Blutflecken im weißen Schnee von tarnaeffchen ================================================================================ Blutflecken im weißen Schnee ---------------------------- „Emily, steh endlich auf! Die Schule fängt gleich an.“ Unsanft wurde Emily aus ihren Träumen gerissen. Bis spät in die Nacht hatte sie Geschichten über Vampire gelesen. Sie wünschte sich immer wieder einem echten Vampir zu begegnen – auch wenn sie wusste, dass es solche Fabelwesen nicht gab. Sie stieg schlaftrunken aus ihrem warmen, weichen Bett und schlüpfte in ihre Schuluniform. Nachdem sie sich die Zähne geputzt und ihr Gesicht gewaschen hatte, lief sie die Treppe hinab, zog ihre Stiefel an und stolperte aus der Tür. Schnell hob sie den Arm um ihre Augen vor der strahlenden Sonne zu schützen. Oh, wie sehr wünschte Emily sich doch ihren geliebten kalten Winter zurück. Emily hasste die Schule. Besonders wenn die Sonne so hell schien und in ihren Augen brannte. Die meisten anderen Schüler lachten und tobten bei dem schönen Wetter über den Schulhof. Nur Emily stand geschützt unter einem Baum. Jeder ging Emily aus dem Weg. Dieses Mädchen mit der blassen Haut wirkte auf die meisten Schüler beängstigend. Besonders weil ihre Haut nie von der Sonne gebräunt wurde. Wie auch, denn Emily trug ständig lange Kleidung. Kaum einen interessierte, dass Emily das alles nur tat, weil sie eine Allergie gegen die Sonne hatte. Bei zu viel UV-Strahlung auf ihrer Haut, errötete und verbrannte sie schnell. Dies war wohl auch der eigentliche Grund, weshalb Emily sich so sehr für dunkle Geschöpfe wie Werwölfe und Vampire faszinierte. Sie konnte sich nur für die Dunkelheit begeistern, die andere gruselte, weil sie das Licht nicht vertrug. Das Läuten der Glocke rief Emily aus ihren Gedanken. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen und ging zurück in die Klasse. Sie saß in der hintersten Reihe, neben ihr der süßeste Typ der Schule. Eigentlich konnte Emily ihn nicht leiden. Ein typischer Sunnyboy: gebräunte Haut, blondes Haar, immer ein Lächeln auf dem Gesicht. Aber dennoch fühlte sie sich – wie nun mal jedes Mädchen in ihrem Alter – zu ihm hingezogen. Manchmal träumte sie, wie er ihr entgegen lief, auf einer riesigen schneebedeckten Wiese. Er zog seine Maske ab und war ein schrecklich gut aussehender Vampir – und dann biss er sie. Ihre Hände krallten sich in seine Brust. Sie genoss den Biss. In Gedanken seufzte Emily. Manchmal wünschte sie sich, dass ihre Konzentration auf ihren Noten lag. Aber sie versank mehr und mehr in ihrer Einsamkeit. Sie fühlte sich verloren, verloren in dieser und ihrer eigenen kleinen Welt. Als Emily zu Hause an kam, hatte sie keinen Hunger. Die Sonne und diese Hitze machte ihr zu schaffen. Sie schlenderte die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Dort angekommen warf sie sich aufs Bett um ihr neues Buch über Vampire, weshalb sie auch in der vorigen Nacht kaum geschlafen hatte, weiter zu lesen. Sie war vollkommen in einer Welt aus Fantasie und Fabelwesen versunken, als sie einen grauenerregenden Schrei hörte. „Mutter, hast du das gehört?“, rief sie, mit ihrem Buch bewaffnet, die Treppe hinunter. Langsam schlich sie Stufe für Stufe hinab. Ihre Augen bemühten sich, einen Blick durch die Dunkelheit zu erhaschen. