Quo vadis? von cooking_butty ================================================================================ Kapitel 2: ¡Venceré! -------------------- Auch der folgende Tag ging vorüber. Am Nachmittag kam Farins und Julias Mutter und wurde über die Lage aufgeklärt. Sie war anfangs sehr geschockt. Verständlich, denn ihre beiden Kinder standen entweder vor der Scheidung, oder hatten einen Gehirntumor. Nachdem Farin ihr gefühlte 1000 Mal erklärt hatte, dass er alles darauf ansetzen werde, den Krebs zu besiegen, war sie etwas beruhigter. Beim Treffen der Band und ihrer Manager am Abend in der Pizzeria hatten alle gemerkt, dass ihre Situation ernst war. Wie ernst, wusste der Großteil der Gesprächsteilnehmer jedoch nicht. Sie beschlossen, im folgenden Jahr nur drei Festivalkonzerte zu geben und dass sich jeder Gedanken über die Band machen sollte – sie schienen kurz vor der Auflösung zu stehen. Jeder der drei wusste innerlich, dass sie sich mehr und mehr auseinander lebten, doch niemand schien zu wissen, wie sie das aufhalten könnten. Am Abend saß Farin auf seinem Bett und fuhr sich erschöpft durch die Haare, um gleich darauf eine ganze Menge davon in der Hand zu halten. „Auch das noch“, stöhnte er, ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Seine Haare waren lichter geworden, an manchen Stellen war er schon fast kahl. Er putzte sich die Zähne, schlurfte zurück zu seinem Bett, wo er sich müde fallen lies und schlief bald darauf ein. Mitten in der Nacht musste er auf die Toilette, um sich zu erbrechen. Gerade als er dachte, sein Magen habe sich wieder beruhigt, musste er sich wieder übergeben. So ging es ungefähr zwei Stunden lang, bis wirklich nichts mehr in ihm drin war, was noch hätte rauskommen wollen. War es das wirklich wert? Sollte er das echt durchziehen, wenn es noch nicht einmal sicher war, dass er es überhaupt schaffen würde? Kraftlos lehnte sich Farin an die Wand und schloss die Augen. Er ließ den Augenblick, als ihm die Diagnose mitgeteilt wurde, Revúe passieren. Es würde hart werden, haben sie gesagt. Hart, aber nicht aussichtslos. Er musste nur durchhalten. Er stieß sich ab, ging zum Waschbecken und putzte sich nochmals die Zähne, um den Geschmack des Erbrochenen aus seinem Mund zu bekommen. Entschlossen sah er in sein Spiegelbild. Er würde durchhalten, für seine Familie und Freunde. Er hatte es ihnen versprochen! Im Flur traf er seine Mutter. „Hab ich dich etwa geweckt?“, fragte Farin verlegen und kratzte sich am Hinterkopf. „Nein, ich hab doch so einen leichten Schlaf. Da werde ich schnell mal wach“, antwortete sie sanft. „Jan? Wie auch immer du dich entscheidest, ob du dir noch ein paar schöne Wochen machen willst, oder ob du kämpfen willst – ich werde bei dir sein und dich unterstützen“, meinte sie noch und zog ihren Sohn in eine Umarmung. „Danke“, nuschelte er, als sie sich wieder lösten. Sie wünschten sich noch eine gute Nacht und gingen in ihre Zimmer. Die nächste Woche verging wie im Flug und ehe man sich’s versah stand der Tag der Operation vor der Tür. Bereits am frühen Morgen wurde Farin von seiner Schwester und seiner Mutter ins Krankenhaus gebracht, wo er auf eben jene vorbereitet wurde. Nachdem er in den OP-Saal gebracht wurde, nahmen die beiden Frauen im Wartesaal platz. Beide hatten sich etwas mitgenommen, um die lange Wartezeit – immerhin waren es 8 Stunden – zu überbrücken, doch konnten sie sich kaum darauf konzentrieren. „Wann werdet ihr die Scheidung einreichen?