Heroes von Tricksy ================================================================================ Kapitel 7: Seven ---------------- „Masa! Warte!“ Karyu hallte seine eigene Stimme in den Ohren nach, was er ziemlich eigenartig fand. Immerhin stand er nicht in einer großen Halle, oder ähnlichem, sondern auf einem Spielplatz unter freiem Himmel. Er beobachtete, wie sein Bruder durch den Sand stiefelte, direkt auf eine Schaukel zu. Es war schon später Nachmittag, ein schöner Tag Anfang Mai. Außer den beiden befand sich keiner mehr hier. Karyu sah nur eine Amsel, die kurz auf einer Bank landete, ihr Gefieder plusterte und dann weiterflog. „Masa!“ Wieder dieses Hallen, aber er achtete nicht mehr darauf sondern ging seinem Bruder hinterher. Masa setzte sich auf die Schaukel, nahm Anlauf und schwang drauf los. Karyu blieb daneben stehen und beobachtete ihn. Er rief ihn noch einmal, doch er reagierte nicht. Das Knarren der Eisenketten durchbrach die von warmer Luft angehäufte Stille. Vor und zurück, vor und zurück, und das Geräusch beruhigte Karyu, auch wenn er sich wunderte, warum sein Bruder nicht reagierte. Er war ja nicht gerade ein kleiner Mann, und eine laute Stimme hatte er auch. „Komm schon! Ich weiß, dass du mich siehst und hörst- und wasweißich!“ Es veränderte sich nichts, Masa schaukelte in aller Seelenruhe weiter. Hin und wieder sah er sich um, warf einen Blick über die Schulter hinter sich. Aber Karyu bemerkte er trotzdem nicht. In dem kroch langsam aber sicher die Wut hoch. Die Wut, die einen überfiel, wenn der kleine Bruder nicht tat, was man ihm sagte. Aber mit einem Mal wunderte er sich. Masa konnte doch nicht älter als neun oder zehn Jahre sein. Er selbst allerdings war erwachsen, das wusste er. Siebenundzwanzig Jahre alt. Ehe er sich fragen konnte, was um alles in der Welt das ganze sollte, raschelte es in einem nahen Gebüsch. Karyu fand es beruhigend, dass wenigstens sie beide es gehört hatten und griff automatisch an seine Hüfte. Der Waffengurt fehlte, er trug Alltagskleidung. Es raschelte noch ein weiteres Mal, dann trat ein Junge hervor. Vielleicht dreizehn Jahre alt. Karyu stockte für einen Moment der Atem, als er realisierte, dass er sich selbst sah. Seine Schultern sackten herab, während er fasziniert und mit offenem Mund sich selbst beobachtete, wie er keuchend hinter dem Busch hervorstieg, sich die Hose abklopfte und auf Masa zuging. „Ich wusste doch, dass du hier bist!“ Masa antwortete auch diesem Karyu nicht, und irgendwie rief das im erwachsenen eine gewisse Genugtuung hervor, auch wenn das völlig lächerlich war. Er sah zu, wie Masa langsam abbremste und sich seine jüngere Ausgabe neben ihm auf eine Schaukel setzte. Die Brüder blickten einander an und Karyu kam sich mit einem Mal so überflüssig vor, dass es ihm fast wehtat. „Was machst du hier?“, fragte der Karyu auf der Schaukel. Masa sah ihn weiterhin an, wandte dann seine Augen ab und begann wieder ein wenig vor und zurück zu schwingen, aber nur sehr leicht. „Streiten sie denn noch?“ „Nein, aber was machst du hier?“ „Es war mir zu laut zuhause.“ Karyu stand steif da und lauschte dem Gespräch. Er begann sich allmählich zu erinnern. „Du kannst wiederkommen, sie haben aufgehört. Wirklich.“ Der junge Karyu grinste gequält und der andere konnte in seinem Gesicht sehen, was er dachte, denn das waren vor Jahren seine eigenen Gedanken gewesen. Im Moment stritten ihre Eltern nicht mehr. Aber es würde wieder anfangen, wieder aufhören, wieder anfangen, und er selbst und sein Bruder – Yoshitaka und Masa Matsumura – hatten darunter zu leiden. Karyu schloss die Augen und lauschte weiter. „Irgendwann wird es ganz aufhören, Masa. Ganz bestimmt. Es passiert doch schon viel seltener als sonst.“ Die beiden Jungen auf der Schaukel verfielen in Schweigen. Die Sonne, die langsam hinter den riesigen Gebäuden Tokyos verschwand, ließ die Geräte auf dem Platz lange Schatten werfen, und auch die Körper der Schaukelnden zogen sich in die Länge. Nur an Karyu änderte sich nichts. Ganz so, als wäre er nicht einmal da. Seine Gedanken kreisten um diesen Tag, um den sechsten Mai vor vierzehn Jahren. Es war Masas zehnter Geburtstag gewesen, und als er das für voll nahm, schlug er die Augen wieder auf. „Masa?“ „Ja?“ „Du brauchst keine Angst haben. Es gibt keinen Grund für dich, Angst du haben. Und selbst wenn, dann bin ich doch da. Wir gehören doch zusammen, oder etwa nicht?“ „Doch, das tun wir.“ „Ich werde auf dich aufpassen und dich beschützen, verlass dich drauf. Egal was passiert.“ Er, Karyu, hatte ihm an diesem Tag ein besonderes Geschenk gemacht. „Versprochen?“ Ein Versprechen. „Versprochen.