Flieger & Fänger von Terrormopf ================================================================================ Kapitel 7: Die Stadt -------------------- Levi und Kama wechselten einen vielsagenden Blick, dann nickten sie sich zu und Levi winkte den anderen ihrer Truppe ihnen zu folgen. Geduckt und lautlos überquerten sie die Straße. Nun fand kein Markt mehr statt und keine Kinder spielten mehr ausgelassen in den Straßen und Gassen. Die Front verlief nun mitten durch diese Stadt. Kamas und Levis Truppe hatte den Auftrag ein weiteres Haus in grauen Besitz zu nehmen. Und nun standen sie davor. In den Wochen in denen sie nun schon hier waren, hatten sie schon unzählige Häuser eingenommen. Sie hatten auch zum Beispiel den Bahnhof eingenommen und wieder verloren; wieder eingenommen und wieder verloren. Allein am vorigen Tag hatten sie ihn zwei Mal verloren und ihn drei Mal eingenommen. Dieses Hin und Her war nervenaufreibend, aber am schlimmsten waren für Kama die Exekutionskommandos. Jeden Tag wurden mehrere Weiße hingerichtet; egal ob Soldat, Behinderter, Mann, Frau oder Kind. Die meisten meldeten sich freiwillig um diesen Dienst zu verrichten, aber Kama wusste, dass es nicht von langer Dauer sein würde, bis man sie schließlich dazu zwingen musste. Leise öffneten sie die Haustür – man wusste nie, ob nicht die weißen Soldaten sich in den Häusern aufhielten. Doch als sie das Treppenhaus und die Wohnungen stürmten, war keine Spur von den Weißen. Die meisten Wohnungen waren leer, doch aus einigen konnte man Schüsse und Schreie vernehmen; klagende und solche die schlicht von Schmerz zeugten. Immer zu zweit traten sie eine Wohnungstür auf und prüften, ob die Zimmer noch bewohnt oder schon leer waren. Und jedes Mal, wenn sie feststellten, dass eine Wohnung leer war, dann atmete Kama erleichtert auf. Nun standen sie vor der obersten Wohnung. Nur sie beide. Kama zählte innerlich bis drei, dann nahm er Anlauf und brach die Tür beim zweiten Versuch auf. Doch was nun geschah hatte er sich nicht einmal zu träumen gewagt. Er spürte einen dumpfen und nicht all zu großen Schmerz im Bauch und als er sich vom Schrecken erholt hatte und aufsah, erkannte er ein Mädchen, das vor ihm stand und ihm in den Bauch geschlagen hatte. Gerade wollte sie erneut auf ihn einschlagen, da hörte er Levi hinter sich brüllen: „Kama, was machst du denn! Los, weiter!“ Einen Moment schielte er zu Levi und erkannte, dass der hinter ihm in die Wohnung rennen wollte, doch er stolperte über die Fußmatte. Prompt griff Kama die Handgelenke des Mädchens, um ihre Schläge zu unterbinden, wandte den Kopf zu Levi. Der kippte vornüber, ruderte etwas hilflos mit den Armen, um sein Gleichgewicht wieder zu finden. Doch gerade, als er seinen Nacken preisgab, sprang eine Frau hinter der Tür hervor und schlug mit einer Holzplanke auf Levis Genick. Im nächsten Moment fiel Levi zu Boden und blieb reglos liegen. „Levi!“, rief Kama, ließ die Hände der Kleinen los, stieß die Frau in dem engen Flur beiseite und kniete sich nieder zu Levi. Hatte sie ihm das Genick gebrochen? War er jetzt tot? Hatte nicht Kama noch Levi versprechen müssen nicht zu sterben? Er durfte einfach nicht tot sein! Er durfte es nicht! Mit zitternden Fingern griff Kama seinem Flieger an den Hals. Die Schläge des Mädchens auf seinem Rücken spürte er gar nicht. Er bemerkte es auch nicht, dass die Mutter sich aufgerappelt hatte und das Kind zu sich zog, weg von dem grauen Soldaten. Verzweifelt suchte er nach Levis Puls. Und – oh Gott! da war er! Tief atmete Kama durch und merkte wie seine Muskeln sich entspannten, sie waren bis aufs Äußerste gespannt gewesen. Und nun hatte er auch wieder ein Ohr für seine Umgebung und so vernahm er, wie zwei aus ihrer Truppe im Stockwerk unter ihnen sich stritten: „Doch, das war Kama! Irgendwas ist nicht in Ordnung!“ Der andere erwiderte jedoch: „Unsinn! Bei den Beiden wird schon alles in Ordnung sein.“ „Kama! Hey Kama, ist alles klar bei euch? Braucht ihr Hilfe?