“, fragte die Ältere irgendwann. „Im Jänner.“ „Und wie werdet ihr Weihnachten feiern?“ „Ich hab mir gedacht, dass Matthias zu Jan kommen könnte, weil ich bei Jan bleiben möchte, aber für Tom wäre es bestimmt schlimm, wenn er seinen Vater zu Weihnachten nicht sieht…und ihr müsst natürlich auch dabei sein, ist doch klar!“ „Wenn wir euch nicht zu Last fallen.“ „Mama, bitte. Ihr würdet uns nie zu Last fallen…“ „Du wirst also bei Jan bleiben?“ „Ja, ich kann ihn jetzt nicht alleine lassen…“ „Und was wird mit Tom? Der muss doch zur Schule – in Berlin?“ „Ich hab mir gedacht…na ja…vielleicht könnte er bei euch unter der Woche wohnen…und am Wochenende kommt er halt zu uns…und da könnt ihr auch mal mitkommen, wenn ihr wollt!“ „Das fänd ich sehr schön…da hab ich endlich wieder mal etwas Zeit mit meinem Enkel!“ „Da wird er sich bestimmt freuen…ich hol mir was zum Essen, willst du auch was?“ „Oh, ja bitte“ Julia brauchte einige Zeit, bis sie einen Bäcker gefunden hatte und mit etwas Essbarem wieder zurückkam. Nachdem die beiden Frauen gegessen hatten, vertrieben sie sich die restliche Wartezeit mit Lesen. Endlich kam ein Arzt auf sie zu: „Gehören Sie zu Herrn Vetter?“ Die beiden bejahten. „Der Patient hat die Operation gut überstanden. Sie können zu ihm, sobald er im Aufwachraum ist.“ Der Doktor wollte eigentlich schon wieder gehen, aber Julia hielt ihn zurück. „Wie ist die Operation verlaufen? Wie viel konnten sie entfernen?“, fragte sie. „Die OP ist gut verlaufen, wir konnten circa 80 % des Tumors entfernen. Der Rest des Tumors hat eine sehr schwierige Lage, wir hoffen, dass er durch die Bestrahlung kleiner wird und wir ihn so besser entfernen können.“ „Also muss Jan noch einmal operiert werden?“ „Davon gehen wir aus.“ Der Arzt verabschiedete sich noch und ging. Bald darauf kam eine Schwester und brachte Julia und ihre Mutter zu Farin. Als die beiden Frauen das Zimmer betraten, schlief er noch. Sein Kopf war dick einbandagiert, an seinen Armen hefteten mehrere Infusionen und sein Herzschlag wurde durch das monotone Piepsen des EKGs signalisiert. Eine Nasensonde führte ihm etwas Sauerstoff zu. Es dauerte noch eine Weile, bis der Gitarrist endlich aufwachen würde, daher setzten sich seine Besucherinnen auf die beiden Stühle, die im Raum standen und beobachteten den Schlafenden. Langsam öffnete Farin seine Augen und wandte seinen Kopf zur Seite, stöhnte aber schmerzvoll auf, da ihm dieser ziemlich wehtat. „Hey“, wurde er von zwei weiblichen Stimmen begrüßt. „Hey“, grüßte er leise zurück. Auch wenn er die Personen nur verschwommen sah, wusste er, wer sie waren. Langsam wurde seine Sicht klarer und so erkannter er seine Mutter und seine Schwester, die neben seinem Bett saßen. „Wie geht’s dir?“, fragte die Jüngere sanft. „Frag lieber nicht…“ Julia wollte ihrem Bruder vom OP-Verlauf berichten, aber ihre Mutter hielt sie zurück: „Jetzt nicht…du würdest ihn nur überanstrengen!