Anfang und Ende von Mebell (Oder: blessed_mistress und Mebell) ================================================================================ Kapitel 2: Einer von Vielen --------------------------- Einer von vielen Jan ist nicht religiös. Sogar mehr als das. Er meidet jeden Glauben, ganz gleich welcher Richtung, wie die Pest. Trotzdem besitzt er Rituale. Feste Gewohnheiten, ohne die Jan Vetter nicht Jan Vetter wäre. Weit abseits von der Person Farin Urlaub. Und zu diesen kleinen Bräuchen gehört auch seine tägliche Joggingrunde. Vor etlichen Jahren, kurz nachdem er in sein Haus nahe Hamburg eingezogen war, hat er damit angefangen. Seine Einfahrt herunter, vorbei an dem Grundstück der Gutbergs, durch das kleine Waldstück mit dem glasklaren Bach, um den Marktplatz herum und dann wieder zurück. Jeden einzelnen Tag, an dem er daheim ist. Selbst wenn nicht, geht er die Strecke in Gedanken durch. So kam es schon vor, dass er in der staubigsten Wüste das beruhigende Geräusch von fließendem Wasser gehört hat. Vielleicht die rettende Eingebung, vielleicht die ersten Anzeichen von schleichendem Wahnsinn. Jan lässt sich diese Stunde auch nicht madig machen. Egal, wie oft Bela Scherze auf seine Kosten macht, Rod sich über seine augenscheinliche Spießigkeit wundert. Jene sechzig Minuten, von früh um sieben bis acht, gehören nur ihm allein. Keine nervenden Fans, keine geschäftlichen Anrufe, ja, noch nicht einmal irgendwelche neuen Songtexte oder Melodien. Wenn er läuft, seine Umgebung wie ein einziger Schleier an ihm vorbeizieht, keine Formen, keine Farben, dann ist Jan mit sich und seinem Kopf allein. Manchmal die angenehmste Gesellschaft am ganzen Tage. Federleicht, er berührt kaum den Boden beim Laufen, überquert er die kleine Brücke, die den Wald vom restlichen Dorf trennt. Am Horizont, zwischen einzelnen Baumkronen, ragen die Turmspitzen der Gemeindekirche hervor. Trotz dem eigentlich frühsommerlichen Wetter überkommt Jan ein kalter Schauder. Obwohl er sich nach all den Jahren daran gewöhnt haben sollte, kann er den alten Gemäuern dieses angeblichen „Haus Gottes“ nichts abgewinnen. Nicht, dass Jan Kirchen nicht mag. Im Prinzip sind sie ihm ziemlich egal, manchmal noch in ihrer architektonischen Arbeit interessant. Doch mit dieser verhält es sich irgendwie anders. Ein, zwei lange Schritte bringen Jan am Bäcker vorbei, dem ersten Laden der kleinen Einkaufsstraße, die direkt zu der Dorfmitte führt. Die Kälte weicht einem beklemmenden Gefühl, das sich tief in seiner Magengrube einnistet und wohl auch nicht mehr so schnell verschwinden wird. Das ist Erfahrungssache. Und obschon er sein Tempo hält, weder schneller noch langsamer wird, gleichmäßig vor sich hinjoggt, merkt er deutlich, wie sich seine Atmung beschleunigt, jeder einzelne Luftzug schwerer wird, in seiner Lunge brennt. Das verwitterte Gemäuer der Kirche, nur noch ein paar hundert Meter entfernt. Er schluckt schwer an dem Kloß, der sich in seinem Hals bildet, als er das eiserne Messingtor passiert, der Schatten eines riesigen Kreuzes auf ihn fällt. Jan versucht nicht zu denken, einfach zu laufen. Vergebens. Die ganze Geschichte ist schon lange her. Fast eine Ewigkeit. Und doch lässt sie Jan nicht los. Zieht ihn immer wieder in ihren dunklen Bann, wann immer er auch an dieser Kirche vorbei kommt. Vor etlichen Jahren, er war erst ganz frisch hergezogen, hatte sich ein Vorfall ereignet. Absolut schrecklich in seiner Natur, von der Allgemeinheit aber trotzdem als noch nicht mal so wichtig empfunden, um einen Artikel in der Lokalzeitung zu bekommen. Ein Mädchen, den Gerüchten zufolge noch nicht einmal volljährig, war aus einem weniger guten Elternhaus geflohen, hatte sich für ein Nomadenleben entschieden. Immer wieder pendelte sie zwischen Hamburg und dem Dorf, natürlich per Anhalter, schlief mal bei einer Freundin, dann auch unter freiem Himmel. Der menschlichen Natur nachgebend, fingen die Leute an zu tuscheln. Erst war sie eine verlorene Seele, dann ein Mädchen, mit der sich der werte Sohnemann doch bitte nicht sehen lassen sollte und zum Schluss war sogar von Prostitution die Rede. Der übliche Klatsch und Tratsch eben. Nur, dass das Mädchen jenes nicht verstand. Die üblichen