“ Ein Versprechen, das er nicht gehalten hatte. Karyu konnte in der untergehenden Sonne gerade noch erkennen, wie sich ein Lächeln auf die beiden Gesichter legte und wie sie mit der Hand einschlugen. Dann schien das Licht so schnell zu weichen, dass es alles mit sich zog. Die hohen Gebäude, den Spielplatz, die Schaukel, auf der Karyu mit seinem Bruder saß, und schließlich die beiden selbst. Zurück blieb nichts, und Karyu wachte auf. Stöhnend riss er seinen Kopf hoch, als Micawber, wie von allen guten Geistern verlassen, seine ganze Wohnung zugrunde bellte. Karyu ruderte mit seinen Armen und versuchte schlaftrunken, die Decke beiseite zu schleudern, was er auch letztendlich schaffte. Erst jetzt realisierte er, dass es klingelte. Und das direkt an seiner Wohnungstür. Augenrollend und schnaufend schwang er seine Beine aus dem Bett und torkelte den Flur in Richtung Tür entlang. In gesunden Zwei-Sekunden Abständen erklang der entnervende Ton immer wieder aufs Neue. Wer da auch immer im Treppenhaus stand, wollte, dass man ihn schnell reinließ, aber er wollte auch nicht aufdringlich sein. Raffinierte Strategie, das musste Karyu ihm lassen. Aber er war trotzdem angepisst. Mit einem tiefen Seufzen zog er die Tür auf. Und vor ihm stand Tsukasa. Die Müdigkeit fiel mit einem Mal von ihm ab und er starrte ihn eine ganze Weile so an, als sähe er einen Geist. Tsukasa musterte ihn von oben bis unten und auf sein Gesicht legte sich ein Grinsen, doch er verdrängte es und blickte Karyu völlig ernst in die Augen. „Hätte ich jetzt noch ein Tablett, dann würde ich sagen, dass das eindeutig ein Déja Vue ist.“ Karyu verstand nicht sofort, dann erstarrte er und blickte selbst an sich herunter. Seine Hand schlug sich wie von allein gegen seinen Kopf. Vielleicht wäre es ratsam gewesen, sich etwas anzuziehen. Tsukasa lachte und Karyu machte ihm Platz, damit er eintreten konnte. „Was machst du so früh hier?“, fragte er, noch immer perplex, während er die Tür schloss. Dass er nichts anhatte, schien ihn im Nachhinein nicht sehr zu stören. „Es ist doch erst... oh.“ „Ja, oh. Es ist zwei Uhr.“ Karyu wandte seine Augen von der Wanduhr ab, beobachtete wie Tsukasa in seiner Küche verschwand und folgte ihm. Um die Ecke blickend sah er, wie er zwei große Tüten abstellte, die er vorher gar nicht bemerkt hatte. Er blinzelte ungläubig. „Du warst einkaufen?“ „Einer muss es ja machen. Ich frage mich, wovon du hier lebst.“ Tsukasa stemmte seine Hände in die Hüfte und drehte sich zu ihm um. Als sich ihre Blicke trafen, fühlte sich Karyu ganz plötzlich unheimlich wohl und er wäre am liebsten zu ihm getreten und hätte ihn in die Arme genommen. Als ihm dieser Gedanke kam, schob sich Micawber hechelnd an ihm vorbei und hielt auf Tsukasa zu. Der lachte, bückte sich und begann dieses Biest zu streicheln und zu kraulen. Karyu schnaufte und zog eine Schnute. Aber vielleicht sollte er sowieso erst einmal duschen. Das kalte Wasser preschte ihm den Rücken entlang und sein ganzer Körper zuckte einmal heftig zusammen. Mit knirschenden Zähnen kniff er die Augen zusammen und gewöhnte sich allmählich an die Kälte, bis sie ihn nicht mehr störte. Er erinnerte sich an seinen Traum, erst sehr dumpf und je mehr er versuchte, sich zu entsinnen, wurde alles noch dumpfer. Erst als er sich entspannte, kamen die ganzen Einzelheiten zu ihm zurück. Ein später Tag im Mai – Masas Geburtstag – der Spielplatz, Karyu, wie er seinen Bruder damals außer sich vor Sorge gesucht hatte. Es wurde ihm klamm in der Brust und er legte seine Hände an die kühlen Fliesen. Er war kein böser Traum gewesen, aber auch kein guter. Es war schlichtweg eine beinahe neutrale Erinnerung, die aber trotzdem wehtat, gerade weil alles wahr war. Karyu dachte daran, wie er Tsukasa erzählt hatte, wie sein Bruder gestorben war – und wie er dieses grausige Erlebnis durch seine Anwesenheit schnell wieder an seinen rechtmäßigen Ort verbannt hatte: In die kleine Abstellkammer, hinten in seinem Kopf, extra angefertigt für grausige Erlebnisse, derer Karyu in seinem Beruf auch nicht wenige hatte. Seine Gedanken wanderten zurück zu Tsukasa, und er nahm sich vor ihm von diesem Traum zu erzählen, nur um einen verständnisvolles Schweigen zu ernten, und vielleicht einen Kuss, der ihn alles wieder vergessen ließ. Andererseits konnte er auch wieder vergessen, ohne zu erzählen. Die bloße Anwesenheit dieses Mannes ließ ihn aufatmen und unangenehme Dinge verdrängen, wenn er es nur zuließ. