Wings 2 von Tyra-Leonar ================================================================================ Kapitel 8: Der falsche Weg? --------------------------- Ich gab mir, um ehrlich zu sein, nur kurz selbst die Schuld an dem Tod der alten Frau. Sie war alt gewesen und ein Tiger, der kraftlos nur noch in seinem Käfig herumgelegen hatte. Früher hatte Helga ein Feuer besessen, an das so schnell keiner heran gereicht hatte. Sie hatte für ihre Familie gelebt, die ihr unter den Händen weggestorben war. Auch wenn Helga gemeint hatte, dass nicht mal ihre Verwandten sie besuchen kommen, so wusste ich es jetzt doch besser - es gab keine mehr. Niemand war übrig geblieben. Selbst ihre eigenen Kinder hatte sie unnatürlicher Weise zu Grabe tragen müssen. Es verwunderte mich doch etwas, dass sie nach all der Zeit, doch keine allgemeine Verbitterung gehegt hatte. Helga war für mich wirklich und wahrhaftig weise gewesen. Unser Weg führte uns zurück zum Hauptbahnhof von Hamburg. Es war mittlerweile schon später Nachmittag bis wir endlich ein paar von diesen kalten Bänken in Beschlag nahmen, die verteilt am Gleis standen. Irgendwie machte uns der allgegenwärtige Tod ziemlich wortkarg. Solange bis Corinne endlich zu erzählen begann. Sie erzählte von dem Mann, den sie kennen gelernt hatte und morgen wieder sehen würde. Sie beschrieb sein Aussehen, sein erwachsenes Verhalten und seine schier endlose Geduld. Ganz so sicher war ich mir bei Letzterem nicht, immerhin kannten sie sich erst seit ein paar Wochen, für mich erst seit ein paar Stunden. Des Weiteren berichtete unsere Freundin, dass sie sich im Kino kennen gelernt hatten, als ein anderer Typ sie versetzt hatte. Sie hatte sich wohl so ähnlich wie Rumpelstilzchen verhalten und war so ungemein aufgefallen. Ich betrachtete sie, wie sich ein Lächeln immer öfter in ihr Gesicht schlich. Auch Evelyn verdrängte den Tod wieder. Und Lili… die lächelte zwar nicht, war aber sichtlich an Informationen interessiert. Ich sah wieder nach vorn und über die Bahngleise und Plateaus hinweg. Es war nicht so sehr die Tatsache, dass jemand direkt vor mir gestorben war, es ging wohl eher darum, dass sie eigentlich eine von uns gewesen war. Ein Teil des Sternes, von dem jetzt nur noch 3 übrig waren. Nachdem ich mir jetzt selbst ganz sicher war, dass diese ganze Geschichte über die Wiedergeburt stimmte, traf es mich wie ein schwerer Steinschlag. Es kam mir vor, als wäre Corinne, Evelyn oder Lili gestorben, die ich doch schon wesentlich länger kannte. Aber was bedeutete kennen schon, wenn man sich an frühere Leben erinnern konnte? Endlich konnte mein beschränkter Horizont diese ganzen Jahrhunderte endlich begreifen, die in meinem Geist eingeschlossen waren. Jemand anderem davon zu erzählen, hätte in Gelächter und der Psychiatrie geendet. Aber ich war ja zum Glück nicht allein. Wie also musst sich Helga gefühlt haben, als alle sie auselacht und sie für geisteskrank erklärt hatten, nachdem sie sich sicher war, dass mehr hinter ihrem Leben steckte? Noch einmal sah ich mich in diesem Zimmer mit den roten Vorhängen stehen, die das Licht so merkwürdig warm und schummrig gemacht hatten. In meinen Gedanken sah ich noch einmal, wie sich Helgas Lippen bewegten und ihre Augen strahlten. Meine Erinnerungen verblassten zwar bereits, aber ich erinnere mich immer noch an die faltige Haut an ihren Händen, die sich so unglaublich weich angefühlt hatten. Egal wie sehr man sie ausgelacht hatte, was sie mir auch erzählt hatte, sie war zufrieden eingeschlafen, da war ich mir sicher. Jetzt, da ihr Geist endlich Ruhe gefunden hatte, hatte sie sich endlich selbst erlöst. Und das, obwohl sie niemals geahnt