Dona nobis pacem von YoungBlood (Gib uns Frieden) ================================================================================ Kapitel 1: Early september morning ---------------------------------- James William Neattels: „Damals galten die Wünsche der Eltern mehr als die der Kinder. Wir hatten zu gehorchen. Doch Marionetten wurden wir nie, immerhin hatten wir ja uns!“ Die Jahre zogen ins Land, das Land ging in die Jahre und so weiter und sofort! Und diese Jahre nahmen einiges mit sich. Sie nahmen meine Kindheit, meine Freizeit, meine Eltern, meine Freunde und meine Träume mit sich. Das hieß sie nahmen meine frühere Kindheit, meine alten Freunde und meine lebensvollen Träumen. Zurück ließen sie mich. Und zwar eingesperrt in einem Internat in Schottland. Für mich, aufgewachsen in Wales, im Staate Clywd und in dessen Hauptstadt Mold, war Schottland, in der Fife Region ein Ort, wo ich eigentlich nicht sein sollte. Es war einfach falsch. Langsam vergaß ich, wie der Himmel daheim aussah. War der auch so grau trüb wie hier? Oder kam mir das nur so vor? War er zu Haus nicht immer strahlend blau? Oder wünschte ich mir das nur, um diesen Ort hier zu verwünschen? Bei langen Überlegungen kam ich schließlich zu dem Ergebnis, dass ich mir einfach nur verloren vorkam. Seit vier Jahren habe ich nichts anderes als diese Mauern und diese Gebäude und Zimmer gesehen. Meine Eltern waren einfach zu beschäftigt gewesen, um mich abzuholen. Ich hätte auch allein nach Clywd kommen können, aber jedes mal traf genau vor den Semesterferien ein Brief von meinem Dad ein. Und immer war es dieselbe Botschaft: Tut mir leit Junge, aber wir sind in deinen Ferien nicht zu Hause. Wenn du willst kannst du im Internat bleiben oder allein hier her kommen. Sei dir aber bewusst, dass dort niemand auf dich warten wird. Vielleicht klappt es nächstes Jahr. Und so befand ich mich hier. Am Rande der Zivilisation. Am Ende der Welt. Und hier gefiel es mir gar nicht. Das Internat war groß. Es hatte einen riesigen Sportplatz und auf der übrig bleibenden Fläche Felder. Darauf wurde Mais und Getreide angebaut. In den Feldern konnte man sich im Sommer und Herbst gut verstecken, wenn die Pflanzen langsam über deinen Kopf wuchsen. Mitten in den Feldern stand die Kirche. Zu ihr führte nur ein kleiner Weg aus Kieselsteinchen, welcher gerade so breit war, das zwei nebeneinander laufen konnten. Es war Brauch, dass sich jeder Schüler vor dem Frühstück hier einfand und mindesten zehn Minuten betete. Das wurde auch streng kontrolliert. Unser Priester Steckte jedem Schüler eine Uhr in die Tasche, welche auf 12.00 Uhr gestellt war und dann weiterlief. Um 12.10 Uhr dürfte man dann gehen. Die vier Hauptgebäude aus denen das Internat bestand bildeten ein U, sodass der Raum dazwischen als Gartenanlage diente. Hauptgebäude drei und vier enthielten Klassenräume, Labore, Studienräume, Bibliotheken und Prüfungsräume. Hier verbrachten wir unseren Vormittag. Hauptgebäude zwei beherbergte unsere Zimmer, Lern- und Vorbereitungsräume, Waschräume für jede Klassenstufe, sowie ein paar Krankenzimmer. Meistens waren wir den restlichen Nachmittag hier. Und auch wenn wir nicht lernten, hatten wir genug auf unseren Zimmern zu tun. Es galten hier streng einzuhaltende Regeln, zum Beispiel mussten die Zimmer nach dem