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, es gelang ihr nur düstere Umrisse wahr zu nehmen. Dann hörte sie ein Kichern und das tiefe Lachen ihres Vaters. Emily seufzte, als sie erkannte, dass ihre Eltern sich wie Teenager benahmen und lief schnell, aber behutsam leise die Treppe wieder hinauf. Sie musterte die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Emily schaute aus dem Fenster. Vollmond. Er war so vollkommen, wie er immer in den Büchern beschrieben und in den Filmen gezeigt wurde. Ein weißer Kreis, der die nächtliche Stadt in ein ruhiges, wohliges Licht hüllte. Emilys Gedanken stockten. Der Schrei war keine Einbildung. In einer kleinen Gasse schräg gegenüber von ihrem Haus sank jemand zu Boden und eine schemenhafte Gestalt stahl sich in die Dunkelheit. Doch kurz bevor diese Gestalt ganz verschwunden war, suchte ihr Blick Emily. Einen kurzen Moment blieb der Schatten stehen und starrte sie an. Dann verschmolz er gänzlich mit dem Dunkel. Die kleine Emily zog, endlich aus ihrem Bann gelöst, den Vorhang zu. Sie legte das Buch auf ihren Nachttisch, schlüpfte unter die Decke und schaltete ihre Tischlampe aus. Sie hatte in letzter Zeit einfach zu viele von diesen Geschichten gelesen. Jetzt fing sie schon an sich selbst für dieses gruselige Mädchen zu halten, von dem alle Schüler sich fern hielten. Am nächsten Morgen war alles wie zuvor. Emily stand viel zu spät auf, zog sich an und machte sich auf den Weg zur Schule. Sie versuchte die vorige Nacht zu vergessen, jedoch konnte sie ihre Neugierde nicht verdrängen und warf einen flüchtigen Blick zu der Gasse, in der alles geschehen war. Keine blauen oder roten Lichter. Keine Polizisten, Kranken- oder Leichenwagen. Es war alles beim Alten. Das hatte sie sich gleich gedacht. Mit ruhigem Gewissen folgte sie dem Weg zur Schule. Auch hier war alles beim Alten. Schüler, die sie mieden. Schüler, die ihr ängstliche Blicke zu warfen. Schüler, die sich über sie lustig machten. Nur eins fehlte. Der Sitz neben ihr war leer. Der Sunnyboy war heute nicht zum Unterricht erschienen. Und auch Josie, Sunnys aktuelle Freundin, konnte Emily auf dem Schulhof nicht entdecken. Der Unterricht war schon fast vorbei, bis Emily Gerüchte hörte. Josie wäre im Krankenhaus. Jemand hätte ihr den Hals aufgeschlitzt und sie wäre fast verblutet. Emily versuchte den Schülern zu lauschen. Als diese sie jedoch bemerkten, warfen sie ihr ängstliche Blicke zu. „Es passierte gegenüber von ihrem Haus“, flüsterte eine Schülerin leise und warf einen bestimmten Blick zu Emily. „Ich wusste, dass mit der etwas nicht stimmt“, tuschelte eine andere. Emilys neugieriger Blick verdüsterte sich. Sie hielten Emily ja schon immer für verrückt, doch das ging zu weit. Als die Schulglocke zum Unterrichtsende läutete, beeilte Emily sich, um nach Hause zu kommen. Egal, wo sie hin schaute, überall begegneten ihr panische oder vorwurfsvolle Gesichter. Das letzte Stück zu ihrem Haus rannte Emily. Sie fühlte einen kalten Schauer nach dem anderen über ihren Rücken gleiten. Sie hatte doch nichts getan. Als sie zu Hause an kam, schloss Emilys Mutter ihre weinende Tochter in die Arme. „Es ist wegen dem Mädchen, nicht wahr?