Beschimpfungen und dummen Ratschläge ernster nahm, als sie vielleicht gemeint waren. Zwei Wochen, so sagt man sich, brauchte es, bis man auf ihr ganzes Verschwinden aufmerksam wurde. Und noch mal drei Tage, bevor der arme Pastor den schon stark verwesten Leichnam im Schuppen der Kirche vorfand. Vierundzwanzig Tage. Ganze vierundzwanzig Tag hing sie da. Niemand, der ihr zu Hilfe geeilt war. Niemand, der sie vermisst hatte. Vierundzwanzig Tage. Ganz allein. Froh, endlich an der Kirche vorbei zu sein, joggt er weiter zu dem kleinen Brunnen an dem Marktplatz. Jedoch ist irgendetwas anders als bei den etlichen allmorgendlichen Joggingrunden, irgendetwas, was ihn zutiefst beunruhigt. Der Kloß in seinem Hals ist nicht wie üblich mit dem Passieren des alten Gebäudes verschwunden. Aber es ist nicht nur das: Er fühlt sich, als wenn sein Herz brutal von eisigen, unsichtbaren Fingern zerdrückt werden würde. Als wenn ihm etwas jedes Stückchen Leben aus dem Körper pressen wollte. Für einige Sekunden muss er sein Lauftempo drosseln und streift mit seinen Fingerspitzen im Vorbeijoggen den kalten, rauen Stein der Brunnenmauer. Die Handlung erfolgt wie fremdgesteuert, Jan fühlt den eiskalten Stein, die vielen Kerben intensiver den je. Dann steigert er sein Tempo wieder, fast fluchtartig. Just in dem Moment, in dem die Umgebung wieder nur noch aus verschwommenen Farben und Konturen besteht, weiß er, was er gerade eben gefühlt hat. Angst. Eine unbestimmte, bohrende Angst tief in ihm, ausgelöst durch diese Geschichte, die eigentlich nur noch als Horrorgeschichte an einem Lagerfeuer dienen sollte. Es war keine Angst vor dem Tod. Jan hatte dem selbigen nicht nur einmal direkt in die Augen geblickt. Vielleicht hatte es das Schicksal gut mit ihm gemeint, wobei er nicht an solch einen Schwachsinn wie ein vorbestimmtes Leben glaubte. Er hatte einfach im vermeintlich allerletzten Moment noch richtig gehandelt. Seine Angst richtete sich auf das, was nach dem Tod passieren würde. Natürlich war es albern, er selber würde doch nichts mehr davon mitbekommen. Jan glaubt nicht – Daher ist ihm klar, dass er einfach nur als verwesende, von madenzerfressene Leiche enden wird. Eventuell wird er auch einmal irgendwo in der hintersten Ecke der Erde sterben. Eigentlich mag er den Gedanken ja. Denn dann würde Jan in einem der Momente sterben, wo er am glücklichsten ist. Ganz allein, irgendwo auf Reisen. Das stört ihn alles nicht im Geringsten. Was ihn stört, ist der Gedanke, wie sein Umfeld darauf reagieren würde. Gleichmäßig atmend läuft Jan an dem kleinen Buchladen im Dorf vorbei und wird aus seinen seltsamen Visionen gerissen. Er hat nicht einmal gemerkt, wie er erneut die Gemeindekirche passiert hat. Der Besitzer des Ladens, einer alter, hagerer Mann, ist schon auf den Beinen und winkt ihm aus dem Laden heraus zu. Mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen winkt er zurück. Er würde ihn vielleicht vermissen. Ist Jan doch sein treuester und bester Kunde, wie er selber voller Stolz behauptet. Natürlich würden ihn die Fans vermissen, aber auf eine Art, die ihn kurz zu einem Kopfschütteln verleitet. Hysterische Mädchen, von Weinkrämpfen geschüttelt und mit verheulten Augen auf irgendein Poster von den zigtausend in ihrem Zimmer starrend. Überquellende Foren und Internetseiten. Aber sie würden eh nur die Bühnenperson Farin Urlaub vermissen. Den Blonden Mann mit dem breiten Grinsen, der immer einen Witz auf Lager hat und die Finger über das Griffbrett der Gitarre gleiten lässt. Nicht den Menschen und Charakter Jan Vetter. Aber wer kennt schon Jan Vetter? Sein Bühnenimage ist langsam, aber sicher, zu einer Fassade geworden, die er krampfhaft aufrecht erhält – Auch außerhalb der Bühne. Nur sehr Wenigen ist ein Blick hinter diese Mauer vergönnt. Dirk hatte gemeinsam mit ihm lange hinter dieser Mauer gelebt, mit ihm all die intimsten Dinge geteilt. Doch auch dies ist nur noch ein Teil seiner Vergangenheit. Es ist nicht so, dass Jan ihn nicht mag oder gar auf seine eigene, spezielle Weise liebt. Er spielt gerne mit Dirk in der Band, er albert gerne mit ihm herum und verbringt ebenso gerne seine Freizeit mit ihm. Jedoch würde Jan ihm nie mehr wieder einen Einblick in