Bei Nacht in Venedig von Scarla ================================================================================ Kapitel 4: Ende --------------- Dunkelheit legte sich wie eine samtschwarze Decke über das Haus. Es war früher Abend, doch weil der Winter seine Hände nach dem Land ausgestreckt hatte, war es schon so dunkel, wie zur späten Stunde. Die Bewohner und die Gäste des Hauses saßen alle um eine einzige Person herum und waren bedacht, so leise wie möglich zu sein, um nicht einen der Töne, den der Violinenspieler seinem wunderbaren Instrument entlockte, zu übertönen. Schon seid einiger Zeit saßen sie so da, doch kam es ihnen vor, als hätten sie sich eben erst hingesetzt, denn der Klang der Melodie hatte sie verzaubert und führte sie gekonnt in ihre eigene Traumwelt, in der ihre Sorgen ihnen wie Unsinn erschienen, und ihre Träume dafür so erreichbar nah, als müssten sie nur die Hand ausstrecken, um sie zu berühren. Der Violinist ließ noch ein paar Takte hören, setzte dann sein Instrument ab, um zu sehen, wie seine Zuhörer langsam wie aus Trance zu erwachen schienen und sich erst einmal in der Wirklichkeit wieder zurechtfinden mussten. »Du hättest das beruflich machen sollen, mein lieber Angelo, du könntest größer sein, als es dein Vater jemals gewesen ist«, sprach als erste Nuova und schaute bewundert zu dem Freund aus Kindertagen. Lupo schaute ihn einen Moment lang nachdenklich an, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. »Nein nein, ich spiel lieber nur ab und an und wenn mir danach ist«, antwortete er, stand auf, um die Violine in den Kasten zurück zu legen. »So ist es mir auch viel lieber«, stimmte Luna zu, lächelte ihr bezauberndes lächeln, das Lupo so an ihr liebte. »Ich würde es toll finden, wenn Papa ein berühmter Musiker wäre«, schlug sich ihre Tochter Stella jedoch sogleich auf die Seite des Onkels. »Dafür bin ich schon viel zu alt, mein Kind«, lachte Lupo und setzte sich wieder zu seiner Familie, »berühmt sein ist etwas für junge Leute und nicht für welche, die schon damit beginnen, die Kälte in ihren alten Knochen zu spüren.« »Du bist noch nicht alt, Papa«, mischte sich Gabriel und warf der Mutter einen Hilfesuchenden Blick zu. Die jedoch lächelte nur. »Immerhin bin ich der älteste hier im Raum«, erwiderte Lupo und setzte sich so nahe an das Feuer des Kamins, wie es ging. Er hatte recht. Nuova und Luna waren beide zwei Jahre jünger als er und Lotta sogar vier. Die anderen vier Leute waren seine Kinder Gabriel und Stella, der Sohn von Lotta und Nuova, Antonio und dessen junge Verlobte Alessia. »Und trotzdem bist du noch nicht alt«, fand nun auch Stella und setzte sich zu seinen Füßen. »Das vielleicht nicht, aber doch zu alt um noch ein bekannter Musiker zu werden«, sprach er das letzte Wort und wischte alle Einwände beiseite. Stella schob schmollend die Lippe vor, doch sie sagte nichts mehr. Stattdessen sprang sie auf, um mit ihrer Mutter gemeinsam den Tisch zu decken. Während sie dem Lied gelauscht hatten, hatten sie ganz vergessen, dass es längst schon Zeit war für das Abendessen. Doch das war schnell getan und so saßen sie nur ein paar Augenblicke später beisammen am Tisch. Sie unterhielten sich und lachten, und es war eine fröhliche Runde, da lenkte Stella das Gespräch auf ein Thema, das sie länger schon beschäftigte: »Wann genau fährst du nach England, Antonio?