“, fragte ihre besorgte Mutter. Erschrocken darüber, dass ihre Mutter davon wusste, schaute Emily ihr in die Augen. „Wir wollten es dir nicht erzählen. Wir wollten nicht, dass du Angst hast, wenn du zur Schule gehst“, sagte ihre Mutter mit einer unruhigen Stimme. Sie drückte Emily sanft auf das Sofa und setzte sich dann selbst. „Josie kam gestern nicht von der Schule nach Hause. Ihre Mutter hat überall angerufen und nachgefragt, ob sie jemand gesehen hätte. Danach rief sie die Polizei. Es war kurz nach Mitternacht, als sie gefunden wurde. Jemand hatte einen Schrei gehört und kurz darauf die Polizei gerufen.“ Emilys Mutter machte eine kurze Pause, dann nahm sie Emily erneut fest in den Arm und sagte: „Zum Glück kam die Polizei schnell genug, sonst wäre Josie verblutet. Emily,“ ihre Mutter schaute tief in Emilys grüne Augen. „Ich möchte, dass du ab jetzt sofort nach der Schule nach Hause kommst. Und wenn irgendetwas sein sollte, dann ruf bitte an!“ Mit diesem Satz drückte ihre Mutter Emily ein Handy in die Hand. Emily nickte nur und stand dann auf. „Ich... möchte jetzt etwas allein sein, Mutter. Aber, danke.“ Es verging einige Zeit, bis das Geschehen in Vergessenheit geriet. Josie spielte in der Schule ständig das arme Opfer, aber langsam schien es niemanden mehr zu beeindrucken. Seit dem Vorfall hatte Emily angefangen selbst Geschichten zu schreiben, statt immer nur welche zu lesen. Immer handelte die Geschichte von einer Emily, die ein Vampir war. Mal war sie gut, mal war sie böse. Das Schreiben half ihr unheimlich, sich nicht immer so geben zu müssen, wie sie sich fühlte. Sie konnte in ihren Geschichten sein, wer immer sie wollte. Nur in der realen Welt musste sie sich anpassen. Emily hatte angefangen sich zu schminken und ihre weiße Haut, zumindest im Gesicht, nicht mehr so weiß wirken zu lassen. Sie wurde mittlerweile von einigen Schülern akzeptiert, auch wenn sie keine wirklichen Freunde hatte, gab es zumindest welche, die ihr mal einen Stift liehen oder herunter gefallene Bücher auf hoben. Sie war nicht mehr das gruselige Mädchen, die weiße Hexe oder sonst etwas, was mit Dunkelheit und Zauber zu tun hatte. Zumindest dachten ihre Mitschüler das. Und das funktionierte hervorragend. Bei jedem Vollmond, um Mitternacht, fing sie mit einer neuen kurzen Geschickte an. Es war kalt geworden in letzter Zeit und der Winter stand kurz bevor. Emily wollte einfach kein Ende für ihre letzte Geschichte einfallen, also starrte sie den zunehmenden Halbmond an, im Glauben, dass er sie inspirieren würde. Es war still in dieser kalten, klaren Nacht. Ihr Blick zog sich zu der Gasse, in der Josie am ersten warmen Sommertag überfallen worden war. Sie lag auf der Fensterbank und hatte kurz ihre Augen geschlossen, als sie plötzlich einen kalten Hauch in ihrem Nacken spürte. Sie erschrak und drehte sich panisch herum. Es hatte sich angefühlt, als würde jemand mit eiskaltem Atem in ihren Nacken hauchen. Doch hier war niemand. Emily erhob sich, drehte sich zum Fenster. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und öffnete sie dann wieder. Sie wollte schreien, doch ihre Kehle war zugeschnürt vor Angst. Sie starrte in ein paar strahlend blaue Augen – und sie starrten zurück. Es war ein Mann. Seine Lippen formten etwas. Dann verschwand die dunkle Gestalt. Emily sank zu Boden und rang nach Luft. Sie atmete schnell und tief. Ihre Augen waren noch immer weit aufgerissen. Ihr Mund wisperte die Worte, die der Fremde gesagt hatte. „Du bist die Nächste.