Bei Nacht in Venedig von Scarla ================================================================================ Kapitel 1: Zerstörte Träume --------------------------- Stille. Und Dunkelheit. Nur dies war es, was um Luna herum herrschte. Wie sollte es auch anders sein? Mitternacht war schon seid Stunden vorbei und außer ihr war vermutlich keiner mehr auf den Beinen. Schon gar nicht in der Nacht vor dem großen Karneval. Wer konnte schlief nun so lange wie möglich um morgen bis zum frühen morgen feiern zu können und fröhlich zu sein. Aber Luna war anders, schon immer gewesen. Sie liebte die Nacht und nutzte auch diese um am Fenster zu sitzen und die Stadt zu beobachten. Die Stadt des Mondes, wie sie gerne genannt wurde, die Stadt, die für ihren Karneval überall auf der Welt berühmt war, die Stadt, die seid Jahrhunderten schon Jahr für Jahr tausende von Menschen in ihre Gassen lockte um sie für eine Nacht nur vergessen zu machen, das es einen Unterschied gab zwischen einem Bettler und einem König. Und sei er noch so gering. Morgen war wieder jene eine Nacht, in der sie selbst ohne Begleiter, unerkannt, und froh darüber, die nächtlichen Gassen ihrer Stadt betreten und durchwandern konnte, ohne das irgendwer jemals auf die Idee käme, sie anders zu behandeln, als diesen, der neben ihr steht. Doch heute Nacht war es noch nicht so weit, heute Nacht saß sie noch auf der Fensterbank und beobachtete die menschenleeren Gassen, das schwarze Wasser, das leise rauschend immerwährend gegen den Stein der Mauer schwappte, und den Mond. Den klaren, vollen Mond, der ihr ihren Namen gab. Ihr Name, der vom Vollmond erzählte, der bald den Himmel in goldenes Licht tauchen würde. Ihr Vater hatte ihn einmal gehört, bei einem Volk das sehr weit weg lebte, von ihrer Stadt des Wassers und ihrem Land der Sonne, und vor langer Zeit. Und doch, vergessen hat er ihn nie. Er hat ihn in seinem herzen getragen und ihn dann seiner Tochter gegeben, die für ihn so wundervoll anzusehen war, wie der Vollmond selbst. So saß sie nun also da und sah, was in dieser Nacht kaum ein Auge erblickte, bis sie es nicht mehr aushielt und aufsprang. Sie zögerte nur noch einen kurzen Augenblick, dann lief sie los, durch die weiten Gänge des großen Hauses, oder des kleinen Palastes, her nachdem, welchen Standpunkt man bevorzugte. Sie kannte den Weg tausendmal war sie ihn schon gelaufen, bei Tag und auch bei Nacht und so fand sie ihren Weg trotz der vollkommenen Dunkelheit. Das Mondlicht fand seinen Weg nicht hierher. Sie blieb erst stehen, als sie vor einer einfachen Tür stand. Noch einmal zögerte sie, den Bruchteil einer Sekunde, fragte sich, ob er schon schlafen mochte, doch Luna wäre nicht sie selbst gewesen, wäre sie nun still und leise in ihr Zimmer zurück geschlichen. Immerhin klopfte sie leise, bevor sie die Tür öffnete, hindurch schlüpfte und wieder hinter sich schloss. »Nuova? Nuova, bist du noch wach?«, fragte sie in die Dunkelheit und stille hinein. »Natürlich, ich warte schon seid Stunden auf dich«, flüsterte es aus der Dunkelheit zurück. Nur einige Sekunden später flackerte das spärliche Licht eines Streichholzes auf und dann noch einmal deutlicheres Flammenspiel, als das Streichholz an eine Kerze gehalten wurde. »Ich wusste nicht, wann du wieder auf deinem Zimmer sein würdest«, entschuldigte sich Luna und trat zu dem jungen Mann, der ihr Bruder war. Sie setzte sich neben ihm aufs Bett und lehnte sich an ihn. »Ich habe mich davon gemacht, so bald ich konnte. Ich konnte ihr lachen nicht mehr ertragen, es hörte sich so künstlich an. Sie ist seltsam, ich mag sie nicht«, erklärte Nuova und legte einen Arm um seine Schwester. »Künstlich? Wie kann man sich denn künstlich anhören, wenn man aus Fleisch und Blut besteht?«, lachte sie und schaute ihn aus großen, dunklen Augen an. »Ich weiß auch nicht… eben ein wenig, als würde sie gar nicht wirklich leben. Als wäre sie eine Puppe oder…«, Nuova dachte einen Moment lang nach, dann schien ihm etwas einzufallen. »Oder wie einer der metallenen Vögel, die unser Onkel in seinem Schlafzimmer hat. Du weißt, die, die ihn in den Schlaf singen.« »Ja, ich weiß, welche zu meinst. Sie sind schrecklich, echte Vögel sind viel schöner anzuhören«, antwortete sie verächtlich, schüttelte dann aber den Kopf. Sie möchte nicht über mechanische Vögel sprechen, sie wollte von dem Abendessen hören, bei dem sie ausgeschlossen worden war. »Wie heißt sie? Ist sie zumindest hübsch?« »Lotta oder so ähnlich. Aber hübsch ist sie wirklich nicht, jedes Straßenmädchen hat ein anmutigeres Gesicht, als sie«, schnaubte Nuova und dachte bei sich, dass es sowieso kein Mädchen geben konnte, das er jemals so lieb haben würde, wie Luna. Sie war für ihn mehr, als nur eine Schwester, sie war Freundin und Verbündete und Geheimniswahrerin in einer Person und das würde sich niemals ändern, dessen war er sich sicher. »Lotta, was für ein seltsamer Name«, lachte sie, vergessend, das auch ihr Name nicht alltäglich war. »Sie kommt nicht von hier, sie spricht nur sehr schlecht Italienisch. Ich glaube, dass sie aus dem Norden kommt. Vielleicht deutsche, vielleicht von noch weiter her. Schweden vielleicht oder Norwegen oder Finnland«, überlegte er. »Ich hätte sie gerne kennen gelernt, sie ist bestimmt viel interessanter und freundlicher, als du sie beschreibst. Du hast sowieso an jedem Mädchen etwas auszusetzen«, lachte Luna und warf sich auf das Bett, ihren Bruder mit sich ziehend. »Sie hat bei ihrer Auswahl geholfen, also kann sie gar nicht nett sein und Interessant und freundlich«, verteidigte sich Nuova, machte sich von seiner Schwester los und stand auf um ans Fenster zu treten. Luna wusste sofort, wenn er meinte. Keiner der beiden sprach den Namen ihrer Stiefmutter jemals aus. Ein unerschütterliches, kindliches Wissen, dass das, von dem man nicht sprach und das man nicht sah auch nicht existierte, hielt sie davon ab, obwohl sie jedes mal aufs neue eines besseren belehrt wurden. Sie existierte nicht nur, sie war auch voller guter Dinge und schmiedete eifrig Pläne, wie sie ihre unerwünschten Stiefkinder am schnellsten loswurde. Nuova in die Ehe mit einem Mädchen zu geben, das nicht nur weit weg lebte, sondern zudem auch noch nicht ganz unvermögend war, hielt sie für ihre beste Idee, obwohl sie bisher den geringsten Erfolg davon getragen hatte. Nuova hatte konsequent jedes Mädchen abgelehnt und sein Vater hatte ihn gewähren lassen. Der Vater ahnte nichts von dem twist, der zwischen seiner zweiten Frau und seinen Kindern existierte und versuchte einfach nur, es allen recht zu machen. Was bedeuten würde, die jeweils andere Partei hinfort zugeben, doch sie alle waren nicht dumm. Die beiden Kinder wussten, das er mit der Dame so glücklich war, sie seid langem nicht mehr, und wollten ihm dieses glück nicht abspenstig machen, nur weil sie selbst die Frau nicht mochten. Die wiederum wusste, sollte sie allzu offen zeigen, wie sehr ihr die Anwesenheit von Luna und Nuova missfiel, wäre sie es, die den kürzeren zog, denn das Wohl seines eigen Fleisch und Blut ging dem guten Herrn über alles. Und so versuchten sie einfach in aller Stille und Heimlichkeit, sich das Leben so schwer wie möglich zu machen. »Was mich wundert ist, dass sie noch nicht versucht, dich an den nächst besten zu verschachern«, brummte Nuova und schaute seine Schwester nachdenklich an. »Sie würde, wenn sie könnte, aber du kennst doch Vater. Ich bin seine kleine Prinzessin, mich wird er vermutlich erst auf seinem Sterbebett freiwillig in die Hände eines anderen Mannes geben. Und dann auch nur in die erlehsensten«, sie lachte glockenhell auf, schüttelte dann den Kopf. »Ein wenig nervig und hinderlich ist es schon, aber ich hatte sowieso noch nicht vor, zu heiraten, auch wenn ich den richtigen bereits kenne.