“, rief plötzlich wieder der Erste. Etwas perplex antwortete Kama: „Nein, alles klar hier! Die Wohnung ist leer, bleibt ihr in eurer, wir haben alles unter Kontrolle!“ „Ist gut!“, vernahm er. Die Frau, das Mädchen an der Hand, blickte ihn verwirrt an. Sie schien noch immer Angst zu haben, aber nun lag noch eine Art Dankbarkeit in ihrem Blick. „Können Sie mich verstehen?“, fragte Kama leise, darauf bedacht, dass die beiden ein Stockwerk tiefer sie nicht hörten. Stumm nickte die Frau daraufhin und Kama fuhr fort: „Wir werden Ihnen nichts tun, Sie brauchen keine Angst zu haben.“ Doch die Frau klammerte sich noch immer an das Stück Holz in ihrer Hand. Kama seufzte innerlich. Natürlich konnte er ihre Zweifel verstehen. Dennoch griff er Levi unter die Achseln und schleifte ihn in die Wohnung. Die Frau haderte noch einen Moment, dann schien sie sich entschlossen zu haben, denn sie ließ ihre Tochter los, ging stattdessen zur Tür und schloss diese. Dankbar lächelte Kama ihr zu. Er schleifte Levi in die kleine Zweizimmerwohnung in das Wohn- und Schlafzimmer. Dort hievte er ihn auf das Sofa. Vorsichtig blickte die Frau auf Levi und Kama, der sich selbst und dann seinem Flieger den Helm abnahm, damit der besser lag. Er streichelte ihm sanft durchs leicht verschwitzte, durcheinander gekommene Haar. Dann richtete er sich wieder auf. Einen Moment lang blickte er der Frau in die Augen; sie schien nicht zu wissen, was sie nun tun sollte. Das Mädchen hielt sich mit einer Hand an ihrem Rock fest und versteckte sich dahinter, als Kamas Blick auf sie fiel. Der Fänger lächelte etwas unbeholfen und ging wieder in den Flur, um dort Levis Gewehr aufzuheben. Er nahm es mit ins Wohnzimmer. Gerade trat er wieder ein, da entfloh der Frau ein spitzer Schrei, doch sie hielt sich prompt die Hand vor den Mund, stellte sich damit selbst ruhig. Irritiert blickte Kama zu ihr und erkannte, dass ihr ängstlicher Blick auf Levis und seine Waffen gerichtet war. Davon ließ er sich allerdings nicht aus der Ruhe bringen, sondern lehnte die Waffen gegen die Wand unter dem Fenster, bewegte sich zurück zum Sofa, um sich neben dem bewusstlosen Levi niederzulassen, ihm erneut die Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streichen. Nun setzte sich die Frau in Bewegung; Kama beobachtete sie. Sie ging in das angrenzende Zimmer. Dort verweilte sie kurz, bis sie wieder kam, ein Glas, mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt, in der Hand. Sie kam auf ihn zu und reichte es ihm. Etwas zweifelnd nahm er es entgegen und als sie ihn auffordernd ansah, leicht lächelte, roch er skeptisch daran, probierte einen Schluck und konnte es eindeutig als Wasser identifizieren. Er wusste, dass es töricht war ihr zu vertrauen, aber sie ließ ihn hier in ihrer Wohnung sein, seinen bewusstlosen Freund auf dem Sofa liegen und er hatte ihr gesagt, dass sie ihr nichts tun würden; außerdem wäre es für Kama ein Leichtes gewesen seine Pistole zu zücken und sie zu erschießen. So setzte er das Glas erneut an seine Lippen und trank es in einem Zug aus. Es war gutes Wasser. Das Wasser das sie noch in ihren Lagern gehabt hatten, war verdreckt. Dieses war sauber und frisch. Er lächelte der Frau zu, stellte das leere Glas auf den niedrigen Tisch und sagte: „Danke sehr.“ „Bitte“, erwiderte sie und bis auf ihren Angstschrei war es das erste Mal gewesen, dass er ihre Stimme vernommen hatte. Sogar bei diesem einzelnen Wort hörte man ihren stark weißen Akzent, aber er konnte sie dennoch verstehen. Sie klang alt, obwohl sie doch noch recht jung aussah, eigentlich wie gerade Anfang dreißig, doch sie wirkte müde. Das aschblonde Haar hatte sie zurückgebunden und gekleidet war sie in eine schlichte Bluse und einen langen, weiten Rock. Geschminkt war sie gar nicht, aber sie trug eine Brosche. Oder war es ein Kettenanhänger? Er sah aus, als könne man ihn öffnen und ein Photo hineintun. Vielleicht hatte sie auf der einen Seite das Bild ihrer Tochter und auf der anderen das ihres Mannes? „Ah... Kama... wo...