“ Nach all diesen Monaten, in denen Emily sich verändert hatte, kehrte ihre Angst vor dieser Nacht zurück. Die glaubte seit dem Vorfall irgendwie an höhere Mächte, an Vampire. Dies der eigentliche Grund, weshalb sie die Geschichten schrieb. Sie wollte ihre Angst einsperren, in Worten, in Schriften, die nie jemand zu Gesicht bekommen sollte. Und sie dachte auch, dass es funktionierte. Doch jemand hatte sie beobachtet. ER hätte sonst nicht diesen Satz gewählt. In ihrer ersten Geschichte, die sie nach den Geschehnissen geschrieben hatte, ging es um das Opfer Josie. Sie wurde nach der Schule in die Irre geführt. Ein gut aussehender junger Mann hatte sie auf dem Nachhauseweg begleitet und sie so sehr in ihren Bann gezogen, dass sie bis spät in die Nacht unterwegs waren. Kurz nach Mitternacht, hatte der Vampir sein wahres Gesicht gezeigt. Das Mädchen schrie. Der Vampir zog sie in eine dunkle Gasse und biss in ihren Hals. Dann brach sie zusammen. Der Vampir spürte just in diesem Moment Blicke im Nacken, seine Tat wurde beobachtet. Er drehte sich um. Ein Mädchen stand an einem Fenster. Sie starrte ungläubig zu ihm. Er blickte sie einen Moment an, dann rief er: „Du bist die Nächste.“ Emily hatte die Geschichte noch weiter ausgeführt, in der sie selbst ein Vampir war, nur niemand von ihrem Geheimnis wusste. In ihrer Erzählung war sie ihres Wissens nach der letzte Vampir. So verliebten sich die beiden in einander und alles endete in einem 'und so lebten sie bis ans Ende der Menschheit'. Doch Emily glaubte nicht, dass ihre Geschichte wahr werden würde. Es gab keine Vampire und schließlich war sie nur ein normales Mädchen. Ein Mädchen mit Sonnenallergie. Sie trank kein Blut, hatte keine spitz zulaufenden Eckzähne und auch fliegen oder sich in eine Fledermaus verwandeln konnte sie nicht. Ihr Herz pochte und doch hatte sie das Gefühl es wäre stehen geblieben. Bewegen konnte sie sich nicht mehr. Sie wollte um Hilfe rufen, aufstehen und rennen, wenigstens ihren kleinen Zeh bewegen. Nichts rührte sich, sie war erstarrt vor Angst. Plötzlich schoss Adrenalin durch ihren Körper. Sie sah den Mann noch immer vor ihrem inneren Auge. Als er seinen Mund geöffnet hatte, blitzten seine weißen Zähne sie an. Besonders die beiden spitzen Seitenzähne. Außerdem hatte er auf dem Kopf gestanden. Nein, gestanden stimmte nicht. Er schwebte in der Luft. Da war nichts, woran er sich hätte fest halten können. Emily erholte sich leicht von ihrem Schock. Die Neugierde bekam Oberhand. Sie stand auf, mit etwas Abstand zum Fenster, ihr Blick starrte in die dunkle Nacht. Langsam ging sie auf das Fenster zu. Sie öffnete es und wartete einen Moment. Irgendwie erwartete sie ihn. Dann lehnte sie sich hinaus und sah – Nichts. Da war rein gar nichts. Weder der düstere Mann, noch irgendein Hinweis darauf, wie er diesen Trick vorhin geschafft haben könnte. Es war pure Einbildung. Hier war nichts und niemand. Der Anblick an die Gasse schwor böse Ängste hinauf. Nichts weiter. Plötzlich legte sich etwas um ihren Körper und zog sie hinaus. Er hatte es satt Blut aus Tieren zu saugen. Es war bitter und dickflüssiger