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, dann begann er am Regler zu drehen, und warmes Wasser lief seine Haut hinab. Fortschrittlicherweise mit einer Hose bekleidet und ein Shirt in der Hand hin- und herschwingend machte Karyu sich wieder auf den Weg in die Küche, als er Tsukasa nirgends fand. Schon in den Moment, in dem er sich vorgenommen hatte, ihn dort zu suchen, hatte sich ein angenehmer Duft in seine Nase geschlichen. Von dem geleitet stand Karyu bald wieder im Türrahmen, lugte in den Raum hinein und erblickte Tsukasa, der mit dem Rücken zu ihm stand und mit einer Pfanne hantierte. Er beobachtete ihn, er beobachtete diesen Rücken, der von einem dünnen, schwarzen Mantel verdeckt wurde, die Haare, die im hereinbrechenden Licht kupfern leuchteten. Er beobachtete seine ruhigen Bewegungen und wie er den Kopf zur Seite wandte und leise lachte, weil Ryuutarou neben ihm saß und ab und an sein Bein antippte. Er hatte es schon gewusst, schon eine ganze Weile, aber in diesem Moment brach die Erkenntnis so schlagartig und wohltuend über Karyu herein, dass er eine Gänsehaut bekam: Tsukasa war das Schönste und Wertvollste, was es gab auf der Welt, und er, Yoshitaka Matsumura, durfte ihn küssen und berühren und bei ihm sein. Auf eine Art, wie es kein Anderer durfte. Mit zitterndem Atem betrat er endlich die Küche und ging mit langen, leisen Schritten auf Tsukasa zu. Er lächelte, als dieser ihn nicht bemerkte, ging noch ein wenig näher heran, ließ das Kleidungsstück auf einen Stuhl fallen und beugte seinen Kopf vor. Er sah aus niedergeschlagenen Augen, wie Tsukasas Körper an Spannung gewann, und wie er anfing leise zu lachen, während Karyus Nase in seinen Haaren verschwand und deren Geruch gierig in sich aufsog. Es roch definitiv nach Haaren, kein Zweifel, aber nach Tsukasas Haaren, und das gefiel ihm ungemein. Karyus Hände legten sich auf seine Oberarme, strichen sie hinunter und verweilten bei seinen Handgelenken. Tsukasa wand sich in seinem leichten Griff und umschloss seine Hände. Er hatte aufgehört zu lachen, aber sein Körper schüttelte sich noch ein wenig, und er legte seinen Kopf in den Nacken, als Karyus Gesicht ihn zu sehr kitzelte. Der sah seine Augen, die lachend und fragend zu ihm aufsahen, und deren Note sich veränderte, als sie lange genug in Karyus blickten. Er ließ seine Hände los, zog seinen Kopf zurück und drehte sich um zu ihm, Ryuutarou berührte ihn wieder am Bein, aber dieses Mal rührte Tsukasa sich nicht. Karyu erwiderte den Blick ohne nur einmal fortzusehen, und er fühlte, wie Tsukasas Hände zitterten, als sie sich auf seine bloßen Arme legten. Er wusste, dass sie stundenlang so stehen könnten, ohne sich zu bewegen, nur stumme Blicke tauschend, und Karyu hätte sich für diesen Moment kein größeres Glück vorstellen können. Aber er entschied sich anders und beugte sich zu ihm hinunter, nahm sein Gesicht in die Hände und küsste ihn so intensiv, als hätte sich dieses Vorhaben schon die ganze Zeit in ihm angestaut. Tsukasas Hände krallten sich in Karyus Arme, er öffnete seine Lippen und der Kuss vertiefte sich bald von allein. Die zitternden Hände wanderten weiter, umklammerten Karyus Nacken, und auch der ließ seine Arme sinken, schlang sie um Tsukasas Hüften und ließ sie dort ruhen. Karyu selbst war erschrocken darüber, wie sie sich auf einmal fallen ließen, aber es tat gut und er wollte nicht, dass es so plötzlich endete. Er erinnerte sich an die Nacht im Krankenhaus, in der sie sich das erste Mal geküsst hatten. Sie hatten alles ausgeblendet, außer den eben Anderen, hatten vielleicht sogar sich selbst vergessen, und gesellschaftliche Grenzen übersprungen, als wären sie lachhaft kleine Zäune. Hier taten sie es auch, und hier konnten sie es tun, wann sie wollten. Karyu seufzte halb wohlig, halb enttäuscht, als Tsukasa die Lippen von ihm löste. Sie betrachteten sich gegenseitig, und drückten sich aneinander, aber ohne das sie die Augen von einander abwandten. Im Hintergrund hörte Karyu das leise Brodeln der Pfanne, das erst jetzt wieder Gestalt in seinem Kopf annahm. Tsukasa lächelte und strich ihm durch die noch ein wenig feuchten Haare. „Ich habe was Zuessen gemacht.“ „Das habe ich mir beinahe gedacht.“ Karyu lachte und gab ihn frei, wenn auch nichts ganz freiwillig. Immerhin wollte er ja nicht, das irgendetwas anbrannte. Während er zusah, wie Tsukasa sich wieder wegdrehte, ließ er sich auf einem Stuhl nieder, nahm das Shirt auf und zog es über. „Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde.“ „Ich auch nicht.“ Karyus Gelächter erklang erneut, und dieses Mal stimmte Tsukasa unweigerlich mit ein. Seine Augen sogen sich wieder an seinem Rücken fest; er nahm nur beiläufig wahr, wie Ryuutarou miaute und sich von dannen machte. Die Sonne verschwand für eine Weile hinter einer Wolke und tauchte die Küche in trübes Licht. „Tsukasa?“ „Ja?“ Karyu lehnte sich zurück, überschlug seine Beine und atmete zu seiner eigenen Überraschung völlig entspannt aus, ohne es eigentlich zu wollen. „Ich muss nachher mit den Hund raus. Du kommst doch mit?“ Er sah zu, wie Tsukasa nickte, von seinen Händen aufblickte und seinen Blick nach draußen wandte. „Zieh dich warm an. Es ist sehr kalt draußen, für den Sommer.