“, murmelte plötzlich Levi. Er war anscheinend aufgewacht und sah sich jetzt benommen um. Sofort wandte Kama sich ihm wieder zu, beugte sich über ihn, streichelte über seinen Kopf und sagte: „Keine Angst, Levi, es ist alles in Ordnung, wir sind noch in der Wohnung.“ „In der Wohnung?“, fragte Levi konfus. „Ach ja, die Wohnung... hast du den Penner erschossen, der mich niedergeschlagen hat?“ Der Fänger warf der Frau einen schnellen Seitenblick zu, dann sagte er „Levi, hier sind nur eine Frau und ihre Tochter. Die Frau hat dich geschlagen.“ „Von ’ner Frau bewusstlos geschlagen?“, stöhnte da Levi und wollte sich aufsetzen, was Kama jedoch gleich unterband. „Kama, erzähl das keinem! Keiner Menschenseele darfst du je davon erzählen, sonst bin ich geliefert... Ist die Frau jetzt tot?“ Stumm schüttelte Kama den Kopf. „Was? Wieso nicht?“, fragte Levi perplex, wollte sich erneut aufsetzen, doch sank er diesmal von selbst zurück und stöhnte: „Oh Kama, ich hab so Kopfschmerzen! Kannst du denn nichts dagegen tun?“ „Glas Wasser?“, mischte sich nun die Frau in das Gespräch ein und Levis Blick huschte zu ihr, blieb an ihr hängen. Kama erkannte, wie Levi überlegte, was er jetzt sagen oder tun sollte, doch schließlich entschied er sich dafür zu murmeln: „Ja, bitte.“ Sie nickte und ging erneut in die Küche. „Küss mich, Kama, schnell, solange sie weg ist, küss mi-...“, flüsterte Levi, doch mitten im Wort unterbrach Kama ihn, indem er seinem Wunsch schon nachkam. Er hatte ihn auch davor schon küssen wollen. Schon als er Levis Puls gefühlt hatte. Doch immer war die Frau da gewesen. Aber jetzt küsste er diese einstmals so weichen, zarten, sanften Lippen, die nun so trocken und rau geworden waren. Aber es störte ihn nicht – solange es Levis Lippen waren, die er küsste. Er hatte Levis Gesicht zwischen seine Hände genommen, streichelte mit dem Daumen über Levis Wange. Der fuhr mit den Händen über Kamas Rücken, krallte seine Finger in den Stoff der Uniform. Doch nur einen Augenblick später, so kam es ihm vor, vernahm er, wie die Frau wieder kam und schnell brachte er wieder Distanz zwischen sich und Levi. Sie sollte es nicht sehen. Es reichte, dass sie zuvor schon Kamas Gesten mitbekommen hatte. Doch nun vernahmen sie Fußgetrappel. Das Mädchen! Es hatte die ganze Zeit im Zimmer gestanden! Und es hatte den Kuss gesehen. Kama biss sich auf die Lippen. Dieses Mädchen war vielleicht gerade mal acht Jahre alt; was würde es seiner Mutter nun erzählen? Und tatsächlich sprach es schon schnell in seiner Sprache auf seine Mutter ein. Diese jedoch fiel ihm unsanft ins Wort und brachte es so zum Schweigen. Dann reichte sie Kama das Glas. „Bist du sicher, dass ich es trinken kann, Kama? Ist sicher kein Gift drinnen?“, fragte Levi, als er versuchte sich aufzusetzen. Der Brünette legte Levi den Arm ins Kreuz und half ihm so sich aufzurichten, während er sagte: „Ich hab auch schon ein Glas getrunken.“ Er setzte Levi das Glas an die Lippen und der trank erst vorsichtig und dann immer gieriger. Er dürstete ebenso wie Kama nach Flüssigkeit, aber sie würden beide kein zweites Glas verlangen, weil sie nicht wussten wie knapp die Wasservorräte der Zivilisten waren. Langsam nahm Kama wieder seine Hand aus Levis Kreuz, ließ ihn vorsichtig zurück auf das Sofa sinken und stellte das Glas neben seines auf den Tisch. „Und nun?“, fragte Levi, den Blick auf das Mädchen gerichtet, das ihn in einer Mischung aus Ekel und Angst anstarrte. Aber die Worte der Mutter schienen gewirkt zu haben, denn es sagte nichts. Im nächsten Moment streckte Levi ihm die Zunge heraus und grinste es an. Das Mädchen jedoch ging nicht darauf ein, sondern trat lediglich einen Schritt zurück. „Du solltest dich noch ein wenig ausruhen und dann sehen wir weiter.“ Sie hatten kaum eine halbe Stunde, da hämmerten die anderen grauen Soldaten gegen die Tür und riefen nach ihnen. Kama sprang sofort auf die Beine. Das Mädchen rannte zu seiner Mutter und diese nahm es in den Arm, blickte Kama hilflos an. Levi blieb ruhig liegen und rief: „Was denn?