als das der Menschen. Besonders junge Mädchen hatten es ihm angetan. Er beobachtete die Schüler schon seit Wochen. Nichts konnte ihn heute noch zurück halten. Er musste es einfach haben. Ihr Blut in seinem Mund schmecken. Die Schulglocke läutete zum letzten Mal und die Schüler strömten hinaus. Er wartete. Der Mädchenschwarm der Schule ging immer bis zum Tor und wartete dort auf sein Mädchen. Doch dieses mal würde dieser Sunnyboy nicht warten. Er gab sich als Polizist in Zivil auf. Seine Mutter hätte sich mit einem Messer geschnitten und läge in der Klinik. Wie naiv diese Menschen doch waren. Natürlich machte sich der Junge sofort auf dem Weg, ohne an sein Mädchen zu denken. Alles lief nach Plan. Sie hatte diese Woche Klassendienst. Also brauchte sie etwas länger. Die meisten Schüler waren zu dem Zeitpunkt schon längst vom Schulgelände verschwunden. Sie kam allein durchs Tor. „Du musst Sophie sein, nicht wahr?“, fragte ein junger, gut aussehender Mann. Sophie schaute in seine leuchtend blauen Augen. „Chris, dein Freund, hatte noch was anderes vor. Er hat mir gesagt, dass ich auf dich warten und es dir ausrichten soll. Ich hatte auch noch Klassendienst, wie du.“ Ein unwiderstehliches Lächeln zierte sein markantes Gesicht. Sophie nickte und lief ein Stück mit ihm die Straße hinab. Er verwickelte sie in ein längeres Gespräch und er schien in ihr Interesse geweckt zu haben. Kurz vor dem Haus ihrer Eltern lud er sie zu einem Eis ein. An diesem heißen Sommertag konnte sie schließlich nicht nein sagen. Er zog sie mit seinen blauen Augen in den Bann und sie folgte jedem seiner Schritte. Sie merkte nicht, wie die Zeit verging und kurz vor Mitternacht sagte sie plötzlich dass sie nach Hause müsse und ihre Eltern sicher schon ganz panisch waren. Das passte nicht in seinen Plan. Erst wenn die Zeit den neuen Tag anschlug war der Vollmond vollkommen. Dann schmeckte das Blut junger Frauen am süßesten. Also erklärte er ihr eine Abkürzung durch dunkle Gassen. Er würde sie auch noch begleiten. Sie fand die Idee gut, da sie sich, wie jedes Mädchen, in dunkler Einsamkeit fürchtete. Ein paar Gassen weiter hörte man die weit entfernten Kirchenglocken. Er zögerte nicht und zog das Mädchen an sich. Ein breites Grinsen offenbarte seine langen Spitzen Zähne. Seine blauen Augen leuchteten. Sophie schrie vor Angst laut auf, riss sich von ihm und rannte. Sackgasse. Sie drehte sich um und wollte erneut einen Schrei ausstoßen, doch er kam ihr zuvor. Er hatte sich mit ihr gedreht, stand hinter ihr. Er legte seinen linken Arm um ihre Taille und riss mit der rechten Hand ihren Kopf nach hinten. Ihr zarter Hals pulsierte, als sich seine spitzen Zähne in ihr weißes Fleisch bohrten. Ein Hochgefühl schoss durch seinen halbtoten Körper. Ihm war heiß, auch wenn er keine wirklichen Temperaturen mehr spürte. Er wollte sie ganz. Ihren ganzen Körper aussaugen, bis sie kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Doch er spürte Blicke in seinem Nacken. Er ließ von dem Mädchen ab, schnitt mit einem Dolch den Biss nach, damit die Menschen keinen Verdacht bekamen. Dann nahm er die Brieftasche des Mädchens und wollte mit der Dunkelheit verschmelzen. Doch bevor er ganz verschwand wollte er wissen, wer ihn beobachtete. Also drehte er sich