Frühstück aufgeräumt und sauber sein, und auch am Abend gab es eine Inspektion. Schulsachen mussten ordentlich verstaut und persönliche Dinge nicht zu sehen sein. Wir fanden zwischen unseren Aufgaben und Pflichten auch genug Zeit für uns, wenn wir wenig zu lernen oder einfach keine Lust hatten. Vor allem Abends saßen wir im Freundeskreis zusammen auf den Zimmers. Schließlich kommen wir zu Hauptgebäude eins. Hier befanden sich Speisesaal, Empfangssaal, die Prüfungssäle der Abschlussklassen, Privaträume der Lehrer, Waschräume, im Keller die Küche, der Heizungsraum und eine Nachrichten-Funk-Kabine. Hier waren wir eigentlich am wenigsten, nur zum Essen und am Anfang des Schuljahres bei den Empfängen. Was wir allerdings heimlich erkundigt haben war die Nachrichtenkabine. Hier lagerten Radios und alte nichtzustellbare Briefe. Und wir konnten uns nicht zurückhalten und entwendeten eines der wertvollen Radios. Das hieß Kontakt zur Außenwelt, und den brauchten wir dringend. Allgemein war es hier streng, strenger als früher in meiner Grundschule. Strenger als bei meinem Dad in Wales. Und das obwohl ich immer von Dad dachte, die Armee hätte ihn zu einem Stein gemacht. Wir waren am Anfang unserer Schulzeit in drei Hauptklassen unterteilt worden. Die Sportklasse hatte jeden Nachmittag drei Stunden Gymnastik, Ballsport und Konditionstraining. Auf dem Sportplatz, sah man die Jungen und Mädchen täglich schwitzen, in ihren kurzen weißen Shorts und den grünen T-Shirts mit dem Schullogo. Nur an den Wochenenden hatten sie Trainingsfrei. Oft sah ich ihnen zu, wie sie Fussball spielten, wie sie den Fussball durch die Luft schossen und bei jedem Tor jubelten. Denn ich war nicht in der Sportklasse. Ich wäre gerne. Ich wollte das sogar. Jedoch sahen meine Eltern das völlig anders. Mein Dad hatte mir in den Sommerferien nach der ersten Klasse Predigen gehalten, darüber wie sinnlos der Traum sei, ein Fussballstar zu werden. Wie schwachsinnig es sei davon zu träumen ein Sportler zu werden! Also haben meine Eltern damals beschlossen mich nicht in die Sportklasse zu schicken, so wie ich es mir gewünscht hätte. Die zweite Klasse beschäftigte sich größten Teils mit der Wissenschaft und dem Erforschen. Wenn die Sportler nachmittags draußen ihre Übungen machten, saßen die Wissenschaftler in ihren Laboren und sahen durch ihre Mikroskope. Eigentlich waren die Schüler in dieser Klasse die ruhigsten und weniger auffälligen. Und wäre ich ein Wissenschaftler geworden, so hätte ich garantiert nichts in meinem Leben so erlebt, wie es kam. Und wäre ich ein Wissenschaftler geworden, so wäre ich mir sicher, dann hätten mich meine Eltern verstoßen. Nun kam es aber so, wie meine Eltern wollten. Sie steckten mich in die Justizklasse und somit in die dritte Hauptklasse. Die Justizklasse. Werde ich später Kinder haben, so bin ich mir sicher, dass ich ihnen das nie antun werde! In dieser Klasse wurden wir darauf vorbereitet gefühlskalte Anwälte zu werden. Anwalt, das war der Traumberuf meines Vaters. Schon immer wollte er, dass ich einmal diesen Beruf ergreife. Und daran ließ er auch nicht ändern. Wir lernten die Gesetzbücher, wir lernten das Strafrecht und wir lernten Gerechtigkeit manchmal nicht so ernst zu nehmen. Jedoch muss ich sagen, dass diese Klasse auch einen guten Beitrag zu meinem