Wings 2 von Tyra-Leonar ================================================================================ Kapitel 1: Männer und andere Ungereimtheiten -------------------------------------------- Der Studiensaal war nicht leerer oder voller als andere. Was mich eigentlich doch manchmal immer noch verwunderte. Aber das liegt wohl daran, dass ich mich manchmal wirklich Frage, warum ich überhaupt Geschichte als Nebenstudienfach gewählt habe. Meine Beweggründe waren zweifelsohne gar nicht schlecht. Aber ich hätte auf die Ratschläge von Kommilitonen hören sollen, die von ihren Schreckenserfahrungen gerade in Geschichte berichteten. Auf Hören-Sagen wollte ich mich damals nicht verlassen und dachte sogar eine Woche lang, dass alles wie geschmiert läuft. Denkste! „Yasmn! Yasmn!!!“ Nach ungefähr zwei Wochen wusste ich endlich, dass er mich damit meinte. „Herr Won, ich heiße Yara, nicht Yasmin.“ Sein Problem zu mir besteht irgendwie darin, dass er meinen Namen vielleicht ein klein wenig nicht leiden kann. Aber ich fände es nur fair, wenn er dann doch wenigstens meinen Alias richtig aussprechen und nicht das „i“ verschlucken würde. „So, so. Willst du heute wieder frech werden? Ich habe dir eine Frage gestellt, beantworte sie gefälligst!“ Ist er nicht reizend? „Ähm ja... wie war die Frage nochmal?“ In Gedanken fügte ich noch hinzu, dass ich so verwirrt war, weil er meinen Kosenamen falsch ausgesprochen hatte. Aber ein Mann der Witze war dieser kleine Dozent da vorne gar nicht. „Ich wiederhole die Frage für Schwerhörige gern noch mal.“ Nur schade, dass er dabei so bissig klang wie eine Viper, auf die man gerade drauf getretten war. „Ist in ihrem kleinen Hirn vielleicht so etwas wie eine Erinnerung an den Angriff auf Japan?“ Meine Antwort darauf könnte ohne Zweifel auch einfach nur „Ja.“ sein, aber da ich mich gerade eh schon im siebten Kreis der Vorhölle befinde, sollte ich vielleicht diejenige sein, die nachgibt. Also begann ich damit zu erzählen, dass der Angriff auf Japan nach 1941 durch die USA im Jahre 1945 am 02. September zur Kapitulation Japans führte. Herr Won verdrehte daraufhin nur genervt die Augen. „Hättest du aufgepasst, wüsstest du, dass deine Antwort bereits vorne weggreift! Warum (!) haben (!) die (!) Amis (!) angefangen (!) Japan (!) zu (!) bombardieren(!)?“ Diese unnatürlich in die Länge gezogenen Sätze bringt er gerne wenn er zu Höchstformen aufläuft. „Anfangs blieben die USA und Japan bei der Neutralität im Bezug auf Hitlers Kriegsanmaßungen...“ Oh, ein Nicken von Herrn Won. Ich bin beeindruckt, jetzt bloß nichts falsch machen. „... Obwohl Japan sich dennoch mit Macht über China stellen wollte.“ Oh, oh, sein Kopf hat mitten in der Bewegung inne gehalten. „Am 7. Dezember 1941 wurde der weltweit bekannte Angriff auf Pearl Harbor durchgeführt, der als Wendepunkt im 2. Weltkrieg gilt und dazu führte, dass die USA in den Krieg mit eingriff.“ Was rede ich da? Es ist zwar die Wahrheit, aber.... Ich bin gleich tot. Das war´s du schöne Welt. Die Zornesröte in Herrn Wons Gesicht lies mich wieder auf meinen Stuhl zurück sinken. Stampfend wie ein Elefant kam er die Treppen hinauf gestiegen und baute sich in der Reihe vor mir auf. Ganz heimlich waren alle Leute in meiner Nähe am „Bäumchen-wechsel-dich-Spiel“ beteiligt, wodurch um mich herum nichts als leere Plätze waren. Wenigstens sterbe ich alleine und ziehe keine Unschuldigen mit in den Tod, das hätte nur schlechtes Karma gegeben. „Ich erkläre Ihnen jetzt mal was!!“ Und ich sage Ihnen gleich, dass sie spucken! Bäh, ist das widerlich. „Durch so beeindruckend dumme Leute wie sie, glaubt die gesamte Welt, dass Japan die USA provoziert hat!! Dabei wurden wir, die Japaner, gepeinigt und getriezt! Aber das können Sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, was das bedeutet! Immer ist Mammi´s Rockzipfel da, damit sie sich ausheulen können, oder?!“ Die Sache ist die, dass ich meine Mutter gar nicht kenne. Aber wie sollte ich es unserem geliebten Herrn Won nur erklären? Ich glaube er sieht es als seine Bestimmung an, die Ehre Japans in dieser Uni wiederherzustellen. Seine Gesinnung mag ja im Grunde friedfertig sein, aber der Terror auf seine Studenten ist es keineswegs. Es ist nicht so, dass ich eine aufmüpfige Studentin wäre. Herr Won hat seine Ansichten und die stehen nicht in Geschichtsbüchern oder auf Wikipedia. Der Versuch ihm friedlich zu begegnen endet dann doch meistens im Streit. Jetzt läge es natürlich nahe, die Stunden mit richtig wichtigen Dingen zu nutzen. Aber wenn man hier fehlt, weiß man nicht, was Herrn Wons Meinung entspricht. Also muss man wohl oder übel doch anwesend sein. Mir hat es in all der Zeit gerade mal zu einer umgerechneten, wackeligen 3 verholfen. Laut Herrn Wons Punktesystem eine -7, aber die kann er ja leider nicht vergeben. Er hatte es mal mit 0 Punkten versucht, woraufhin ich einige Leute zusammentrommeln wollte um dagegen vorzugehen. Geblieben bin am Ende doch nur ich, die zum Termin beim Hauptdozenten für Geschichte erschienen ist. Das war beim ersten Test, für den ich 100 Punkte erhielt... und den tödlichen Hass von Herrn Won, der mir wohl mein ganzes Leben noch anhaften würde. Sogar wenn ich keine Studentin mehr bin. In den nächsten Tests schrieb ich alles so hin, wie er es sicherlich gern hören würde. Dennoch zog er mir für verschiedene Dinge Punkte ab. Ich glaube sogar, dass ihm das Blau meines Kugelschreibers nicht gefällt, aber wer will das beweisen? Wenn man aber mal bedenkt, dass dieser Lehrer keine Einsen vergibt, höchstens an sich selbst, dann ist eine wackelige Drei doch ganz gut, oder nicht? Zurück zu seiner Schimpftirade. Nachdem er nun haarklein erzählte, wie ungerecht Japan doch behandelt wurde und wir Deutschen, vor allem ich deutsches Mädchen daran Schuld sei, was mit seinem armen Volk passiert war, konnte ich nicht umhin mich zu fragen, ob er vielleicht Krankheiten mit seiner Spuke übertrug. Vorbereitet wie ich war, hielt ich schon ein Taschentuch so vor mein Gesicht, dass mich nicht all zuviel davon traf. Leider wollte er auch noch über China erzählen, wobei ich hier schon gar nicht mehr richtig zuhörte. Ich war einfach nur noch wütend, was ich nach außen hin nicht zeigte. Als alleinstehende Studentin hatte ich alle Zeit der Welt um meinen Frust wieder raus zulassen. Aber trotzdem... manchmal komme ich mir wirklich wie ein Jude vor und mein Geschichtsfutzi ist Hitler. Das er mich noch nicht vergast oder erschossen hat, liegt wohl dem deutschen Waffengesetz zugrunde. Aber ich würde nicht darauf wetten, dass es in Herrn Wons Kopf keine Zeitbeschränkung dafür gibt. Zum Teufel mit meinem Gerechtigkeitssinn, warum kann ich nicht einfach irgendwann mal die Klappe halten, wenn er mich was fragt? Das Ertönen der Glocke war meine Rettung an diesem Tag. Herr Won lies mich mit den Worten ziehen, dass er sich eine saftige Extraarbeit für mein Benehmen ausdenken würde. Na toll, erst werde ich die japanische Tollwut von ihm kriegen und schließlich durch diese meine Bestrafung nur noch verschlimmern, wenn ich die Papiere mit Schaum vor dem Mund zerfetze. Aber wie gesagt... ich hab ja alle Zeit der Welt. Was ein Dilemma! Auf dem Weg zur Mensa holte mich wie immer meine Freundin Corinne ein. Sie ist gerade mal 1,45 groß und überrascht dennoch, durch ihren Überblick. Manchmal glaube ich wirklich, dass sie mich an den Schuhen erkennt. „Hey, Yara!“ Sie lächelte mir zu, doch ihr Lächeln erstarb. „Oh, wieder der Lehrer?“ „Nein. Corinne, ich werde sterben. Und ich erwarte, dass du zu mir ans Sterbebett kommst.“ „Wann wirst du denn sterben?“ Corinne ist manchmal echt drollig mit ihren Fragen. „Ich schätze, es wird so einen Monat dauern, dann müssten alle wichtigen Organe befallen sein. Schon ein Date an dem Termin?“ Sie zückte ihren kleinen Terminplaner. „Äh ja, mit David. Aber vielleicht lässt es sich einrichten, dass du so gegen 11 Uhr stirbst, dann hätte ich zwei Stunden für dich Zeit und könnte sogar deine Verwandten anrufen.“ „Du bist eine echte Freundin.