Wings 2 von Tyra-Leonar ================================================================================ Kapitel 11: Bitter-Süße Träume ------------------------------ Der Zug hielt an einem kleinen Bahnhof, ganz nah an der Küste. Von dort ging es weiter mit der Fähre. Das war das einzigste Mittel um trocken drüben anzukommen. Als wir wieder ausstiegen hielt ich auf der letzten Stufe inne und sah nach links und rechts. Hinter mir staute es sich bereits. Eilig ging ich weiter. Doch als mein Fuß die Erde berührte, ging ein Ruck durch meinen Körper. Es war eine Art Impuls, aber richtig schmerzhaft. Mein Knie knickte ein und schon fiel ich. Evelyn, die vor mir gegangen war, fing mich im letzten Moment auf. „Yara!“ Als ich wieder stand sah ich zurück zu Corinne und Lilli, die von oben nur tatenlos hatten zusehen können, wie ich fiel. „Kommt.... er ist hier.“ Ich war nicht ich und ich las in ihren Augen, dass sie es ebenfalls wussten. Zügig schritten wir nun voran, überholten die Leute unserer Gruppe und Einheimische. Nicht ein einziges weiteres Wort kam über meine Lippen, während wir wie eine Einheit unsere Schritte nicht verlangsamten und sogar Herrn Won überholten. Unser Lehrer sah unseren Rucksäcken hinterher, die sich immer weiter entfernten. „Hey! Wo wollt ihr hin?!“ Eine seltsame Fügung, Herr Won kam damit wohl eher nicht klar. Man ist der unflexibel. Ich sah nicht zurück oder eine der Anderen. Jetzt wurde es ernst. Wir hatten keine Zeit für Erklärungen. Die Priesterin wusste genau, wohin sie wollte. Als wir den Hafen verlassen hatten, öffnete sich das gesamte Land scheinbar vor uns. Zu unserer linken waren zwei Haltestellen. Die Priesterin steuerte auf diese zu und las das Schild auf der ankommenden Straßenbahn. Plötzlich rannte sie, wollte anscheinend unbedingt noch diese Bahn erwischen. Hinter uns wurden die Rufe von Herrn Won immer lauter. Mit einem Sprung war ich in der Bahn und wieder ich selbst. Ohne diese innerliche Kontrolle, blieb ich abrupt stehen. Ein Aufprall war unvermeidbar. Der Fahrer sah uns sehr merkwürdig an und sagte etwas auf Japanisch. Ich lächelte nur entschuldigend, immerhin hing ich ihm fast auf dem Schoß. Die Mädels hinter mir machten etwas Platz und ich konnte wieder von der Abtrennung zwischen Fahrer und Einstieg verschwinden. Doch noch bevor wir uns gesetzt, geschweige denn bezahlt hatten, war der Rest unserer Gruppe auch schon da. Schnaufend und mit hochrotem Kopf stieg Herr Won in die Straßenbahn und lynchte mich regelrecht mit seinem Blick. Nein, eigentlich nicht mich, ich war doch gar nicht Schuld! Da man uns von allen Seiten bereits schief musterte, beschloss Herr Won, erst einmal unser Gruppenticket vorzuzeigen und alle einsteigen zu lassen. Eng an Eng standen wir in dem schmalen Gang. Die Bahn schaukelte ruhig hin und her als es los ging. „Wir sprechen uns nachher noch!“, sagte Herr Won und wieder musste mein Gesicht als Spuckeauffang herhalten, während er sich an uns vorbei quetschte und einen Schüler anblaffte aufzustehen. Dann setzte er sich selbst auf dessen Platz und strafte uns alle mit Ignoranz. Mir war es recht egal. Immernoch sahen wir uns nicht an. Ich behielt den Blick auf die Fenster gerichtet damit die Priesterin mir sagen konnte, wo wir aussteigen mussten. Doch sie sagte nichts. Schließlich war es Herr Won, der aufstand und durch den gesamten Zug rief: „Wir steigen hier aus!!!