“ Tsukasa kniff seine Augen ein wenig zusammen, als ein Windstoß sein Gesicht streifte. Als er vorübergezogen war, beobachtete er Micawber, der geradezu in einen wilden Galopp verfiel und über eine üppige Rasenfläche preschte. Nicht weit von Karyus Block entfernt lag eine Parkanlage mit einem Schrein, die sie um des Hundes Willen aufgesucht hatten. Auf dem Weg hierher hatte Karyu sich darüber empört, dass Micawber in Tsukasas Beisein brav tat, was man ihm sagte und er meinte, dass es wahrscheinlich nur der Vorführeffekt sei. Der verschwände wieder, wenn er sich erst daran gewöhnt hatte, Tsukasa öfter zu sehen. Diese Worte hatten eben diesen wachgerüttelt. Karyu hatte recht, sie würden sich öfter sehen – viel öfter – und dieser Gedanke beruhigte ihn genauso sehr, wie er ihn nervös machte. Irgendwann, schließlich, musste er vor seine Eltern treten. Der Tag wird kommen, dachte er sich und verdrängte es schnellstmöglich wieder aus seinem Kopf. Als sie im Park angelangt waren, hatte Karyu Micawber von der Leine gelassen und zugesehen, wie er sich bellend von dannen machte. Er grinste breit, und Tsukasa wusste, dass ihm viel an dem Tier lag. Auch wenn er es nicht zugeben würde. Karyu trat zu ihm, schob einen Arm hinter seinen Rücken und zog ihn ein wenig zu sich. Tsukasa stutzte und sah sich beinahe reflexartig um. Die Menschen hatten sich weitläufig verteilt, an diesem kühlen Tag war kaum einer draußen. Als er das realisierte, entspannte er sich wieder. Ihm fiel auf, das Karyu in den belebteren Straßen von ihm abgelassen hatte, wohl noch immer aus Rücksicht auf ihn. „Du hattest recht, es ist ziemlich frisch.“ Karyu zog seine Schultern hoch und schüttelte sich, Tsukasa lächelte flüchtig, sah sich ein letztes Mal um und legte schließlich einen Arm um Karyus Taille. Dessen Lachen ertönte mit einem Mal, erst leise, dann etwas lauter. Tsukasa warf leicht verunsichert einen Seitenblick auf ihn, und erntete ein verständnisvolles Grinsen. „Du machst dir immer noch Gedanken, was? Vorhin sah das noch ganz anders aus.“ „Da wurden wir auch nicht von Leuten begafft, die sich von Übelkeit geschüttelt von uns abwenden.“ „Hier doch auch nicht.“ „Im Moment nicht, aber- ach egal.“ „Aber was?“ Karyu lachte erneut auf und begann mit einer Hand, Tsukasas Haare zu ordnen, die der Wind zerwühlt hatte. Als er nicht antwortete, seufzte er. „Ich kann mich nicht daran erinnern, das irgendetwas Schlimmes geschehen sein sollte. Denk an deine Kollegen, die haben es... na ja... freudenvoll aufgefasst.“ „Sie haben ja auch Geld bekommen.“ Tsukasa legte den Kopf in den Nacken und blickte in die bleiche Sonne, die sich hinter einer verschleiernden Wolkendecke versteckte. „Es wird wohl eine Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe. Ich habe mich immerhin nicht gerade darauf vorbereitet, mit einem Mann zusammen zu sein.“ „Dann lass dir Zeit. Alle Zeit der Welt.“ Ehe Tsukasa antworten konnte, ergriff Karyu seine Hand und zog ihn in Richtung einer niedrigen Mauer. Er blinzelte verwirrt und setzte zum Wort an, aber bevor etwas herausbekam befand er sich bereits einen guten Meter über dem Erdboden. Mit fragendem Blick sah er zu Karyu auf, der neben ihm stand, mit einem unheimlich übertriebenen Grinsen im Gesicht. „Was soll das werden?“ Noch immer grinsend balancierte Karyu auf dem schmalen Wall hinter Tsukasa, legte seine Hände an seine Hüfte und den Kopf auf seine Schulter. „Regel Nummer eins: Verschaffe dir einen Überblick!“ „Überblick? Worüber?“ „Über die Welt, Schätzchen!“ Karyu lehnte sich zurück und schlug sich theatralisch seufzend eine Hand gegen die Stirn. Da das als allerletztes zu ihm passte, fragte Tsukasa sich kurz, ob er vielleicht krank war, doch er kam nicht umhin zu lachen. „Wenn du die Welt kennst, dann kennst du deinen Feind. Und den sollte man kennen, wenn man überleben will.“ „Wir sind hier in Tokyo und nicht im Dschungel.“ „Schon, aber du sagtest doch vorhin selbst, was du fürchtest.“ „Ich kann mich nicht daran erinnern, irgendetwas von Furcht gesagt zu haben.“ Mit den Augen rollend drehte Tsukasa sich zu Karyu um, rutschte mit dem Fuß ab und krallte sich in seinen Mantel um nicht abzurutschen. Der schlang seine Arme um Tsukasas Rücken, um seinen Stand zu sichern. In dem Moment hörten sie Schritte auf den Kiesweg neben ihnen und blickten hinunter. Vorbei schlenderte ein älterer Mann, der sie – bei ihnen angekommen –einer distanzierten Musterung unterzog und schließlich vorüber ging. Tsukasa und Karyu sahen ihm eine Weile nach, bevor Letzterer sich räusperte und dem Mann präsentierend hinterher zeigte. „Darf ich vorstellen? Die Furcht! Die Furcht davor, verstoßen zu werden.