“ Versuchend Ruhe zu bewahren blickte Kama sich im Zimmer um, dann fiel sein Blick auf das Bett. Darunter war Platz. So packte er die Frau am Arm und zerrte sie zum Bett. Sie schien wohl etwas Falsches zu verstehen und wehrte sich vehement, doch Kama raunte ihr zu: „Verstecken Sie sich unter dem Bett, wir regeln das...“ Erst jetzt erstarb ihre Gegenwehr und sie flüsterte der Kleinen etwas zu, woraufhin diese sich auf den Boden legte und unter das Bett robbte, die Frau tat es ihr gleich. „Na los! Macht schon auf!“ Kamen die Stimmen von draußen und als Kama sich versichert hatte, dass die Beiden tatsächlich unter dem Bett nicht zu sehen waren, öffnete er die Tür und erkannte zwei ihrer Kameraden, die in ihrer Wohnung offensichtlich Alkohol gefunden hatten, denn mit glasigen, blutunterlaufenen Augen und brennender Zigarette torkelte der eine hinein, noch die Flasche in der Hand und rief: „Na ihr Beide? Hattet ihr was Nettes zum Vernaschen da?“ Der andere folgte ihm etwas peinlich berührt. Levi lag noch immer auf dem Sofa, schüttelte nun den Kopf. „Nichts“, sagte er und schaffte es Bedauern mitklingen zu lassen. „Dabei hätte ich nichts dagegen gehabt.“ „Wenn ihr euch beeilt kriegt ihr vielleicht noch was von der aus dem Erdgeschoss ab, wobei ich das jetzt auch nich mehr machen würde, nachdem sich die ganze Truppe an ihr vergriffen hat...“ Kama vernahm ein leises Schluchzen von unter dem Bett und räusperte sich vernehmlich. Der Sprecher drehte sich zu ihm um und blickte ihn etwas verwirrt an, dann grinste er, nahm noch einen großen Schluck aus der Flasche und sagte: „Ach ja, ich vergaß... unser Kama ist ja von der prüden Sorte... Aber keine Sorge, Großer, irgendwann wirst auch du ein Mädchen finden, das dir gefällt. Und wenn wir den guten Levi in ein Kleid stecken und ihm eine Perücke aufsetzen müssen!“ Er lachte und damit war er der Einzige in dem Raum. Der andere Kamerad ließ sich auf das Bett sinken, da das Sofa ja von Levi belegt war und erwiderte: „Du solltest damit keine Scherze machen, wenn Heller so was mitbekommt, dann sind die beiden aber ganz schnell weg vom Fenster. Und das nur, weil du nen dummen Scherz machen musstest.“ Er schien noch nüchtern zu sein. Zumindest so, dass er noch nachdenken konnte. Allerdings kam nun der Andere wieder auf ihn zu, legte ihm die Hände auf die Schultern und drückte ihn nach hinten ins Bett, kniete sich über ihn. „Du meinst, dass es Heller nicht gefällt, wenn sie sich vergnügen?“ Er leckte sich lasziv über die Lippen. Der Liegende versuchte ihn angewidert von sich zu drücken und grummelte: „Lass das; außerdem weißt du genau, wie ich es meine. Die Krankheit kann nicht geheilt werden und deshalb ist es besser solche Leute in spezielle Einrichtungen zu bringen. Und darüber macht man keine Scherze!“ Er hatte die Stimme erhoben, es aber nicht geschafft zwischen seinen Kameraden und sich den nötigen Abstand zu bringen. „Weißt du, woran man erkennt, dass einer die Krankheit hat?“, fragte der Betrunkene, warf die nun leere Flasche hinter sich und griff nun nach den Handgelenken des unter ihm Liegenden, drückte diese in die Laken. „Also als erstes werden sie nervös, wenn ihnen ein anderer Kerl zu nahe kommt, weil sie nämlich Angst haben, dass man erkennen kann, dass sie krank sind. Und dann erkennt man es, wenn man ihnen hierhin greift.“ Er grinste und griff dem anderen in den Schritt. Dieser begann daraufhin wieder sich zu wehren. Kama und Levi wechselten einen nervösen Blick. Sollten sie eingreifen? Doch er sprach schon weiter: „Aber genaues kann man nur herausfinden, wenn man ihnen den Schädel vermisst.“ Nun fand Kama, dass es endgültig reichte. Er zog ihn von seinem Kameraden runter und dieser sagte: „Du bist doch total bescheuert und obendrein noch betrunken! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass du mir unterstellt hast, dass ich krank bin!“ „Das mein Lieber, würde ich nie wagen...