“ Ich lächelte ihr dankbar zu, während sie ihren Kalender wieder in ihrer kleinen Handtasche verstaute. Corinne ist diejenige von uns, die einen Terminplaner braucht um die Stelldichein mit den Männern zu planen. Von Bindung hält sie nichts. Nicht, dass sie es nicht schon mal versucht hätte. Aber es scheiterte aufgrund ihres Eigenwillens. Die einzige Bindung, die bei ihr dauerhaft hält, ist die zu ihren Freundinnen. Und wir sind tolle Freundinnen! „Corinne! Yara!“ rief es schon von Weitem als wir gerade mit unseren Tabletts nach einem Platz suchten. Stühle waren in diesem großen Raum irgendwie rar, doch es gab einen Tisch, der immer genau vier Stühle besaß, und das ist unserer. „Yara, wird in einem Monat sterben.“ verkündete Corinne, noch bevor ihr kleiner, süßer Hintern, den Stuhl berührt hatte. Geschäftig machte sie sich daran ihren Salat mit ihrem selbstgemachten Dressing zu mixen. „Ähm... und an was?“ fragte Evelyn, der fast das Essen aus dem Mund fiel. „Nur die japanische Tollwut.“ gab ich trocken zurück und sah der kleinen Corinne dabei zu, wie sie die für sie viel zu große Salatbox hin und her schüttelte, und dabei sogar selbst wackelte. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle nebenbei erwähnen, dass sie nie BH´s trägt und die Blicke vom Nachbartisch recht zielsicher nicht gerade auf das Vegetarische gerichtet waren. Während ich den hektischen Handbewegungen von Corinne mit den Augen folgte, hörte ich Evelyn über Herrn Won reden und widmete mich wieder ihr. „Der hat doch echt ´nen Knall der Typ! Yara, warum lässt du den Kurs nicht sausen? Du lernst doch eh nichts darin.“ 1 zu 0 für sie. Aber ich konnte nicht einfach die weiße Flagge hissen und mich ab sofort vor Won´s Blicken verkrümmeln. „Du weißt, dass ich eine zweite Schiene brauche. Ich hab auch gar keine Lust ständig über den zu reden. Also, was machen wir am Wochenende?“ Ich sah in die Runde und begutachtete Lillis ernste Miene, die steif auf etwas gerichtet war. Ich folgte ihrem Blick und fand eine Gruppe von Typen, die sich lautstark unterhielten. Lilli ist ein wunderbarer Mensch. Vielleicht etwas schräg, aber eine tolle Freundin. Unser Haufen ist wohl generell so. Lilli ist die Ernste, die Kühle. Sie lässt Menschen nicht gerne an sich heran, das braucht Zeit. Außerdem bezeichnet sie sich selbst als Hexe, was ich persönlich sehr cool finde, andere irgendwie abschreckend. Aber das soll mir egal sein. Evelyn ist die Einzige von uns, die einerseits einen Freund hat, andererseits auch wieder nicht. Er ist vor ungefähr acht Monaten umgezogen um irgend so einem Sonderstudienfachgedöns nachgehen zu können. Er meldet sich, ab und zu. Aber sie treffen sich nicht mehr. Er hat nie Zeit oder Lust her zukommen und Evelyn... naja, Evelyn weiß, dass sie nicht mehr in einer richtigen Beziehung steckt. Aber warum die Mühe machen und es abschließen? Sie sieht ihn mehr wie einen Kumpel an, der hin und wieder anruft und sie etwas beschäftigt. Typische Abflauung der Gefühle. Tja, und Corinne... sie ist aufgeschlossen, impulsiv und nicht gerade zurückhaltend. Zusammen genommen eigentlich ein total unbeständiger Haufen, aber genau das verbindet uns wohl. Ich komm mir manchmal vor wie in dieser einen Fernsehserie, wo es auch um eine Vierergruppe von Frauen geht, die alle eigentlich total unterschiedlich sind. Ich lebe im Fernsehen, wie traurig ist das denn? „Ich hab mir Samstag für euch frei gehalten. Sonntag gehe ich dinnieren und am Freitag sehe ich, was dieser Typ aus dem zweiten Englischkurs so an Qualitäten zu bieten hat.“ „Ok, jetzt wissen wir deine Planung, aber was machen wir?“ fragte ich noch einmal nach. „Wie wär´s mir der neuen Bar unten am Squares?“ warf Evelyn ein. „Oder wir töten jemanden und teilen uns eine Zelle.“ Lillis schwarzer Humor, war heute irgendwie noch verbissener. „Was ist mit denen, Lilli?“ „Was soll mit denen sein?“ Sie sah mich an, als hätte sie gerade eben das erste Mal bemerkt, dass ich neben ihr sitze. „Nur ein Hauptidiot unter vielen Idioten.“ „Der eine da, hat sie wohl gefragt, ob sie auch mit Tarotkarten und Pendel arbeitet.“ meinte Evelyn und friemmelte die Gurke von ihrem zweiten Hamburger. „Ja und? Das tust du doch, wo ist das Problem?“ Irgendwie schien nur ich auf der Leitung zu stehen. „Er meinte weiterhin, dass er sich auch für so etwas interessiert.“ „So etwas, Pf!“ machte Lilli verächtlich. Evelyn rollte mit den Augen und erzählte weiter. „Sie hat daraufhin zu ihm gesagt, dass er sich dabei lieber nicht selbst verletzen soll. Woraufhin er, dann nicht mehr ganz so souverän reagiert hat und fragte, ob sie ihre Tage hätte.“ Mein Kauprozess stoppte. Ich schluckte schwer. „Armer Kerl, jetzt ist er des Todes.“ meinte ich zu Evelyn. „Hast du schon Vodoo angewendet?“ Ich lehnte mich leicht zu Lilli herüber und sah nochmal zu den Typen. „Der da, mit dem Verband an der Hand?“ Lilli nickte stumm. „Das möchte ich auch mal können.“ Ich lehnte mich wieder in meinem Plastikstuhl zurück und schloss besinnend die Augen. „Ja, bei den Typen, die du schon alle durch hast.“ meinte Corinne, die ihren Salat in Rekordzeit verspachtelt hatte und sich nun um ihre zwei Cheeseburger kümmerte. Ich frage mich echt, wo sie das alles hin isst. „Lilli erledigt das manchmal für mich.“ „Mit Erfolg.“ stimmte sie mir zu und aß ihren Auflauf fertig, der mittlerweile kalt geworden war. Wir beschlossen also den neuen Laden unter die Lupe zu nehmen. Doch nicht bevor Lilli dem einem Typen ein Bein gestellt hatte und dieser sich auch noch den kompletten rechten Arm verletzt hatte. Schnell und Präzise, waren ihre leisen Worte zu unserem Tisch gewesen. Kapitel 2: Viele erste Male --------------------------- Das „HonkyTonk“ war keine Spelunke, sondern ein wirklich gemütlicher Laden mit einmaligem Flair. Wenn ich es spezifizieren müsste, wüsste ich nicht wie. Es hat alles, aber eigentlich nichts, was normalerweise zusammen passen würde. Dennoch hat man es geschafft den absoluten Stilmix perfekt zu integrieren. Ich war auch überrascht als ich die Karte sah. „Wo waren die die ganzen letzten 10 Jahre?“ fragte ich und lies die Karte sinken. „Unentdeckt mit ihrem Talent in einer Schule.“ meinte Lilli. „Die Besitzer hier sind nicht sehr viel älter als wir.“ „Oh.“ kam es nur von mir zurück. Ich drehte mich herum und versuchte jemanden zu entdecken, der hier nach Chef aussehen könnte. „Haben die Damen sich schon etwas ausgesucht?“ Ich zuckte zusammen und setzte mich viel zu schnell wieder gerade hin. Corinne kicherte vor sich hin und tippte weiter in ihr Handy. Sie hatte mich wohl aus den Augenwinkeln gesehen und tat jetzt so, als würde sie über ihre eigene SMS grinsen. Ganz vorsichtig sah ich zu dem Mann, zu dem diese wunderbare Stimme gehörte. Schon als ich bei seinem Hals angelangt war schlug mir das Herz schon bis zum eigenen. Eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf flüsterte: „Nicht schon wieder...“ Als ich bei seinen Augen angelangt war, versank ich sofort darin. Das erste Mal in meinem Leben starrte ich jemanden an, der mich auch direkt ansah. Ich konnte nicht weg sehen, so wie eigentlich bei allen Männern. Die Musik um uns herum nahm ich nur noch als ein leichtes Wummern war. Dass ich meinen Atem angehalten hatte, vergaß ich ebenfalls. Das Einzige, was ich mitbekam, war der Drang meine Hand nach ihm auszustrecken und ihn zu berühren. Doch dann wendete er seine Augen von mir ab und sah zu den anderen. Was bin ich nur für eine dumme Kuh? Natürlich hat er mich nur wie jeden anderen angesehen. Die kleine Stimme aus meinem Kopf kam nach vorn und verpasste mir mit irrsinnigem Spaß Kopfnüsse. Evelyn bestellte für uns alle und der Kellner ging wieder. Mir war zum heulen zumute. „Du hast es schon wieder gemacht.“ Corinne grinste bis zu beiden Ohren und lehnte sich so weit über den Tisch zu mir herüber, wie es ihre Größe zuließ. „Jedes Mal, wenn dich einer anspricht, zuckst du zusammen, Yara.“ Normalerweise konnte ich darüber mitlachen. Doch mein schmerzerfülltes Gesicht lies auch ihr Grinsen verschwinden. Dann ging ihr ein Licht auf und sie sah in die Richtung, in die der Kellner verschwunden war. Doch er war nirgends zu entdecken. „Ach, Süße.