Leben hatte. Immerhin hat sie mir die drei besten Freunde in meinem Leben geschenkt. Drei Jungs, die ich nie vergessen werde. Wir vier waren unzertrennlich. Wir vier waren alle nicht freiwillig hier und wir vier gingen durch dick und dünn. Tobias Hallyway, von uns auch Tway genannt, stammte aus London in England. Das war eine unglaubliche Entfernung, jedenfalls kam es ihm so vor. Manchmal hatte er unglaubliches Heimweh. Dann lag er immer neben meinem Bett, den Kopf auf meiner Matratze und klammerte sich an seinen Teddy, bis ich mich erbarmte und ihm einen Arm um die Schultern legte. Meist wachte ich dann immer ohne Zudecke auf und Tway schlief ruhig und friedlich mit meiner Decke neben mir auf dem Boden. Tway war auch als einziger von uns in einer anderen Hauptklasse. Er war ein Sportler. Und das konnte ich nicht leugnen. Tobias hatte eine Geschicklichkeit und Kondition, dass selbst ich daneben blass aussah. Jedoch musste er dafür sehr stark trainieren, weshalb er mit dem lernen nicht immer ganz hinterher kam. Er hatte blonde Haare, welche er nach jeden Ferien immer als Topfschnitt trug. Die Ohren lagen an. Die Augen waren blau, die Nase klein und der Mund dünn. Insgesamt war das Gesicht ziemlich klein gehalten. Mittelgroß war er, hatte aber die längsten Beine von uns allen. Unser Ruhepol hieß Trapperson John. Seit der ersten Klasse rätselten wir schon über seinen Vornamen. Trapperson, war das überhaupt ein Name? Hieß so jemand? Eine Antwort haben wir bis heute nicht gefunden. Vielleicht hing es auch ein bisschen damit zusammen, dass sein Opa aus Schweden stammte? Auf jeden fall nannten wir ihn liebevoll Trip. Wie wir darauf gekommen sind, dass will mir nicht mehr einfallen. Auch er stammte aus Wales, zwar in der entgegen gesetzten Richtung wie ich, nämlich aus South Glamorgan ungefähr in der Nähe von Cardiff, aber immerhin. Trip ging mit mir zusammen in die Justizklasse. Allerdings hatte er sie freiwillig gewählt. Naja freiwillig war das auch nicht gewesen. Trapperson war kein Sportler. Schließlich hatte er Asthma und haufenweise Allergien. Und Wissenschaftler ist er nicht geworden, wegen Allergien, Blutangst und Ungeschicklichkeit. Er war der Junge damals gewesen, der mich zum Schweigen gebracht hatte. Und das tat er heute noch. Bei ihm kam ich runter, ich beruhigte mich und er verstand es mich zu kontrollieren. Und seit damals hatte er sich nicht verändert. Die Augen aus flüssigem Bernstein und die Haare aus Strubbelkaramell. Und immer noch waren wir gleich groß. In manchen Nächten hörte ich auch ihn weinen. Selbst das konnte ich verstehen. Seine Mum war krank. Sie litt an einem Herzleiden, für das es im Moment keine Heilung gab. Und wenn er sich nach Stunden immer noch nicht in den Schlaf geweint hatte, dann schlich ich mich zu ihm rüber und setzte mich einfach zu ihm ans Fußende. Dann trafen sich immer braun und bernstein, bis uns die Augen zu fielen. Für ihn war es Sicherheit. Für mich einfach nur das Gefühl gebraucht zu werden. Der letzte in unserem Bunde und unangefochtener Quatschkopf war Constantin Duchers. Der Sohn von Mrs. Duchers, der ich zu verdanken hatte, meine Schuljahre hier verbringen zu dürfen. Der Junge, den ich damals auf den Parkplatz beobachtete hatte. Conny, wie ich ihn nannte, war mit mir und Trip in der