« »Lupo spielt übrigens bereits heute Abend Maskenball und lädt alle herzlichst zu sich ein«, antwortete ihr Nuova und schaute dabei finster. Er und Lupo waren gute Freunde, dass seine über alles geliebte Schwester zu seinem besten Freund jedoch mehr Gefühle hegte, als zu ihm, passte ihn nicht. Und schon mal gar nicht in anbetracht dessen, was Lupo war. Luna und er waren aus gutem Hause, die Kinder eines reichen Kaufmanns, Lupo dagegen war ein Streuner. Er hatte einmal ein zuhause, doch das hatte er schon lange hinter sich gelassen, warum hatte er aber nicht erzählt. Ebenso wenig, woher er die Narbe hatte, die sein Gesicht so sehr entstellte, das er sogar dann eine Maske trug, wenn der Karneval schon lange vorbei, und der nächste noch weit weg war. Immer die gleiche, eine Wolfsmaske, denn Lupo bedeutete Wolf. Er arbeitete im Haus und wann immer zeit war, besuchten die Geschwister ihn, denn niemand konnte so wunderbar Geschichten erzählen, wie dieser junge Mann, der bloß ein Jahr älter war, als sie. Doch so sehr Nuova ihn als Mensch und auch als Freund mochte, so wenig wollte er, dass seine kleine Schwester mit ihm zu tun hatte. Das Luna das genau wusste und Lupo aus diesem Wissen und einem stillen Protest heraus schöne Augen machte, das konnte er nicht ahnen. »Wo feiert er denn? Ich möchte hingehen«, bemerkte sie neugierig und funkelte ihren Bruder abenteuerlustig an. »In der alten Halle unten im Hafen«, antwortete er, bemüht, sich seinen Unwillen nicht anmerken zu lassen. Er war ebenso sehr bereit, alles für seine Schwester zu geben, wie der Vater der beiden. »Ich hol mir schnell eine Maske und dann lass uns hingehen. Wie treffen uns am Hinterausgang«, rief sie ihm zu und war weg, bevor er ihr antworten konnte. Er schaute noch einen Moment auf die offene Tür, dann ging er zu seinem Schreibtisch und holte aus dem obersten Schubfach seine Maske. Luna lief in der Zeit durch die Gänge zurück, jedoch viel leiser als zuvor, denn sollte jetzt jemand aufwachen, konnte sie ihren nächtlichen Ausflug vergessen. Auch sie hatte ihre Maske im obersten Schubfach verstaut. Mit ihr in der Hand lief sie gleich weiter, machte sich nicht einmal die Mühe, die Tür hinter sich zu schließen. Nur wenige Augenblicke später saß sie mit Nuova in ihrem Boot und fuhr zum Hafen. Das Fest hörten die beiden schon vom weiten, während sie langsam über das schwarze Wasser fuhren. Ab und an einmal erhellte Kerzenschein ihren weg, wenn zu dieser Nachtschlafenden Stunde doch einmal jemand nicht rasten und ruhen konnte, doch sie brauchten dieses Licht nicht. Sei wussten, wie gefährlich es war, doch sie vertrauten auf ihre Fähigkeiten und fanden den rechten weg. Es nur Augenblicke später sprang Luna an Land, ihr Gesicht bedeckt mit der weißen Maske, die einst ihrer Mutter gehörte und die sie nun Jahr für Jahr zum Karneval trug. Der Landungssteg um die alte Lagerhalle war nicht leer, überall lachten und feierten maskierte den Abend entgegen und sie alle begrüßten die Geschwister mit vollem glas und glänzender Laune, nicht wissend, wer sie waren. Nur Lupo wusste es, er hätte ihre Masken unter tausenden erkannt. Er kam lachend und voll Freude auf sie zu. »Meine Gäste, meine Freunde, wie wunderbar, euch hier zu sehen, ich habe ja schon nicht mehr damit gerechnet«, rief er und umarmte erst Luna, dann Nuova. »Eigentlich wollte ich auch nicht kommen, aber unsere Kindskönigin hat darauf bestanden«, antwortete er und lachte, obwohl ihm so gar nicht nach lachen zumute war. Er hatte Lupos blick gesehen, als er Luna erkannt hatte, und es war jener Blick, der ihn mit einem mal klar machte, das sie nun wirklich keine Kinder mehr waren, und das er nicht von Lupo verlangen konnte, Luna bloß als eine art kleine Schwester anzusehen. Für ihn war sie nun einmal eine junge Frau und er konnte nichts dran ändern. Er hätte ihn hassen können, doch er tat es nicht. Lupo konnte nichts dafür, keiner konnte etwas dafür, dass die Zeit nichts so bleiben ließ, wie es einst gewesen war, so sehr man es sich auch wünschte. »Dann habt tausend dank, meine Kindskönigin«, lachte der junge Mann und verbeugte sich vor Luna, nicht ahnend, was in dem Kopf seines besten Freundes vor sich ging. »Natürlich, um nichts auf der Welt würde ich ein fest verpassen, bei dem der Karneval begrüßt wird«, lachte Luna und bevor einer die zurückhalten konnte, hatte sie sich auch schon unter die Festgäste gemischt. Nuova und Lupo schauten ihr lächelnd nach, dann trennten auch sie ihre Wege. Trotz allem war es ein schönes Fest, sie lachten viel und keiner ahnte, wer sich unter ihrer Verkleidung versteckte, sodass sie auch nirgends ausgeschlossen wurden. Der Morgen dämmerte bereits, als Nuova zum Boot zurückkehrte und auf seine Schwester wartete. Er wartete lange, doch sie tauchte nicht auf. Irgendwann beschloss er, sie zu suchen. Er ging in die alte Halle, die mittlerweile leer war, denn die anderen Feiernden waren schon gegangen. Und hier vernahm sie ein murmeln aus einer Ecke hinter den Kisten. Nur zögernd ging er hin, denn wer wusste schon, wer sich in diese stille Ecke zurückgezogen hatte, doch als er um die Kisten herumlief, sah er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Luna und Lupo saßen hier beisammen in schönster Eintracht und flüsterten leise. Im ersten Augenblick wollte er wieder gehen, denn sie beide hatten ihn noch nicht bemerkt, dann aber stieg eine so unbändige Wut in ihm hoch, das er schnellen Schrittes zu den beiden hinlief, Lupo grob packte und zur Seite stieß. Lupo stolperte und fiel zu Boden, schaute von da aus verwirrt zu Nuova hinauf. »Nuova! Was tust du?«, rief Luna und sprang erschrocken auf. »Jetzt ist Schluss Luna, ich lass mich nicht mehr zum Narren halten!«, schrie er, außer sich vor Wut. »Aber es hält sich doch niemand zum narren, wie kommst du bloß auf diese Idee?«, fragte das Mädchen verwundert. »Aber natürlich! Du tust es schon wieder! Oder willst du mir wirklich erzählen, das dieses«, er schaute verächtlich auf Lupo hinab, der verstört und vollkommen verwirrt auf dem Boden saß und die beiden beobachtete, »das dieses Individuum dir nichts bedeutet? Das du nur in aller Freundschaft mit ihm zusammen gesessen hast? Ich weiß, das er für dich mehr ist, als ein Bruder, ich weiß, das er dir mehr bedeutet, als ich!« Verblüfft schaute Luna ihn an. Sie hatte seine Reaktion nicht verstanden, aber seine Vorwürfe kamen ihr so absurd und abwegig vor, dass sie ihn einige Minuten lang nur fassungslos anstarrte. »Nuova, aber«, begann sie, schüttelte dann aber den Kopf. Ein bitteres Lachen stieg in ihr auf. »Nuova! Wie kommst du nur auf solche Ideen? Lupo bedeutet mir nicht mehr als ein Freund, nicht eine Sekunde lang! Bisher warst immer du es, der mir am wichtigsten war, wie kannst du bloß auch nur eine Sekunde daran zweifeln?« »Wie ich daran zweifeln kann? Wie vertraut ihr eben beisammen gesessen habt, lässt da schon den einen oder anderen Zweifel aufkeimen«, antwortete er bitter, »zumal du immer wieder von ihm sprichst, als wäre er bereits dein Verlobter.« Luna schaute ihn wieder sprachlos an, schüttelte dann aber langsam und traurig den Kopf. »Du hast es nie verstanden, oder?«, fragte sie leise und schaute ihn traurig an. »Was gibt es denn da zu verstehen?«, fragte Nuova kalt. »Lupo bedeutet mir nicht mehr, als es jeder andere meiner Freunde auch tut. Das ich ausgerechnet ihn zu meinem Liebsten machte, mein Bruderherz, lag daran, das ich genau wusste, das er dir und Vater nicht gefallen würde, es hätte auch jeder andere sein können. Ich hatte die Hoffnung, dass ihr beide vielleicht endlich verstehen würdet, dass ich nicht eure Puppe bin und dass ich meine eigenen Entscheidungen treffen will, das ihr mich mein Leben leben lassen würdet, aber zumindest du hast es nicht verstanden, im Gegenteil. Du hast nicht verstanden, das ich hinaus will aus dem goldenen Käfig, den Vater und du mir errichtet habt, hinausfliegen, um auf einem einfach Zweig zu landen, der mir so viel besser gefällt«, traurig wandte sie sich ab. »Luna, ich«, begann Nuova, doch wusste er nicht, was er sagen sollte und so blieb er still und schaute traurig zu Boden hinab. Lupo stand langsam auf. »Wir haben uns überlegt, was wir dir zum Geschenk machen sollen, immerhin haben wir in ein paar tagen Geburtstag«, erklärte Luna leise und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Eine ganze Weile herrschte Stille zwischen den beiden Jungen. »Es tut mir leid, Lupo, ich wusste nicht…«, begann Nuova, doch sein Freund schüttelte den Kopf. »Ich wusste auch nicht, dass ihr so wenig an mir liegt«, antwortete er und schaute dem Mädchen traurig hinterher. »Ich wusste nicht, dass sie sich so eingesperrt gefühlt hat«, flüsterte Nuova. »Es ist immer wieder erstaunlich, wie wenig wir manchmal von denen wissen, die uns am liebsten sind. Aber nimm dir den Streit nicht so zu herzen, sie wird es dir verzeihen. Wenn du es jemals schafft, deine Eifersucht hinter dir zu lassen, ansonsten verlierst du sie«, Lupo schüttelte den Kopf und lächelte aufmunternd. Nuova schaute ihn an, wie in einem Traum, dann nickte er. »Es tut mir wirklich Leid. Sei mir nicht böse«, bat er, und wieder verneinte Lupo lächelnd. »Nie«, antwortete er und lächelte ein lächeln, das unter seiner Maske niemand sah. Und das war auch gut so, denn es war kein glückliches lächeln. Zum ersten mal hatte er hören müssen, was sein bester Freund wirklich über ihn dachte, erfahren müssen, was es hieß von der Oberschicht verspottet zu werden, und es tat weh. Und doch, niemals würde er das seinen Freund wissen lassen. »Ich glaube, ich muss mit Luna sprechen«, begann er vorsichtig und Nuova nickte. Sie war noch nicht weit gelaufen, er brauchte nicht lange, um sie einzuholen. Sie blieb stehen, als sie seine Schritte hörte. »Bitte entschuldige, Lupo«, flüsterte sie. »Das weiß ich noch nicht«, antwortete er. »Ich wollte dir nicht weh tun, das musst du mir glauben.« »Das glaube ich dir sofort, Luna. Und doch, man wird nicht gerne benutzt.