sein Seelenleben schenken, in seine Gedanken und Gefühle. Jan möchte es einfach nicht riskieren, sich emotional an jemanden zu binden. Außerdem sind Dirk und er mittlerweile eh viel zu unterschiedlich. Auch wenn Gegenpole am Anfang eine Verlockung sind, werden sie später zur Barriere zwischen zwei Menschen. Genauso ist es auch bei ihnen passiert. Immer noch ziehen die undeutlichen Konturen der letzten Häuser des kleinen Dorfes an ihm wie ein Film vorbei. Wie würde Dirk reagieren, wenn er sterben würde? Die Frage kann sich Jan ohne Mühe selber beantworten. Wahrscheinlich würde er in Tränen aufgelöst sein und direkt danach zur Flasche greifen. Nachdem er sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hat, sucht er sich eine starke und schützende Schulter. Nach einigen Monaten würde Dirk den Schmerz des Verlustes verdrängt oder erfolgreich in Alkohol ertränkt haben. Vielleicht würden sogar beide Punkte zu treffen. Die andere Person in seinem Leben, mit der Jan einen Großteil seiner Zeit verbrachte war Rodrigo. Er sympathisiert mit dem Chilenen seit ihrer ersten Begegnung, trotzdem pflegt er eine distanzierte Beziehung zu dem Bassisten. Es ist einfach nicht so umständlich und kompliziert wie eine tiefere Freundschaft. Wahrscheinlich würde Dirk sich seine Schulter aussuchen und Rods Hemd mit Tränen durchweichen. Dieser würde wie immer die Ruhe in Person bleiben und tröstend durch die Haare seines Freundes streichen. Deshalb tut er der Band gut. Rodrigo ist ein zurückhaltender und angenehmer Zeitgenosse. Gemeine Zungen würden so etwas als den absoluten Durchschnitt bezeichnen. Irgendwo ist er das auch, vor allem in Sachen Charakter. Eventuell würde er ein paar ganz stille Tränen um Jan vergießen und dann ebenso still den stechenden Schmerz in die letzte Ecke seines Emotionalen Zentrums sperren. Nicht mehr, nicht weniger. Ansonsten kennt Jan niemanden, mit dem er häufigeren Kontakt pflegt. Selbst zu seiner Familie beschränkt sich dieser nur noch auf steife Pflichtbesuche. Irgendwo in ihm gibt es eine leicht misanthropische Ader. Er hasst Menschen nicht. Er braucht sie nur meistens nicht und ist sich selbst genug. Daher gibt es Niemanden, der den schmerzhaften Verlust auf ewig in seinem Herzen behalten würde. Aus den Augenwinkeln sieht er das kristallklare Wasser des kleinen Baches und hört das so bekannte Geräusch von leise plätscherndem Wasser. Genauso würde auch das Leben von Dirk, Rodrigo und den Fans nach seinem Tod weiterplätschern. Eine kleine Stromschnelle später liefe alles wieder in absolut geregelten Bahnen. Sollte diese Stromschnelle an die Öffentlichkeit geraten, würden sicher Hunderte von Fans mit vom Weinen völlig verquollen Augen zu seinem Grab pilgern, kleine Briefchen, Blumen und Kuscheltiere niederlegen. In den Medien würde auf den Musikzeitschriften sein Foto prangen, seine Videos würden zum X-Mal hintereinander im TV ausgestrahlt werden. Ein schrecklicher medialer Hype, vor dem Jan es jetzt schon graust. Doch am Ende würde auch das letzte pinkfarbene Stoffbärchen weggeräumt sein und das letzte Video ausgestrahlt sein. Dann würde das große Vergessen einsetzen. Mehr als ein kleiner Eintrag mit einem Kreuz in einem Onlinelexikon würde nicht bleiben. Über seinen Grabsteinen ranken sich schlussendlich Moos und Flechten, das Wetter zerfrisst das Material zusätzlich unwiderruflich. Irgendwann gibt es sicher nicht einmal mehr jemanden, der sich erbarmt, die Gebühren für das Grab des Gitarristen zu zahlen. Nach dreißig Jahren würde der Pachtvertrag auslaufen und sein Grab eingeebnet werden. Niemand würde sich mehr für die verstaubten Knochen interessieren. Überrascht bemerkt Jan, dass er schon wieder vor seiner Haustüre steht und den Schlüssel in der Hand hält. Zu sehr war er in all diese Gedankengänge vertieft. Er steckt den Haustürschlüssel in das Schloss und verzieht leicht das Gesicht aufgrund der Vorstellung seiner modernden und vergessenen Knochen. Er muss sich damit abfinden. Jan weiß nur zu gut, dass seine Gedanken keine bizarren Zukunftsvisionen sind. Sie enthalten nichts anderes als die kalte Realität. Denn im Endeffekt ist auch er nur Einer von Vielen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)