“ sie ergriff meine Hand und beruhigte mich mit dem Gedanken, dass er ja mit unseren Bestellungen wieder kommen würde. Ein aufmunterndes Lächeln lag auf ihren Lippen, während ich trotzdem irgendwie Zweifel hegte. Und ich behielt Recht. Der Mann kam nicht wieder. Sein Kollege, ein typischer Studententyp, servierte eher genervt als alles andere und fragte nicht einmal, ob wir etwas essen wollten. Ich war fertig mit der Welt. Selbst Lilli versuchte mich aufzumuntern und mich an meinen Drink zu erinnern, an dem ich einmal kurz genippt hatte und ihn seitdem stehen gelassen hatte. Wie eine Einheit verharrten wir auf unseren Stühlen, bis es Corinne reichte. „Ey! Kellner!!“ blaffte sie ihn laut an. Es funktionierte wirklich. Der Student kam mit hochgezogenen Augenbrauen zu uns herüber und stützte die Arme in die Seiten. „Möchten Sie noch etwas? Ich wäre sowieso gleich zu Ihnen gekommen.“ „Das bezweifle ich.“ murmelte Evelyn. Kurz sah der Kellner zu ihr herüber, sichtlich genervt von uns. Doch Corinne zog seine Aufmerksamkeit sofort wieder zu ihr. „Sag mal, wo ist der andere Kellner? Der mit den schwarzen Haaren?“ Sie war direkt, was mich in diesem Moment mehr als freute, da ich nicht minutenlang schweigend dasitzen musste, bis sie endlich auf den Typ zu sprechen kam. „Schwarze Haare?“ „Ja, tief schwarz.“ setzte Corinne nach. „Hier arbeitet keiner mit schwarzen Haaren.“ All meine Hoffnungen zerbrachen in mir. Ich konnte den Scherbenhaufen praktisch hören, wie er Stück für Stück höher wurde. „Ich möchte zahlen.“ Das erste Mal in meinem Leben fühlte ich mich fremd in meinem Körper. Ich schaltete den Autopiloten an und bezahlte mehr wie eine Maschine, als wie ein Mensch, ein weiteres „erstes Mal“. Die Mädels beeilten sich und zückten ebenfalls ihr Geld. Keine drei Minuten später waren wir aus dem überfüllten Raum raus und an der frischen Luft, die meinen Autopiloten ausschaltete. Ich stand da wie bestellt und nicht abgeholt. Ziellos sah ich die Straße rauf und runter. Sanft schob sich ein Arm unter meinen. „Ich bring dich nach Hause.“ sagte Lilli zu mir und nickte dann den anderen zu. „Gute Nacht.“ „Gute Nacht.... Yara...“ Corinnes Stimme hörte sich an, als wollte sie diejenige sein, die mich jetzt nach Hause brachte. Ich war mir auch nicht so sicher, ob Lilli die Richtige war um mich aufzumuntern und hätte viel lieber Evelyn bei mir gehabt. Aber Lilli erwies sich besser als alle Anderen. Sie führte mich bestimmt, aber nicht drängend zu meiner kleinen Wohnung. Ich erkannte die dreckigen Straßen und die vereinzelt herumlungernden Menschen, aber ich fühlte mich meinem zu Hause immer noch kein Stückchen näher. All mein Wesen klammerte sich an Lilli, die es wortlos auffing. Als wir endlich in der Dachgeschosswohnung angekommen waren, wusste ich immer noch nicht, was ich mit dem angebrochenen Abend anfangen sollte. Ich wollte jetzt nicht egoistisch sein und wenigstens ein wenig normal sein. Doch Lilli buxierte mich durch das Wohnzimmer mit offener Küche, hier hängt auch mein Boxsack für den Fall aller Fälle, direkt in das kleine Schlafzimmer. Lilli redete leise und meinte, dass ich mich umziehen sollte. Dann ging sie. Ich hörte auf sie, obwohl ich mir ziemlich kindisch vorkam. Wenigstens legte ich noch Nachtsachen für sie heraus, ehe ich unter die Decke kroch und sie mir über den Kopf zog. Als Lilli wieder kam, hörte ich das Geräusch einer Tasse, die auf den Nachtisch gestellt wurde und dann wie sie sich umzog. „Möchtest du was trinken, Yara?“ fragte sie sanft, als sie sich neben mich im Bett aufgesetzt hatte. Ich schüttelte unter der Decke den Kopf. Nach einer Weile zog ich sie weiter herunter und sah zu Lilli, die mich mit der Tasse in der Hand ansah. Sofort schlug mir ein wunderbarer Duft in die Nase. Ich setzte mich auf und betrachtete die Tasse, die sie mir hinhielt. Der Tee war wirklich wunderbar und einschläfernd. Von Lilli wusste ich, dass roter Tee wie ein Schlafmittel wirkt. Lilli wartete bis die Tasse leer war und nahm sie mir dann ab, sie selbst hatte sich gar keine Tasse gemacht. Schuldbewusst nuschelte ich etwas davon, dass ich ihr gar nichts gelassen hatte, doch sie drückte mich bereits in die Kissen zurück. Meine Freundin lag die ganze Nacht neben mir und hielt meine Hand. Meine erste Befürchtung war völlig unnötig gewesen. Niemand wäre in dieser Nacht besser für mich gewesen, als Lilli. Obwohl es erst um zehn und ich noch gar nicht müde war, schlief ich fast augenblicklich ein. Und ehe ich mich versah, war Montag und Corinne erzählte von dem Typen, den sie am Sonntag getroffen hatte. Anscheinend war es ein Flopp gewesen und sinnlose Zeitverschwendung. Mir ging es wieder gut und Lilli... Ähm, ja. Sie tötete den Typen, dessen Arm sie schon verletzt hatte, gerade mit Blicken. Alles ging wieder seinen gewohnten Gang und ich war froh drum. Ich wollte nicht jemandem nach trauern, dessen Blick nur einmal auf mich gerichtet gewesen war. Ich kam mir selten dämmlich vor und hatte den Typen schon am Sonntagmorgen vergessen. Zumindest redete ich mir das ein. „Was muss heute dran glauben? Sein anderer Arm?“ unbemerkt sah ich auch zu Lillis neuem „Freund“ herüber. „Mach dich nicht lächerlich.“ meinte sie sanft. „Heute nehme ich mir sein Herz vor.“ Ihre vor Hass triefende, leise Stimme, lies sogar mich frösteln. „Hat er dir auch eine fette Extraarbeit in Geschichte gegeben?“ „Nein, er hat sich entschuldigt.“ warf Evelyn ein. „Oh, na dann wäre ich natürlich auch fuchsteufelswild.“ Fragend zog ich eine Augenbraue hoch und sah wieder zu Lilli. „Und er hat sie gefragt, ob sie nicht zusammen in den einen Shop für okkulte Artikel wollten.“ „Das klingt nach einem Date.“ meinte Corinne auf Evelyns Erzählung hin und verteilte gerade Süßigkeiten an alle. „Kleine Nervennahrung für die letzten Stunden.“ „Lilli, vielleicht meint er es wirklich ernst.“ Wir wussten alle, dass Lilli aus Prinzip Single war. „Das weiß ich.“ Ihre dunkel geschminkten Augen sahen zu mir. Jetzt war ich wirklich verwirrt. „Wenn du es doch weißt, warum sagst du ihm nicht einfach, dass er sich das aus den Kopf schlagen soll?“ Und schon hatte sich ihr Kopf wieder zu dem Typen gedreht. „Weil ihn das nicht abhalten wird.“ Ich verstand die Welt nicht mehr. Endlich schien es jemandem wirklich ernst zu sein und dann kniff Lilli und versuchte ihm das Leben zur Hölle zu machen, damit er sie vielleicht doch endlich in Ruhe lies. Sogar Corinne benahm sich merkwürdig. Bisher hatte sie jeden Typen zu Höchstleistungen gebracht. Jeden hatte sie vorher mit ihrem Röntgenblick ausgesucht, bevor sie sich mit ihm traf. Und jetzt hatte es das erste Mal bei einem schon im Café gescheitert. Noch ein erstes Mal, manno man. Mit dem Argument, dass es nicht ganz ihr Tag gewesen war, konnte man auch nicht landen. Ihr Leben bestand scheinbar schon immer aus Dates und Liebhabern und auf einmal gelang es ihr nicht mehr, das Tier im Manne zu wecken? Das konnte ich nicht glauben. Nur Evelyn schien noch ganz die Alte zu sein. Auch wenn sie heute das Wort „Ex“ in den Mund genommen und sofort wieder ausgespuckt hatte. Die gesamte Welt erschien mir irgendwie falsch. Auch als ich zu meiner Arbeit durch die kleinen Gassen lief, erschien mir alles in einem anderen Licht. Diese ganzen „ersten Male“ taten mir eindeutig nicht gut. Nein, sie schafften es mich völlig aus der Bahn zu werfen. „Womit hab ich das verdient?“ „Weil du laut redest und das Unglück so weiß, wo es eine Chance hat.“ Ich fuhr in die Höhe und wirbelte herum. Was ich sah, konnte ich nicht glauben. Ich… Ich war… Er ist… und ich… oh mein Gott! Ich stand nur ein paar Schritte vom „HonkyTonk“ entfernt und auf dessen Stufen stand der schwarzhaarige Kellner. Naja, eigentlich ist er ja kein Kellner, oder doch? Völlig überwältigt konnte ich keine schlagfertige Antwort herausbringen, nein, ich brachte gar kein Wort heraus. Ich überlegte viel lieber wie das möglich sein konnte. Das hier war mein ganz normaler Weg zur Arbeit, warum war mir das „HonkyTonk“ nicht schon früher aufgefallen? Die mussten doch renoviert haben oder irgendwas anderes. „Wie wäre es mit einem Kaffee?