« Sie nickte: »Es tut mir leid. Ich habe nie darüber nachgedacht, was ich dir damit antue.« »Natürlich. Wir merken nicht immer, wenn wir anderen weh tun. Aber es ist auch egal. Es ist nun einmal, wie es ist. Was wirst du jetzt tun?« »Ich weiß es noch nicht. Erst einmal nach Hause gehen und versuchen, mich mit Nuova wieder zu versöhnen. Du weißt, ich kann nicht mit ihm zerstritten bleiben.« »Und danach?« »Ich denke, ich werde fortgehen aus Venedig. Heute Abend hat meine Kindheit geendet, jetzt wird es Zeit, eine Frau zu sein, und die Zeit des Lernens soll nicht in der gleichen Stadt stattfinden, in der ich meine so glückliche Zeit des Kindseins verbrachte.« »Ich glaube, Nuova will auch gehen. Er hat es zwar nicht gesagt, und auch nicht angedeutet, aber ich glaube, auch er hat heute Nacht seine Kindheit hinter sich gelassen.« »Und deine?«, fragte sie und schaute ihn traurig an. »Die hat schon vor langer Zeit geendet«, antwortete er und nahm seine Maske ab. Im hellen, leichten Licht des Morgens stach die Narbe hart hervor, wie ein Messer, das gefährlich blitze, bevor es Leben zerschnitt. »Erzählst du sie mir irgendwann einmal?« »Die Geschichte, die vom Ende meiner eigenen Kindheit kündet? Ja. Aber nicht heute. Du solltest gehen, bald werden sie aufstehen und sich wundern, wo du bleibst.« Luna nickte und ging. Es sollte das letzte mal für eine lange Zeit sein, das sie Lupo sah, denn noch am selben Abend verließ sie die Stadt. Und auch Nuova ging fort, zusammen mit Lotta. Doch das sie einander wieder sehen würden, dessen waren sich sicher. Kapitel 2: Wiedersehen ---------------------- Kalter Wind peitschte Luna ins Gesicht und ein beständiger, feiner Nieselregen ließ sie schaudern, doch vertreiben konnte er sie nicht. Es war dunkel, doch nicht, weil es Nacht war, sondern weil es schon den ganzen Tag über nicht hell geworden war. Dicke Regenwolken hielten die Sonne davon ab, ihre hellen, wärmenden Strahlen zur Erde hinab zu schicken, und so fror sie, trotz des dicken Mantels. Und dennoch war sie nicht bereit ihren Platz an der Reling des Schiffes aufzugeben. Still und starr stand sie da und schaute hin zum Horizont, wo vor einiger Zeit Land erschienen war. Es war nicht irgendein Land, das sie dort sah, sondern Italien und die Stadt, die langsam in Sichtweite geriet, was ihre Heimatstadt, Venedig. Es war Jahre her, seitdem sie die Stadt des Mondes das letzte mal gesehen hatte. Sie war fünfzehn gewesen, als sie gegangen war und jetzt, mit einundzwanzig, kehrte sie wieder heim. Es kam ihr vor, als wäre sie Jahrzehnte fort gewesen und sie freute sich sehr, wieder durch die Stadt zu laufen, immer direkt am Wasser entlang. Wie viele glückliche Stunden hatte sie hier verbracht, gemeinsam mit Nuova, ihrem über alles geliebten Bruder, und Lupo, dem jungen Mann, der so oft mit ihnen gemeinsam durch die Gassen gezogen war. Wie traurig war damals der Abschied gewesen. Das auseinander gehen mit Lupo hatte sie nie als Abschied bezeichnen können, sie hatte ihm nicht einmal auf Wiedersehen gesagt. Sie war einfach nur gegangen, als würden sie einander am nächsten Morgen wieder treffen. Und auch Nouva hatte sie niemals Lebewohl gesagt, denn sie hatte gewusst, dass sie sich wieder treffen würden. Und heute würde es so weit sein. Sie wusste, dass auch ihr Bruder wieder heim kam, gemeinsam mit seiner jungen Frau. Luna hatte Lotta nie kennen gelernt, an jenem Abend hatte sie eine wertvolle Vase zerbrochen und war zur Strafe auf ihr Zimmer geschickt worden. Noch in derselben Nacht hatte sie sich mit Nuova gemeinsam davon gestohlen hinfort, zu einer Feier, die Lupo gegeben hatte, und zum ersten mal in ihrem Leben so wahr zu ihrem Bruder gesprochen, das sie es nicht mehr hätte ertragen können, wieder in seiner nähe zu bleiben. Den darauf folgenden Abend war sie nach England abgereist, ohne ein Wort des Abschieds oder der Erklärung. Nuova war ebenfalls an diesem Abend abgereist, gemeinsam mit Lotta nach Deutschland, wo er erst eine lange Zeit bei ihrer Familie gelebt hatte. Im vergangen Jahr hatten die beiden dann einander das Ja-Wort gegeben und hatten seither die Geschäfte des Vaters in England geregelt. Luna war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr dort gewesen. Sie hatte mit ihrem Bruder geschrieben und wusste daher, was mit ihm die letzten Jahre geschehen war, und er wusste, von welcher Ruhelosigkeit seine Schwester erfüllt war. Es war, als würde ihr etwas sehr wichtiges fehlen, etwas, das man nicht ersetzen konnte und auf der Suche danach hatte sie die ganze bekannte Welt bereist. Selbst auf der Seidenstraße bis nach Asien war sie gereist und durch die Wüsten bis in die südlichsten Winkel Afrikas. Und doch, finden konnte sie nicht, was ihr so wichtig war. Nicht einmal einen Namen geben konnte sie ihm. Sie würde weitersuchen, wenn sie es auch in ihrem geliebten Venedig nicht finden sollte, doch jetzt lagen erst einmal ein paar schöne Tage vor ihr. Immerhin würde sie ihren Bruder treffen und ihre Schwägerin und, wer wusste es denn schon, vielleicht sogar Lupo, der für sie immer gewesen war, wie ein zweiter Bruder. Sie wusste nicht, was aus ihm geworden war, denn mit ihm hatte sie keine Briefe geschrieben und wenn Nuova etwas wusste, so hatte er es ihr nie erzählt. »Sieh doch, Papa, da ist die Stadt!«, riss die Stimme eines kleinen Mädchens sie aus ihren Gedanken. Sie stand unweit von Luna auf der Reling und zeigte aufgeregt auf Venedig, das man mittlerweile gut erkennen konnte. Ihr Vater stand hinter ihr und versuchte sie lachend zu beruhigend, denn das kleine Mädchen war in unbändige Aufregung verfallen. Luna lachte, als sie das sah und musste unwillkürlich an sich selbst denken, denn vor einem Jahrzehnt hätte sie gewiss genauso dort gestanden und wäre ebenso ganz aus dem Häuschen gewesen, und weder ihr Vater noch ihr Bruder hätten diese Freude jemals trüben können. Nicht, das sie es gewollt hätten. »Warst du noch nie in Venedig?«, fragte sie. Ihr Englisch hatte sich sehr gebessert in den vergangenen sechs Jahren. Das Mädchen schaute sie verwundert an, dann schüttelte die heftig den Kopf und kam zu Luna gelaufen. »Noch nie, aber es soll wunderschön dort sein! Warst du schon einmal dort?«, fragte sie und ihre Augen strahlten, während sie zu Luna aufblickte. »Ich bin Venezianerin, ich bin dort aufgewachsen, auch wenn ich schon lange nicht mehr dort gewesen bin«, antwortete sie lachend. »Ist die Stadt wirklich so schön, wie alle behaupten?«, fragte das Mädchen und begann aufgeregt auf und ab zu springen. »Ich habe ganz Europa bereist und Afrika und Asien auch und ich kann dir versichern, das es nirgendwo eine solch schöne Stadt gibt, wie Venedig«, brüstete sich Luna lachend. »Dann bin ich beruhigt, dann hat sich die Reise zumindest gelohnt«, antwortete ihr das Mädchen, wirbelte herum und während sie an ihrem Vater vorbei lief, griff sie seine Hand und zog ihn ohne viel Federlesen einfach mit sich. »Lass uns ganz nach vorne gehen, von dort sehen wir bestimmt mehr!« Was der Vater antwortete hörte Luna nicht, doch das brauchte sie auch nicht. Stattdessen schaute sie wieder auf die Stadt und blieb so lange dort stehen, bis sie im Hafen eingelaufen waren. Sie war eine der letzten, die an Land ging, denn sie hatte Zeit und mochte nicht in diesem ganzen Gedränge laufen. Außerdem wartete sowieso keiner auf sie, denn sie hatte den genauen Tag ihrer Ankunft nicht gekannt, als sie Nuova das letzte mal geschrieben hatte. Auch nicht, mit welchem Schiff sie kommen würde. Wie erwartet erblickte sie kein bekanntes Gesicht in der Menge. Einen Augenblick überlegte sie, wie sie zum Elternhaus kommen sollte, beschloss dann aber zu laufen. Nass war sie sowieso und vor gefahren hatte sie keine Angst, denn kaum jemand kannte sich so gut in den Gängen aus, wie sie. Lupo hatte ihnen so viele Verstecke und geheime Gänge gezeigt, das sie keine Angst vor einem bösen Menschen hatte. Außerdem war der Weg nicht weit. Die Nacht war noch nicht vollständig über die Stadt hereingebrochen, als sie vor der Tür stand. Sie klopfte nicht sofort, sondern betrachtete erst einen Augenblick lang die beiden geflügelten Löwen aus irgendeinem wertvollen Gestein, die den Eingang bewachten. Als sie klein war hatten Vater und Bruder immer erzählt, das die Löwen Wächter waren und wenn jemand das Haus betreten wollte, der ihnen böses tun mochte, würden sie lebendig und verjagten ihn. Die Zeit, die ihnen böses getan hatte, hatten sie nicht verjagt. Sie seufzte tief, dann trat sie endgültig an die Tür und klopfte. Es vergingen nur wenige Augenblicke, da wurde sie geöffnet und eine gänzlich fremde Person schaute sie aus hochmütigen Augen an. »Sie wünschen?