Justizklasse. Weshalb würde auch mal gerne erfahren. Wahrscheinlich, weil er einfach unglaublich faul war, wenn es ums Hausaufgaben machen und lernen ging. Seine Familie lebte ihn Cambridge. Sie waren reich. Sehr reich. Deswegen schickten sie Conny auch hier her. Auf das Internat der Besten. Connys Schwester ging auch hier her. Nancy Duchers. Sie gehörte zu den Wissenschaftlern drei Klassen über uns. Aber wir hatten keinen besonders häufigen Kontakt zu ihr. Constantin hatte sich über die Jahre hinweg verändert. Die damals so fein gemachten Haare, waren nun wilder gewachsen und länger. Dennoch waren die Augen immer noch tief und unendlich grau. Ich kann ihm nicht verübeln, dass seine Mutter schuld daran ist, dass ich hier bin. Denn er nimmt es ihr ja selbst übel. Insgeheim hatte er keinen guten Draht zu seinen Eltern. Vielleicht lag das an seiner rebellischen Art? Nachts hörte man über unser Zimmer hinaus sein Schnarchen. Es dröhnte in einigen Nächten so sehr, dass Trip sich Watte in die Ohren steckte und Tway das Zimmer verließ um noch in einem Zimmer unserer Wissenschaftlerkameraden zu schlafen. Wir waren die besten Freunde. Nun waren die ersten sechs Jahre verflogen. Es war ruhig gewesen. Zu ruhig. Noch immer sitze ich manchmal auf meinem Bett und frage mich, ob ich das nicht habe kommen sehen. Warum ich es nicht gewusst hatte. Und immer wieder flüstere ich mir dieselbe Antwort zu: Weil wir im Niemandsland waren. Weil wir fern von aller Zivilisation und allen Menschlichen Lebens aufwuchsen. Weil wir seit unserem zwölften Geburtstag nichts außerhalb den Mauern des Internats gesehen hatten. Es begann damals in unserem siebten Schuljahr: Wenn man aus den Fenstern sah, dann meinte man, das Wetter habe sich unserer Stimmung angepasst. Dunkle, schwere Gewitterwolken zogen über den Novemberhimmel und verdeckten die noch schwach scheinende Sonne. Mehrmals regnete es stundenlang und kein Schüler wagte sich dann hinaus. Die Sportklassen wichen allesamt in die Turnhalle aus, welche bald zu überfüllt war, weswegen die unteren Klassen meistens frei bekammen. Der Regen wurden quasi zu einem Dauerzustand und wir nahmen das an. Auch wir saßen den ganzen Tag im Kerkerzimmer, wie wir es nannten. Hier standen bequeme Sessel und Arbeitstische. Einen Kamin gab es auch. Jedoch waren die Wände komplett aus Stein. Wir machten uns einen Spaß daraus mit den einzelnen Backsteinen Mikado zu spielen. Und nun saßen wir hier rum, wenn wir nicht gerade todlangweiligen Unterricht hatten. In den Unterrichtsfächern, die wir mit der gleichklassigen Sportklasse hatten, arbeitete Tobias stets bei uns drei am Tisch. Auch Projekte und Lernzirkel leiteten wir auf diese Weise. Es störte ja keinen. Wir schrieben unsere wöchentlichen Arbeiten. Für mich mit zufrieden stellenden Ergebnissen und die Lehrer bereiteten uns langsam auf unsere Prüfungsaufgaben vor. Denn wir immer am Ende des Jahres schrieb der gesamte Jahrgang in jedem Fach Prüfungen. So kam es schon mal, dass wir in dieser Zeit mehr mit lernen beschäftigt waren, als mit dem ganzen anderen Zeug, was wir sonst so machten. Zum Beispiel hatten Conny und ich einen ganz besonderen Spaß daran Nachts durch die Gänge zu schleichen. Aber auch tagsüber hingen wir lieber unseren Dingen nach als dem ganzen Justizkram. Aber leider saßen uns