“ Erneut ein Grinsen und schließlich drehte er sich um mit den Worten: „Levi, Kama, wenn ihr auch was trinken wollt, dann müsst ihr runter kommen.“ Daraufhin verschwand er in den Flur und sie hörten, wie er die Treppen hinunterlief. Nun sah Kama zu dem Kameraden, der noch immer auf dem Bett saß und etwas unsicher lächelte, bevor er sagte: „Der ist doch total betrunken... ich und die Krankheit! So ein Schwachsinn!“ Levi lachte auf und sowohl Kama als auch der andere Soldat sahen zu ihm. „Betrunken! Als wär der nicht mindestens genauso bescheuert wenn er nüchtern ist! Der labert doch immer so nen Dreck, am Ende hat er noch die Krankheit!“ Die beiden anderen Männer stimmten in das Lachen mit ein. Levi wusste solche Situationen immer zu retten. „Nun, ich sollte wieder runter zu den anderen gehen... und ihr solltet auch noch kommen, ihr habt ja gesehen, wie misstrauisch der Haufen da unten ist...“ Er erhob sich vom Bett und ging nun hinaus, schloss die Tür hinter sich. „Krankheit“, murmelte Kama und ließ sich selbst auf der Bettkante nieder. Er schüttelte bedächtig den Kopf. „Dabei fühle ich mich gar nicht krank, wenn ich dich küsse.“ Levi war aufgestanden und setzte sich nun neben Kama, ergriff dessen Hand und sprach weiter: „Oder ist das gerade das tückische an der Krankheit? Dass du es nicht so spürst wie zum Beispiel eine Grippe? Kama, glaubst du, wir sind krank? Aber ich will nicht in eine dieser Anstalten, ich will da nicht rein...“ Kama wollte gerade etwas erwidern, da kämpfte sich die Frau wieder unter dem Bett hervor. Beinahe hatten sie sie vergessen gehabt. Sie sah nun schmutzig aus und ihr liefen Tränen über die Wangen. „Wohnung in Erdgeschoss“, begann sie zu sprechen, während sie ihrer Tochter half. „Gehört Schwester von mich. Und jetzt sie benutzt von Grauen...“ Sie sah zu Levi und Kama und es schnürte dem Größeren die Kehle zu. „Und bald sie sein tot.“ Ihr flossen weiterhin Tränen übers Gesicht. „Und wenn Graue mich finden hier, es geht mir wie Schwester. Und Kind noch schlimmer.“ „Wir müssen ihnen helfen!“, sagte Levi nach einer kurzen Weile entschlossen. Kama sah ihn entgeistert an und fragte: „Wie denn?“ „Keine Ahnung, aber wir müssen!“ „Wir können aber nicht, unten ist die gesamte Truppe und wenn einer sie sieht, dann ergeht es ihr tatsächlich wie ihrer Schwester und ich will nicht wissen, was sie mit dem Mädchen machen werden. Und was ist mit uns? Wir sind dann auch dran!“ „Dann dürfen wir uns einfach nicht erwischen lassen“, entgegnete Levi trotzig. Einfach! Einfach, sagte er! Das war alles andere als einfach, schließlich gab es hier oben keinen Hinterausgang... Hinterausgang? Die Feuertreppe! Das Haus hatte doch sicher eine Feuertreppe! Vielleicht hatte sie noch eine Hose von ihrem Mann da... Kama ging rasch zum Kleiderschrank, der ebenfalls in diesem Zimmer stand, riss die Tür auf und durchwühlte die wenige Kleidung, die hierin lag. Er spürte drei verwirrte Blicke in seinem Nacken, doch schließlich fand er eine Hose. Sie war zwar alt und verschlissen, aber es musste reichen. Er drehte sich zu der Frau um, reichte ihr die Hose und sagte ihr, sie sollte diese anziehen. Erst schien sie nicht zu verstehen, was er von ihr wollte, doch als sie es dann endlich verstanden hatte, da schüttelte sie den Kopf und lehnte es strikt ab. Kama versuchte immer wieder ihr zu erklären, was er vorhatte, doch sie schüttelte weiterhin den Kopf. Erst als sie die Kleine an der Hand fasste und etwas fragte, sie mit ihren großen, rehbraunen Augen fragend ansah, da sammelten sich erneut Tränen in den Augen der Frau und sie nahm, schwer schluckend die Hose entgegen. Mit dieser verschwand sie in der Küche und als sie wieder hinauskam, trug sie die Hose. Sie schien sich zu schämen, denn ihre Wangen waren gerötet und ihr Blick gen Boden gerichtet. „Chic!