«, fragte sie und Luna runzelte missbilligend die Stirn. »Ich möchte zu Seniore Gallotini, sagen sie ihm, das Luna da ist«, forderte sie in so eisigem ton, das die Dienerin die Nase rümpfte und noch hochmütiger schaute. »Seniore Gallotini ist für niemanden zu sprechen, er hat besuch von seinen Sohn«, erklärte sie pikiert. »Dann komme ich ja wie gelegen«, knurrte Luna zwischen zusammengebissenen Zähnen. Die Dienerin jedoch fragte nicht nach, sondern zog viel sagend die Augenbrauen hoch und Schloss die Tür vor ihrer Nase. Verblüfft, über so viel Dreistigkeit starrte die junge Frau selbige für einige Sekunden nur fassungslos an, dann schlug sie so heftig gegen dir Tür, das ein wenig Staub aus den Ritzen rieselte. Nur Sekunden später öffnete die gleiche unmögliche Person und funkelte sie böse an. »Ich sagte, das sie Seniore Gallotini sagen sollen, das Luna da ist und mit ihm zu sprechen wünscht, also gehen sie jetzt bitte zu ihm, und tun das auch«, grollte sie ohne Umschweife. »Und ich sagte, junges Fräulein, das der Seniore für niemanden zu sprechen ist«, erwiderte die Dienerin und wollte abermals einfach die Tür schließen, doch Luna stieß sie mit einem heftigen Ruck auf und trat ein. Ohne auf das Gezeter und Gekeife zu achten, das auf die niederprasselte, lief sie schnurstracks zum Wohnzimmer des Hauses. Hier waren immer schon die schönsten und gemütlichsten Stunden des Tages verbracht worden und es würde sie wundern, wenn sie den Vater und den Bruder nicht genau hier fand. Doch sie hatte die Tür noch nicht ganz erreicht, als sie sich öffnete und ihr Bruder wütend den Kopf hinausstreckte. »Minette, was machst du hier für einen lärm, sei leise«, schollt er die Dienerin. »Ich kann nichts dafür, Senior Nuova, dieses unerzogene Ding ist hier einfach eingedrungen und will nun partout nicht wieder gehen«, jammerte die. Nuova richtete daraufhin seine Aufmerksamkeit und sein Missfallen auf Luna, die er nicht zu erkennen schien. »Wer bist du?«, fauchte er, »und was hast du hier zu suchen? Der Seniore ist heute für niemanden zu sprechen.« »Ich weiß, das hat die da auch schon gesagt«, antwortete ihm Luna in ebenso gereizten Ton und deutete auf Minette. »Und warum ignorierst du es dann?«, knurrte ihr Bruder. »Oh, ich kann auch wieder gehen, wenn es das ist, was du willst, Nuova, aber erst will ich Vater guten Tag sagen«, fauchte Luna, stieß ihn zur Seite und ging in das Zimmer hinein. Ihr Bruder indes starrte sie verblüfft an. »Luna?«, fragte er unsicher, doch sie achtete nicht mehr auf ihn. »Vater, ich bin wieder da«, sagte sie in sanften Ton zu ihrem Vater, der in einem der großen Sessel am Feuer saß und sie verwundert, aber nicht missbilligend anschaute. »Luna mein Kind? Bist du es wirklich?«, fragte er. Sie nickte und mit Tränen in den Augen stand er auf um sie heftig in die Arme zu schließen. »Luna, meine Tochter, wie habe ich dich vermisst!« Jetzt trat auch Nuova auf sie zu und schloss sie ebenso heftig in die Arme. Er entschuldigte sich, er hatte sie einfach nicht erkannt. Sie war ja auch nicht mehr das Mädchen von damals, sondern eine wunderschöne junge Frau. Es folgten fröhliche Stunden, in denen sie ihr wieder sehen feierten. Nur kurze Zeit später stieß auch Lotta auf sie und voller verblüffen erkannte Luna, dass ihre Schwägerin bald Mutter werden würde. Das hatte sie bisher nicht gewusst, Nuova hatte es ihr absichtlich verschwiegen, um sie damit zur überraschen. Diese Überraschung war ihm gelungen, denn seine Schwester freute sich sehr für das junge Ehepaar und wünschte ihnen alles Gute. Sie blieb, bis spät in die Nacht hinein, doch als sie sich dann zu Bett begeben wollten, da verneinte sie. Mit dem Hinweis, dass sie noch etwas erledigen musste, verließ sie das Haus wieder. Sie wusste nicht genau, wo sie nun hingehen sollte und ging deswegen einfach los. Mittlerweile hatte es heftig angefangen zu regnen. Obwohl sie den ganzen Tag schon wach gewesen war und sie müde war, dachte sie nicht daran, jetzt schlafen zu gehen. Stattdessen lief sie, einfach so, ohne Sinn und Ziel. Nein, ohne Sinn und Ziel war nicht richtig. Obwohl sie es sich selbst nicht zugestanden hätte, hatte ihr laufen doch ein Ziel. Sie wollte Lupo finden, sie wollte sicher wissen, dass es ihm gut ging, denn immerhin war er wie ein Bruder für sie. Es war schon sehr spät, als sie zur alten Lagerhalle kam. Es scheute sie, hinein zu gehen, denn sie wusste, dass dann die altern Erinnerungen wie eine Sturmflut über sie hergehen würden, und doch drängte sie etwas dazu. »Dort solltest du nicht hineingehen, das Dach ich baufällig, es könnte jederzeit herunter kommen«, erklärte ihr eine Stimme, nachdem sie eine Weile schon so dagestanden hatte. Sie schaute die Gestalt an, doch das Gesicht konnte sie nicht erkennen, denn er trug eine Maske. Nichts Ungewöhnliches zu dieser Zeit und so dachte sie nicht weiter darüber nach. »Wolltest du dort Unterschlupf vor dem Regen finden? Das wäre keine gute Idee, wie gesagt, das Dach ist Baufällig, seid Jahren schon«, erklärte er. Luna antwortete ihm nicht, sondern schaute einfach nur. Eigentlich sah und hörte sie ihn gar nicht wirklich, sondern war tief in Gedanken versunken, die sie regen und wind schon nicht mehr spüren ließen. »Komm lieber mit mir, ich kann dir ein Dach über den Kopf bieten. Außerdem siehst du aus, als könntest du eine warme Suppe vertragen, Mädchen. Komm mit mir«, bot er an und wie in Trance nickte sie und griff nach seiner Hand. Er sagte zwar nichts, doch er schien sich zu wundern, was mit ihr geschehen war. Vielleicht hatte man ihr ein Leid angetan und sie war noch nicht über diesen Schock hinweg? Er führte sie zielstrebig durch die Stadt ohne ein Wort zu sagen und sie folgte ihm bereitwillig bis hin zu einem großen Palast. Sie gingen nicht durch die vordere Tür hinein, sondern durch einen Botengang direkt in die Küche. Dort setzte er sie sogleich an den großen Tisch und machte ein Feuer im Ofen. »Du siehst halb erfroren aus, bist du schon lange so im regen herumgelaufen?«, fragte er während er arbeitete. »Nein«, antwortete sie einsilbig, schüttelte plötzlich den Kopf. Es wurde Zeit langsam wieder zu Bewusstsein zu kommen. Sie blinzelte ein paar mal, schaute sich dann neugierig um. »Ich arbeite hier, aber mein Herr ist gut, er hat nichts dagegen, wenn wir hier ab und an einmal eine arme Seele eine Mahlzeit und ein Dach für eine Nacht bieten«, erklärte er, bevor sie fragen konnte. »Das ist sehr freundlich von ihm. Und auch von dir, das du mich hierher gebracht hast, danke«, bedankte sie sich, schüttelte aber den Kopf, »Aber es wäre nicht nötig gewesen, ich habe ein Zuhause.« »Und nicht einmal ein schlechtes, das verrät mir deine Kleidung«, nickte er, winkte dann aber ab. »Du hast nicht auf mich gewirkt, als hättest du nach hause gehen wollen, also mach dir keine Gedanken.« Sie schaute ihn einen Moment lang nachdenklich an, dann nickte sie. »Wie heißt du?«, fragte sie leise. »Ich? Angelo«, antwortete er und lächelte. »Angelo bedeutet Engel. Nennst du dich nur so, oder ist das dein wirklicher Name?«, fragte Luna neugierig. »Nun, auch wenn ich für Menschen wie dich ab und an einmal den Engel spiele, so ist es doch mein wirklicher Name. Vielleicht hat die Person, die ihn mir gab ja gewusst, was ich irgendwann einmal tun würde«, lachte er, dann schaute er sie neugierig an. »Und dein Name?« »Der Mond, Luna«, antwortete sie und lächelte. »Der Mond also, ja? Ich liebe den Mond, er schenkt einem Trost in den einsamen Stunden der Nacht«, erklärte er und lächelte. »Ich weiß, ich war immer schon stolz auf meinen Namen gewesen. Ich glaube, dass die Namen, die man uns bei unserer Geburt gibt ein Vorbote dessen ist, was unser Schicksaal sagt. Und wer möchte nicht den Mond selbst zum Schicksaal haben?«, fragte sie. »Ich. Der Mond ist einsam am weiten Himmel und er hat nur die Nächte zum glücklich sein, den die Tage muss er an die Sonne abgeben. Wie soll man da glücklich sein?«, erkundigte er sich neugierig. Darauf antwortete Luna nicht, aber die lächelte wissend, während ihr Angelo Suppe auf einen Teller tat. Es schmeckte ihr gut, dennoch as sie nicht allzu viel, denn sie war Müde. Ihr Retter merkte das schnell und stellte den noch halb gefüllten Teller einfach auf die Waschwannen, mit dem Hinweis, das die Köchin das am nächsten morgen wegräumen würde, und führte sie hinauf in den Palast. Dem Gesinde des Herrn musste es wahrlich gut gehen, denn die Räume, in die Angelo sie führte, waren wunderschön und so groß, wie für einen guten Gast, doch auch auf wiederholtes nachfragen erklärte der junge Mann ihr immer wieder, das es bloß sein eigenes Zimmer war. Er wollte sie alleine lassen, doch er hatte noch keinen zweiten schritt zur Tür gemacht, das bat sie ihn, bei ihr zu bleiben, bis sie eingeschlafen war. Er zögerte einen Moment, doch dann nickte er und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »Der Mond ist nicht einsam, er hat Engel am Himmel, der bei ihm sind«, erklärte sie unvermittelte, »Doch was hat ein Engel, wenn er so allein ist auf Erden, wie du?