unsere Eltern im Nacken. Ich erhielt fast jeden dritten Tag einen Kontrollbrief von meinem Dad, der sich nur so nebenbei, erkundigte wie den meine Noten im Moment aussahen. Und ich schrieb immer brav und diskret zurück. So wurde es von mir erwartet. Trip hatte es da etwas leichter. Seine Mum drängte ihn nicht, dafür war sie zu schwach, doch sein Vater meldete sich jede Woche und zwar per Eilpost. Und da Trapperson sowieso der Musterschüler in spe ist waren diese Eilpostbriefe völlig umsonst. Doch das war bei weitem nicht das einzige, was in dem Internat vor sich ging. Die Luft zwischen uns und der Außenwelt wurde immer dünner, immer explosiver, man glaubte gleich würde ein Kampf ausbrechen, irgendwas würde im nächsten Moment explodieren. Ein Zeitlimit war gesetzt. Unsere Lehrer, die paar, die uns nicht für kleine Maschinen hielten, erzählten uns von Verhandlungen zwischen Großbritannien und Deutschland. Sie drehten sich um die Tschechoslowakei, welche von Deutschland bedroht wurde. Am Ende ergab sich die Slowakei am 15 März im Jahre 1939. Nun wandte sich Deutschland Polen zu. Und wie wir erfuhren vergab unser Premieminister Chamberlain zusammen mit Frankreich, eine Sicherheitsgarantie an Polen. Die letzte Nachricht war: Am 1 September 1939 griff Deutschland Polen an. Drei Tage hörten wir nichts mehr. Dann am 4 September schlug unser Direktor beim Frühstück im Speisesaal seine alltägliche Morgenzeitung aufschlug. Es wurde still. Wir wurden alle auf unsere Zimmer geschickt. Nancy zuckte beim vorbeigehen mit den Schultern. Mary-Luise und Lilyen flüsterten angeregt, während wir alle den Weg ins zweite Haupthaus antraten. Dort waren nämlich unsere Zimmer. Die Zimmer für unseren gesamten Jahrgang. Unser Zimmer bestand aus vier Wänden, zwei Einzelbetten rechts, einem Stockbett links und zwei Schreibtischen links und rechts vom mittigen Fenster. Vor den Betten standen jeweils vier Offene Schränke, für unsere Schulsachen. Welche sich auch da zu befinden haben, wenn wir keinen Unterricht hatten oder nicht im Kerkerraum lernten. Unsere Schuluniform bekamen wir erst um Waschraum, wo sich auch unser Wasch- und Putzzeug befand. Ich schmiss mich auf mein Bett und vergrub mein Gesicht im Kissen. Am liebsten würde ich noch eine oder zwei Stunden schlafen. Doch das ging bei dem nun herrschenden Tumult nicht. Conny hatte sich an den Schreibtisch in unserem Zimmer gesetzt und schrieb eilig einen Brief nach Hause. Tway sah ihm dabei über die Schulter und Trip schloss als letzter die Tür. Augenblicklich fiel die ganze Disziplin von uns ab. „Was meint ihr Jungs? Was ist vorgefallen?“ fragte Trapperson in die Runde und schnappte sich von Tways Nachtschrank einen Tennisball. „Man Trip! Es muss mindesten, MINDESTENS, ein Anschlag oder eine Angriff gewesen sein!“, rief Conny. In meinem Kopf hallte seine Stimme nach. Und das nun einsetzende gleichmäßige Bum bum von dem Tennisball, den Trip jetzt gegen die Wand warf und wieder auffing, warf und auffing, ließ meinen Kopf noch stärker pochen. „Es kann auch einfach nur ein Machtwechsel sein.“, meinte Tobias, der den Text mit lass, den Conny da schrieb, „Das schreibt man mit `ie`!“ Bum bum. Bum bum. „Oder ein Anschlag!“, verharrte Conny aus seiner Meinung. „Meint ihr, wir könnten dadurch nach Hause?