“ Erschrocken reckte ich den Hals nach ihm. Völlig aufgelöst sah ich mich um, suchte nach einem Zeichen, lauschte auf ein Wort. Aber es passierte nichts. Warum nicht?! Augenpaar um Augenpaar richtete sich auf mich, erwartete ein Signal. Nur ein Wort von mir und sie alle wären sitzen geblieben. Wollte die Priesterin das wir ausstiegen? Oder nicht?! Verdammt nochmal! Hastig rappelte ich mich hoch und drückte mich an den anderen Studenten vorbei. Ich musste die Erde berühren, war es das? Das musste es sein! Doch als ich aufkam, war da nichts. Mir wurde schlecht. Schlecht vor Angst, schlecht vor Panik, die mir im Hals hinaufkroch. Jetzt erst begriff ich wirklich, dass die Realität einem so gehörigen in den Arsch treten kann, dass du nie wieder aufstehen kannst. „Warum sagst du nichts!“, ich schrie es hinaus, es gab dafür keinen Halt. Die Verblüffung war groß und meine Hoffnungslosigkeit wuchs. Verband uns nicht ein Band? Hatten wir nicht ein und dasselbe Schicksal? Mussten wir nicht... „Fräulein!“ Der Schmerz durchzuckte mich, als Herr Won seine Hand um meinen Oberarm wand. Ich schrie auf vor Schmerz und er ließ etwas lockerer. Hektisch sah er sich um, versicherte den Umstehenden, auf deutsch und japanisch, dass er mir nichts tun wolle. Wie süß! Das ich aber generell aufsässig wäre. Nicht so süß! Aber was kümmerte mich das? Ich hatte andere Probleme, hochgradig schlimme Probleme, wenn uns die Priesterin nicht half. Und zwar sofort! „Wir werden jetzt den letzten Tempel besuchen... und du wirst dich benehmen! Verstanden!“ Sein leises Flüstern nahm nichts aus der Schärfe heraus, die nur ein Vorgeschmack für das sein konnte, was noch auf mich zukommen sollte. Ohne Widerstand lies ich mich von ihm weiter bugsieren. Er verstärkte wieder seinen Griff, rechnete wohl mit einer Reaktion. Doch ich fühlte mich so leer, so völlig ohne Antrieb. Plötzlich war die Hand weg. „Was fällt Ihnen ein? Sie tun ihr doch weh!“ Corinne... „Nehmen Sie Ihre Griffel weg!“ Evelyn.... „Yara? Geht es dir gut? Sind wir hier richtig?“ „... Ich weiß es nicht, Lilli“, meine Stimme wankte. Es war ein Wunder, dass meine Beine mich überhaupt noch trugen. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Lilli zu Corinne und Evelyn, die beide fragend drein blickten und meine Worte nicht gehört hatten. Besorgt schüttelte die Schwarzhaarige nur mit dem Kopf und reihte sich mit mir in die Gruppe von Studenten ein, die dem schmalen Asphaltweg folgten. Wir sollten nicht hier sein... wir gehörten nicht hierher. Wer hatte das eigentlich jemals behauptet? Mir stockte der Atem und meine Lippen öffneten sich leicht. Ich war es! Ich hatte sie alle überzeugt, hatte das Märchen mit meinem kranken Hirn zusammen gesponnen. 'Es tut mir leid...' Sie klang traurig. Die Priesterin klang genauso, als wären das ihre letzten Worte. Und ich konnte ihr keine Schuld geben. Denn ich hatte mir ausgedacht, dass wir es schaffen könnten, dass wir die Auserwählten seien. Das Tuscheln unserer Kommilitonen erstarb nach einer Weile. Mein gesenkter Blick gab wohl nicht genügend Stoff für stundenlanges Plaudern. Sie waren fertig mit mir, und ich war es leider auch. Ich hatte nicht einmal mehr Lust mir die Architektur dieses wunderschönen Gebäudes anzusehen. Groß war es, mehrstöckig sogar, wie