« Ihr Cousin schaute sie verwundert an, denn es kam nicht oft vor, das sie mit ihm sprach. Es war nicht so, dass sie ihn nicht mochte, aber während Stella ein ausgesprochener Wildfang war und ein wunderbares Gespür für Musik besaß – etwas, was sie ganz eindeutig von der Familie ihres Vaters geerbt hatte, den die war bestückt von herausragenden Musikern -, da war er nicht einmal in der Lage, ein Saiteninstrument in die Hand zu nehmen, ohne das mindestens eine der Saiten riss. Er hörte lieber zu, statt selbst zu spielen. Zudem war er noch ruhig und besonnen und tat nie etwas Unüberlegtes oder gar Verbotenes, sodass es zwischen ihnen nie zu mehr als ein höflichen Worten gekommen war. Mit Gabriel dagegen kamen sie beide gut aus, er war der Vermittler. Auch er war ein wenig wie das Wasser. Wenn der Wirbelwind Stelle ihn heftig anblies, dann konnte auch er stürmisch und unberechenbar sein, doch war er auch ein vernünftiger junger Mann, der dachte, bevor er etwas sagte oder tat. »In zwei Wochen legt die Speranza ab. Auf ihr werde ich fahren«, erklärte er seinem Teller, denn er wagte es nicht, Stella dabei anzublicken. »In zwei Wochen. Ach wie gerne würde ich dich begleiten, ich bin noch nie aus Venedig weg gewesen«, erklärte sie und starrte verträumt Löcher in die Luft. »Wirst du auch nicht so schnell, mein junges Fräulein«, erklärte Lupo zwischen zwei bissen, denn er wusste genau, was seine Tochter damit sagen wollte. Die warf ihm einen giftigen Blick zu, denn ihre Hoffnung war es gewesen, ihre Mutter von dieser Fahrt zu überzeugen. Luna war in ihrer Jugend selbst viel gereist und konnte deswegen besser erahnen, wie es ihrer Tochter ging, während Lupo sein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht hatte. Stella schaute neugierig zu Alessia hinüber, die den ganzen Abend über noch nichts gesagt hatte. Sie war noch stiller, als Antonio, soweit dies überhaupt möglich war, und fühlte sich zwischen diesen ganzen, glücklichen Menschen nicht ganz wohl. So viel Lebensfreude war sie einfach nicht gewohnt. »Du fährst auch mit, nicht wahr?«, erkundete Stella weiter. Das Mädchen nickte schüchtern und warf ihrem Verlobten einen Hilfesuchenden Blick zu. »Die beiden werden dort meine Geschäfte beaufsichtigen, aber das weißt du doch, Stella, Kind«, mischte sich Nuova stirnrunzelnd ein. »Das Antonio fährt wohl, aber das er Alessia mitnimmt bisher noch nicht sicher«, erklärte die. Nuova blinzelte verwundert über den pikierten Tonfall, in dem seine Nichte gesprochen hatte, doch als er einen Hilfesuchenden Blick seiner Schwester zukommen ließ, grinste sie ihn einfach nur an. Luna war stolz auf ihre Tochter, die vieles war, aber gewiss nicht auf den Mund gefallen. Auch Lupo konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht ganz verkneifen. Er hatte Nuova immer wieder gewarnt, das seine Tochter nicht so lieb war, wie sie sich nach außen hin gab, ja, dass sie es sogar faustdick hinter den Ohren hatte, doch der hatte immer abgewinkt. »Ach, Stella, du wirst schon irgendwann einmal mit dem Schiff irgendwohin fahren, aber noch ist es nicht so weit, und das weißt du genau. Stecke deine Kraft, die in der Begeisterung solcher Ideen steckt, doch besser in dein Üben, dann bist du bald gut genug, um in Paris und London und ganz Europa am Hofe jeden großen Hauses vorspielen zu können. Dann kannst du genug reisen«, lachte er und zwinkerte der jungen Frau verschwörerisch zu. »Ja, Papa, du hast wohl recht«, seufzte sie, doch ließ sie ihren Blick zum Fenster gleiten. Sie sah nicht, was draußen war, doch sie wusste, wo der Horizont sein musste, und den umtänzelte sie mit ihrem sehnsuchtsvollen Blick. Nuova griff das neue Thema sogleich auf. »Ich hörte, das du sehr gut geworden sein sollst?«, fragte er, doch Stella antwortete nicht. Sie war zu sehr in Gedanken versunken. »Oh ja, sie ist herausragend, aber sie ist nicht von ihrem tun besessen, was mindestens ebenso wichtig ist«, antwortete Lupo an ihrer statt und dachte dabei an jenen Tag, als sein Vater ihm, in seinem Wahn das Gesicht zerstörte, sodass er bei fast jeder Gelegenheit eine Wolfsmaske trug, die ihm den Namen Lupo einbrachte. Nuova nickte und schaute Gabriel an. »Und wie sieht es mit deiner Künstlerkarriere aus?