und sah in ein vor Schreck erstarrtes Gesicht in einem Fenster auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Er stockte kurz. Erneut drehte er sich und verzog sich in der hintersten Ecke der Gasse. Durch seine Fähigkeiten als Vampir konnte er sehr hoch springen und konnte so sehr einfach aus der Gasse fliehen ohne von den mit Blaulichtern und Sirenen heranrasenden Polizisten entdeckt zu werden. Obwohl sein Durst vorerst gestillt war, hatte er sein nächstes Opfer schon gefunden. Und diesmal würde es leise geschehen. Und er würde sich all ihr Blut nehmen. Er beobachtete sie seit diesem Vorfall Tag und Nacht. Diese Nacht musste perfekt werden. Weder sie, noch ein anderer Mensch oder Vampir dürfte davon erfahren. Ein Mensch pro Jahr. Das war die Regel. Würde man diese Geschöpfe entdecken, wäre alles vorbei. Zu viele von ihnen wurden vor Jahrhunderten getötet. Man kannte die Mittel, mit denen sie zu vernichten waren. Und man würde sich wieder daran erinnern, auch wenn die Menschen sie schon längst als Fabelwesen ab taten. Er konnte sie nicht verschonen. Sie hatte ihn beobachtet. Und all die Wochen in denen er sie beobachtet hatte waren für ihn sehr amüsant gewesen. Er wollte ihr den Wunsch erfüllen einmal einen Vampir zutreffen. Heute würde er sich ihr zeigen und sie warnen und beim nächsten Vollmond würde er sie zu sich holen. Er schwebte kopfüber vor ihrem Fenster, als er sich ihr zum ersten mal zeigte. Eigentlich wollte er sie nur warnen. Sie hätte davon laufen oder schreien können. Aber irgendetwas hinderte sie. Ihre tiefgrünen Augen strahlten nicht nur Angst sondern auch unbändige Neugierde aus. Ihre Augen zogen ihn plötzlich und überraschend in den Bann. Lang genug hatte er schon gewartet. Er wollte nicht länger ausharren. Nicht den nächsten Vollmond abwarten. Ihre weiße Haut und ihre grünen Augen, ihr Interesse an den dunklen Geschöpfen und ihr Wunsch von einem Biss. Heute Nacht würde er ihre Fragen beantworten. Noch als sie vor Schreck auf dem Boden saß und sich einige Minuten nicht rührte, schlich er an der Decke in ihr Zimmer. Sie bemerkte ihn nicht. Er fuhr zusammen, als das Mädchen sich plötzlich erhob. Das war die Gelegenheit. Jetzt oder nie. Er stahl sich von hinten an sie heran, legte seine Hände um ihre Taille und flog mit ihr in die Nacht hinaus. Er wusste, dass sie nicht schreien würde. Sie wäre zu überwältigt vom Anblick der Stadt aus der Luft. Außerdem würde die Panik ihre Kehle zuschnüren. Emily wollte schreien, um Hilfe rufen. Doch kein Ton kam über ihre Lippen. Sie war, wie schon so kurz zuvor, gelähmt vor Schreck. Sie hatte damit gerechnet, dass er erst zum nächsten Vollmond zuschlagen würde, nicht sofort. Sie wollte ihren Kopf drehen um ihn anzusehen, schaffte es aber nicht. Also versuchte sie auf andere Gedanken zu kommen. Sie wollte sich erklären, wie er es schaffte sie so federleicht wirken zu lassen. Wie er sie nur mit seinen Händen an der Taille durch die Luft tragen konnte. Langsam entwich ihre Anspannung ein wenig. Sie atmete wieder etwas ruhiger, ihr Herz pochte jedoch wie wild weiter. Irgendwie war es letztendlich auch aufregend. Das hatte sie sich doch schon immer gewünscht. Es war ihr zumindest lieber auf diesem Wege aus dem Leben gerissen zu werden als später alt und klapprig als ewige Jungfer dem Alterstod zu verfallen. Die schaute zu Boden. Sie waren weit über den Dächern unterwegs. Nachts wirkte die Stadt friedlich. Es war sogar irgendwie romantisch, wie in einem Liebesfilm fühlte sie sich. „Nenn mich Cane“, wisperte er ihr zu. Sie zuckte kurz, als sie seine Stimme hörte. „Da vorne werde ich dich von meinem Griff befreien, Emily.