man im Inneren herausfinden konnte. Wie Mönche sahen sie aus, mit ihren Gewändern, die so kunstvoll den Körper umwickelten und aus einem Stück zu bestehen schienen. Und, das brachte sogar ein leichtes Lächeln auf meine Lippen, sie passten mit ihrer blauen Farbe perfekt zur Inneneinrichtung des Souvenirladens. Vom Boden bis zur Decke, im Erdgeschoss und höher, nichts als Schnick Schnack. Langsam drehte ich den Kopf. Betrachtete die gerunzelten Stirnen der Leute, die mit uns nach Japan gekommen waren. Auch zu meiner linken war man nicht weniger verdutzt. Die Frage stand ihnen ins Gesicht geschrieben: Was taten wir hier? Wir taten, was alle Touristen taten: sich für Dinge interessieren, die für die Einheimischen einen schlechten Scherz darstellten. Hier war kein Japaner außer den Angestellten oder Herr Won. Wirklich... niemand! In mir begann es zu brodeln. Meine Hände ballten sich zu Fäusten während ich innerlich einen Satz an die Priesterin richtete. 'Lass... deine Entschuldigung... bloß stecken!' „So“, richtete Herr Won wieder an uns alle das Wort, „da eure liebe Kollegin ja nichts besseres zu tun hat, als uns alle lächerlich zu machen, möchte ich ihr nun die Chance geben, dass ihr euch in Grund und Boden schämen könnt!“ Er drehte sich halb herum und wies mit einer weit schweifenden Handbewegung auf das Innere des Tempels mit der breiten Treppe, die von Stockwerk zu Stockwerk verlief, und von der aus man einen guten Ausblick nach oben hatte, da man großzügig Platz in der Mitte der Etagen gelassen hatte. „Niemand kommt hierher. Dieses Gebäude wird bald nicht mehr bewohnt sein, da sich die Einnahmen nicht lohnen und es als Schande der japanischen Kultur gilt! Ich danke dir, Yara!“ Er kam wieder näher und erdolchte mich mit seinen Blicken. Eingeschüchtert senkte ich den Blick und sah zur Seite. Ich hasse es, wenn er Recht hat! Ich hasse mich selbst dafür! „Wir werden hier etwas verweilen. Tut euch nur keinen Zwang an, ihr könnt alles in Ruhe genießen oder euch draußen aufhalten und warten, bis wir wieder fahren!“ Meine Hände schmerzten. Noch immer waren sie geballt. Meine Fingernägel schnitten sich tiefer in meine Haut. Als sich die Ersten umdrehten, um hinaus zu gehen, hätte ich... Ja, was eigentlich? Im Erdboden versinken können? Das hätte nicht gereicht. Mich entschuldigen sollen? Mit welcher Begründung hätte ich meinen Ausfall denn erklären sollen? Tut mir Leid, aber ich dachte die Welt geht unter und ich versuche sie vor einem Mann zu retten, dachte ich spöttisch. So tat ich gar nichts und hörte nur, wie dieses Biest von Bruder zu Anour sagte: „Die hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank die Alte, hast du'n Knick im Hirn?!“ Herr Won sah den Studenten nach, die sich einheitlich nach draußen bewegten, bis sie nicht mehr zu sehen waren. „Sobald wir zurück sind werde ich persönlich dafür Sorge tragen, dass du keinen einzigen Schritt mehr in meine Universität setzt!“ Mit seiner Zornesröte marschierte er davon und ebenfalls hinaus. Meine Freundinnen sahen ihm nach, dann wandten sie sich wieder mir zu. „Yara?