« »Oh, das musizieren liegt mir nicht so sehr, wie Stella, das weißt du doch«, antwortete der mit einem gutmütigem lächeln. Auch er konnte beeindruckend Violine spielen, doch hatte er nicht diese unbändige Freude daran, wie seine kleine Schwester, doch dafür hatte er eine andere Begabung. »Dafür läuft es mit meinem Buch ganz hervorragend.« »Dann freu ich mich darauf, es irgendwann einmal lesen zu dürfen«, lächelte Nuova. Gabriel nickte und seine Augen glänzten vor Freude. Einige Zeit unterhielten sie sich noch über Belanglosigkeiten, dann setzten sie sich gemeinsam ins Wohnzimmer, während Luna mit ihrer Tochter das benutzte Geschirr in die Küche trug. »Du bist auch noch nie in England gewesen, oder?«, nahm Nuova das alte Thema nun doch wieder auf, obwohl es ja er gewesen war, der selbiges gewechselt hatte. »Nein, ich war nie woanders, als in Venedig«, antwortete Lupo schulterzuckend. »Hat dich niemals das Fernweh gepackt?«, fragte Lotta ungläubig. »Doch, als ich ein Kind war, aber das ist schon lange her. Ich wollte damals unbedingt einmal nach Paris und nach England, den von diesen Städten hat mir mein Vater am häufigsten erzählt«, erklärte er lächelnd. »Warum bist du dann nicht fort gegangen?«, fragte Gabriel neugierig. Er liebte es, wenn sein Vater seine Geschichten erzählte. »Wie denn? Auf einem Schiff anheuern und dann dorthin segeln? Einfach so?«, fragte Lupo lächelnd. »Natürlich. Du wärst gewiss nicht der erste«, antwortete Nuova. »Das nicht, aber was wäre dann gewesen? Hier hatte ich Arbeit, regelmäßige Mahlzeiten und ein Dach über den Kopf. Was hätte ich dort gehabt?«, fragte er und lieferte damit ein – für die anderen zumindest – unschlagbares Kontra. »Aber warum machst du diesen Kindheitswunsch nicht jetzt einfach wahr? Stella hätte ihre helle Freude daran und für Gabriels Buch wäre es gewiss auch nicht schädlich, wenn er etwas von der Welt sieht«, überlegte sein Schwager. »Recht hast du schon, zumindest was die Kinder anbelangt«, nickte er langsam, schüttelte aber dann den Kopf. »Ich bleibe aber lieber zu Hause und allein fahren lassen will ich sie auch nicht.« Nuova wollte offensichtlich wiedersprechen, doch Gabriel schüttelte sacht den Kopf. Stella hatte den Raum betreten und die letzten Worte mit angehört, und sie konnte viel besser mit dem Vater umgehen, als irgendwer sonst, von Luna einmal abgesehen. Sie setzte sich wie üblich zu seinen Füßen und schaute ihn bittend aus ihren braunen Augen an. »Dann lass uns mit Antonio fahren, dann sind wir nicht allein«, erklärte sie lächelnd. »Er ist ja auch so viel älter, als ihr«, antwortete Lupo sarkastisch, aber auch belustigt. »Großvater hat Mama und Nuova doch auch immer in deine Obhut gegeben«, gab sie sogleich zu bedenken. »Nuova und Luna haben ja auch auf mich gehört. Bei dir und Antonio sieht es da dann doch ein bisschen anders aus«, lachte er. Stella zog eine Grimasse, denn ihr Vater hatte recht. Dennoch wollte sie noch nicht aufgeben. »Und wenn ich verspreche, ausnahmsweise alles zu tun, was er sagt?«, fragte sie und nutzte ihren Augenaufschlag, der schon viele Männer um den Verstand gebracht hatte. Das er bei ihrem Vater herzlich wenig nutzte, das war ja egal, versuchen konnte man es trotzdem. »Stella, da kenn ich dich aber besser. Sobald du irgendetwas Interessantes siehst, ist jedes versprechen doch egal«, erklärte er augenzwinkernd. Abermals schnitt die Tochter eine Grimasse, denn abermals hatte ihr Vater recht mit dem, was er sagte und langsam gingen ihr die Argumente aus, da kam Hilfe von unerwarteter Seite. »Du weißt aber schon noch, das ich früher genau so ein Wirbelwind gewesen bin, wie Stella jetzt?«, fragte Luna und setzte sich auf die Fensterbank. »Wie sollte ich das jemals vergessen. Aber was hat das hiermit zu tun?