“ Tsukasa runzelte die Stirn und ließ es zu, dass Karyu ihm liebevoll durch die Haare fuhr. Beinahe so, als würde er jetzt genau wissen, was Tsukasa dachte. „Dafür, dass ich der erste Mann bin, mit dem du dein Bett teilst, scheinst du dich ja auszukennen.“ „Das hat doch rein gar nichts mehr mit uns zu tun.“ Karyu seufzte leise und seine Hand hielt inne. Dann blickte er zum Himmel auf. „Es liegt in der Natur der Menschen davor Angst zu haben, nicht akzeptiert zu werden. Aus welchen Gründen auch immer. Ob man selbst Schuld daran trägt, oder ob es einfach passiert. Jeder hat Feinde. Ob kleine oder große, das ist egal, sie sind immer da. Man kann nun einmal nicht erwarten, dass die Welt perfekt ist.“ „Hast du das nicht einmal?“ „Da war ich noch ein kleiner dummer Junge. Seitdem ist viel passiert. Vielleicht sogar etwas zu viel.“ Karyu lächelte, senkte seinen Blick wieder und fuhr mit seinen Fingern die Konturen von Tsukasas Gesicht nach. Der erwiderte das Lächeln und legte seine Arme um ihn, seine Augen versuchten jede Einzelheit Karyus in sich aufzunehmen. Die Augen, die Nase, den lächelnden Mund. Die Blätter der Bäume über ihnen begannen im aufkommenden Wind zu rascheln, als sie sich küssten. Die Luft drückte die beiden ein wenig nach vorne, weshalb sie lachend den Kuss lösten und sich umklammerten. Sie fingen sich wieder, und Tsukasa begann automatisch, die Haarsträhnen aus Karyus Gesicht zu streichen. Während er das tat, fühlte er, wie sich dessen Augen in ihn bohrten. „Tsukasa?“ „Ja?“ Karyu schien einen Moment lang zu zögern und kurz dachte Tsukasa, dass er es sich anders überlegt hatte und nichts mehr sagen würde. Dann zuckten seine Mundwinkel und Tsukasa sah abwartend zu ihm auf. „Ich hatte da einen Traum, letzte Nacht...“ „Warte... Moment... hier-“ „Pass auf, die Kante!“ “So.“ „Geht’s so?“ Tsukasa nickte und schmiss das Kissen, das er gerade unter sich hervorgezogen hatte, neben sich. Dann stieß er sich an der Holzlatte, vor der Karyu ihn gerade noch gewarnt hatte und sog die Luft scharf ein. Der grinste und rückte zwischen Tsukasas Beinen hin und her, um eine angenehme Position zu finden. „Ich hab ja gesagt, pass auf. Gott, ich glaube der ganze Scheiß war einfacher, als wir besoffen waren!“ „Gestern haben wir es ja auch hingekriegt.“ „Wohl ein Glückstreffer.“ Karyu rückte ein Stück nach oben und streckte seinen Arm aus um an den Nachttisch neben seinem Bett zu kommen. Tsukasa prustete unter seinem ganzen Gewicht, das jetzt auf ihm lag. „Jetzt stell dich nicht so an, ich- die scheiß Schublade klemmt!“ Karyu biss die Zähne zusammen und begann mit aller Kraft an dem Knauf zu rütteln, doch es bewegte sich rein gar nichts. „Dann hiev dich mal hoch, ich probiers- au! Passt mit deinen Armen auf!“ „Sorry, ich-“ Weiter kam er allerdings nicht, Tsukasa hatte sich mit aller Kraft gedreht um selbst an den Nachttisch zu gelangen, weshalb Karyu von ihm herunterrollte, sich in das Bettlaken krallte aber letztendlich doch auf dem Boden landete. Im gleichen Moment schaffte es Tsukasa, die Schublade mit einem kräftigen Ruck zu öffnen, sodass sie aus der Verankerung riss. Verwundert darüber, dass er sie gleich in der Hand hatte, und dank des Rückstoßes verlor er das Gleichgewicht und landete direkt auf Karyu, der es mit einem Keuchen honorierte. Die Schublade selbst kam nur wenige Zentimeter neben ihren Köpfen auf dem Boden auf und der Inhalt ergoss sich über den Lamynaht. Für einen Augenblick herrschte Stille, und beide starrten sich keuchend an, dann brachen sie in Gelächter aus. Tsukasa griff nach einem der Kondome und platzierte es auf Karyus Brust. „Bitte, der Herr. Die wolltest du doch?“ An der Zimmerdecke tanzte der Schatten von Karyus Arm, der einmal herumschwenkte und irgendetwas an der Kommode tat. Es klapperte kurz, dann erklang ein Seufzen und Tsukasa grinste. „Ganz ehrlich, das Ding ist hinüber. Ich hätte ja nicht gedacht, dass du so viel Schmackes drauf hast.“ „Willst du mir damit sagen, dass du mich für einen Schwächling hältst?“ „Quatsch!“ Tsukasa sah aus den Augenwinkeln wie Karyu sich kurz aufbäumte um einen Blick auf seinen Bauch zu erhaschen, auf den Tsukasa seinen Kopf gebettet hatte. Er fühlte, wie sich unter ihm die Muskelstränge anspannten und wieder erschlafften, als Karyu sich wieder zurückfallen ließ. „Dass du kein Schwächling bist, liegt doch auf der Hand. Außerdem hast du es mir schon mehr als überzeugend bewiesen.