“, fragte Trip und stellte das Tennisball werfen ein. Genauso wie Conny, der nun steif in seinem Stuhl saß und Tway der sich langsam und schweigend aufrichtete. Selbst ich lugte unter dem Kissen hervor. Nach Hause? Wie oft hatten wir davon geträumt? Wie oft dafür gebetet? Wie viele Tränen waren deswegen geflossen? Verdammt, wir wussten nicht mal was da draußen los war! Doch die Antwort nahm mir Constantin ab, indem er kalt und ohne jedes Gefühl in der Stimme sagte: „Trapperson, wir kommen hier nie raus. Jedenfalls nicht mit gesunden Verstand.“ Tobias legte den Kopf in den Nacken und atmete tief. Dann ging er zu seinem Bett und ließ sich auf die Bettkante nieder. Trip stand verloren im Raum herum. Er hätte dieses Thema nicht ansprechen dürfen. Und er wusste das genauso wie jeder andere hier im Internat. Dieses Thema war Tabu! „Sieht so aus, als ob wir heute den ganzen Tag für unsere Lateinstudien zur Verfügung hätten.“, versuchte ich ein neues Thema anzuschneiden, „Lernzirkel mit den Sportklässlern?“ „Ach ne.“, winkte Tobias ab, die Stimme erdrückt. Ich hörte schon die fließenden Tränen. „Das wird uns ablenken Tway.“, riet Conny und hielt inne. Er schien zu überlegen. „Vielleicht können wir dabei was von den anderen erfahren. Die wissen vielleicht mehr als wir.“ Von Trip kam nur ein stummes Nicken. Ich tastete mit den Füßen nach meine Zudecke. Spürte die weichen Daunen zwischen meine Zehen. Das erste Stück zog ich sie mit den Beinen hoch, dann zog ich mit den Armen nach, bis nur noch meine Hals und Hinterkopf zu sehen war. „Ne, die sind noch uninformierter als wir. Schließlich haben die den Härtel!“ Professor Dr. Härtel war der lebende Beweis dafür, dass dieses Internat nur Leute ausspuckt, die nicht mehr ihren Verstand sondern nur ihr Bücherwissen benutzen. Seinen Unterricht könnte man bequem ausfallen lassen und später das durchgenommene Kapitel im Buch nachlesen, die Worte wären dieselben. „Auch Härtilein hat mal einen guten Tag!“, empörte sich Trapperson spielerisch und find wieder an mit dem Tennisball zu spielen. „Ja, aber auch nur, wenn Rosie am Abend Zeit hat!“, lachte Conny und wackelte verschwörerisch mit den Augenbrauen. Ich bebte unter meiner Decke. Und auch Tway lachte. Es was aber auch zu offensichtlich, dass Professor Dr. Härtel und unsere Küchenchefin Madam Rosalinda Tirsen mehr als nur Freundschaft für einander empfanden. Constantin und ich hatten uns mal Abend heimlich in die Küche geschlichen und die beiden dabei beobachtet wie sie… na ja… also… Ist unwichtig. „Latein nun heute?“ Bum bum. „Von mir aus.“, sagte Conny und las seinen Brief noch mal Probe, bevor er ihn an Trip weiterreichte zum Rechtschreibfehler suchen. „Ach ne Leute! Ich muss noch Deutsch büffeln!“, schmollte Tway und beugte sich sitzend vorne über, um unter sein Bett zu schauen, „Die Alte Fiedel wollte doch eine komplette detaillierte Schilderung des einen komischen Buches. Ich bin bei der Hälfte!“ Trip gab Conny den Brief zurück, der ihn in einen Umschlag steckte und in einer Schublade nach Briefmarken zu suchen begann. Bum bum. „Kannst du das nicht morgen machen?“, kam meine gedämpfte Stimme unter dem Bett hervor. „Wann denn? Nach Sport? Sicher, da hab ich Nachhilfe mit Johnson!“, meckerte der Sportler weiter und kramte seine Deutschbücher und Aufzeichnungen unter seinem Bett hervor. Bum bum. „Man Trip!