hatte, dass wir sie finden würden. Zurück in der angeblichen Normalität musste ich feststellen, dass nichts mehr wie früher sein konnte. Nacht für Nacht träumte ich mein altes Leben, ja ich freute mich sogar darauf. Außerdem wölbte sich mein Bauch und ab und zu betätigte ich mich an dem völlig unschönen Rückwärtsessen. Und…. ich wurde grausam gefoltert: „Och, ist das süß! Und das hier! Und das! Schau mal hier! Yara! Aaaahhhh! Das ist besser! Schnell hierher! Hach! Oh mein Gott! Schau dir das an! Yara, das ist doch…“ Ich bemühte mich, so zu tun, als würde Evelyn nicht zu mir gehören. Ich mied akribisch die Blicke der Verkäuferinnen und der Kunden und verkrümelte mich hinter einem Hochglanz Magazin über Babys. Eins stand schon mal fest! Evelyn dürfte nicht auf mein Kind aufpassen! „Guck doch endlich mal!“ Die Stimme ertönte direkt vor mir und ich senkte etwas meinen missbrauchten Lesestoff, der mich leider kein bisschen interessierte. Die Farben darin hatten Stimmen. Quietschend grelle Stimmen. Evelyn hielt zwei Kappen hoch. Beide hatten Ohren und vorne zwei schwarze, aufgenähte Kulleraugen und einen Bärchenmund. „Blau oder Rosa?“ Sie hielt die Dinger abwechselnd hoch. „Also…“ gab ich betreten von mir „Ich tendiere eher zu so etwas.“ Mit einer Hand griff ich zu einer cremefarbenen Mütze, die einfach nur schlicht war. Ich sah auf, erfasste Evelyns Blick. Irgendwie war er leer, nicht deutbar. Ihr Mund ähnelte eher dem eines Strichmännchens. Irgendwie konnte ich sehen, wie in ihrem Kopf eins von vielen Zahnrädern sich verhakte und alles anhielt. Dann drehte sie sich plötzlich schwungvoll herum. „Wir haben noch gar nicht nach Stramplern geschaut!“ Ihre Stimme trällerte nur so vor Fröhlichkeit. Das nennt man dann wohl klassische Verdrängung. Wieder zu Hause und umgeben von Tüten. „Yara?“ „Ich bin hier!“ hörte man es dumpf. Corinne schob ein paar Tüten beiseite. „Weißt du, wie man sie ausstellt?“ „Leider nein!“ gab ich kläglich von mir und sah zu der Blondhaarigen auf, bei der eine Ader an der Stirn hervortrat, wie immer, wenn sie genervt war. „Mist!“ Und schon lies sie die Tüten wieder los, die mich sofort wieder umschlossen und unsichtbar machten. Ich hörte Evelyn über jedes kleine Detail staunen. Die Farbe, die Größe, das Muster, die Beschaffenheit und die Vorstellungen, wie es an meinem Kind aussehen würde. Ich staunte hingegen nur über eins: Die Leichtigkeit meiner Geldbörse. Vor mir wurden die Tüten wieder auseinander geschoben, doch dieses Mal war es Lilli, die mich auch endgültig aus meinem Gefängnis befreite, aus dem ich mich, so schlapp, wie ich war, nicht hatte selbst befreien können. „Wir haben uns etwas überlegt.“ Ich war zu müde um verdutzt aussehen zu können. Also fragte ich einfach nur resigniert: „Was denn?“ „Wir greifen dir ein wenig unter die Arme, bis die Kindergeldstelle mal den Hintern hoch bekommt.“ Ich verstand nicht. „Wir geben dir ein Darlehen, sozusagen. Eins, dass du nicht zurück zahlen musst“ fügte meine Freundin hinzu, als sie meinen fragenden Blick gesehen hatte. „Ähm…. Was?“ war meine kluge Antwort darauf. „Wir wollen uns beteiligen“ half mir Corinne auf die Sprünge. Ich öffnete den Mund um zu protestieren, jedoch sagten alle drei im Chor meinen Namen. Das ist so, wie wenn deine Mutter sieht, wie du etwas Unartiges vorhast und dich kurz davor noch drohend warnt, dachte ich. Aber warum versuchte man mich, die eigentliche Mutter in spe, zu erziehen? Und warum funktionierte es auch noch? „Sieh es doch einfach als Geschenke auf einer Babyparty.“ Natürlich, auf die Idee, für so etwas eine Feierlichkeit zu schmeißen, konnte nur Evelyn kommen. Ich rollte mit den Augen und gab mich geschlagen. Vorerst. „Yara? Seit wann hast du einen PC?