“ Tsukasa entging nicht der anzügliche Unterton in Karyus Stimme und er musste erneut grinsen. Er seufzte fast lautlos, als sich seine Augen erneut an die Decke hefteten, an der nun nur noch die einsamen Lichtkegel zweiter kleiner Lampen zu sehen waren. Eine ganze Weile lagen sie so da, völlig reglos und entspannt, und Tsukasa fühlte unter sich, wie sich Karyus Körper beim Atmen hob und senkte. Diese Bewegung lullte ihn völlig ein, und er bemerkte erst sehr spät, dass Karyus Hand durch seine Haare strich. Seine Finger begannen die Konturen von Tsukasas Stirn nachzuziehen, und der schloss die Augen um es zu genießen. Wohlig seufzend nahm er wahr, wie die Fingerkuppen weiterwanderten, seine Schläfen entlang, seine Wangenknochen, und dann seinen Kiefer hinab. Tsukasa bewunderte die Zärtlichkeit, mit der Karyu ihn behandelte und genoss sie umso mehr. Er dachte daran, wie intensiv er ihn geliebt hatte, und während ihm heiß im Gesicht wurde und sich ein Rotschimmer auf seine Züge legte, verglich er diese Zügellosigkeit mit den zaghaften und sanften Berührungen auf seiner Haut, die er eigentlich kaum spürte. Karyu hatte mehr als zwei Seiten oder drei. Eine ganze Menge mehr, von denen Tsukasa bis jetzt nur Ansätze kannte. Aber er hatte genug Zeit. Dass die Nacht bereits vollständig hereingebrochen war, merkten sie nur beiläufig. Tsukasa sah erst nach draußen, als Karyu sich auf die Seite drehte und er deshalb zwangsläufig den Kopf heben musste. Nach einem kurzen Blick in die Dunkelheit wollte er es sich nun auf Karyus Hüfte bequem machen, doch er entschied sich anders und krauchte die Matratze herauf, bis er wieder mit Karyu Kopf an Kopf lag. Als er sich ins Kissen sinken ließ, erstarrte er sofort unter Karyus Blick. Es war ein schönes Erstarren, irgendwie war es so, als würde er auf Foto sehen und darin versinken. Karyus Augen streichelten Tsukasas Gesicht, und auf seine Lippen legte sich wieder dieses Lächeln, was er so unheimlich liebte. Eine Hand strich ihm über die Seite, und sofort drückte er sich an den warmen Körper, fühlte gerade noch, wie Karyu die Arme um ihn schlang und ihn noch enger an sich zog, bevor er die Augen schloss und einschlief. Tsukasa erwachte weder wegen aufkommenden Lärmes, eines schlimmen Traumes, oder weil ihm vielleicht irgendein Licht direkt ins Gesicht schien. Sondern weil es plötzlich so kalt um ihn war. Müde tastete er mit der Hand um sich, befühlte die Decke, die er bis an sein Kinn hinaufgezogen hatte und dann den Platz neben sich. Was in seine Hände gelangte, war ein Stück zurückgeworfener Decke und ein kühles Laken. Als der Schlaf allmählich verflog und sich seine Gedanken ordneten, realisierte er, dass Karyu nicht da war, wo er eigentlich sein sollte. Mit einem leisen Brummen setzte Tsukasa sich auf und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Er blickte einmal um sich und sah zu den hohen Fenstern hinaus, durch die das fahle Licht des Nachtlebens in das Schlafzimmer drang und alles in ein ermüdendes, schummriges Licht tauchte. Eines der Fenster war zur Seite geschoben, weshalb ein frischer Wind hereinwehte. Direkt dahinter befand sich ein schmaler, balkonähnlicher Gang, auf den man hinaustreten konnte. Tsukasa konnte Karyus Silhouette sehen. Mit einer fließenden Bewegung rutschte Tsukasa zum Bettrand, stand auf und wickelte die dünne Decke um seinen Körper. Langsamen Schrittes ging er auf die Fensterreihe zu und blieb im Rahmen, der ihn nach draußen führte, stehen. Er sah erwartungsvoll auf Karyu hinab, der sich an den Rand des Ganges gesetzt hatte und seine Beine - die immerhin in einer Hose steckten – durch das Stahlgeländer in die Tiefe baumeln ließ. Seine Hände hatten sich um zwei stabile Stangen gelegt, seine Stirn lehnte an einer dritten. Als Tsukasa bewusst wurde, dass Karyu sich nicht einfach so umdrehte, überbrückte er mit einem großen Schritt den restlichen Raum, der zwischen ihnen lag. „Hey“, sagte er leise und lächelte dabei besorgt, während er neben Karyu am Geländer zum Stehen kam. Der zuckte leicht zusammen und legte ruckartig seinen Kopf in den Nacken. Seine Augenlider hatten sich halb gesenkt, und unter seinen Augen zeichneten sich tiefe Schatten ab. Als er Tsukasa wahrnahm, lächelte er, und man konnte fast meinen, er fühlte sich auf irgendeine Weise ertappt. Tsukasa zog die Decke fester um sich, als ein leichter Windstoß aufkam und ließ sich neben Karyu in den Schneidersitz sinken. Sie blickten einander noch eine Weile an, dann sahen sie gemeinsam in den tokyoter Verkehr, der unter ihnen in den Straßen tobte. „Was machst du hier?“ Karyu antwortete nicht sofort, sondern wandte Tsukasa wieder den Kopf zu, grinste gequält und strich ihm einmal flüchtig durch die Haare. Dann seufzte er. „Ich kann nicht schlafen. Ich habe bis jetzt kein Auge zugetan. Und du?“ „Du warst weg, ich bin aufgewacht. Und da habe ich dich hier sitzen sehen.“ Tsukasa zuckte mit den Schultern und lachte halbherzig, bevor er zu Karyu aufsah. Seine Stirn legte sich in Falten, und er zog die Decke wieder etwas fester um sich, da sie sich gelockert hatte. „Stimmt irgendwas nicht?“ „Was?“ Karyu, der sich wieder abgewandt und auf eine der Stahlstangen gestarrt hatte, hob erneut den Kopf und musterte Tsukasa ein wenig verwirrt, dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Ich meine, nein alles in Ordnung.