“ Soll ich ehrlich sein? Ich war Wachs in seinen Händen. Aber warum nutzte der Kerl das so schamlos aus? „Ja… nein!“ Puh, grad noch so die Kurve gekriegt. „Ich kann leider gerade nicht.“ Ich schenkte ihm mein schönstes Lächeln, immerhin wollte ich auf etwas hinaus. Ich glaube, meine Lippen waren aber nicht das, was ich versucht hatte zu formen. „Oh, entschuldigen Sie, ich wollte sie nicht belästigen.“ Aaaahhhh! Darauf wollte ich ganz sicher nicht hinaus. „Nein, ganz und gar nicht.“ Ich holte Luft und beruhigte mich soweit es ging. „Ich würde gerne einen Kaffee trinken, aber ich muss zur Arbeit.“ „Ach so, na dann kommen Sie doch einfach nach der Arbeit vorbei, oder morgen? Der geht aufs Haus.“ Er zwinkerte mir zu. Ich schmolz dahin wie ein Eis in der Sonne. „Ähm, aber Ihr Kollege… der andere Kellner“ verbesserte ich mich schnell „... meinte Sie wären kein Kellner.“ „Bin ich auch nicht.“ „Und warum haben Sie dann gestern Abend unsere Bestellungen aufgenommen?“ Jetzt war ich doch misstrauisch. Und dabei hatte er so schöne Augen… und eine so schöne Stimme… und einen so schönen Mund zum… Aufhören! Der Mann mit dem schwarzen Haar sah mich verdutzt an. Dann schien ihm ein Licht aufzugehen. „Ach, das.“ Er grinste wie ein kleiner Junge, der gerade einen grandiosen Streich verübt hatte und es jetzt brühwarm seinen Kumpels erzählte. „Ich bin ein Freund des Besitzers und seiner Frau. Ich habe so was wie Narrenfreiheit und dachte mir, ich gönn mir einen kleinen Spaß.“ Ach so, Spaß. Dann ist es ja gut. Nein, warte, nichts ist gut! Spaß?! „Aber als ich dann an Ihren Tisch kam wusste ich, dass es sich erst richtig gelohnt hatte.“ Konnte er Gedankenlesen? Oder hatte man mir meine Gedanken an der Nasenspitze angesehen? „Mein Blick fiel sofort auf Sie. Also wäre ich sehr froh, wenn Sie wirklich bald einen Kaffee mit mir trinken und ich sie länger ansehen kann. Ich bin jeden Tag hier.“ Das ist zu viel für mich. Ich glaub, ich werde gleich ohnmächtig. Ich hörte ein Klack in meinem Kopf als sich der Autopilot einstellte. Meine Rettung! „Na, wenn das so ist, sehr gern. Ich werde sehen, wann es sich einrichten lässt.“ gab ich souverän von mir, mit einem bezaubernden Lächeln. Dann setzten sich meine Beine wie von selbst in Bewegung und ließen mich weiter zu meiner Arbeit gehen. Ich spürte förmlich seinen Blick in meinem Rücken. Okay, das war vielleicht nur Einbildung, aber immerhin eine atemberaubende. Hatte ich gerade wirklich die Unnahbare gespielt? Hatte ich ihn gerade wirklich stehen gelassen und war nicht sofort mit herein gekommen? Verdammt bin ich gut. Innerlich ballte ich im Siegesrausch die Hände zu Fäusten. Äußerlich kippte ich an der Theke um, kurz nachdem ich meine Arbeitsstelle betreten hatte. Kapitel 3: Kompliziert ---------------------- „Oh mein Gott!“ „Du sagst es: Oh mein Gott!!!“ „Yara!“ Mit dicken Wangen sah ich in die Runde. Vielleicht hätte ich nicht so beiläufig erzählen sollen, dass es den Typen doch gab und was gestern Mittag geschehen war. Unter beiläufig verstand ich mal den Mund soweit wie möglich um einen Burger zu schließen. „Mas mis?“ gab ich Hamsterbäckchen von mir nachdem mich alle mit untertassentellergroßen Augen ansahen. „Sie fragt ‚Was is?’ und dabei hat sie ein äußerst vielversprechendes Date… Im Gegensatz zu mir.“ betröppelt schubste Corinne mit einem Finger ihren Apfel. „Ich freu mich so für dich, Yara!“ Und Evelyn hüpfte auf ihrem Stuhl während Lilli mich begeistert anlächelte. Kauend sah ich von einem zum anderen. Die Reaktionen waren doch etwas anders, als ich sie erwartet hätte. „Jetzt macht aber mal halblang. Immerhin war es erst letzte Woche als ihr alle festgestellt habt, dass meine Beziehungen immer ein Flop waren und es wohl auch bleiben würden.“ „Hoffnungslos traf es eher.“ meinte Lilli nur und sah auf den Apfel von Corinne, der gefährlich nah an der Kante war. Sie schnappte blitzschnell zu und rettete das arme Obst vor dem Fall. „Mit Essen spielt man nicht.“ „Danke, ich wusste, dass nur ein kräftiger Schlag mit der Wahrheit mich wieder in die Realität zurück führen würde.“ Mein gespielter Spott war auch heute wieder alles, was normal an diesem Tag ablief. Heute war keine Lesung für Geschichte. Ob Herr Won sich wohl verletzt hatte? Höchstens an seinem Stolz. Es sei denn… Ich warf einen Blick zu Lilli, doch diese war so normal wie immer. Sie hätte bestimmt etwas gesagt, wenn sie gegen ihn vorgegangen wäre. „Hach, ich fühl mich wie bei ‚Harry und Sally’.“ „Na dann wird das wohl erst nächstes Jahr was mit der Beziehung.“ trällerte Corinne. „Quatsch! Wir haben den entscheidenden Vorteil.“ begann Evelyn zu kontern. „Und was?“ jetzt war auch ich neugierig. „Eine Fernbedienung zum vorspulen.“ platzte Lilli hinein. Man konnte förmlich sehen, wie Evelyn aus allen Wolken fiel, weil man ihr den Abschluss versaut hatte. Ich lachte nur und zwar solange bis sie alle lachten. Endlich war es Abend. Evelyn hatte unbedingt darauf bestanden mir zur Seite zu stehen. Ob das ihr Grundgedanke war, oder ob sie einfach eine andere Definition davon besaß, weiß ich leider nicht. „Erzähl noch mal, was hat er genau gesagt?“ „Evelyn.“ jammerte ich. Das war die gefühlte 1.000 Frage. „Och bitte, nur noch einmal.“ bettelnd lief sie mir hinterher während ich mich langsam fertig machte. Vielleicht hatte ich ja Zucker am Hintern. Seufzend erzählte ich noch einmal ganz von Anfang und versuchte jedes Detail noch einmal in mir wach zu rufen. Wenn man bedenkt, dass ich selber schon ein Nervenbündel war, was war dann Evelyn im Vergleich zu mir? Während ich mir das Gesicht im Flurspiegel schminkte, saß sie auf der gerade mal 50 Zentimeter hohen Kommode, spachtelte ihren Tortelliniauflauf und trieb mich immer weiter mit ihren Augen an. „Und du willst da heute wirklich, ganz ganz ehrlich, nur so beiläufig auftauchen?“ ein schiefer Blick traf mich mit voller Wucht. Ich sah an mir herunter. „Na ja, vielleicht nicht ganz beiläufig.“ Verlegen kratzte ich mich an der Wange. „Und das da in deiner Tasche?“ Evelyn wies mit ihrer Gabel zu meiner geöffneten Tasche, die auf dem Esstisch stand. „Ähm… ja…. also. Die sind… für…. für Notfälle.“ warf ich ein. Irgendwie ahnte ich schon, dass ich so leicht nicht aus der Misere raus kam. „Und für welchen Notfall? Das du plötzlich in einer Wüste ausgesetzt wirst und sie zum Wassertransportieren benötigst?“ Ich dreh noch durch! „Evelyn, ich bin alt genug!“ „Stimmt.“ Sie sagte das so, als ob ich es doch nicht wäre. „Ja, ist ja gut.“ Sie gab klein bei, als sie meinen gekränkten Blick vernahm. „Ich wünsche dir jedenfalls viel…. Glück.“ „Evelyn!“ „Ist ja gut, ist ja gut. Spaß darfst du auch haben.“ Sie lachte. Warum war nur mir nicht zum lachen zumute? Ich sah auf die Uhr. „Ich muss so langsam. Genieß den Film und ich hoffe mein Boxsack hängt noch, wenn ich wieder komme.“ „Geht klar, pass auf dich auf.“ „Ja, Mammi.“ „Und denk an deine gute Erziehung.“ „An meine was?“ „Genau die.“ „Ja, Mammi. Tschau, Mammi.“ sagte ich nur noch und dabei lachte ich so nervös wie ein Karnickel mit Schluckauf. Evelyn würde noch bleiben bis sie fertig gegessen und sich ihre Lieblingssendung bei mir angesehen hatte. Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel richtete ich noch einmal alles. Durchs laufen würde es zwar wieder verrutschen, aber ich musste meine Hände unbedingt beschäftigen. Auf der Treppe traf ich auf meine Nachbarin, Frau Pohl. „Gehen Sie aus?“ fragte sie freundlich. „Ja.“ ich schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Spätestens als sie mein Outfit gesehen hatte wusste sie bestimmt, wen oder was ich heute Abend treffen würde. „Ich wünsche viel Spaß.“ „Danke.“ Noch eine, die das Wort Spaß so komisch betonte. Diesmal klang es aber irgendwie negativ. „Yara!“ Ich sah nach oben. Evelyn beugte sich über die Brüstung und sah hinunter. „Ja?“ rief ich zurück. „Lass es im Bett ordentlich krachen!