“ Cane zeigte auf eine heruntergekommene Lagerhalle. Emily verzog das Gesicht. Sie hatte gedacht er hätte ein altes, geheimes Schloss für ihren Tod auserwählt oder zumindest einen anspruchsvolleren Ort als diese stinkige Lagerhalle. Cane ließ sie langsam zu Boden sinken, nachdem er durch ein Fenster in ein abgetrenntes Zimmer am Rande der Lagerhalle geflogen war. Er deutete ihr, sich auf den Stuhl zu setzen, der gleich hinter ihr stand. Emily tat, was er sagte. Er spürte kaum noch Angst aus diesem zarten Körper. Cane hatte sich ein paar Meter weiter an eine Wand gelehnt und schaute sie an. Sie war wirklich hübsch, wenn sie nicht geschminkt war. Eine so reine weiße Haut sah er selten. Am liebsten wäre er gleich über ihren Hals her gefallen, aber er übte sich in Geduld. Er wollte ihr zumindest ein paar Fragen beantworten, bevor er ihr den Tod brachte. „Nun schieß mal los. Was interessiert dich an Vampiren so sehr?“ Er hatte mit einem überraschenden Ausdruck in ihrem Gesicht gerechnet. Aber Emily schaute ihn einfach nur an. Er sah ihr an, dass sie nicht wusste, was sie fragen sollte. Schließlich hatte er Emily schon ein paar Fragen beantwortet ohne etwas zu sagen. „Ich habe mir schon gedacht, dass ihr euch nicht in Fledermäuse verwandeln müsst um zu fliegen. Könnt ihr das überhaupt, also euch in Fledermäuse verwandeln, meine ich?“, sprudelte es aus ihr heraus. Sie hatte ihre Angst beinahe ganz verbannt. Die Neugierde überwog wieder einmal. „Und schlaft ihr wirklich kopfüber an der Decke?“ Cane beantwortete ihr in dieser Nacht viele Fragen. Es musste schon mindestens sechs oder sieben Uhr sein. Sie erfuhr so viele Dinge, die mit den Sagen übereinstimmten und so viele, die es nicht taten. Er schien gar kein übler Kerl zu sein. Wahrscheinlich musste er sie sogar töten. Sie hatte ihn schließlich an dem einen Abend beobachtet. Sie war einfach nur zur falschen Zeit, am falschen Ort. Doch sie traute sich nicht, ihn danach zu fragen. Die beiden kamen sich in dieser Nacht näher, doch Cane wollte nicht warten, bis es ihm schwer viel, ihre Blut auszusaugen. Er schritt langsam zu ihr hin. Sie spürte, dass die Zeit gekommen war und erhob sich von dem Stuhl auf dem sie die ganze Nacht gesessen hatte. Cane strich über ihre zarten Wangen. Seine Hand sank tiefer, über ihre Schulter und strich ihr schwarzes Haar zurück. Sie schloss die Augen, beugte ihren Kopf leicht in die entgegengesetzte Richtung. Cane öffnete seinen Mund und legte seine spitzen Zähne auf ihren Hals. Dann stockte er. Er konnte sie nicht töten. Er wollte es nicht. Es dürstete ihn nach ihrem Blut, aber es war nicht nur diese eine Nacht, die ihn ihr näher gebracht hatte. All die Nächte, in denen er sie verfolgt hatte, in denen er sich in ihr Zimmer geschlichen und ihre Geschichten gelesen hatte, in denen er sie im Schlaf beobachtet hatte. Emily spürte einen Windstoß. Er schubste sie. Emily