“ Als Tsukasa ihm einen eher weniger überzeugten Blick zuwarf kratzte er sich am Kopf und lachte verlegen. Ohne Vorwarnung zog er seine Beine zwischen den Stangen hervor und rappelte sich auf. „Ich war eben nur in Gedanken. Sieh dir die Leute da unten an!“ Karyu lehnte sich über das Geländer und deutete mit ausgestrecktem Arm in die Tiefe. Tsukasa lehnte sich vor und blickte das Hochhaus hinunter, direkt in den Verkehr, der im Moment mehr stand als fuhr. Er hörte entnervtes Hupen, und sah Warnlichter aufblitzen. Auf den Bürgersteigen herrschte das Gedränge des Nachtlebens, und wenn er genau hinhörte, konnte er ein monotones Murmeln aus dem restlichen Lärm herausfiltern. Er blinzelte als direkt vor ihm eine Hand auftauchte und ihm anbot, aufzuhelfen. Kaum hatte er sie ergriffen, wurde er auch schon hochgezogen, Karyu stellte sich hinter ihn und legte die Arme um seinen Bauch. Tsukasa überkam eine Woge von Geborgenheit und er schloss seine Augen. „Die da unten haben keine Ahnung, dass hier oben zwei halbnackte Kerle stehen und sie beobachten. Sie wissen nicht einmal, dass wir existieren. Sie sehen uns, und auch wieder nicht. Das heißt, sie könnten, wenn sie sehr gute Augen hätten und ihre Blicke heben würden, aber das tun sie nicht.“ Karyu machte eine Pause und hauchte mehrere Küsse in Tsukasas freien Nacken, als fordere er von ihm Bestätigung ein. Die kam in Form eines leisen Lachens und eines darauffolgenden Seufzers, der jedoch eher von den Küssen als von Karyus philosophischen fünf Minuten herrührte. Da ihm das auffiel kam er nicht umhin selbst zu lachen und legte seinen Kopf auf Tsukasas Schulter. „Ich mein ja nur. Der Gedanke ist irgendwie gruselig. Da unten könnte er herumspazieren, dieser Mann, der Masa angeschossen hat. Und ich kann es nicht wissen, so wenig, wie er wissen könnte, dass ich ihn beobachte.“ Mit einem Mal begannen bei Tsukasa sämtliche Alarmglocken zu läuten, und beinahe mechanisch hob er seine Hände vom Geländer und krallte sich in denen von Karyu fest. Der ignorierte es erfolgreich. „Vielleicht ist doch nicht alles in Ordnung. Ich glaube, ich habe Angst davor einzuschlafen.“ Tsukasa öffnete seine Augen, schlug sie jedoch sogleich nieder. Was genau Karyu meinte, war für ihn mehr als offensichtlich. Schon allein, weil er sich furchtbar schwer daran getan hatte, ihm von seinem Traum zu erzählen. Er hatte gemeint, dass er an sich nicht bösartig gewesen war, ihn aber die Tatsache quälte, zu wissen, dass alles so geschehen war. Gegen meine Träume kann ich mich nicht wehren, hatte er gesagt. Und Tsukasa war der Meinung, dass das Karyus Furcht auf den Punkt brachte. Die Furcht vor etwas Imaginärem, das Besitz von ihm ergriff. „Das brauchst du nicht“, sagte er. „Ich bin da.“ Die Welt um ihn herum wirkte irgendwie surreal, als er durch Tokyo wanderte. Er freute sich darüber, dass die Stadt heute so leer war, und wunderte sich gleichzeitig. Aber das hielt nicht lange an, und Karyu setzte unbekümmert seinen Weg fort. Als er jedoch um eine Ecke bog, traf er auf einen so riesigen Haufen von Menschen, dass er erschrocken stehen blieb und die Menge mit seinen Augen durchforstete. Da waren doch gut mehrere hundert Mann, die sich in dieser Straße herumdrückten, miteinander tuschelten und Karyu die Sicht auf einen abgesicherten Bereich versperrten. Neugierig kam er näher, und als er es geschafft hatte, sich einige Meter weiter ins Geschehen zu schieben, sah er blinkende Blaulichter und kurz darauf einen Polizei- und einen Krankenwagen. Langsam aber sicher wurde ihm mulmig zumute, als er die Polizisten beobachtete, die versuchten die Menschenmassen aus der Straße zu lotsen. „Hey! Hey, kann ich hier helfen? Ich- Hallo?“ Der Polizist, dem Karyu sich gerade genähert hatte, lief schnurstracks an ihm vorbei und stellte eine der Absperrungen wieder auf, die umgeworfen worden war. Mit skeptischen Blicken wandte Karyu sich ab und sein Blick fiel erstmals auf den am Boden liegenden, leblosen Körper, über den sich zwei Sanitäter gebeugt hatten. Er konnte einfach so zu ihnen gehen, und keiner sah auf oder hielt Karyu davon ab. Die Männer hoben den Verletzten auf eine Trage, und als Karyu sein Gesicht sah, erstarrte er. Er begann, auf die Sanitäter einzureden, doch sie bemerkten ihn nicht, und trugen Masa zum Krankenwagen hinüber. Hinter sich hörte er aufkommende Rufe der Schaulustigen, drehte sich wutentbrannt zu ihnen um und schrie ihnen in aufkommender Raserei Beleidigungen entgegen, dass sie allesamt erniedrigend und sensationsgeil seien, und dass sie gefälligst ihre Mäuler halten sollen. Hinter sich hörte er die Türen des Krankwagens klappen, und völlig panisch wollte er sich wieder