« »Auch ich war nicht immer allein, ich hatte einmal ein Vögelchen. Ein hübsches Tier, das mir so viel bedeutete, wie nichts anders, doch sein sehnlichster Wunsch war es, frei zu sein. Also ließ ich ihn fliegen wohl wissend, das es zu mir zurückkommen würde, wenn es mich ebenso sehr liebte. Doch bis heute ist es nicht wiedergekehrt. Vielleicht ist es zum Mond hinauf geflogen, der ihm seinen Namen gab und hat den Rückweg nicht mehr gefunden. Vielleicht hat es aber auch ein anderes Vögelein getroffen und denkt nun nicht mehr an mich«, erzählte er und antwortete damit auf ihre frage. Luna hörte ihm zu, schaute ihn dann in die wunderschönen braunen Augen und einer plötzlichen Ahnung folgend fragte sie: »Würdest du mir dein Gesicht zeigen? Ich mag wissen, wie mein Retter aussieht.« Er zögerte einen Moment, dann nahm er die Maske ab und darunter hervor kam ein verheertes Gesicht, beherrscht von einer scharfen Narbe. »Dein Vögelchen hat jetzt endlich den Rückweg gefunden, Lupo«, flüsterte sie und schaute ihn mit tränen in den Augen an. Jetzt endlich hatte sie gefunden, was sie gesucht hatte. Lupo jedoch schien noch nicht ganz zu begreifen, was sie meinte, denn er blinzelte sie verwundert an. Dann nickte er mit einem lächeln und schloss sie in die Arme. »Ich wusste doch, dass es sich nur verirrt haben konnte. Willkommen zurück von deiner Mondreise, Luna«, antwortete er. Noch lange saßen sie so da, eng umeinander geschlungen und freuten sich, dass sie endlich ihr Glück gefunden hatten. Und während die Sonne an diesem Morgen die Wolken aufriss und seine warmen strahlen auf das Land hinabschickte, die ersten, nach einer langen Zeit des Regens, da fragte der Engel den Mond, ob sie nicht fortan gemeinsam den Nachthimmel erleuchten sollten. Der Mond lachte laut auf vor Freude und sagte dankend ja, denn so schön die Sterne auch waren, wahre Freunde konnten sie nicht sein. Doch jetzt würde sie dennoch nicht mehr einsam sein. Kapitel 3: Lupos Geschichte --------------------------- Luna gähnte, streckte sich und blinzelte verschlafen in den Raum. Es war dunkel, offensichtlich hatte keiner Licht gemacht. Aber wer wusste auch schon, wie spät es war? Vielleicht schliefen schon alle in dem großen Haus und sie allen war noch wach. Sie stand auf und trat an eines der großen Fenster. Das schwarze Wasser glitzerte unter ihr und war besprenkelt von tausenden von Sternen. Sie schaute zum Himmel auf. Der Mond war schon aufgegangen, es musste also schon sehr spät sein. Sie überlegte einen Moment, dann öffnete sie das Fenster und setzte sich auf die Fensterbank. Ein warmer Wind streichelte ihr Gesicht und strich sanft durch ihr rotes Haar. Glücklich lächelnd saß sie eine ganze weile so da, dann fiel ihr mit einem mal ein Licht auf, das durch ein Fenster im unteren Teil des Hauses auf die Straße fiel. Sie überlegte einen Moment, ob es vielleicht ein Einbrecher sein könnte, doch sie wusste, dann hätten die beiden Hunde angeschlagen, die im unteren Teil des Hauses schliefen. Sie stand auf und verließ das Zimmer um nachzuschauen. Sie schlich die Treppe hinunter, wurde sofort von Cane begrüßt. Sie deutete dem Hund lachend, still zu sein, sie wollte nicht das jemand wegen ihr wach wurde, ließ ihn dann aber an ihrer Seite laufen. Sie war sich nicht sicher, dass es wirklich nur einer der Hausbewohner war, und mit dem Rüden fühlte sie sich sicherer. Sie schlich leise weiter, hin, zu der angelehnten Tür, durch die warmes Licht schimmerte. Sie blickte durch den Spalt und trat verwundert in den Raum. »Gabriel, was tust denn du zu dieser Stunde noch hier?«, fragte sie und blickte auf den kleinen, schwarzhaarigen Jungen hinab. Der fuhr erschrocken zusammen, stieß dabei fast die Kerze um, die er zum lesen mit hierher genommen hatte. »Ich…«, begann er, versuchte dabei ein Buch zu verstecken, in dem er offensichtlich gelesen hatte. Luna schaute ihn verwundert an, trat dann zu ihm, nahm die Kerze an sich und stellte ihn auf einen Tisch, bevor Gabriel sie doch noch vor lauter Nervosität umstieß, dann setzte sie sich zu ihm. »Erzähl«, sagte sie und lächelte. »Ich…«, er überlegte erst einen Moment, dann zog er das Buch hervor und hielt es Luna hin. »Ich habe in dem Buch gelesen, das Vater mit verboten hatte. Ich wollte niemanden wecken, deswegen bin ich hier herunter gekommen.« »Und warum hast du es gelesen? Obwohl du es nicht darfst?«, fragte sie neugierig und nahm es an sich. Es war eine Biographie über einen berühmten Violinisten, der in Venedig gelebt hatte. Gabriel hatte es gefunden, als er einmal mit seiner Schwester Stella in der Bibliothek gespielt hatte. »Es war gerade so spannend. Kaum zu glauben, das so ein Mensch einmal hier in dieser Stadt gelebt haben soll, er war so…«, Gabriel rang mit leuchtenden Augen nach Worten. »Er war so einzigartig und besonders. Ich verstehe nicht, wieso Vater nicht will, dass ich das Buch lesen, es war doch ein so wundervoller Musiker und gegen anderen Musiker hat er doch auch nichts«, er schaute Luna so vorwurfsvoll an, als wäre es allein ihre Schuld. »Ich weiß es nicht, mein kleiner. Ich habe ihn nicht gefragt. Aber jetzt ist es schon spät, du solltest schon lange schlafen. Ist Stelle auch mit herunter gekommen?«, sie stand auf und zog Gabriel auf die Beine. »Nein, ich glaube, sie schläft schon. Ich wollte eigentlich auch nicht so lange bleiben, aber ich habe beim lesen die Zeit vergessen«, erklärte er und ging Augen reibend zur Tür. Luna legte das Buch auf den Tisch und folgte dann mit der Kerze die Treppe hinauf in Gabriels Zimmer. Leise schlichen sie zu seinem Bett und sie deckte ihn fest zu. »Gute Nacht«, flüsterte sie ihm zu. »Gute Nacht, Mama«, flüsterte er zurück und war eingeschlafen, kaum das er die Augen geschlossen hatte. Sie lächelte ihn noch einen Moment lang an, dann stand sie auf und trat an das Bett ihrer Tochter Stella. Auch sie schlief schon tief und fest. Sie zog die zur Seite gestrampelte Decke wieder über das Mädchen und verließ dann den Raum. Sie zögerte einen Moment, dann holte sie das Buch von unten und ging ins Schlafzimmer. »Lupo, bist du wach?«, fragte sie leise in die Dunkelheit. »Natürlich, wie soll ich denn auch schlafen, wenn unten Gestalten durch das Haus huschen?«, fragte er leise zurück und drehte sich langsam auf den Rücken. »Lupo, mein liebster, ich habe eine Frage«, sagte sie und setzte sich auf die Bettkante. »Ich höre?«, fragte er und streckte sich. Luna machte eine Kerze an und legte das Buch auf seine Brust. »Wieso willst du nicht, das Gabriel es liest?«, fragte sie. Nicht neugierig, nicht fordernd, sie fragte einfach. Lupo seufzte tief, nachdem er einen Blick auf das Buch geworfen hatte. »Weißt du eigentlich, wer Alessandro Celentano ist?«, fragte er und schaute Luna an. »Ein venezianischer Violinist«, antwortete sie ernst. Er lachte leise. Welche Antwort hatte er auch erwartet. »Natürlich, du hast recht. Aber das ist nur sein Künstlername, wirklich hieß er Alessandro Enna. Der Name klang ihm aber nicht hochtrabend genug, deswegen nannte er sich Celentano. Und hast du eine Ahnung, wer Alessandro Enna ist?« »Ein Verwandter von dir, immerhin hast du den gleichen Nachnamen wie er«, antwortete Luna und kuschelte sich an Lupo. »Nicht nur irgendein Verwandter, meine Mondprinzessin, sondern mein Vater«, erwiderte er und schaute sie traurig an. Luna überlegte einen Moment, dann sagte sie: »Dann ist das hier sein Haus gewesen? Wieso bist du fortgelaufen und hast gelebt, wie ein Betteljunge, wenn du doch aus reichem Hause stammst? Dann hätte ich auch nicht so viele Probleme damit gehabt, Vater von unserer Verbindung zu überzeugen. Er glaubt bis heute, das du einen reichen Mann hinters Licht geführt hast, um an sein Vermögen zu kommen.« »Ich weiß. Aber ja, es war sein Haus, und jetzt ist es unseres. Das ist aber nicht der Punkt, ich war gerne hier, aber nur, wenn mein Vater eben nicht hier war. Du hast mich vor sehr langer Zeit einmal gefragt, ob ich dir erzähle, woher ich die Narbe habe. Wenn du willst, dann erzähle ich es dir jetzt«, bot er an und nahm sie in den Arm. Luna antwortete nicht sofort, denn sie wusste, dass es ihm schwer fallen würde, darüber zu reden, doch dann siegte ihre Neugier und sie nickte zögernd. »Ich war damals noch ganz klein, etwa so alt, wie Gabriel jetzt, vielleicht ein bisschen älter, da ging mein Vater zu einem Treffen. Oder nein, ich glaube eher, dass es eine art Feier gewesen ist. Eigentlich ist es aber auch egal. Organisiert wurde sie jedenfalls von einem damals sehr berühmten Musiker, wie er hieß weiß ich nicht mehr. Vater war dort gewesen, er galt als sehr hoffnungsvollen Nachwuchsviolinist und der Gastgeber wollte ihn mit verschiedenen Leuten zusammen bringen, die ihm helfen konnten.