“ Die drei redeten noch eine Weile miteinander. Nachdem Farin eingeschlafen war, verließen die beiden Frauen so leise wie möglich das Zimmer. Als er das nächste Mal aufwachte, fand sich Farin in einem weitaus freundlicheren Zimmer wieder. Sein Bett stand ungefähr in der Mitte des Raumes, auf der einen Seite zur Tür, auf der anderen zum Fenster. Vor dem Fenster stand ein schneebedeckter Baum, wahrscheinlich konnte man zum Park hinaussehen, wenn man davor stand. Das EKG war verschwunden, worüber der Gitarrist nahezu begeistert war, das ständige Piepsen hatte ihn schon wahnsinnig gemacht. Es klopfte an der Tür und kurz darauf betraten der Onkologe und ein weiterer Arzt, wahrscheinlich der Chirurg, das Zimmer. „Guten Morgen, Herr Vetter! Wie geht es Ihnen denn?“ „Bis auf die Kopfschmerzen geht’s eigentlich…“ „Ich werde veranlassen, dass Ihre Medikamenten-Dosis erhöht wird“, versprach der Onkologe. „So einfach geht das? Warum erfahr ich das erst jetzt?“, erwiderte Farin schmunzelnd. Nun meldete sich der Chirurg zu Wort: „Herr Vetter, wie ich Ihrer Schwester gestern schon gesagt habe, ist Ihre OP gut verlaufen, wir konnten einen Großteil des Tumors entfernen.“ „Und was ist mit dem Rest?“ „Das Gewebe, das sich noch in Ihrem Kopf befindet, hat eine sehr schwierige Lage. Wir werden versuchen, ihn durch eine Bestrahlung zu verkleinern, wodurch wir ihn dann besser entfernen können.“ Bevor der Patient noch fragen konnte, sagte der Onkologe: „Die Bestrahlung erfolgt im Jänner über drei Wochen, zwei Mal am Tag.“ „Haben Sie sonst noch eine Frage?“, wollte der Chirurg wissen. „Wann kann ich nach Hause gehen?“ „Sie werden noch etwa 4-5 Tage hier bleiben müssen. Weihnachten können Sie aber ganz bestimmt zu Hause feiern.“ Während sich die beiden Weißkittelträger verabschiedeten und gingen, überlegen Farin, ob es wohl an seiner Berühmtheit lag, dass die beiden so freundlich waren, oder ob sie einfach nur high waren. Er hoffte natürlich auf ersteres! Während seines Krankenhausaufenthaltes wurde er oft besucht, wobei er auch oft erklären musste. Jeder schien aber halbwegs beruhigt wieder nach Hause zu gehen, nachdem Farin ihnen erklärt hatte, dass er auf keinen Fall aufgeben werde. Nur einem tischte er eine Lüge auf: Bela. Als jener ihn besuchte, war auch Julia bei ihm. „Hey, Jan du altes Haus, was machst denn du für Sachen?“, begrüßte der Drummer seinen Freund und zog ihn in eine herzliche Umarmung. „Aber jetzt mal im Ernst, was ist passiert?“ „Weißt du, die ham irgendsowas von Gehirnblutung erzählt, hab ich mir wohl bei einem Sturz zugezogen…“, drückte sich Farin vor der Wahrheit, wofür er von Julia einen verwirrt bösen Blick erntete. „Aber jetz is alles wieder okay?“ „Genau!“ „Hach, und ich dacht schon, es wär was Schlimmeres!“ Bela bekam den vorwurfsvollen Blick von Julia genauso wenig mit wie den vom Gitarristen, der jener bedeutete, ruhig zu sein. Nachdem der Drummer gegangen war, zischte die Frau: „Was sollte denn das werden?“ „Hör zu: Ich kann ihn nicht so einfach vor vollendete Tatsachen stellen“, versuchte ihr Bruder sie zu beruhigen. „Willst du ihm jetz ewig was vorgaukeln?“ „Nein, aber ich will’s ihm sanfter beibringen. Du weißt nicht, wie ihn das damals mit Inge mitgenommen hat. Dirk war total fertig und hat gemeint, dass er das nie wieder durchmachen will!“ „Wer ist Inge?