“ Das hätte meine Mutter sicherlich nicht gesagt. Das „HonkyTonk“ war überfüllt und das sogar an einem Wochentag. Unentschlossen stand ich an der Tür. Ich konnte nicht einfach durch den Raum stromern um mir einen Platz zu suchen. Anstatt nach einem Tisch Ausschau zu halten, würde ich doch eh nur nach dem Mann suchen. Das ging ja mal gar nicht! Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und versuchte über die Köpfe der Leute hinweg einen schönen Platz zu finden. „Suchen Sie mich?“ Ich fuhr vor Schreck zusammen. Vielleicht hätte ich mich darauf einstellen sollen, dass er mich zuerst findet, nicht anders herum. „H-hi!“ Ja, Yara, stell dich doch gleich als Mensch mit Sprachfehler vor. „Ich… äh… suche eigentlich einen Platz.“ Diese ständige Eigenkritik macht es vielleicht nicht gerade besser, überlegte ich so nebenbei. „Kommen Sie mit, ich weiß wo noch Plätze sind.“ Brav folgte ich ihm durch die. Meine Augen sahen ständig an seinem Rücken entlang. Ich empfand das als recht guten Orientierungspunkt. Wenn ich nur mal kurz nach vorne gesehen hätte, hätte ich vielleicht nicht wie ein Eichhörnchen geschaut, als wir plötzlich vor einem komplett leeren, reservierten Tisch mit Kerzen standen. Der schwarzhaarige Mann stand hinter einem bequemen Stuhl. Während ich versuchte mich so beiläufig wie nur möglich hinzusetzten, strich ich mir eine Haarsträhne hinter mein Ohr und schielte zur Seite. Wir waren im hintersten Teil der Lounge und der Abstand zu den anderen Stühlen und Tischen war größer als sonst wo in dem kompletten Raum. „Was möchten Sie bestellen?“ erklang seine melodische Stimme von der Seite nachdem er meinen Stuhl vorgeschoben und sich selbst gesetzt hatte. Was war nur mit mir los? Yara! Reiß dich zusammen, schallt ich mich innerlich selbst. „Also… ich…“ „Hm…“ gab er nach kurzem Schweigen von uns beiden von sich. Dann setzte er sich mir gegenüber. „Anscheinend mache ich Sie nervös, oder?“ Und schon wieder wusste er, was ich dachte. Ich nickte nur stumm auf seine Frage hin. „Kann ich vielleicht irgendwie helfen, damit es Ihnen besser geht?“ Das war zuviel. Ich schüttelte viel zu energisch den hochroten Kopf, stotterte irgendwas davon, dass ich auf die Toilette wollte und verließ eiligst den Tisch um in der Mengeunterzutauchen. Ich hatte jetzt die Wahl. Weiter geradeaus war die Tür, etwas links davon die Toilette. Wollte ich fliehen oder mich zusammen raffen? Ich entschied mich für die dritte Option: Ich ging auf die Toilette um zu überlegen, ob ich dann flüchten sollte. Die Zeit verstrich, während ich alleine auf der Toilette war und mich mit dem Rücken an die kalten Fließen anlehnte. Meine Nervosität würde alles vermasseln, wenn ich so weitermachte, was mir vollauf bewusst. Im Grunde traute ich dem Typen nicht. Er war nett, keine Frage, aber viel zu nett. Er war zuvorkommend, er sah gut aus, er war freundlich, sprich ein Mann, den ich für ein Märchen hielt. Leider war ich zu alt um an solche Märchen zu glauben. Ich entschied, dass ich gehen sollte, aber wenigstens ein kurzes Gespräch wollte ich noch mit ihm aufbauen. Da klopfte es. Warum klopfte es auf einer öffentlichen Toilette in einer Lounge? „Ähm, ja?“ „Ich bin es.“ Ich erkannte die Stimme nicht und suchte die Toilette nach anderen Leuten ab, doch hier war niemand. „Also, ich bin Tian, der mit den schwarzen Haaren.“ „Achso! Moment, ich bin gleich fertig.“ Hastig drehte ich den Wasserhahn auf und nach einer Weile wieder zu. Ich wusste nicht genau, ob er es überhaupt gehört hatte, aber sicher war sicher. Dann trat ich gänzlich gelassen aus der Mädchentoilette in den überfüllten Raum hinaus. „Du, ich glaub, ich hab dich wirklich etwas verschreckt.“ gab er betreten von sich. „Naja, weißt du…“ begann ich, doch er fiel mir ins Wort. „Nein, stimmt schon, ich bin doch etwas forsch ran gegangen.“ Es entstand eine merkwürdige Pause in der ich nicht genau wusste, ob er eine Antwort von mir erwartete. Er sah sich etwas um, legte eine Hand in den Nacken und schien zu überlegen. „Weißt du, du bist mir wirklich sofort ins Auge gesprungen, als ich an eurem Tisch ankam… Wie wäre es, wenn wir ganz von vorne anfangen?“ fragte er dann hoffnungsvoll. Meine Gedanken rasten. Plötzlich nahm ich seine Hand, zog ihn zu unserem Tisch zurück und schnappte mir die Karte, noch ehe er sich hingesetzt hatte. Ich kleiner Wirbelwind saß bereits. „Oh, willst du dich nicht setzen? Ich glaube nicht, dass du sonst irgendwo einen freien Platz findest.“ Tian sah verdutzt drein und grinste schließlich. Dann setzte er sich. „Danke. Aber seit wann sind wir beim „du“? Ich meine, wir kennen uns gerade mal 3 Sekunden.“ „Och, du bist mir nun mal sofort ins Auge gesprungen.“ Ich zwinkerte ihm zu. „Was kannst du denn empfehlen, Tian?“ Es war verrückt. Gerade eben hatte ich nicht mal ein Wort vernünftig herausgebracht. Aber durch diese äußerst verquere Situation war alles wie weggeblasen. Ich war wirklich gelassen, so gelassen, als würde ich mit meinen Freundinnen zusammen sitze. Es war so ungewohnt mit einem Mann, der außerdem noch so gut aussah und anscheinend Interesse an mir hegte, so unbefangen umzugehen. Wir lachten, wir erzählten, wir scherzten und vergaßen völlig die Zeit. Ich war wirklich überrascht, als es plötzlich nach halb eins war. Ich hätte es wahrscheinlich auch nie bemerkt, wäre ein Kellner nicht an unseren Tisch getreten und uns mitgeteilt, dass man gerne schließen möchte. Ich sah mich um. Der vorher total überfüllte Raum war jetzt gähnend leer. Mein Hintern war nur irgendwie am Stuhl festgeklebt. Tians Blick traf mich. Ich versuchte herauszufinden was er dachte. In einer fließenden Bewegung stand er auf und lehnte sich über den Tisch. „Wie wäre es, wenn wir uns morgen einen anderen Ort suchen?“ flüsterte er mir zärtlich ins Ohr. „Wir könnten ins Kino oder irgendwo anders hingehen.“ Sein leicht kitzelnder Atem entfernte sich wieder von meinem Ohr. Mit hochrotem Kopf nickte ich. „Ja, gerne.“ „So um 15 Uhr?“ Hat er gerade vorgeschlagen, dass wir den kompletten Nachmittag und Abend miteinander verbringen? Ich nickte und lächelte als wäre ich ein Roboter, dem man das einprogrammiert hätte. „Gut, soll ich dich abholen?“ Das brachte mich schlagartig in die Realität zurück. „Nicht nötig!“ wehrte ich ab. Was würde er denken, wenn er herausfand, dass ich in so einer heruntergekommenen Gegend wohnte. „Treffen wir uns doch wieder vor dem Eingang des ‚HonkyTonk’.“ „Auch in Ordnung.“ er stellte sich gerade hin. „Aber nach Hause bringen darf ich dich doch, oder?“ „Ich bitte dich, dass musst du nicht.“ Warum reitet der ständig auf dem Thema rum! „Ich bestehe darauf.“ Sein zuckersüßes Lächeln lullte mich doch wirklich schlagartig ein. Wie benebelt zog er meinen Arm unter seinen und hielt meine Hand. So eingehakt konnte ich nicht mehr fliehen. „Oh nein…“ „Hast du was gesagt?“ Wir waren schon auf dem Weg zur Tür. „Ja-aa. Ich wohne in einer wirklich unschönen Gegend. Was wirst du von mir denken?“ Mir fiel wirklich nichts anderes ein, als die Wahrheit zu sagen. Die Idee zu lügen und zu erzählen, dass meine Mammi draußen im Auto warte um mich abzuholen, wäre leider nicht ganz glaubwürdig gewesen. Niedergeschlagen ließ ich den Kopf hängen und war deshalb umso überraschter, als Tian plötzlich zu lachen anfing. „Das macht doch nichts. Umso besser wenn ich dich nach Hause bringe.“ Seine Überredungskünste sind wirklich erste Sahne, dass muss man ihm lassen. Ich gab mich geschlagen und fügte mich meinem Schicksal. Während dem kleinen Spaziergang erzählten wir weiter, als würden wir noch immer im „HonkyTonk“ sitzen. Irgendwo tief in mir drinnen war so ein kleiner Funke, der mir immer stärker mitteilte, dass Tian der Richtige war. Ich versank in seinem Blick und wollte ihn am liebsten nie wieder loslassen. Nur schade, dass er losließ, als wir ankamen. Warum war ich eigentlich keinen Umweg gelaufen, ich dumme Kuh? „Ich wünsche MyLady eine gute Nacht.“ Ich stand einfach nur da. Meine Augen sahen in seine, irgendwie wollte ich diesen Moment festhalten und für ewig hier stehen. Der kalte Nachtwind ließ mich frösteln und das romantische Bild zersprang, die Realität hatte mich wieder. Ich legte schützend die Arme um mich. „Das wünsche ich dir auch.