“, rief Levi grinsend auf, doch erntete er sich dafür nur einen missbilligenden Seitenblick von Kama. Der zog nun die Jacke seiner Uniform aus und gab der Frau auch diese. Sie zog sie sich über. Natürlich waren ihr die Kleider viel zu groß. Kama war schließlich knapp anderthalb Köpfe größer als sie und nicht einmal annähernd so zierlich und ihr Mann schien auch nicht kleiner oder schlanker als sie zu sein. „Na los, Levi, gib der Kleinen deine Jacke“, sagte Kama und Levi begann schon sie aufzuknöpfen, da fiel ihm ein: „Hey! Ich kann aber nicht die ganze Zeit ohne meine Jacke rumrennen! Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, es wird Winter und draußen ist es kalt!“ „Du kriegst sie ja auch wieder, wir treffen uns draußen wieder mit ihr“, erwiderte Kama geduldig, doch Levi zog sich die Jacke noch immer nicht von den Schultern, sondern fuhr fort: „Und hättest du wohl die Güte uns mal vorher von deinem Plan zu erzählen?“ „Die Feuertreppe“, begann Kama zu erklären und Levi zog eine Augenbraue hoch. „Die Beiden können einfach die Feuertreppe hinuntergehen. Und wenn sie unsere Uniformen tragen, dann fallen sie auch nicht sonderlich auf.“ Daraufhin zog Levi sich die Jacke endlich aus und warf sie der Kleinen zu. „Und wir treffen uns dann draußen mit ihnen um unsere Sachen zurückzubekommen?“, fragte Levi etwas misstrauisch und Kama nickte. Er nahm nun seine Pistole aus der Halterung und drückte sie der Frau in die Hand. Nun jedoch sprang Levi auf, zückte ebenfalls eine seiner zwei Pistolen und brüllte Kama an: „Warum gibst du ihr denn deine Pistole?“ „Damit sie sich verteidigen kann“, sagte Kama und die Frau hatte vor Schreck die Waffe gleich wieder fallen lassen. So bückte sich der Fänger nach ihr und gab sie der Frau wieder in die Hand. Sie griff danach, doch bevor er sie losließ, sah er der Frau eindringlich in die Augen und sagte dann: „Sie warten auf uns, ja?“ Die Frau nickte. Dann ließ Kama die Waffe los. „Wir treffen uns gleich“, sagte Kama zu ihr. Erneut nickte sie und winkte nun ihrer Tochter zu. Sie kniete nieder und sagte etwas zu dem Mädchen, worauf dieses auf ihren Rücken kletterte. Nun erhob sich die Frau, nickte den Beiden entschlossen zu, dann ging sie. „Leg dich zu mir, Kama“, bat Levi, der sich auf das Bett hatte zurück fallen lassen. Kama legte sich tatsächlich neben ihn, ebenfalls auf den Rücken. Doch Levi hockte sich keck auf ihn, griff nach seinen Händen, verschränkte ihre Finger ineinander und sagte leise: „Du weißt, dass wir geliefert sind, wenn sie entdeckt werden?“ Kama nickte langsam. Er streichelte mit dem Daumen über Levis Handrücken. „Lass das!“, keifte Levi da plötzlich und löste seine Hände. „Immer musst du irgendwas an mir tätscheln, als wäre ich ein kleines Kind! Ich bin doch kein kleines Kind, Kama, ich bin doch schon fast einundzwanzig!“ „Tut mir leid“, sagte Kama, immer noch unter Levi liegend. „Es ist nicht so gemeint.“ „Ich weiß“, murmelte Levi, legte sich nun auf Kama, die Wange auf dessen Brust. „Ich weiß. Aber manchmal, Kama, manchmal, da macht es mich wahnsinnig, auch wenn ich es eigentlich mag.“ „Wir sollten los“, flüsterte Kama nach einigen Augenblicken. Levi hatte Recht, auf ihren Jacken standen ihre Namen und wenn man die Beiden fand, dann wusste man genau wessen Jacken das waren und wer ihnen geholfen hatte. Und je länger sie dort standen, desto größer wurde die Chance, dass man sie enttarnte. „Ich mag nich“, murrte Levi, doch Kama begann sich aufzurichten, wodurch Levi von ihm herunterrutschte. „Wir müssen aber“, entgegnete der Fänger, aber sein Flieger murrte weiter: „Aber es war grad so bequem! Was krieg ich denn jetzt als Entschädigung?“ „Wir suchen uns später einen Keller und da kannst du dann fliegen; wenigstens ein bisschen.