« Lupo stockte einen Moment, für eine Sekunde verlor er sich in Erinnerungen. Luna nahm seine Hand und drückte sie, sagte jedoch nichts. Er schüttelte die Erinnerung ab und erzählte weiter. »Er war den ganzen Abend dort und ich wartete sehnsüchtig darauf, dass er wieder nach Hause kam. Er hatte mir versprochen, mir zu zeigen, wie man Violine spielt. Du musst wissen, damals war er noch lieb zu mir, damals war die Welt noch in Ordnung für uns drei. Irgendwann dann kam er nach Hause und ich schlich aus meinem Zimmer, um ihn zu begrüßen. Für eine Violinenstunde war es schon zu spät, aber hallo sagen wollte ich ihm dennoch. Aber er war so wütend. Er schrie meine Mutter an und gab ihr Namen, an die ich niemals mehr denken möchte. Erst sehr viel später habe ich erfahren, dass er wohl von einem anderen jungen Mann ausgestochen wurde. Ein Mann, der für ein sehr bekanntes Orchester die Verantwortung hatte, hatte ihn für ein Vorspiel eingeladen, doch dieser Mann hatte ihm Lügen über meinen Vater erzählt. Er war immer ein ehrenhafter Mensch gewesen, der niemals etwas falsches getan hatte, aber der Mann hatte es geglaubt und meinen Vater wieder ausgeladen.« »Menschen können sehr grausam sein«, sagte sie leise und dachte an ihre eigene Grausamkeit. »Oh ja, das können sie. Vater auf jeden Fall war wütend und beschloss, es selbst zu schaffen. Er wollte der beste werden um es diesen einen Mensche zu zeigen, der einem vollkommen Fremden so einen Schwachsinn glaubte. Er begann, wie besessen zu spielen und zu üben, er schloss sich für Wochen in sein Zimmer ein und kam nicht einmal zum essen hinaus.« Lupo ließ Luna los und stand auf. Er ging zum Fenster und setzte sich auf die Fensterbank. »Dies hier ist das Zimmer, in dem er übte. Und auf dieser Fensterbank hat er immer gesessen, wenn er spielte. Auch davor schon. Er hat einmal zu mir gesagt, dass er von hier aus sehr gut das Meer sehen könne. Das Meer hat ihn immer schon sehr viel bedeutet. Er ist oft mit mir zum Wasser gegangen und hat mir Geschichten erzählt. Von Ländern, die hinter dem Horizont liegen und von Reisen auf der rauen See. Ich konnte ihm stundenlang zuhören, wenn er mir seine Geschichten erzählte«, er lehnte sich gegen die Wand, während er hinaus auf die Bucht blickte. »Aber das war vorbei, nachdem er angefangen hatte, wie besessen zu üben. Er war gut, er war mehr als gut. Fast schon brillant, und doch, er hatte immer das Gefühl, nicht gut genug zu sein, und deswegen wurde er immer Griesgrimmiger und immer schlechter gelaunt. Und irgendwann begann er, meinte Mutter zu schlagen. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, ich glaube, sie hat versucht, ihn zum Abendessen in die Küche zu holen, aber er wollte mal wieder nur spielen. Sie ist hinaufgegangen und hat mit ihm gestritten. Irgendwann hat er geschrieen, dass sie gehen soll, doch sie ist dort geblieben. Da ist er aufgestanden und hat sie geschlagen. Danach hat sie ihn in ruhe gelassen, aber er hat keine ruhe mehr gegeben. Wann immer er nicht mehr weiter kam, wann immer er das Gefühl hatte, nicht gut genug zu sein, hat er seine Wut, die er auf sich selbst und sein können hatte, an ihr ausgelassen. Irgendwann einmal bin ich dazwischen gegangen. Ich wollte nicht mehr sehen, was er Mutter antut, in seinem Hass auf einen Mann, dessen Namen ich nicht einmal kenne. Ich glaube, auch er hat ihn nicht gekannt. Aber es spielt auch keine Rolle, denn nun hatte ich es gewagt, mich gegen ihn zu Stellen und das konnte er sich nicht bieten lassen. Nun war ich sein Prügelknabe. Wann immer etwas nicht lief, wie erhofft, war ich es, der die Prügel bezog. Ich begann immer öfter auszubleiben, ich kam immer später vom spielen nach Hause, doch dann tat er wieder meiner Mutter so schreckliche Dinge an, das ich damit schnell aufhörte. Eines Tages passierte es dann.« Lupo hielt inne, musste sich erst einmal auf das besinnen, was er nun erzählen wollte. Einige Minuten starrte er nur blicklos vor sich hin, dann atmete er ein paar mal tief durch und wandte sich wieder Luna zu. »Es war ein nebliger, regnerischer Tag, wie der, an dem wir uns nach sechs Jahren wieder getroffen hatten. Er war zu einem Vorspiel außer Haus gegangen und Mutter und ich waren froh, dass wir nun für ein paar Stunden nicht seinen Launen ausgesetzt sein würden. Irgendwann kam er dann nach Hause, blutüberströmt und schlechter gelaunt den je. Er war bei der schlechten Sicht vor eine Pferdekutsche gelaufen«, Lupo lachte bitter auf, » er konnte seine Hand nicht mehr bewegen! Luna, kannst du dir Vorstellen, was es für einen Violinisten bedeutet, wenn er eine Hand nicht mehr gebrachen kann?« Er schaute sie mit einem schmerzerfüllten, fast wahnsinnigen Blick an. Sie duckte sich ein wenig unter diesen wahnsinnig glühenden Augen. So hatte sie ihn noch nie gesehen und es machte ihr ein wenig Angst. »Nein, natürlich kannst du das nicht. Wie solltest du auch? Nicht einmal ich kann es in aller tragweite begreifen, und mir bedeutet das Violinenspiel ebenfalls sehr, sehr viel. Mein Vater war natürlich verzweifelt, dieser eine Unfall, der ihn nicht einmal schwer verletzt hatte, hatte ihn doch das genommen, was ihn am wichtigsten war. Mutter und ich haben versucht, ihn zu beruhigen, ihn aufzumuntern, dass es vielleicht nicht so schlimm war, das er sie vielleicht morgen schon wieder bewegen könnte, aber er wollte nicht hören. Er schrie und tobte, wie von Sinnen und als er dann damit begann, wieder meine Mutter zu schlagen, da habe ich mich zwischen die gedrängt und ihn angeschrieen, das er das nicht tun darf«, abermals lachte Lupo auf, doch diesmal hörte es sich eher belustet an. »Ich war damals sechs Jahre alt, Luna! Und ich wollte ihm sagen, was er tun darf, und was nicht?« Nachdenklich schüttelte er den Kopf, schaute sie aus dunklen Augen forschend an. »Für einige Augenblicke hat er mich einfach nur verständnislos angesehen. Ich denke, dass er im ersten Augenblick nicht einmal wirklich realisiert hat, was geschah. So lieb er auch einst war, so war er doch immer sehr streng, und das ausgerechnet sein eigener Sohn es wagte, so mit ihm zu sprechen, musste ihm so absurd vorgekommen sein, das er es gar nicht realisiert haben konnte. Dieser Umstand hielt jedoch nicht lange an. Er schrie mich an, wie ich es denn wagen konnte, so mit ihm zu sprechen, er nahm mich und schüttelte mich, bis ich nicht mehr wusste, wie mir geschah, und dann nahm er seine Violine.« Ein bitteres lächeln huschte über das zerstörte Gesicht und Luna stellte entsetzt fest, das Tränen in den Augenwinkeln ihres geliebten Mannes glitzerten. »Er nahm seine Violine und schlug damit auf mich ein. Ich war noch so klein, ich konnte mich nicht wehren, aber das war ihm in seiner Raserei egal. Die Violine zerbrach und die Splitter zerrissen mein Gesicht, das habe ich noch mitbekommen, bis ich irgendwann ohnmächtig wurde. Als ich aufwachte, war ich mit meiner Mutter alleine in einem alten, leeren Haus. Weder wir wollten zurück, also blieben wir dort. Aber du weißt, du hast meine Mutter nie kennen gelernt, denn sie starb nur ein halbes Jahr später an einer Lungenentzündung. Den Rest kennst du, ich wurde in eurem Haus als Küchenjunge angenommen, da trug ich schon die Maske. Meine Mutter brachte sie mir nur ein paar Tage, nachdem wir gegangen waren, sie wusste, das ich mit diesem Gesicht sonst kein Glück mehr finden konnte«, er zog die Knie an, legte seine Arme herum und legte dort sein Kinn drauf ab. »Hast du… danach noch einmal mit deinem Vater gesprochen? Jemals wieder?«, fragte sie vorsichtig. »Nein. Er wurde der beste Violinist, den diese Stadt jemals gesehen hatte, offensichtlich war seine Hand doch nicht so schlimm verletzt, wie der dachte. Aber gesehen habe ich ihn nicht wieder. Was schade ist, ich hätte ihm gerne gesagt, das ich ihm alles verzeihe, und das auch Mutter ihm alles verziehen hatte, aber als ich mich dazu aufraffen konnte, war es schon lange zu spät. Ich traf nur noch meinen Onkel, der mir sagte, dass das hier nun alles mir gehört«, er seufzte und schaute traurig zu Luna. Dabei fiel sein Blick auf das Buch. »Ich will nicht, dass Gabriel das Buch liest, weil es voller Lügen ist. Ich habe es gelesen, als ich in das Haus eingezogen bin. Nicht einmal steht sein richtiger Name dort drinnen, von einer Frau, die er über Jahre misshandelte steht ebenso wenig, wie von einem Sohn, den er das Gesicht zerstörte. Ich will nicht, dass unser Sohn seinen Großvater anhimmelt, obwohl er nicht die wahre Geschichte kennt, aber ich will sie ihm auch nicht erzählen. Er ist erst fünf, es wäre grausam, ihn jetzt schon mit den schrecklichen Seiten des Lebens zu konfrontieren, er soll erst einmal seine Kindheit so leben dürfen, wie ich es niemals gekonnt habe«, erklärte er. »Ja, ich kann dich verstehen. Aber warum verbrennst du es nicht einfach?