und Ich wieder in den dunklen Gängen verschwunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)