“ Kama wusste, dass es Levi extrem belastete, wenn er nicht stets fliegen konnte. Es gab für Flieger wohl nichts Schlimmeres. Nun leuchteten Levis Augen auf. Ob man unter freiem Himmel oder in einem nur relativ geräumigen Keller unter der Erde flog, machte einen gewaltigen Unterschied, das wusste selbst Kama, aber in solchen Zeiten war Fliegen Fliegen. Prompt war Levi auf den Beinen und schon halb im Treppenhaus. Kama folgte ihm mitsamt den Waffen und ihren Helmen hinab und dann aus dem Haus heraus. Die Stadt lag schon in der Dunkelheit der Nacht und vorsichtig schlichen Levi und Kama sich um das Gebäude, bis sie auf die Frau und das Mädchen trafen. Die Frau drückte Kama kurz an sich und küsste ihn auf die Wange, während sie murmelte: „Danke sehr.“ Dann gab sie ihm die Pistole wieder und auch seine Jacke und das Mädchen gab Levi dessen Jacke wieder. Der Flieger wuschelte ihr noch einmal durchs Haar, dann drehten sich die Beiden um und verschwanden in der Dunkelheit. Levi zog sich seine Jacke sofort wieder an; er war schon immer etwas verfroren gewesen. Kama hingegen sah den Beiden noch eine Weile hinterher, bis auch er seine Jacke wieder anzog. Es wurde wirklich langsam Winter. Die Bäume hatten kaum mehr Blätter an den Ästen und ein eisiger Wind pfiff durch die Gassen. Schweigend gingen Flieger und Fänger wieder in das Gebäude. Und obwohl sie beide es nicht wirklich wollten, gingen sie zu ihrer Truppe. Die Frau von der die beiden Kameraden oben in der Wohnung erzählt hatten, war weg. Vermutlich hatten sie sie erschossen. In dieser Nacht noch hatte es angefangen zu schneien. Irgendwann hatten Kama und Levi sich unbemerkt von den anderen entfernt und waren durch die Straßen die in grauem Besitz waren geirrt, auf der Suche nach einem geräumigen Keller. Und tatsächlich hatten sie einen gefunden. Es hatte Levi gut getan zu fliegen. Eigentlich hatten sie gedacht, dass man an der Front viel flog, doch offensichtlich war dies nicht der Fall. Und Levi litt darunter. Kama war dagegen der Typ, der nicht mit ansehen konnte, wenn es seinem Freund schlecht ging. Wie es ihm selbst ging war relativ egal, aber wenn es Levi schlecht ging, dann ging er ebenfalls durch die Hölle. Sie tranken gerade eine Tasse des Braunen Zeugs, das ihnen als Kaffee untergejubelt wurde, da kam ein Vorgesetzter in ihre behelfsmäßige Kochnische und fragte laut: „Wer ist heute dran?“ Es ging um das Erschießungskommando. Wenn so gefragt wurde, ging es immer darum. Einer der Neuen, die erst vor wenigen Tagen an der Front angekommen waren, meldete sich eifrig, doch zu Levis und Kamas Pech war ebenjener Soldat, der am Tag zuvor betrunken zu ihnen in die Wohnung gekommen war, anwesend und war offensichtlich nicht sehr gut auf sie zu sprechen, denn er saß relativ nahe beim Vorgesetzten und grummelte: „Soweit ich weiß, war Levi erst einmal und Kama noch gar nicht dran und die sind doch schon ein Weilchen hier... warum nehmen Sie nicht die?“ Kama verschluckte sich an seinem Kaffee und Levi musste ihm kräftig auf den Rücken schlagen, damit er sich wieder beruhigte. „Kama, Levi? Mitkommen, Sie haben heute die Ehre, dass Oberfeldmarschall Heller persönlich der Exekution beiwohnt“, erklärte der Vorgesetzte und setzte sich in Bewegung. Missmutig waren Kama und Levi aufgestanden und folgten ihm nun. Kama wollte keine Unschuldigen umbringen. Und Levi schien auch nicht die Intentionen dazu zu haben... Doch sie mussten nun, ob sie wollten oder nicht und das hatten sie nur diesem Trunkenbold zu verdanken, vermutlich, weil er einen Kater hatte. Sie mussten nicht weit gehen, bis Heller vor ihnen stand. Er salutierte vor ihnen, sie taten es ihm gleich. Dann sagte er: „Soso, das sind also heute die Glücklichen.“ Und in seinen Worten schwang keinerlei Ironie oder gar Sarkasmus mit. Er meinte es, wie er es sagte. Levi und Kama erwiderten nichts darauf. Sie hatten noch nicht den Befehl erhalten sich zu rühren, so standen sie Stocksteif vor dem Oberfeldmarschall. Kama hatte kein gutes Gefühl. Irgendetwas sagte ihm, dass ihm dieser Tag noch lange in Erinnerung bleiben würde, dass, was passieren würde, Konsequenzen nach sich ziehen würde. Heller sagte in einem normalen Tonfall und doch kam es Kama vor als hätte er den Befehl gebrüllt: „Waffen anlegen.