“ „Ich hab dir doch erzählt, dass Dirk erst vor kurzem jemanden durch Krebs verloren hat, oder? Das war Inge…“ „Das ist so richtig typisch du! Selbst in deiner größten Not denkst du nur an andere“, meinte Julia übertrieben und lachte. „Du bist echt so blöd“, lachte Farin und zog seine Schwester in eine liebevolle Umarmung. Am Tag vor Weihnachten konnte der große Blonde endlich wieder nach Hause. Auch wenn es nur beinahe eine Woche war, die er im Krankenhaus hatte verbringen müssen, so fühlte er sich, als wäre er eine Ewigkeit dort gewesen. Zu Hause wurde er wieder von seinem Hund und seinem pubertierendem Neffen begrüßt. Dementsprechend herzlich beziehungsweise teilnahmslos fiel die Begrüßung aus. Es machte Farin nichts aus, dafür freute er sich zu sehr, dass er sich wieder in seinem trauten Heim befand. Julia wies ihren Bruder an, sich aufs Sofa zu legen, während sie seine kleine Sporttasche in sein Zimmer brachte. „Ich hab übrigens einen Christbaum gekauft“, sagte sie, als sie das große Wohnzimmer betrat. Sie sah, dass sich der Gitarrist ihrem Befehl widersetzt hatte und vor dem Kamin kniete, um Feuer zu machen. Gerade, als sie ihm zur Hand gehen wollte, zündete er mit einem Streichholz die klein gehackten Hölzer an. „Das find ich toll…schmücken wir den dann morgen auch gemeinsam?“, fragte er. Seine Augen leuchteten, als er sich aufs Sofa legte. „Klar, warum nicht?“ „Wann kommen eigentlich die anderen?“ „Also Matthias wird irgendwann so gegen Mittag mit unseren Eltern im Schlepptau kommen…“ „Also müssen wir uns rann halten und am Vormittag den Baum schmücken…“ „Was hast du bloß mit dem Baum-Schmücken?“ „Was denn? Ist doch schön, so ein geschmückter Baum!“ „Hast du überhaupt Schmuck?“ „Na selbstverständlich…oben, am Dachboden!“ „Weißt du, was ich nicht verstehe?“, fragte Julia ehrlich. „Dass ich, als Mann, so auf Christbaum-Schmücken stehe?“, antwortete Farin. „Nein, das mein ich nicht. Ich verstehe einfach nicht, wie du als Alleinstehender so ein großes Haus bewohnen kannst…und noch dazu hast du für alle Räume eine Verwendung gefunden!“ „Ja dafür hab ich auch drei Gästezimmer und 2 Bäder…nein, weißt du, ich hab halt immer schon geahnt, dass ich mit meiner Schwester mal eine WG gründen werde“, meinte er grinsend. „Jan, ich mein das ernst!“ „Weißt du…ich hab’s halt damals einfach entdeckt, als es zum Verkauf stand…und irgendwie hab ich nur gedacht: das ist es, das muss ich haben!“ „Liebe auf dem ersten Blick sozusagen!“ „Ja klar…den einen passiert das bei gewissen Mitmenschen, mir passiert’s halt bei meinem Haus!“, konterte Farin ironisch. Der Tag neigte sich dem Ende zu und so verzog sich jeder in sein Zimmer und versuchte einzuschlafen. Dem Gitarristen gelang das überraschenderweise ziemlich schnell, er hatte echt zu viele Tage im Krankenhaus verbracht. Er wollte gar nicht erst an den Jänner denken, wo er Bestrahlung hatte und ganze drei Wochen in diesem ätzenden Gebäude voller Arschkriecher verbringen musste. Julia aber lag noch lange wach. Ihre Gedanken kreisten die ganze Zeit über den morgigen Tag. Was, wenn…? Nein, daran wollte sie nicht denken, sie musste an das Positive glauben. Aber was wäre wirklich, wenn…? „Nein Julia, hör auf“, schimpfte sie leise. Aber dieser eine Gedanke schaffte es irgendwie, sich in ihrem Kopf einzunisten und sich in seiner vollen Größe bemerkbar zu machen: Was, wenn es das letzte Weihnachten mit Jan wäre? Irgendwann spät in der Nacht schaffte sie es doch, diesen bösen Gedanken wieder zu verdrängen und schlief ein. Der Heilige Abend wurde mit einem ausgiebigen Frühstück begonnen, bei dem Farin aber eher auf Obst zurückgriff, um seinen Magen nicht allzu sehr zu reizen. Er hatte keinen Bock darauf, sich zu übergeben, nicht zu Weihnachten. Extra für diesen Tag hatte er