“ Dann ging alles ganz schnell. Er machte einen schnellen Schritt, schob seine Hand unter mein Kinn um es anzuheben und küsste mich. Ich hatte nicht einmal Zeit meine Augen zu schließen, da war es schon wieder vorbei. Zur Salzsäule erstarrt spürte ich, wie seine Hand, die er wegzog, mich sanft an Kinn und Wange streichelte. „Sei nicht traurig, Yara. Morgen sehen wir uns wieder.“ er lächelte ein wahnsinnig bezauberndes Lächeln. „Ja.“ meine Laune hatte sich ins unermäßliche gehoben. „Ich freu mich schon.“ Mit diesen Worten sah ich ihm hinterher bis er verschwunden war. Schwungvoll und voller Übereifer drehte ich mich herum und machte mich daran, die Tür aufzuschließen. Dieses Hochgefühl beflügelte meine Schritte und ich rannte mehr die Stufen hinauf als sonst etwas. Auch in meiner Wohnung hätte ich am liebsten die gesamte Welt umarmen können. An Schlaf war nicht zu denken. Ich knuffte meinen Boxsack freundschaftlich und überlegte schon, wie ich ihn bald nicht mehr brauchen würde, da mir sowieso die Zeit fehlen würde. Außerdem würde ich mit dem wundervollen Tian über alles reden können. Wir würden stundenlang unsere Lieblingssendung sehen können. Gemeinsam ein 3-Gänge-Menü zaubern. Uns gegenseitig Geschichten vorlesen. Und einen Geschichtsaufsatz schreiben… Moment! Ich lief zurück! „Aaaahhhh! Scheiße!!!“ Ich hatte Recht, Schlaf gab es diese Nacht wirklich nicht. Kapitel 4: Tops und Flops ------------------------- „Es gibt Dinge, die ein Mensch tun muss und es gibt Dinge, die ein Mensch nicht tun muss.“ „Aha.“ meine gedämpfte Stimme verriet, dass ich nicht gerade für Konservation zu haben war. Mein Kopf lag auf dem Tisch in der Mensa und ich fühlte mich hundeelend. „Evelyn hat Recht, Yara. Wir sind hier doch nicht in der Grundschule.“ Langsam hob ich den Kopf. War denn hier niemand am Tisch, der nachvollziehen konnte, warum ich heute Nacht nur 3 Stunden Schlaf bekommen hatte. Vielleicht Lilli. Ich lies mich langsam zur Seite und an ihre Schulter rutschen. „Lilli? Du verstehst mich doch sicherlich, oder?“ „Kein Stück.“ „Was für eine unfaire Welt.“ Ich setzte mich wieder gerade hin. „Wir sind nicht unfair. Wir meinen es nur gut.“ beschwichtigte Evelyn mich. Ich war froh. Nicht über ihre Worte, sondern weil sie endlich nicht mehr Tausende von Fragen stellte. „Da fällt mir ein, wie war das jetzt eigentlich noch mal mit dem Spaziergang?“ „Ich musste es ja beschreien.“ Mein Kopf fiel wieder mit einem lauten Klonk auf den Tisch. „Hä?“ „Yara, willst du nicht was Essen? Du hast deine Lasagne gar nicht angerührt.“ Jetzt löcherte mich auch schon Corinne mit Fragen. „Nein… mag nicht…“ grummelte ich müde. Das darauffolgende Magengrummeln verriet mich aber trotzdem. Nicht mal der hält zu mir! Ich setzte mich auf. Corinne fing an mich zu füttern, aber nach dem dritten Versuch nahm ich ihr die Gabel aus der Hand. „Ok, ok. Es reicht! Ich reiß mich zusammen.“ „Tapfer, tapfer.“ Corinne klopfte mir mütterlich auf den Rücken. „Ich sagte, es reicht.“ Das ist doch mal wieder ein ganz erholsamer und friedlicher Mensabesuch. Nein, im Ernst, es war die Hölle. Ich kam mir vor, als hätte ich Hummeln im Hintern. Nur mit aller Macht konnte ich meine Gedanken und meine vier Buchstaben beruhigen. Ich versuchte mich einfach mit anderen, früher wichtigen Dingen abzulenken. Zuerst versuchte ich es bei Corinne. „Nee, ich hab das ganze Wochenende nichts vor. Und du?“ Also am liebsten würde ich mich an Tian kleben und nie wieder von ihm lösen. Aber das konnte ich ja in Wirklichkeit schlecht sagen, immerhin spielte Corinne auf ein Weiberwochenende an und ich wollte sie nicht kränken. Also antwortete ich mit einem wagen „Keine Ahnung. Vielleicht können wir ja was zusammen machen.“ Hey, was ist? Immerhin schon mal ein „vielleicht“. Nächster Versuch, diesmal Evelyn: „Hat dein ‚Freund’ sich mal wieder gemeldet?“ „Nein. Ist doch auch egal. Viel lieber würde mich interessieren, was Tian zu….“ Au backe! Schnell ne kurze Antwort und letzter Versuch: „… Lilli?“ ich folgte mal wieder ihrem Blick, der diesmal tödlicher als sonst war. Kurz sah sie zu mir und vernahm mit Unwillen meinen fragenden Blick. „Er hat mich verfolgt, der Bastard!“ Ich sah immer noch fragend drein. „Gestern! Von der Uni bis nach Hause! Ich hab sogar versucht ihn von einem Auto überfahren zu lassen.“ Verdammt! Das störte mein überglückliches, verliebtes Chi auch. Nein, ehrlich, es ist das Chi! Heute war niemand mitgekommen. Vielleicht hatte ich die anderen mit meinem Desinteresse doch etwas verärgert. Aber nur ein wenig… oder? Ich betrachtete mich selbst im Spiegel. Ich erkannte mich nicht mehr. Ich hatte zwar Augenringe und ein Dauergrinsen im Gesicht vor lauter Vorfreude, aber das war irgendwie nicht ich. Ich war kurz davor wie eine von diesen Frauen zu werden, die für ihren Typen ihre Freundinnen vernachlässigen. Also fasste ich einen Entschluss. Ich zückte mein Handy und tippte eine Nachricht, die ich an Corinne, Evelyn und Lilli schickte: „Tut mir Leid wegen vorhin, Mädels. Ich bin ein ignorantes Arschloch! Vielleicht wollen wir am Wochenende mir ein Schild umhängen? Es tut mir wirklich Leid. Ich hab euch doch lieb!!!“ Nicht gerade die geistreichste SMS von mir, aber immerhin etwas. Ich legte das Handy weg und rollte mir mit einem von diesen neumodischen Kosmetikstiften gegen Augenringe über die Lider. Dann ging mein Handy. Ich zuckte zusammen und sah nach unten auf die Kommode, auf der Evelyn gestern noch gesessen hatte. Panik stieg in mir hoch. Was war, wenn sie mir nicht so einfach verzeihen wollten? Was war, wenn Evelyn nie wieder dort sitzen würde? Zittrig griff ich nach dem Mobiltelefon. Und lies es beinahe fallen, als eine zweite SMS kam und ich mich wieder erschreckte. Bei der dritten kreischte ich sogar erschrocken auf. Ich hatte doch ein schlechteres Gewissen, als ich gedacht hatte. Mit flatterigen Nerven las ich die erste SMS. „Ach, mach dir nichts draus. Wir waren alle mal so  Und werden es auch irgendwann wieder sein. Kein Grund für ein schlechtes Gewissen. Evelyn.“ Nummero zwei: „Auf Schilder hab ich zwar keine Lust, aber ich freu mich wirklich, wenn man mit mir alter Schachtel noch was machen möchte. Nachdem mich ja alle anderen fallen lassen. Nur Spaß! Girlpower! Wir haben dich doch auch lieb, Yara. LG Corinne.“ Ich war glücklich. Nicht so nervös glücklich, wie bei Tian, sondern beruhigt glücklich. Also noch die letzte SMS: „Ich bring ihn um!“ Hää? Ich las schnell weiter. „Wenn der am Wochenende mir auch hinterher stalkt, dann erwarte ich von euch, dass ihr mir helft ihn irgendwo im Wald zu vergraben!!! Und übrigens: Was meinst du? Du hast doch gar nichts gemacht .“ Wenigstens auf eine in unserer Gruppe war noch Verlass. Mein überglückliches Lachen kam mir so neu vor. Vielleicht… weil ich jetzt alles hatte, was ich je wollte? Beruhigt und bestärkt eilte ich die Treppe herunter. Natürlich hatte ich mich total in der Zeit verschätzt und musste mich jetzt beeilen um pünktlich zu sein. Und übrigens: dieser neumodische Kosmetikkram hilft nicht! So viel dazu! Ich hatte es dann doch wieder mit den guten alten Eislöffeln für die hastige Frau versucht und sah jetzt doch wieder einigermaßen vorzeigbar aus. Während ich der Treppe immer weiter nach unten folgte fühlte ich mich irgendwann wie der Hase in „Alice im Wunderland“. Das waren doch über Nacht mehr Stufen geworden, oder? Endlich unten, warf ich die Tür scheppernd hinter mir zu, was ein lautes „Ey!“ aus einer Wohnung hervorrief und rannte beinahe Tian um, dessen Gesicht von Freude in Panik wechselte, als ich immer noch nicht nach vorn sah und dennoch los rannte. Heute war echt nicht mein Tag. Ich hatte den peinlichsten Auftritt in der gesamten Geschichte der Dates hingelegt. Ich hätte Tian, den gedanklich schon fest eingeplanten Vater meiner Kinder, beinahe umgerannt und auf die Straße geschubst. Aber stattdessen hatte ich gerade noch so die Kurve gekriegt, war gestolpert und direkt mit dem Kopf voraus in einer Mülltonne ohne Deckel gelandet. Zu guter letzt war ich gemeinsam mit dieser dann umgekippt. Körperlich betrachtet war das schon eine reife Leistung und es drehte sich auch nur ganz kurz alles ehe ich begriff, was ich gerade gemacht hatte und worin ich steckte. Wenn ich die Person erwische, die den Deckel nicht drauf gemacht hat! „Yara? Ist alles in Ordnung?