“ Corinne fand als Erstes ihre Stimme wieder. Sie wollte endlich wissen, was hier vorging. Aber ich wusste es doch selbst nicht! Also tat ich das Einzige, was mir in dem Moment einfiel. Ich stürzte davon, rannte die Treppe hinauf und versuchte mich irgendwo zu verstecken. Nicht nur vor den mir wichtigsten Personen. Nein, auch vor jeglichen anderen Menschen und meinen Gedanken. Konnte ich nicht einfach aus diesem Alptraum erwachen und herausfinden, dass alles nur seltsam real gewesen war? Ich konnte die Tränen nicht mehr halten. Heiß brannten sie auf meinen Wangen, spülten jegliches Make Up einfach weg. Aufhören... das musste aufhören! In meinem Kopf hämmerte es wie verrückt. Meine Lunge gab mir nicht soviel Luft, wie ich benötigte und mein Herz stach in meiner Brust. Irgendwo hielt ich an. Ein kurzer Blick nach unten verriet mir, dass ich mich im dritten Stock befand und Evelyn mir hinterher hastete. Panisch sah ich mich um. Ich musste mich verstecken! Wie ein gescheuchtes Tier hastete ich weiter, rannte um ein Regal mit Plüschfiguren herum und verschwand hinter dem nächsten. Ich hörte Evelyn japsen und vorbei rennen. „Yara?... Yara, bist du hier? Bitte komm raus.“ Nach einer Weile beschleunigte sie wieder ihre Schritte und rannte weiter. Als ich sie nicht mehr hören konnte kam ich hinter dem Kimono hervor und stützte mich mit einer Hand an dem großen Fenster ab. Mein Hals fühlte sich so trocken an. Ich schluckte mehrmals um dieses Gefühl los zu werden, dass die inneren Wände meines Hals zusammenklebten. Es half ein wenig. Mein Blick fiel auf die Auslagen. Nichts wirklich wichtiges befand sich darunter. Schlüsselanhänger, Schneekugeln mit dem Tempel im Miniformat darin und andere Dinge. Man hatte wirklich versucht mit allem Geld zu machen, was man, egal in welchem Land, als Souvenirs verkauft. Ich lief an den Babuschkas mit aufgemalten Japanerinnen vorbei und hielt mich weit vom Geländer fern. Ziellos lief ich das Rondell ab. Der Herr in der Uniform musterte mich kritisch, sah aber schnell weg, als ich den Kopf nach ihm umdrehte. Schließlich wanderte mein Blick wieder umher. Die restlichen Teile der ehemaligen Wand, sahen noch genauso aus wie früher, oder zumindest so, wie im Reiseführer. Wahrscheinlich hatten sie da schon versucht die Wahrheit über dieses sinnlose Ziel zu vertuschen. Wütend biss ich die Zähne aufeinander. Wie verrückt hatte ich über den Informationen gesessen, hatte versucht mir alle Tempel anzusehen, sie mir einzuprägen, um vielleicht einen Plan schmieden zu können. Eine sinnlose Unternehmung. Zu meiner linken eröffnete sich mir das Meer in seiner vollen Bandbreite. Die Panoramafenster schränkten die Sicht in keiner Weise ein. Doch dann kam wieder eine etwas breitere Wand und ich blieb stehen. Ungläubig starrte ich hin, blinzelte um diese Illusion zu vertreiben. Alles half nichts. Ich ging näher heran und streckte den Kopf vor wie eine Schildkröte und glubschte dieses Bild von einer Japanerin an. Ihre Augen waren etwas größer und nicht ganz so schräg gestellt, wie bei den meisten Japanern. Ihr hellbraunes Haar ging ihr gerade mal bis zu den Schultern. Ich verstand nicht. Sie ähnelte mir so sehr. Sie wirkte so erhaben auf diesem Bild, lächelte zuckersüß dem Betrachter zu, als ob sie kein Wässerchen trüben konnte. „Also, wenn das ein personifizierter Alptraum ist, dann sind es wenigstens süße Träume. Leicht bitter, aber süß.“ So stand ich vor dem Bild der Priesterin und sprach mit mir selbst, während ich beschloss, die Sache auf meine Art zu lösen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)