“ Ich sah mich um. „PC?“ Jetzt erst fiel mein Blick auf das Bücherregal. „Ach…. Das Ding! Ich hab ihn mir geliehen.“ Kurz zuvor hatten sich die Köpfe einheitlich in die Richtung bewegt, in die auch Corinne gesehen hatte. Nun drehten sie sich mir wieder synchron zu. 3 Augenpaare, die versuchten mir durch Blicke eine Nachricht zu übermitteln. „Herr Won hat für die Recherche seine Connections spielen lassen und für mich einen Laptop mit mobilem Internet besorgt.“ Noch immer stierte sich mich an, nur mit größeren Augen. „Ich darf ihn umsonst nutzen.“ Und jetzt mit noch Größeren. Wieder war es zuerst Corinne, die ihre Sprache wiederfand. „Lasst uns Pronos gucken!!“ Jetzt riefen wir ihren Namen. Viele Studenten hatten einen Laptop, Lilli, Evelyn und ich gehörten eigentlich nicht dazu. Ich persönlich war ja arm wie eine Kirchenmaus, Lilli hasste derlei Schnick Schnack. Aber warum hatte Evelyn eigentlich keinen? Sie meinte mal, dass ihr der Eine zu Hause reichen würde. Corinne hatte so einen Rosafarbenen, genauso quietschig wie sie es selbst manchmal war. Allerdings beschränkten sich ihre Kenntnisse in derlei Hinsicht extrem. Sie lies sich da gerne helfen. Früher war es eine „Hilfe“ gewesen, die auf eine Sache hinauslief. Diese Sache hatte sich aber durch ihren Freund, ja, mittlerweile konnte man das so nennen, mittlerweile geändert, von dem sie übrigens pausenlos zu erzählen wusste. Wenn es nichts Neues gab, dann fing sie einfach noch einmal von vorne an. Um es auf den Punkt zu bringen: Sie ging mir gewaltig auf den Keks. Anfangs war es ja noch witzig gewesen, aber jetzt nicht mehr. Sie wohnte schon praktisch bei ihm und hatte ihr Elternhaus Hals über Kopf verlassen, nur mit ihrem Handtäschchen bewaffnet. Freie Wochenenden besaß sie auch nur noch mit 4-wöchiger Voranmeldung. Außerdem… hatte er ihr ein neues Handy geschenkt… Wir gönnten es ihr ja, ausnahmslos, aber sie ging doch an in einer Pause zu weit. Corinne telefonierte gerade, wie jede freie Minute. Musste der Kerl nicht auch irgendwann mal arbeiten? Als wir sie das einmal gefragt hatten, meinte sie, er würde seine Pausen nach ihren richten. Er sei ein ganz hohes Tier in der Reifenbranche. Das hatte damals gereicht, um unser Desinteresse hervor zu rufen. Die Gesprächsbreite für Gummi, war bei uns nicht gerade reichlich vertreten. „Wie bitte?“ „Wollen wir nächste Woche in Babygeschäfte um ein Bett auszusuchen?“ fragte mich Lilli noch einmal mit Nachdruck. „Mein Vater hat mir unser Auto zugesagt, dann können wir es gleich zu dir fahren und aufbauen.“ Ihr müsst euch das in etwa so vorstellen. Corinne telefoniert und das nicht gerade leise. Meine Hexengöttin und ich reden. Evelyn hat sich in ihrem Stuhl zurück gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Soweit die Darstellung. „Ähm…“ Ich überlegte, ob und wann ich am Samstag Zeit hätte. Lilli hatte mich nicht gehört und verstand mich anhand meiner Lippenbewegung falsch. „Wie, nein? Warum nicht? Yara! Du musst endlich Vorbereitungen treffen!“ Sie klang genervt, aber nicht wegen mir. Corinne wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, weil sie leiser sprechen sollte. Gleichzeitig redete sie aber mit ihrem Mister Lover Lover und erzählte ihm, dass man um sie herum zu laut sei. Lilli wich der Hand aus. „Ich hab nicht Nein gesagt.“ Corinne schnalzte entnervt mit der Zunge und rollte mit den Augen. Wenn sie mit ihm redete, war sie wie ausgewechselt. „Um wie viel Uhr dann?“ Ich lehnte mich über den Tisch, um mit Lilli vielleicht doch besser Kommunizieren zu können. „Wie wäre es mit um 11?“ „Klingt gut.