“ „Ist ja gut!“, maulte er und schmiss den Tennisball auf Tways Bett, „Ich bin nervös OK!“ „Nervös wovor?“ „Sicher wegen dem Briefchen!“, trällerte Tobias grinsend. „Briefchen?“, hakte ich nach. Briefe von zu Hause waren immer interessant. Wenn nicht sogar lebensnotwendig, wenn man hier überleben möchte. Es sorgte für vernünftigen Diskussion und Unterhaltungsstoff, der nicht mit Mathe, Latein oder Jura zu tun hatte. „Meine Mum hat ihn mir geschrieben! Sie hat drei Monate dafür gebraucht!“, erklärte Trapperson und fischte einen vergriffenen Brief aus seiner Jackentasche. „Ließ vor!“ „Ja mach schon!“ Es klopfte an der Tür. Conny fuhr von seinem Stuhl am Schreibtisch auf. Steckte hastig den Brief in die Schublade und schob diese ruckartig zu. Tway steckte seine Schulsachen alle unter die Bettdecke und stand auf. Gerade und diszipliniert, so wie man es uns beigebracht hatte. Auch Trip ließ den Brief schnell wieder in seine Jackentasche verschwinden. Und ich fuhr so schnell aus meinem Bett hoch, dass ich mich an dem oberen Bett mit dem Kopf anschlug. Ich unterdrückte den Schmerzensschrei und rumpelte aus meinem Bett. „Ja!“ Herein kam Herr Sunders, unser Inspekteurslehrer. Ihm fiel die Aufgabe zu unsere Zimmer zu überprüfen, kontrollieren und zu inspizieren. Ein strenger Mann, mit wenig Haaren und stechenden Adleraugen. Während ich meine Kopf rieb und dabei die Augen schmerz verzehrt zusammen kniff, stampfte er herein und ließ seine Blick über uns gleiten. Und wie immer erinnerte mich seine Stimme an einen Sandsturm, der durch mein Gehirn fegte und spurlos verschwand. „Der Unterricht fällt für heute aus. Es wird aber ein Gottesdienst um 13.00 Uhr stattfinden! Man erwartet ordentliche Kleidung und Benehmen!“ Wir alle vier nickten. Ein kurzes, knappes Nicken. Ein militärisches Nicken. „Und machen sie ihre Haare ordentlich Neattels!“ Er drehte auf dem Absatz um und rauschte bis zur Tür ehe er sich nochmals umdreht. „Beim nächsten Besuch, meine Herren, erwarte ich ein absolut aufgeräumtes Zimmer! Geputzt bis in die kleinste Ecke!“ Dann verschwand er. Und wie jedes mal wünschte ich mir, dass er für immer verschwand. Wir stöhnten alle vier genervt auf. Die kleine Kirche war gefüllt bis zum letzten freien Platz. Es wurde ein Lied angestimmt und jeder sang mit. Dieses Lied wird mir nie wieder aus dem Kopf gehen. Es war eigentlich genau das was ich mir für mich wünschte. Wir sangen Dona nobis pacem Gib uns Frieden Für die Nachricht, die wir heute erhalten hatten, passte das Lied, wie die Faust aufs Auge. Draußen war der Krieg ausgebrochen. Großbritannien stand im Krieg. Die Ultimaten an Deutschland waren am 3 September um 11 Uhr ausgelaufen. Daraufhin erklärten Großbritannien und Frankreich offiziell das Eingreifen in den Krieg zwischen Polen und Deutschland. Und wir saßen hier fest und mussten die Nachrichten schlucken, die uns vorgesetzt wurden. Während unsere Familien da draußen litten, stopfte man uns hier mit unbrauchbaren Gerichtswissen voll. Ich glaube, ich sang das Lied mit meinen Freunden am lautesten. Wir wollten hier raus! Wir wollten weg! Wir wollen frei sein! Notfalls auch kämpfen! Und ich werde noch ein den nächsten Jahren dieses Lied in meinen Gedanken hören. 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