“ Levi und Kama taten wie ihnen geheißen. Der Fänger bemerkte, wie seine Hände schweißnass wurden. Und gleichzeitig kalt. Sie hatten keine Winterkleidung da, die würde erst mit dem nächsten Tross kommen und so mussten sie es ohne Handschuhe aushalten. Die Finger Kamas schienen am Abzug festgefroren zu sein und der Befehl Hellers, man solle sie herführen, drang zu ihm wie aus weiter Ferne. Er wollte jenen, die er erschießen musste nicht in die Augen sehen. Er wollte nicht ihre Mimik sehen. Wollte nicht sehen wie sie aussahen. Doch als Heller sagte: „Schießen.“ Da sah er doch auf und ihm stockte der Atem. Dort vor ihm standen unter anderen die Frau und ihre Tochter in deren Wohnung sie am Abend zuvor gewesen waren. Sie blickte ihn an. Sie weinte nicht, sah Kama einfach nur an und er starrte zurück. Ihre Hände waren hinter dem Rücken gefesselt. Die Hose war schmutzig und die Bluse zerrissen, aber den Anhänger trug sie noch. Er konnte sie doch nicht erschießen! Sie erwartete jeden Augenblick den Schuss, der sie töten würde und Kama sah ihr an, dass sie ihm keinen Vorwurf machte. Sie schien zu wissen, dass es der Befehl des Vorgesetzten war. „Na los! Warum schießen Sie denn nicht?“, brüllte Heller da. Doch Kama nahm die Waffe runter und schaute zu Levi. Der zitterte, hatte die Waffe noch erhoben, aber auch von ihm hatte sich kein Schuss gelöst. Kama wusste in dem Moment nicht, ob Levi noch schießen würde oder nicht. Er konnte es nicht einschätzen. Doch gerade glaubte er, dass Levi jetzt schießen würde, da nahm auch dieser die Waffe runter. „Was zum Teufel ist denn los mit Ihnen beiden? Ich habe gesagt, Sie sollen schießen!“, schrie Heller und schien nun völlig in Rage. „Wir können nicht“, sagte Kama schließlich leise. „Sie können nicht?“, rief Heller und schien entrüstet und empört. „Natürlich können Sie! Es ist doch nicht schwer! Man nimmt die Waffe hoch, zielt und drückt ab! Herrgott Sie sind doch nun schon länger an der Front! Was ist nur los mit Ihnen?“ „Wir können nicht“, wiederholte Kama. Und damit war es besiegelt. Heller riss ihm die Waffe aus der Hand und feuerte auf die Opfer. Die Frau und das Mädchen fielen zu Boden. Kama hoffte, dass sie nun tot waren. Es war besser, wenn sie schnell starben, als wenn sie lange leiden mussten. „Das wird Konsequenzen nach sich ziehen!“, zischte er, drückt Kama die Waffe in die Hände und stapfte wütend davon. ließ Kama und Levi einfach stehen. Der Flieger ließ sich auf die Knie fallen, sein Fänger ließ die Waffe wieder fallen. Einen Moment lang rührten sie sich nicht. Sie vernahmen nicht einmal mehr die Frontgeräusche, die Schüsse und Schreie und Explosionen. Sie spürten auch nicht mehr den Wind, der ihnen eisig um die Ohren pfiff. Schließlich ging Kama langsam auf die Frau zu. Er schlug das Kreuz und beugte sich zu ihr herunter, um ihr die Kette abzunehmen, die sie getragen hatte. Vorsichtig öffnete er sie. Er hatte Unrecht gehabt. Auf der einen Seite war ihr Mann zu sehen, er wies eine gewisse Ähnlichkeit zu Kama auf. Aber auf der anderen Seite waren die Frau selbst und ihre Tochter abgebildet. Sie lächelten freundlich, strahlten ihm entgegen. Schnell schloss Kama den Anhänger wieder und ging mit ihm zu Levi. Er nahm dessen Hand und drückte den Anhänger hinein, flüsterte: „Du kannst nichts dafür. Es ist nicht deine Schuld. Du hast nichts tun können.“ Mit abwesendem Blick sah Levi zu ihm auf. „Was wird jetzt passieren?“, fragte er leise und Angst schwang in seiner Stimme mit. „Wir werden bestraft, auf jeden Fall, aber ich weiß auch nicht wie“, antwortete Kama ehrlich, half Levi auf die Beine. Langsam gingen sie zurück. Levi nahm Kamas Hand und murmelte: „Ich hab Angst, Kama, ich hab Angst.“ Der Größere drückte die Hand, die seine erfasst hatte aufmunternd, erwiderte aber nichts mehr. Es gab nichts mehr zu sagen. Levis Angst konnte er ihm nicht nehmen. Und wenn er ehrlich zu sich war, dann musste er sich eingestehen, dass auch er Angst hatte. Was würde Heller wohl tun? Hosted by Animexx e.V. 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