umdrehen, doch nur einen Augenblick vorher fiel ihm ein Mann ins Auge, der sich aus der Menge schob und die Straße verließ. Wie von selbstgesteuert stürzte Karyu ihm hinterher. Seine Beine trugen ihn von allein voran, er schlängelte sich zwischen den Menschen hindurch, die ihn nicht sahen, und fand sich schließlich da wieder, wo er den Mann hatte verschwinden sehen. Gehetzt blickte er um sich und bog dann nach rechts ab. Wieder waren die Straßen leer, und dieses Mal schienen sich die zahlreichen Gebäude in zwei massive Wände zu verwandeln, die langsam aber sicher auf ihn zukamen. Er rannte weiter und weiter, zog seine Dienstwaffe hervor und wurde schneller, als er den Schatten des Mannes sehen konnte. „STEHEN BLEIBEN! POLIZEI!“ Der Mann blieb nicht stehen. Wie Karyu rannte er weiter. Die Wände schoben sich bedrohlich auf ihn zu, aber er ignorierte sie. Karyus Augen lagen auf dem Schatten vor ihm, und er schwor sich, nicht anzuhalten, bis er diesen Dreckskerl eingeholt hatte. Es dauerte nicht lange, und vor ihnen tat sich eine hohe, dunkle Mauer auf. Der Mann vor ihm wurde langsamer, und Karyu konnte jetzt seinen Rücken sehen, dann seinen Kopf, auf dem er einen Hut trug. Als die Mauer nur noch wenige Meter entfernt war, hielt der Mann, drehte sich um und wartete darauf, dass Karyu bei ihm angelangte. Mit schwerem Atem kam der zum Stehen und richtete mit vor Erschöpfung zitternden Armen die Waffe auf den Fremden. Er wusste nicht, wieso er das tat, er wusste bloß, dass es richtig war. „Wer sind Sie?“, fragte er und schluckte seine Anstrengung hinunter. Er bekam keine Antwort, und die Wände kamen noch immer näher. Der Mann hatte den Kopf geneigt, sodass sein Gesicht bis auf seine Mundpartie im Schatten lag. „Wer sind Sie?“, wiederholte Karyu, nun merklich ungeduldiger, aber statt zu Antworten belächelte der Fremde ihn bloß. Bevor Karyu ein drittes Mal ansetzen konnte, trat der Mann einen Schritt auf ihn zu und zog sich den Hut vom Kopf. Was Karyu sah, brachte ihn dazu die Waffe fester zu umklammern und aufzukeuchen. Er kniff die Augen zusammen und drückte ab. Doch nichts geschah. Erschrocken riss er die Augen wieder auf, starrte vom Lauf der Pistole zu Katashi, der noch immer entspannt vor ihm stand und seinen Mund zu einem ekelerregenden Grinsen verzog. Karyu schüttelte energisch den Kopf und drückte noch einmal ab. Katashi verschwand, dieses Mal stand Hetatsu vor ihm, dann Yagasumo, dann Fushimasu... Angst bündelte sich in ihm, während er langsam von diesem Menschen zurückwich. Er konnte kaum noch frei stehen, so sehr drückten die Wände auf ihn, und noch immer erklang das einsame Klicken der Pistole, und immer wieder änderte sich das Gesicht des Mannes. Katashi, Hetatsu, Makoto, Hetatsu, Katashi, Yagasumo, Makoto, Tatsuro... Karyu ließ die Waffe zu Boden fallen, als er von beiden Seiten zusammengedrückt wurde. Ungeheure Schmerzen jagten durch seinen Körper, und er hörte sich selbst etwas rufen, und den Mann lachen, und schließlich wurde es schwarz um ihn. Als er wieder zu sich kam, saß er in dem Krankenwagen, der Masa abtransportierte. Erst nahm Karyu das nicht für voll, noch schlimmer war die Tatsache, dass ihm diese Ruhe die hier herrschte so unheimlich vorkam. Keiner der Sanitäter sah ihn und es wunderte ihn schon gar nicht mehr. Mit bebendem Herzen lehnte er sich über die Trage um einen Blick auf seinen Bruder erhaschen zu können. Sein Gesicht war kalkweiß und Schweiß rann ihm von der Stirn. Als Karyu sich über die Augen rieb und wieder hinabsah, taumelte er erschrocken zurück. Masa war fort. Er war einfach so nicht mehr da. Stattdessen lag da Tsukasa, rang mit seinem Leben und atmete heftig in die Maske, die man ihm aufgesetzt hatte. Karyu verlor den Boden unter den Füßen, als wieder auf die Trage zustürzte. Masa, Tsukasa, Masa, Tsukasa, Masa, Tsukasa... Karyu richtete sich kerzengerade auf und atmete die Luft flach ein und aus, während er gehetzt um sich blickte. Mit fliegenden Fingern fuhr er sich durchs Gesicht und über den nassgeschwitzten Körper. Panisch raufte er sich die Haare und suchte in der Dunkelheit. „Masa... Tsukasa... wo... wo... ich-“ Er zuckte zusammen, als sich eine warme Hand um seinen Oberarm legte und versuchte, ihn wieder zurückzuziehen. Erst wehrte er sich, doch als der sanfte Griff nicht locker ließ begann er sich allmählich zu beruhigen und gab nach. Kaum fand er sich in seinem Kissen wieder rückte ein warmer Körper an ihn heran, wohltuender Atem wurde ihm an den Hals gehaucht und zwei schlanke Arme legten sich um ihn. Als er realisierte, was hier geschah, normalisierte sich sein zitternder Atem und er vergrub sein Gesicht in Tsukasas Halsbeuge, bevor er sich traute, die Augen wieder zu schließen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)