“ Dann wandte sich Lilli an Eveleyn. „Und du? Magst du auch mit kommen?“ Doch die Angesprochene brachte nur ein trauriges Lächeln zustande. „PSSCHHTTT!!!!“ machte Corinne plötzlich und hatte den Zeigefinger auf Mundhöhe gehoben. „Könnt ihr nicht einmal ruhig sein?!!“ Ich wollte gerade etwas erwidern um die Lage zu entschärfen, da stand Lilli bereits auf. „Mir reichts! Telefonier du doch weiter, aber hör auf uns zu stören!“ Oh oh! „Das musst du gerade sagen, du dumme Kuh!“ Doppel Oh oh!! Ich sah besorgt von einer zur anderen. „Mit was störe ich denn?!“ „Mit deiner abfälligen Art! Du lässt ja noch nicht mal ’nen Typen an dich ran!“ Corinnes zornige dreinblickende Augen weiteten sich. „Bist du etwa lesbisch?!!“ Wenn man die Lautstärke davor schon Brüllen nannte, was war Corinnes Ausruf dann erst? Verdutzte Blicke, auch von Lilli. Dann schlug sie wütend die Fäuste auf den Tisch, nachdem sie sich kurz umgesehen hatte. Alle in der Mensa starrten zu unserem Tisch. „Du Schlampe!!“ „Du Lesbe!!!!“ „Notgeiles Aas!!!!“ „Hinterhältige Fotze!!!!!!“ „Ich gehe!!“ Ich hatte gar nicht bemerkt, wie Evelyn aufgestanden war. Es war still, wie zu einer Gedenkminute, während meine Freundin unseren Tisch und die Mensa verließ. Es hatte einen Moment gedauert, doch so langsam erwies sich die Zusammensetzung unserer Freundschaft entweder als momentan sehr schwierig oder generell nicht überlebensfähig. Ich eilte durch die Gänge auf der Suche nach Evelyn, doch meine Gedanken waren noch in der Mensa. Corinne und Lilli, anfangs verdutzt, waren sofort wieder übereinander hergefallen, bis sie sich schließlich in entgegen gesetzte Richtungen getrennt hatten. Ich wusste nicht, was in ihren Köpfen vorging, mit Evelyn schien auch etwas zu sein. Ich wusste nur, dass ich die Zeichen schon viel früher gesehen hatte. Warum war ich nur nicht darauf eingegangen? Weil es eigentlich gar nicht so schlimm gewesen war, deshalb, dachte ich. Eskaliert war es aber trotzdem. Während ich weiterhin nach einem roten Schopf Ausschau hielt, überlegte ich, wann diese Veränderung stattgefunden hatte. Als wir alle noch Single gewesen waren, war alles noch in Ordnung gewesen. Ich eilte um eine Ecke und erblickte Evelyn. Ich rief ihren Namen und sie blieb stehen. Schnell rannte ich zu ihr und hielt abrupt an. Sie weinte. „Yara…“ Sie und ich hatten uns einen Platz auf der großen Campuswiese gesucht. Leise hatte Evelyn geweint, während ich nur ihre Hand hielt, nachdem sie eine Umarmung abgewiesen hatte. Ich hatte die anderen Studenten beobachtet und sah jetzt wieder zu Evelyn. „Ich bin momentan etwas unentschlossen.“ Ich konnte ihr nicht so ganz folgen. „Wegen was?“ hakte ich also nach. Sie schluckte schwer und hatte Mühe weiter zu reden. Ihr Blick war stur auf einen Fleck gerichtet. „Ich stehe seit kurzem auch auf Frauen.“ Jetzt war ich baff. Als ich nichts erwiderte, sah Evelyn panisch zu mir und versuchte mir zu erklären, dass sie selbst nicht wusste, was mit ihr los sei. Sie hätte das noch nie gehabt, solche Gefühle beim gleichen Geschlecht. Außerdem sei sie sich sicher, dass sie wenn nur Bi sein könnte, immerhin hätte sie auch nichts gegen Männer einzuwenden. Evelyn erzählte mir, wie verwirrt sie sei. Dann erst änderte sich mein Blick, während meine Seele begriff, was meine Augen nicht wussten. Umso mehr ich hinsah, desto mehr konnte ich die Zeichen erkennen, die auf Evelyns kompletten Körper und auf ihren Klamotten waren. Meine Hand schnellte vor. Erschrocken holte Evelyn Luft, versuchte aber nicht ihre Hand zu entwinden. Dann weiteten sich ihre Augen, als sie sah, wie langsam irgendwelche Zeichen meinen Arm hinauf krochen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)