«, fragte sie arglos, stand auf und trat zu ihm ans Fenster. »Weil ich das Gefühl habe, das es meinem Vater gegenüber nicht fair wäre. Er hat schreckliches getan, aber er hat es bereut. Es erinnert mich an ihn, auch wenn nur Lügen darin stehen, habe ich dennoch das Gefühl, das es das einzige ist, was mir von ihm geblieben ist. Das Haus ist eine Erinnerung an meine Mutter, das Buch soll eine Erinnerung an meinen Vater sein. Ein Sinnbild für die schönen Moment, für die wundervollen Geschichten, die er mir erzählt hat«, versuchte er zu erklären. Luna nickte, doch dann fiel ihr etwas ein. Sie hatte beim aufräumen etwas auf dem Dachboden entdeckt, was vielleicht eine viel schönere Erinnerung an Lupos Vater sein mochte. Sie machte sich eine andere Kerze an, denn sie wollte ihm das Licht nicht nehmen, und verließ das Zimmer. Eilig lief sie auf den Dachboden hinauf und schon nach einigen Augenblicken hatte sie gefunden, was sie suchte und lief wieder hinunter. Mit glänzenden Augen hielt sie dem verblüfften Lupo einen Violinenkoffer hin und ein paar Blatt Papier. Er nahm es entgegen, legte den Koffer auf die Fensterbank und schaute die Blätter durch. »Wo… hast du das her?«, fragte er und schaute die Seiten abwesend an. »Vom Dachboden«, antwortete sie und setzte sich lächelnd zu seinen Füßen. »Spielst du es mir vor?« Er schaute noch einen Moment schier fassungslos auf die Noten, den nichts anderes war es, was auf den Blättern stand, nickte dann. Er öffnete den Violinenkasten und starrte wieder nur fassungslos auf das, was er sah. »Ich glaube, es hat ihm wirklich sehr Leid getan, sonst hätte er dieses Lied nicht geschrieben. Und sonst würde es diese Violine nicht geben«, lächelte sie. Er nickte und nahm sie aus dem Kasten, strich einen Moment liebevoll über das rötliche Holz, bevor er sie ansetzte. Er strich ein paar mal mit dem Bogen sanft über die Saiten, stimmte die Violine richtig und begann dann zu spielen. Erst ein paar Lieder, die er noch aus Kindertagen kannte, um wieder ins Spiel einzufinden, den er hatte seid Jahrzehnten nicht mehr gespielt. Dann nahm er die Notenblätter zur Hand und begann das Lied zu spielen, das sein Vater für ihn geschrieben hatte. Es war ein trauriges Lied, ein Lied, das um Entschuldigung und Vergebung flehte, doch zum Schluss hin wurde es plötzlich anders, als wenn der Komponist wissen würde, das ihm sein Wunsch erfüllt wurde, das ihm seine Sünden und Taten vergeben wurden. Es war schon sehr spät, als Lupo die Violine absetzte, auf der sein Name stand und das Lied beendete, das seinen Namen trug. »Für dich, mein Sohn Angelo«, las er leise vor, was auf der letzten Seite unter den Noten stand, »der Engel in meinem Leben, wo auch immer du sein magst. Ich liebe dich.« Kapitel 4: Ende --------------- Dunkelheit legte sich wie eine samtschwarze Decke über das Haus. Es war früher Abend, doch weil der Winter seine Hände nach dem Land ausgestreckt hatte, war es schon so dunkel, wie zur späten Stunde. Die Bewohner und die Gäste des Hauses saßen alle um eine einzige Person herum und waren bedacht, so leise wie möglich zu sein, um nicht einen der Töne, den der Violinenspieler seinem wunderbaren Instrument entlockte, zu übertönen. Schon seid einiger Zeit saßen sie so da, doch kam es ihnen vor, als hätten sie sich eben erst hingesetzt, denn der Klang der Melodie hatte sie verzaubert und führte sie gekonnt in ihre eigene Traumwelt, in der ihre Sorgen ihnen wie Unsinn erschienen, und ihre Träume dafür so erreichbar nah, als müssten sie nur die Hand ausstrecken, um sie zu berühren. Der Violinist ließ noch ein paar Takte hören, setzte dann sein Instrument ab, um zu sehen, wie seine Zuhörer langsam wie aus Trance zu erwachen schienen und sich erst einmal in der Wirklichkeit wieder zurechtfinden mussten. »Du hättest das beruflich machen sollen, mein lieber Angelo, du könntest größer sein, als es dein Vater jemals gewesen ist«, sprach als erste Nuova und schaute bewundert zu dem Freund aus Kindertagen. Lupo schaute ihn einen Moment lang nachdenklich an, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. »Nein nein, ich spiel lieber nur ab und an und wenn mir danach ist«, antwortete er, stand auf, um die Violine in den Kasten zurück zu legen. »So ist es mir auch viel lieber«, stimmte Luna zu, lächelte ihr bezauberndes lächeln, das Lupo so an ihr liebte. »Ich würde es toll finden, wenn Papa ein berühmter Musiker wäre«, schlug sich ihre Tochter Stella jedoch sogleich auf die Seite des Onkels. »Dafür bin ich schon viel zu alt, mein Kind«, lachte Lupo und setzte sich wieder zu seiner Familie, »berühmt sein ist etwas für junge Leute und nicht für welche, die schon damit beginnen, die Kälte in ihren alten Knochen zu spüren.« »Du bist noch nicht alt, Papa«, mischte sich Gabriel und warf der Mutter einen Hilfesuchenden Blick zu. Die jedoch lächelte nur. »Immerhin bin ich der älteste hier im Raum«, erwiderte Lupo und setzte sich so nahe an das Feuer des Kamins, wie es ging. Er hatte recht. Nuova und Luna waren beide zwei Jahre jünger als er und Lotta sogar vier. Die anderen vier Leute waren seine Kinder Gabriel und Stella, der Sohn von Lotta und Nuova, Antonio und dessen junge Verlobte Alessia. »Und trotzdem bist du noch nicht alt«, fand nun auch Stella und setzte sich zu seinen Füßen. »Das vielleicht nicht, aber doch zu alt um noch ein bekannter Musiker zu werden«, sprach er das letzte Wort und wischte alle Einwände beiseite. Stella schob schmollend die Lippe vor, doch sie sagte nichts mehr. Stattdessen sprang sie auf, um mit ihrer Mutter gemeinsam den Tisch zu decken. Während sie dem Lied gelauscht hatten, hatten sie ganz vergessen, dass es längst schon Zeit war für das Abendessen. Doch das war schnell getan und so saßen sie nur ein paar Augenblicke später beisammen am Tisch. Sie unterhielten sich und lachten, und es war eine fröhliche Runde, da lenkte Stella das Gespräch auf ein Thema, das sie länger schon beschäftigte: »Wann genau fährst du nach England, Antonio?« Ihr Cousin schaute sie verwundert an, denn es kam nicht oft vor, das sie mit ihm sprach. Es war nicht so, dass sie ihn nicht mochte, aber während Stella ein ausgesprochener Wildfang war und ein wunderbares Gespür für Musik besaß – etwas, was sie ganz eindeutig von der Familie ihres Vaters geerbt hatte, den die war bestückt von herausragenden Musikern -, da war er nicht einmal in der Lage, ein Saiteninstrument in die Hand zu nehmen, ohne das mindestens eine der Saiten riss. Er hörte lieber zu, statt selbst zu spielen. Zudem war er noch ruhig und besonnen und tat nie etwas Unüberlegtes oder gar Verbotenes, sodass es zwischen ihnen nie zu mehr als ein höflichen Worten gekommen war. Mit Gabriel dagegen kamen sie beide gut aus, er war der Vermittler. Auch er war ein wenig wie das Wasser. Wenn der Wirbelwind Stelle ihn heftig anblies, dann konnte auch er stürmisch und unberechenbar sein, doch war er auch ein vernünftiger junger Mann, der dachte, bevor er etwas sagte oder tat. »In zwei Wochen legt die Speranza ab. Auf ihr werde ich fahren«, erklärte er seinem Teller, denn er wagte es nicht, Stella dabei anzublicken. »In zwei Wochen. Ach wie gerne würde ich dich begleiten, ich bin noch nie aus Venedig weg gewesen«, erklärte sie und starrte verträumt Löcher in die Luft. »Wirst du auch nicht so schnell, mein junges Fräulein«, erklärte Lupo zwischen zwei bissen, denn er wusste genau, was seine Tochter damit sagen wollte. Die warf ihm einen giftigen Blick zu, denn ihre Hoffnung war es gewesen, ihre Mutter von dieser Fahrt zu überzeugen. Luna war in ihrer Jugend selbst viel gereist und konnte deswegen besser erahnen, wie es ihrer Tochter ging, während Lupo sein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht hatte. Stella schaute neugierig zu Alessia hinüber, die den ganzen Abend über noch nichts gesagt hatte. Sie war noch stiller, als Antonio, soweit dies überhaupt möglich war, und fühlte sich zwischen diesen ganzen, glücklichen Menschen nicht ganz wohl. So viel Lebensfreude war sie einfach nicht gewohnt. »Du fährst auch mit, nicht wahr?«, erkundete Stella weiter. Das Mädchen nickte schüchtern und warf ihrem Verlobten einen Hilfesuchenden Blick zu. »Die beiden werden dort meine Geschäfte beaufsichtigen, aber das weißt du doch, Stella, Kind«, mischte sich Nuova stirnrunzelnd ein. »Das Antonio fährt wohl, aber das er Alessia mitnimmt bisher noch nicht sicher«, erklärte die. Nuova blinzelte verwundert über den pikierten Tonfall, in dem seine Nichte gesprochen hatte, doch als er einen Hilfesuchenden Blick seiner Schwester zukommen ließ, grinste sie ihn einfach nur an. Luna war stolz auf ihre Tochter, die vieles war, aber gewiss nicht auf den Mund gefallen. Auch Lupo konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht ganz verkneifen. Er hatte Nuova immer wieder gewarnt, das seine Tochter nicht so lieb war, wie sie sich nach außen hin gab, ja, dass sie es sogar faustdick hinter den Ohren hatte, doch der hatte immer abgewinkt. »Ach, Stella, du wirst schon irgendwann einmal mit dem Schiff irgendwohin fahren, aber noch ist es nicht so weit, und das weißt du genau. Stecke deine Kraft, die in der Begeisterung solcher Ideen steckt, doch besser in dein Üben, dann bist du bald gut genug, um in Paris und London und ganz Europa am Hofe jeden großen Hauses vorspielen zu können. Dann kannst du genug reisen«, lachte er und zwinkerte der jungen Frau verschwörerisch zu. »Ja, Papa, du hast wohl recht«, seufzte sie, doch ließ sie ihren Blick zum Fenster gleiten. Sie sah nicht, was draußen war, doch sie wusste, wo der Horizont sein musste, und den umtänzelte sie mit ihrem sehnsuchtsvollen Blick. Nuova griff das neue Thema sogleich auf. »Ich hörte, das du sehr gut geworden sein sollst?