“ Tian!!! Vor lauter Schreck wollte ich abrupt aufstehen. Auf das darauffolgende Donk folgte ein „Uh!“ meinerseits. So lag ich da, bis Tian mir heraushalf. Am liebsten wäre ich sofort wieder reingekrabbelt, hätte den Deckel drauf getan und wäre gestorben. Ich erhaschte nur flüchtig seinen Blick während er da so vor mir in die Hocke gegangen war und versuchte herauszufinden, ob ich mir ernsthaft was getan hatte. „Hast du dir wehgetan? Fehlt dir was?“ „Ich möchte bitte sterben.“ antwortete ich wahrheitsgemäß. Tian zog fragend eine Augenbraue hoch und lächelte anschließend. „Ach, Unsinn. Das war Pech, nichts weiter.“ „Nein, so was passiert nur mir!“ Ich konnte und wollte ihm nicht glauben. Innerlich lachte er mich sicherlich aus, so wie es jeder Mann tun würde, wenn sein Date in der Mülltonne landete. „Gut, dann mach ich dir einen Vorschlag.“ er grinste so bezaubernd, dass ich kurz vergaß was passiert war. Doch dann holte mich erneut die Panik ein. Vielleicht würde er jetzt in etwa so was sagen wie, dass wir uns ja morgen treffen könnten. Und dann würde er natürlich nicht auftauchen. Oder er könnte… „Ich bring dich jetzt nach oben, du ziehst dich um und wenn es hilft, dann geh ich auch vor die Tür und klingle um dich abzuholen. Wie klingt das?“ Ich, bitte was? Schon wieder etwas, was zu schön um wahr zu sein war. „Das… das wäre wunderbar.“ Ich brachte ein einigermaßen annehmbares Lächeln zustande nachdem ich die Bandbreite seiner Aussage begriffen hatte. Kurz darauf wurde ich schon hochgezogen. Was für kraftvolle Arme. Ich schmachte, ich brenne, ich sterbe. So ging es also wieder zurück in meine Wohnung. Schnell verschwand ich ins Schlafzimmer. „Du hast ja einen Boxsack.“ stellte Tian fest. „Ähm, ja.“ rief ich nervös zurück. „Setz dich doch. Oder bedien dich, wenn du was trinken magst.“ Hastig suchte ich nach alternativen Kleidungsstücken und riss hier und da Teile ganz unten aus dem Stapel. Schnell stand ich in einem Meer aus Hosen, T-Shirts und Tops ehe ich das richtige fand, was einigermaßen akzeptabel war. Jetzt nur noch ins Bad und den Gestank los werden. Gesagt, getan. Wie ein Speedy Gonzales flitzte ich ins Bad und warf dabei ein „Ich brauch noch kurz“ über meine Schulter. Ich hätte meine Worte nicht falscher wählen können. Ich lies es gleich bleiben mich mit kleinen Mitteln „geruchsneutral“ zu kriegen und sprang lieber gleich unter die Dusche. Das Ergebnis war gut, aber nicht gerade sehr gut. Ich kam mir immer noch dreckig vor. Also erst die Schminke ab und dann noch mal die komplette Grundreinigung von heute Mittag. Nach einer halben Stunde fühlte ich mich endlich sauber, aber immer noch nicht trocken. Hektisch versuchte ich mich zu beeilen, was wie immer, im totalen Chaos enden sollte. Durch meine hektischen Bewegungen flog so manches auf den Boden was irgendwann ein „Boah! Scheiße!“ aus meinen Mund fahren lies. Kurz darauf hörte ich Tian lachen. Nein! Nein, nein, nein!!! Zügle dich, Yara, oder ich hau dir die Finger ab! „Nur keine Panik! Wir haben doch Zeit.“ Ja, ganz toll, Tian. Komm mir noch mit Verständnis, dann fühl ich mich gleich viel besser, dachte ich mit Sarkasmus, der sich dann aber in wohlige Gefühle auflöste. Was hatte ich erwartet? Dass er wie alle anderen Idioten das Handtuch wirft, weil es mal länger dauert? Irgendwie konnte ich nicht glaube, dass er so eine Sorte von Mensch war. Außerdem hatte er immer noch sehr entspannt geklungen. Etwas weniger nervös und hastig fing ich erneut an mich fertig zu machen und kam nach weiteren 35 Minuten endlich wieder aus dem Bad. Tian stand auf und lächelte. „Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat.“ Ich ging zu ihm. „Das macht doch nichts.“ Seine Blicke wanderten über meinen gesamten Körper wodurch ich sofort errötete. „Das soll jetzt nicht negativ klingen, aber jetzt bist du noch schöner, als vorher.“ Ich lächelte und versuchte seinem Blick auszuweichen, der mich schier um den Verstand brachte. Die Stimmung zwischen uns war jetzt nicht mehr ganz so gemütlich. Nein, sie brannte regelrecht. Ich spürte es instinktiv, als seine Augen immer wieder die meinen suchten. Er packte mein Handgelenk und zog mich zu sich. Sofort spürte ich seine Lippen auf meinem Mund, der sich ihm begierig öffnete. Auf den einen Kuss folgten so viele, immer wilder und leidenschaftlicher. Er drückte mich gegen die Wand und setzte seinen Mund an meiner Halsbeuge an. Mein ganzer Körper zitterte. Während seine Hand unter mein Oberteil wanderte und mir lauter Schauer durch den Körper jagte, wusste ich nur noch annähernd, wo oben und unten war. Seine geschickten Finger waren wirklich atemberaubend. Kurz öffnete ich meine Augen, als ich wollig aufstöhnte. Mein Blick fiel auf den Tisch, auf dem eine meiner schmalen Vasen stand in der sich Wasser und eine einzelne Rose befand. Tian hielt inne, als er bemerkte, dass ich abwesend war und folgte meinem Blick. „Ich dachte mir, ich stelle sie in eine Vase, solange du duscht.“ Oh mein Gott! War er wirklich der perfekte Mann? So etwas gab es doch angeblich nicht. Das musste ein Traum sein, aus dem ich bald aufwachen würde. Ach nein, erinnerte ich mich, er hatte uns ja veralbert als er den Kellner gespielt hat. Das reichte mir als Argument, dass er nicht ganz, aber zu 99% perfekt war. Als ich später am Abend erwachte musste ich kurz überlegen, wo ich war. Meine Gedanken kreisten zurück und lullten mich völlig ein. Es war atemberaubend dieses Gefühl. Es war ganz tief in mir drin und beruhigend. Tian war der Richtige, ich wusste es, ich hatte es immer gewusst. Es stimmte einfach alles, es war perfekt. Langsam und mit geschlossenen Augen drehte ich mich auf die andere Seite um mich an diesen für mich perfekten Mann zu schmiegen. Doch da war niemand. Ich öffnete die Augen und starrte auf meine Hand, die auf dem kalten Laken lag. Nichts. Hastig setzte ich mich auf und sah mich im Zimmer um. Gar nichts. Ruhig, Yara, ruhig. Denk nicht schon wieder vorschnell. Meine eigenen Gedanken beruhigten mich etwas. Ich stand auf, wickelte mir die Decke um den Körper und lief aus dem Zimmer. „Tian?“ Keine Antwort. Wohnzimmer und Küche waren leer. Ich lief an der Wand entlang zu Bad und Flur. „Tian??“ rief ich etwas lauter, vielleicht war er ja auf der Toilette. Bei 3 Mädchen gleichzeitig ging keine 2 Minuten später das Handy wegen einer SMS. „Er ist weg…“ Kapitel 5: Die Legende ---------------------- Während die Welt so vor sich hin lebte, war für mich die Zeit stehen geblieben. Welcher Tag war heute? Meine Gedanken quälten sich im Schneckentempo vorwärts, während ich weiterhin aus dem Fenster und hinab auf die Straße sah. Ich konnte keine Zeitspanne definieren, denn ich wollte mich nicht erinnern. Wann auch immer es war, es fühlte sich nach Jahrzehnten an. Alles war unnatürlich in die Länge gezogen und detailgenau. Warum quälte die Welt mich nur so? Langsam hob ich meine Hände und legte sie mir vor mein Gesicht. Wann hatte die Welt angefangen nur noch aus grau zu bestehen? Insgeheim wünschte ich mir, doch aus dieser einen Fernsehserie zu sein. Ich würde eine Woche weinen, ihm hier und da wieder begegnen, bis auch mein Happy End auf mich zutreffen würde. Mit der Nase tief Luft holend, nahm ich die Hände herunter. Ich hatte nicht geweint, keine einzige Träne. Ich hatte es versucht. Aber da war nichts, ich fühlte gar nichts. Da war nur diese maßlose Enttäuschung, die mein komplettes Wesen in Anspruch nahm. Es riss mich jäh aus den Gedanken als es an der Tür klingelte. Lustlos drückte ich einfach den Knopf für den Türöffner. Egal wer da war, sei es eine meiner Freundinnen oder ein Mörder, es würde ja doch nichts ändern. Obwohl, Letzterer könnte meine Qualen beenden. Ich schüttelte den Kopf. „Reiß dich zusammen, Yara!