landete unsanft auf ihrem Gesäß. Dann war er weg. Ihr heimlicher Beobachter, wie er sich ihr beschrieben hatte. Sie fasste sich an den Hals. Es tat nicht weh. Da war nicht mal Blut. Warum hatte er sie verschont? Er hatte sie doch so lange heim gesucht. Er hatte ihr ein Stück von ihrer Welt gezeigt. Und sie hatte ihren Wunsch, selbst ein Vampir zu werden nicht zurück gehalten. Im Gegenteil, sie hatte ihn geradezu angefleht sie mit sich zu nehmen, ihr im Tausch gegen ihr süßes Blut ein ewiges Leben als Vampir zu geben. Er hatte sich geweigert, er sagte ihr, es gäbe nichts Schlimmeres, als in dieser elenden Einsamkeit zu leben. Immer nach dem Blut junger Frauen zu dürsten und sich nicht nehmen zu dürfen, was er wollte. Er hatte Emily vom Rat erzählt, der jeden Vampir bestrafte und quälte, der gegen das Gesetz verstoße. Nur das Gesetz hatte er ihr nicht näher erklärt. War er deshalb verschwunden; weil er das Gesetz gebrochen und unendliche Qualen erlitten hätte? Emily brauchte lange um den Ausgang aus der alten, verschachtelten Lagerhalle zu finden. Als sie zu Hause an kam, hatten ihre Eltern nicht einmal bemerkt, dass sie überhaupt weg gewesen war. Sie musste klingeln, schließlich stand sie mitten auf der Straße im Nachthemd und hatte bei ihrer Entführung nicht an einen Schlüssel gedacht. Verschlafen öffnete ihre Mutter die Tür und erschrak beim Anblick ihrer bleichen Tochter. Emily erklärte, sie wäre in der letzten Nacht geschlafwandelt und aus dem Fenster geklettert. Es müsse wohl am Vollmond liegen. Schon häufiger wäre sie am Morgen des Vollmondes aufgewacht und hätte vor ihrer Tür oder neben dem Bett gelegen. Ihre Eltern waren nur froh, dass sie sich nicht verletzt hatte. Heute musste sie nicht zur Schule, sie sollte sich erst einmal von den Strapazen erholen. Cane hatte ihr gesagt, sie wäre hübsch, wenn sie sich nicht schminkt. Außergewöhnlich hellhäutig, aber mit ihren grünen Augen ziehe sie jeden in ihren Bann. Emily schwor sich, ihm den Gefallen zu tun und sich nicht mehr zu schminken. Im Tausch mit ihrem tristen Leben als Schülerin. Jahre vergingen und er hatte sie nie vergessen. Oft war er an ihr Fenster gekommen und hatte sie beobachtet. Sie wurde erwachsen, zog aus dem Elternhaus aus und suchte sich einen Job. Lang genug hatte sie gelebt, fühlte sich alt und hilflos. Sie hatte ihm immer wieder Briefe ans Fenster geheftet. Er las jeden einzelnen und danach verbrannte er sie. Nie schrieb er ihr zurück, so sehr sie sich auch immer wieder gewünscht hatte, ihn wiederzusehen. Sie wollte noch immer ihr Leben gegen das eines Vampirs eintauschen. Er beobachtete die alte Frau, die einst ein so hübsches junges Mädchen war. Es sollte ihr letzter Tag als ewige Jungfer sein. Er wollte ihr den Lebenswunsch erfüllen. Er wollte ihr die Schönheit der Jugend zurück geben, er hatte sie als Gefährtin gewählt. Plötzlich erschallte ein höllischer Knall und er hörte ein grelles Schreien. Sofort rannte er zu der Frau die leblos auf der Straße lag. Er kniete sich zu ihr, schüttelte sie. Er küsste ihre Lippen, erwartete eine Regung. Nichts. Emily war tot. Seine Frau, seine Geliebte war gestorben, bevor er ihr sein erstes und letztes Geschenk machen konnte: das ewige Leben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)