«, fragte er, doch Stella antwortete nicht. Sie war zu sehr in Gedanken versunken. »Oh ja, sie ist herausragend, aber sie ist nicht von ihrem tun besessen, was mindestens ebenso wichtig ist«, antwortete Lupo an ihrer statt und dachte dabei an jenen Tag, als sein Vater ihm, in seinem Wahn das Gesicht zerstörte, sodass er bei fast jeder Gelegenheit eine Wolfsmaske trug, die ihm den Namen Lupo einbrachte. Nuova nickte und schaute Gabriel an. »Und wie sieht es mit deiner Künstlerkarriere aus?« »Oh, das musizieren liegt mir nicht so sehr, wie Stella, das weißt du doch«, antwortete der mit einem gutmütigem lächeln. Auch er konnte beeindruckend Violine spielen, doch hatte er nicht diese unbändige Freude daran, wie seine kleine Schwester, doch dafür hatte er eine andere Begabung. »Dafür läuft es mit meinem Buch ganz hervorragend.« »Dann freu ich mich darauf, es irgendwann einmal lesen zu dürfen«, lächelte Nuova. Gabriel nickte und seine Augen glänzten vor Freude. Einige Zeit unterhielten sie sich noch über Belanglosigkeiten, dann setzten sie sich gemeinsam ins Wohnzimmer, während Luna mit ihrer Tochter das benutzte Geschirr in die Küche trug. »Du bist auch noch nie in England gewesen, oder?«, nahm Nuova das alte Thema nun doch wieder auf, obwohl es ja er gewesen war, der selbiges gewechselt hatte. »Nein, ich war nie woanders, als in Venedig«, antwortete Lupo schulterzuckend. »Hat dich niemals das Fernweh gepackt?«, fragte Lotta ungläubig. »Doch, als ich ein Kind war, aber das ist schon lange her. Ich wollte damals unbedingt einmal nach Paris und nach England, den von diesen Städten hat mir mein Vater am häufigsten erzählt«, erklärte er lächelnd. »Warum bist du dann nicht fort gegangen?«, fragte Gabriel neugierig. Er liebte es, wenn sein Vater seine Geschichten erzählte. »Wie denn? Auf einem Schiff anheuern und dann dorthin segeln? Einfach so?«, fragte Lupo lächelnd. »Natürlich. Du wärst gewiss nicht der erste«, antwortete Nuova. »Das nicht, aber was wäre dann gewesen? Hier hatte ich Arbeit, regelmäßige Mahlzeiten und ein Dach über den Kopf. Was hätte ich dort gehabt?«, fragte er und lieferte damit ein – für die anderen zumindest – unschlagbares Kontra. »Aber warum machst du diesen Kindheitswunsch nicht jetzt einfach wahr? Stella hätte ihre helle Freude daran und für Gabriels Buch wäre es gewiss auch nicht schädlich, wenn er etwas von der Welt sieht«, überlegte sein Schwager. »Recht hast du schon, zumindest was die Kinder anbelangt«, nickte er langsam, schüttelte aber dann den Kopf. »Ich bleibe aber lieber zu Hause und allein fahren lassen will ich sie auch nicht.« Nuova wollte offensichtlich wiedersprechen, doch Gabriel schüttelte sacht den Kopf. Stella hatte den Raum betreten und die letzten Worte mit angehört, und sie konnte viel besser mit dem Vater umgehen, als irgendwer sonst, von Luna einmal abgesehen. Sie setzte sich wie üblich zu seinen Füßen und schaute ihn bittend aus ihren braunen Augen an. »Dann lass uns mit Antonio fahren, dann sind wir nicht allein«, erklärte sie lächelnd. »Er ist ja auch so viel älter, als ihr«, antwortete Lupo sarkastisch, aber auch belustigt. »Großvater hat Mama und Nuova doch auch immer in deine Obhut gegeben«, gab sie sogleich zu bedenken. »Nuova und Luna haben ja auch auf mich gehört. Bei dir und Antonio sieht es da dann doch ein bisschen anders aus«, lachte er. Stella zog eine Grimasse, denn ihr Vater hatte recht. Dennoch wollte sie noch nicht aufgeben. »Und wenn ich verspreche, ausnahmsweise alles zu tun, was er sagt?«, fragte sie und nutzte ihren Augenaufschlag, der schon viele Männer um den Verstand gebracht hatte. Das er bei ihrem Vater herzlich wenig nutzte, das war ja egal, versuchen konnte man es trotzdem. »Stella, da kenn ich dich aber besser. Sobald du irgendetwas Interessantes siehst, ist jedes versprechen doch egal«, erklärte er augenzwinkernd. Abermals schnitt die Tochter eine Grimasse, denn abermals hatte ihr Vater recht mit dem, was er sagte und langsam gingen ihr die Argumente aus, da kam Hilfe von unerwarteter Seite. »Du weißt aber schon noch, das ich früher genau so ein Wirbelwind gewesen bin, wie Stella jetzt?«, fragte Luna und setzte sich auf die Fensterbank. »Wie sollte ich das jemals vergessen. Aber was hat das hiermit zu tun?«, erkundigte sich Lupo. »Ich war viel jünger als die beiden, als ich damals durch die Welt reiste, und ich war allein. Ich denke, das sie beide sehr gut damit umgehen könnten, und wenn Stella mal wieder über das Ziel hinausschießt, dann gibt es immer noch Gabriel, der hat sie deutlich besser in der Hand, als Antonio, auf ihn hört sie«, erklärte sie und lächelte ihre Kinder mütterlich an. Lupo atmete tief ein, wie um zu widersprechen, gab sich dann aber geschlagen. »Wenn ihr alle gegen mich seid, dann soll’s mir recht sein. Aber ihr fahrt nicht alleine, ich werde mit euch kommen, auch wenn ich keine Lust auf eine solch lange fahrt habe.« »Papa, du bist der Beste!«, freute sich Stella und fiel ihm um den Hals und auch Gabriel sprang mit leuchtenden Augen auf. »Ich bleibe aber hier, irgendwer muss ja auf das Haus aufpassen«, lachte Luna und freute sich mit ihren Kindern. Lupo nickte, hatte aber keine Gelegenheit zu antworten, denn Stella sprach so schnell und wortreich auf ihn ein, dass er nichts sagen konnte. »Fahren wir auch mit der Speranza? Dann fahren wir ja schon in einer Woche! Oh, England ist bestimmt irrsinnig Interessant! Dann kann ich auch… Ohh!«, sie sprang auf und lief aus dem Raum, um kurz darauf wieder zurückzukommen und Gabriel mit sich zu ziehen. Die anderen schauten den beiden lächelnd hinterher. »Wie sehr sie sich freuen«, lachte Nuova. »Oh ja, das wird jetzt eine sehr anstrengende Woche. Ab jetzt wird Stella keine ruhe mehr geben«, seufzte Lupo. Er behielt recht. Die folgenden Tage sprach seine Tochter von nichts anderem mehr und wurde von Tag zu Tag aufgeregter. Gabriel ging es nicht viel anders, er war in Gedanken oft weit weg und wirkte fahrig, bei allem was er tat. Lupo dagegen hatte eigentlich nach wie vor keine Lust auf eine solche fahrt und wurde deswegen stiller, doch er hatte es seinen Kindern versprochen und so gingen sie eine Woche später an Bord. Sie verabschiedeten sich von Luna, Stella und Gabriel wild, und voller Ungeduld, Lupo dagegen ruhig und zärtlich, gerade so, als wäre es ein Abschied auf ewig. »Wir sehen uns ja wieder, du tust gerade so, als wolltet ihr in England bleiben«, lachte Luna und schob ihren Mann von sich. »Nein, das gewiss nicht, aber du weißt, ich hab die Stadt noch nie verlassen und in den letzten Jahren war ich nicht einen Tag ohne dich. Ich vermisse dich jetzt schon«, antwortete er und schaute sie traurig an, sodass sie laut auflachte. »Ein paar Wochen wird es schon gehen. Wir sehen uns dann«, erwiderte sie. Er nickte und brachte sogar so etwas, wie ein lächeln zustande. Dann folgte er seinen Kindern an Bord. Luna schaute dem Schiff nach, bis es hinter dem Horizont verschwand, dann ging sie nach Hause. Sie hatte ein seltsames Gefühl in der Magengegend, wie vermutlich jede Mutter, die das erste mal ihre Kinder gehen ließ. Sie verbrachte die nächsten Tage des Öfteren bei Nuova und Lotta, den zu Hause gab es nun nichts mehr zu tun. Es war ein regnerischer Morgen, als sie herunterkam und die Zeitung zur Hand nahm, um zu lesen, was es neues gab in der Welt. Als Nuova ebenfalls herunterkam um zu frühstücken, da war Luna schon nicht mehr da. Sie lief weinend durch die Gassen Venedigs und aus der Stadt heraus, bis sie auf einer Klippe über dem unruhigen Meer. Weinend blieb sie einen Augenblick stehen, schaute zum Wasser hinunter, und ließ sich dann fallen. In Gedanken war sie dabei bei ihren Kindern und ihrem Mann, die sie in diesem Leben nicht wieder sehen würde. Denn die Schlagzeile, die diese Zeitung an diesem morgen aufmachte, war ein Bericht über den Untergang der Speranza. Sie war in einem Sturm geraten, es gab keine Überlebenden. Und nun hatte sie auch ein Opfer gefunden, der nicht an Bord gewesen war. So verlor Nuova an einem Tag nicht nur den eigenen Sohn, sondern auch seine Schwester und ihre gesamte Familie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)