«, erkundigte sich Lupo. »Ich war viel jünger als die beiden, als ich damals durch die Welt reiste, und ich war allein. Ich denke, das sie beide sehr gut damit umgehen könnten, und wenn Stella mal wieder über das Ziel hinausschießt, dann gibt es immer noch Gabriel, der hat sie deutlich besser in der Hand, als Antonio, auf ihn hört sie«, erklärte sie und lächelte ihre Kinder mütterlich an. Lupo atmete tief ein, wie um zu widersprechen, gab sich dann aber geschlagen. »Wenn ihr alle gegen mich seid, dann soll’s mir recht sein. Aber ihr fahrt nicht alleine, ich werde mit euch kommen, auch wenn ich keine Lust auf eine solch lange fahrt habe.« »Papa, du bist der Beste!«, freute sich Stella und fiel ihm um den Hals und auch Gabriel sprang mit leuchtenden Augen auf. »Ich bleibe aber hier, irgendwer muss ja auf das Haus aufpassen«, lachte Luna und freute sich mit ihren Kindern. Lupo nickte, hatte aber keine Gelegenheit zu antworten, denn Stella sprach so schnell und wortreich auf ihn ein, dass er nichts sagen konnte. »Fahren wir auch mit der Speranza? Dann fahren wir ja schon in einer Woche! Oh, England ist bestimmt irrsinnig Interessant! Dann kann ich auch… Ohh!«, sie sprang auf und lief aus dem Raum, um kurz darauf wieder zurückzukommen und Gabriel mit sich zu ziehen. Die anderen schauten den beiden lächelnd hinterher. »Wie sehr sie sich freuen«, lachte Nuova. »Oh ja, das wird jetzt eine sehr anstrengende Woche. Ab jetzt wird Stella keine ruhe mehr geben«, seufzte Lupo. Er behielt recht. Die folgenden Tage sprach seine Tochter von nichts anderem mehr und wurde von Tag zu Tag aufgeregter. Gabriel ging es nicht viel anders, er war in Gedanken oft weit weg und wirkte fahrig, bei allem was er tat. Lupo dagegen hatte eigentlich nach wie vor keine Lust auf eine solche fahrt und wurde deswegen stiller, doch er hatte es seinen Kindern versprochen und so gingen sie eine Woche später an Bord. Sie verabschiedeten sich von Luna, Stella und Gabriel wild, und voller Ungeduld, Lupo dagegen ruhig und zärtlich, gerade so, als wäre es ein Abschied auf ewig. »Wir sehen uns ja wieder, du tust gerade so, als wolltet ihr in England bleiben«, lachte Luna und schob ihren Mann von sich. »Nein, das gewiss nicht, aber du weißt, ich hab die Stadt noch nie verlassen und in den letzten Jahren war ich nicht einen Tag ohne dich. Ich vermisse dich jetzt schon«, antwortete er und schaute sie traurig an, sodass sie laut auflachte. »Ein paar Wochen wird es schon gehen. Wir sehen uns dann«, erwiderte sie. Er nickte und brachte sogar so etwas, wie ein lächeln zustande. Dann folgte er seinen Kindern an Bord. Luna schaute dem Schiff nach, bis es hinter dem Horizont verschwand, dann ging sie nach Hause. Sie hatte ein seltsames Gefühl in der Magengegend, wie vermutlich jede Mutter, die das erste mal ihre Kinder gehen ließ. Sie verbrachte die nächsten Tage des Öfteren bei Nuova und Lotta, den zu Hause gab es nun nichts mehr zu tun. Es war ein regnerischer Morgen, als sie herunterkam und die Zeitung zur Hand nahm, um zu lesen, was es neues gab in der Welt. Als Nuova ebenfalls herunterkam um zu frühstücken, da war Luna schon nicht mehr da. Sie lief weinend durch die Gassen Venedigs und aus der Stadt heraus, bis sie auf einer Klippe über dem unruhigen Meer. Weinend blieb sie einen Augenblick stehen, schaute zum Wasser hinunter, und ließ sich dann fallen. In Gedanken war sie dabei bei ihren Kindern und ihrem Mann, die sie in diesem Leben nicht wieder sehen würde. Denn die Schlagzeile, die diese Zeitung an diesem morgen aufmachte, war ein Bericht über den Untergang der Speranza. Sie war in einem Sturm geraten, es gab keine Überlebenden. Und nun hatte sie auch ein Opfer gefunden, der nicht an Bord gewesen war. So verlor Nuova an einem Tag nicht nur den eigenen Sohn, sondern auch seine Schwester und ihre gesamte Familie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)