sich auch eine rot-weiße Weihnachtsmütze über seinen Kopfverband gestülpt. Er genoss das Fest in vollen Zügen – vielleicht sogar noch mehr, als sonst. Was wäre, wenn…schoss es ihm durch den Kopf, aber diesen Gedanken verdrängte er schnell wieder. Nicht jetzt, nicht heute…heute wollte er einfach nur feiern und genießen. Das Mittagessen fiel relativ klein und leicht aus, damit die drei noch genügend Platz für das Abendessen hatten. Am Nachmittag verdoppelte sich die Gesellschaft durch Matthias und die Eltern der Geschwister. Die sechs redeten fröhlich miteinander über dies und das und schneller, als sie dachten, wurde es Abend und ihr Hunger mit einem üppigen Raclette gestillt. Danach gab es Bescherung. Farin schenkte meist Sachen her, die er auf einer seiner Reisen entdeckt hatte und bekam meist Sachen, die für eine solche nützlich waren. „Ich werd morgen zu Dirk fahren“, meinte Farin zu seiner Schwester nach den Feiertagen. „Wirst du’s ihm also endlich mal sagen?“ „Genau!“ „Was, wenn er’s schon von wem anderen gehört hat?“ „Die anderen mussten mir versprechen, dass sie ihm nichts sagen…Glaubst du, wird er sehr sauer sein?“, fragte der Gitarrist unsicher, immerhin hatte er ihm das letzte Mal eine riesige Lüge aufgebunden. „Na ja, du kennst ihn besser als ich, aber wenn du ihm alles erklärst, warum du so gehandelt hast…dann wird er’s, glaub ich, verstehen.“ „Das denk ich auch…“ „Andererseits wärst du auch selber Schuld!“ „Wow, du machst mir ja richtig Hoffnungen“ Der sarkastische Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Wie kommst du eigentlich hin?“ „Ich werd mit’m Zug fahren, bleibt mir ja nichts anderes übrig…“, seufzte Farin. „Warum lässt du dir nicht einfach einen neuen Führerschein ausstellen?“ Trotz seines Gehirntumors war der Gitarrist weiterhin fahrtüchtig, doch hätte er nach der Operation sich einen neuen Führerschein ausstellen lassen müssen, was bedeutete, dass er wieder zum Amtsarzt müsste und wieder zur Behörde und diesen Aufwand wollte er sich echt nicht machen…vor allem, weil es nicht bei diesem einen Mal bleiben würde. „Weil das ’n heiden Aufwand wär, für nichts und wieder nichts, weil es eh in ein paar Monaten noch mal so wäre…“ „Stimmt…soll ich dich fahren?“, bot Julia an. „Nee, du, lass mal. Mit’m Zug ist’s auch umweltfreundlicher.“ Seine Schwester tat echt schon genug für ihn, da wollte Farin sie auch nicht noch zu seiner persönlichen Chauffeurin machen. Wobei: „Vielleicht komme ich später auf dein Angebot zurück“, fügte er zwinkernd hinzu. „Ja klar, mach mal.“ Als er in Hamburg aus dem Zug ausstieg, wusste er zuerst nicht, wie er zu Bela kommen sollte. Mit dem Bus wollte er nicht fahren, er hatte Angst, erkannt zu werden und das wollte er nun wirklich nicht. Er entschied sich, zu laufen, der Weg war ja nicht weit. Erst, als er atemlos bei Belas Tür angekommen war, wusste er wieder, warum er in letzter Zeit lange Fußwege mied. Er war krank, auch wenn er kein Fieber hatte und das durfte er nicht vergessen. ‚Wie könnte ich das auch jemals vergessen’, dachte Farin sich bitter und klingelte. „Jan, was machst du denn hier?“, fragte Bela verwundert, als er seine Haustür öffnete. „Ich dachte, ich schau mal vorbei…wie’s dir geht und so…weißt schon!“ Wie lange hatten sie sich eigentlich nicht mehr gegenseitig besucht? Wann hatten diese spontanen Besuche aufgehört zu existieren? Wann ist es passiert, dass sie beide keine besten Freunde mehr waren. Beide dachten dasselbe, doch trauten sie sich nicht, diese Gedanken dem anderen gegenüber laut auszusprechen. Sie sprachen lange, sahen sich sogar einen Film an, so wie sie es zu früheren Zeiten immer gemacht hatten. Es wurde spät, wie spät, bemerkte Farin erst, als er auf die Uhr blickte. „Scheiße“, fluchte er leise. „Was denn?“, fragte Bela besorgt. „Verdammt…ich hab grad meinen letzten Zug verpasst…was mach ich den jetzt?“ Der Drummer sagte das erste, was ihm einfiel: „Willst du bei mir übernachten?“ Etwas verwundert sah der Jüngere ihn an. Damit hatte er nicht gerechnet. „Wenn’s dir keine Umstände macht…“ „Ach keine Spur!“ „Dankeschön…“ Eine Weile schwiegen sie und sahen sich einfach nur an, bis Bela das Gespräch wieder aufnahm: „Sag mal, ist echt alles in Ordnung mit dir?“ „Klar, alles gut überstanden.“ Für diesen Satz hasste sich Farin. Warum konnte er ihm nicht einfach die Wahrheit sagen? Er hatte es doch bei den anderen auch geschafft, warum nicht bei Bela? „Jan, ich weiß, unsere Freundschaft ist zurzeit nicht gerade die beste…aber wenn was ist, dann kannst du jederzeit mit mir reden, hörst du?“ Der Blonde nickte stumm. Wenn Bela wüsste, was auf ihn zukam… „Weißt du, du wirkst irgendwie so, als würdest du vor etwas flüchten“, fügte der Drummer leise hinzu. Farin blickte ihn traurig an. Wie gerne würde er ihm sagen, dass er sich keine Sorgen machen braucht, dass alles in Ordnung war und es ihm gut gehe! „Weißt du, was der Vorteil am Rockstar-Dasein ist?“, fragte Bela ablenkend. Er hatte gemerkt, dass sein Freund nicht reden wollte. Jener sah ihn ratlos an. „Man kann sich bequemere Sofas leisten. Jetzt wirst du morgen keine Rückenschmerzen haben, wenn du aufstehst.“, meinte der Schwarzhaarige grinsend. Der Gitarrist lachte zustimmend. Wenig später wünschten sie sich eine gute Nacht und gingen schlafen. Farin stand sehr früh auf, denn er wollte gleich den ersten Zug nehmen. Bela schlief noch, er wollte ihn nicht wecken. Bevor er ging, schrieb er jenem aber noch einen Brief: Hey, Felse! Also erstens, sorry, dass ich schon weg bin, aber ich wollte dich nicht wecken. So und jetzt zu zweitens: ich muss es dir einfach schreiben, weil ich bei einem Gespräch nicht die richtigen Worte hätte finden können. Ja, du hattest Recht, als du gefragt hast, ob etwas nicht in Ordnung wäre. Du hattest Recht, als du gemeint hast, dass ich vor etwas flüchten würde. Ich flüchte tatsächlich vor etwas. Vor etwas, dass sich Gehirntumor nennt. Ich wollte es dir schon viel eher sagen, aber ich habe nie die richtigen Worte finden können. Es tut mir Leid, dass ich dich angelogen hab…aber, wie gesagt – was hätte ich denn sagen sollen? Ich hatte nie vor, dich zu verletzen, aber ich kann verstehen, wenn du jetzt wütend auf mich bist. Weißt du, damals, als Inge starb, da warst du so fertig und du hast gesagt, dass du das nie wieder durchmachen willst. Ich wollte es dir einfach ersparen… Aber die Wahrheit ist: ich brauche dich! Lg Jan Kleine Tropfen verirrten sich auf den Boden und vereinzelte trafen auch das Papier. Aber er ließ es geschehen. Sollte Bela doch merken, dass er geweint hatte. Mit der Hoffnung, dass sein Freund nicht allzu lange auf ihn böse sein würde, verschwand er aus dessen Wohnung und ging zum Bahnhof. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)