“ schallt ich mich laut selbst. Schnell ging ich zur Tür und dann zur Treppe um über das Geländer zu spähen. Ich hörte nur Schritte, es waren ziemlich viele. Dann endlich sah ich sie. Kurze Zeit später waren alle drei schnaufend oben angekommen. „Yara…“ japste Evelyn „… du brauchst einen Fahrstuhl.“ Ich gab dieses monotone Lächeln zur Antwort. Mir war nicht nach Lächeln zumute, aber was sollte ich machen? Immerhin waren sie mittlerweile regelmäßig hier herauf gekommen nur um zu sehen, ob ich noch lebte. Zur Uni ging ich nicht, nicht mehr zumindest. Vielleicht würde ich mich so wieder fangen. „Aber so langsam müsstest du doch in Form kommen!“ lachte Corinne und verschwand leichtfüßig in meiner Wohnung. „Ihr müsst nicht ständig hierher kommen. Mir geht es gut, wirklich!“ „Natürlich, Yara.“ Lilli zuckte mit den Schultern und folgte Evelyn und Corinne. Niedergeschlagen war mir das Lächeln wieder aus dem Gesicht gefallen, während ich den Dreien dabei zusah, wie sie erst nur in meine Wohnung gingen und schließlich, als auch ich wieder drinnen war, anfingen, die Wohnung unter die Lupe zu nehmen. „Was erhofft ihr euch eigentlich hier vorzufinden?“ Als ich genauer hinsah, fand ich heraus, dass sie nicht suchten, sie räumten auf! „Ähm…“ schnell trat ich zu Lilli und wollte ihr das Kissen aus der Hand nehmen. „Ihr braucht das nicht zu machen, ich kann das alleine!“ sagte ich mit Nachdruck, da sie das blöde Sofading schnell aus meiner Reichweite brachte. „Lilli!“ schimpfte ich, doch sofort lenkte mich Corinne ab, die Sachen durch die Gegend trug. „Corinne!“ ich rannte ihr hinterher, doch es hatte keinen Sinn. Suchend sah ich mich im Raum um. „Und wo steckst du, Evelyn?“ fragte ich resignierend. „Im Schlafzimmer“ trällerte sie vergnügt als Antwort zurück. „Ich hasse euch!“ „Wir haben dich auch lieb, Yara.“ Corinne klopfte mir im Vorbeigehen auf die Schulter. Zehn Minuten und drei Freundinnen später, die sich übrigens in einen rückwärts drehenden Tornado verwandelt hatten, das ist so ein Ding, welches alles wieder hübsch aufbaut, war die Wohnung beinahe wie geleckt. „Muss ich zwangsräumen, oder kommen gleich Fernsehteams herein?“ Beleidigt setzte ich mich auf das Sofa und rückte so die Kissen wieder etwas unordentlich. Jetzt sah es zumindest hier wieder nach mir aus. Während Corinne, Evelyn und Lilli sich um mich herum setzten, kam ich mir noch mehr wie ein kleines Kind vor. Ich lies den Blick durch den Raum schweifen. Was war in mich gefahren, dass ich tagelang hier allein sein wollte? Tian war weg, Trauer brachte ihn auch nicht zurück. Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass wir sogar beim „HonkyTonk“ gewesen waren? Nichts, gar niemand erinnerte sich an ihn. Es war so, als ob nur ich und meine Freundinnen ihn jemals gesehen hätten und er unserer Phantasie entsprungen sei. Tian war wie vom Erdboden verschluckt und nur in Erinnerungen existent. „Yara…“ Evelyns sanfte Stimme holte mich in die Gegenwart zurück „… du musst aufhören, um deiner selbst willen. T…. Der Idiot ist weg.“ Wir hatten uns darauf geeinigt nie wieder seinen Namen zu verwenden, wenn er denn schon nicht „existierte“. Es war aber wohl auch der Liebeskummer, der mich dazu trieb, genau dies zu glauben. Mein Blick schweifte von einer Person zur anderen und dann wieder durch den Raum. Evelyn warf hilfesuchende Blicke um sich, doch niemand sagte etwas, bis ich es tat. „Den wievielten haben wir heute?“ Wie sich herausstellte, hatte sich die Welt ohne mich, so gut wie gar nicht weiter bewegt. Ich hätte gedacht, dass es mir wie Jahre hätte vorkommen müssen. Aber es war doch alles so ziemlich beim alten. Geschichte, ein Horror. Lillis Verehrer, immer noch am Leben. Corinne, naja, ein Date letztes Wochenende, weil sie auf andere Gedanken kommen wollte, sagt sie. Und Evelyn… die unveränderte Leier. „Ich freue mich, dass Sie uns auch wieder mit Ihrer Anwesenheit beglücken, Yasmn!“ Ich freue mich auch hier zu sein. Sie sind der netteste Lehrer, den ich je kennen gelernt habe und mein neuer Name passt wirklich besser zu mir. Das hätte ich gerne so laut und ironisch wie möglich gesagt. Aber ich bewegte nicht mal den Kopf. Wäre ich doch bloß zu Hause geblieben und hätte mich weiterhin in Selbstmitleid ertränkt! „Da sie ja nun genügend Zeit hatten, sich zu erholen, können Sie mir auch sicherlich bis nächste Woche eine Zusammenfassung unserer letzten….“ Bitte was? Noch bevor er zu Ende geredet hatte, stellte mein Gehirn schon auf taub. Tut Tut Tut, kein Anschluss unter dieser Nummer. Als ich wieder erwachte, fand ich mich im Krankenzimmer wieder. Die Leuchtröhren waren unangenehm hell und taten in den Augen weh. Ich sah zur Seite. Corinne stand besorgt da und drückte meine Hand fester, die sie wohl schon eine ganze Weile mit ihren beiden Händen fest umschlossen hielt. „Yara! Alles in Ordnung?“ Ihre panische Stimme überschlug sich fast. „Ich sagte doch bereits, sie hatte nur einen Schwächeanfall!“ schimpfte die Krankenschwester. Zu ihrer Bestätigung meldete sich auch mein Magen. „Oh Gott, Yara!“ Irrte ich mich, oder war Corinne den Tränen nahe? Ihr kleiner Körper versuchte mich so gut es ging zu umspannen, während sie mich halb erdrückte. „Corinne, ich lebe ja noch.“ Versuchte ich sie zu besänftigen, doch sie hörte nicht auf mich und jammerte immer weiter. Und das solange, bis ich sie von mir weg schob. Sie heulte wirklich. Vom Krankenzimmer ging es direkt in die Mensa, wo mich Corinne sofort zu einem Stuhl in der Nähe bugsierte und mich anwies, mich nicht zu rühren. Als sie wieder kam, hatte sie ein Tablett in der Hand, welches gefährlich mit ihr schwankte. Mit einem „Rumps“ landete das Stück Plastik auf dem Tisch. „Essen!“ befahl sie und setzte sich mir gegenüber, damit sie mich auch genau im Blick behalten konnte. Nach einiger Zeit kamen auch die andere Beiden hinzu. Die Diagnose war schnell gefunden, aufgrund von Liebeskummer hatte ich meine Bedürfnisse vergessen. Ich machte meinem Namen als Volldepp wirklich alle Ehre. „Ich soll dir das hier von einem Studenten geben.“ Sie hielt mir einen Zettel hin, den ich sofort auseinander faltete. Ich erkannte Herrn Won´s krakelige Schrift und entzifferte, was da stehen könnte. Nach zehn Minuten musste ich doch darum bitten, dass man mir half. „Das ist ein Tintenfisch!“ „Sei nicht albern, Corinne. Das ist ein Haus!“ „Mädels! Ernst bleiben.“ Sagte ich, dabei lachte ich als Einzigste und hatte schon Tränen in den Augen. Wenn ich mir mal einen Kommentar erlauben darf, das ist unfair! Das schreit doch vor Ungerechtigkeit! Nun sitze ich in der Bibliothek, weil meine Strafarbeit sich nicht auf die letzten Unterrichtsbesprechungen und einen Weltkrieg beziehen, sondern auf ein absolut…. ARGH! „Die Yasminblüten, verehrt durch ihre stille Schönheit, setzten sich…“ „Ja, ist gut. Das steht hier auch!“ Meine neue Strafarbeit handelte über Japan, soviel wussten wir bisher. Um was es genau ging, allerdings nicht. „Wie willst du jemals herausfinden, was er wissen will?“ Überlegend sah ich an den Buchreihen entlang. „Ich kann einfach die komplette Geschichte Japans aufschreiben. Irgendwo wird es schon drin sein.“ Evelyn hatte sich mit Corinne abgewechselt und übernahm nun die Wache über das Kind in unseren Reihen, mich! So Langsam streite ich das auch ehrlich gesagt gar nicht mehr ab. Alles an mir scheint Hilfe zu benötigen. Da wäre zum einen, dass man mich füttern muss. Das man aufpassen muss, dass ich mir keine imaginären Leute vorstelle. Das ich in Mülltonnen lande…. Eine nicht gerade kurze Liste, auf Details will ich gar nicht erst näher eingehen. Wenigstens hatte ich so keine Zeit, mich mit Liebeskummer zu beschäftigen. Wir wussten nicht, warum Herr Won sich noch eine schlimmere Strafe hatte einfallen lassen. Nach 4 Stunden Bibliotheksaufenthalt wusste ich nicht mal mehr, wo mein Hirn war. Während ich fieberhaft danach suchte, was mein Dozent denn gerne neu zu Papier gebracht haben möchte, sah und las ich so viele Abschnitte, dass mir der Kopf rauchte. Auf dem Weg durch die Geschichte, blieben meine wabbeligen Augen plötzlich hängen. Durch die Dunkelheit konnte ich die Wörter schon fast gar nicht mehr lesen. Ich sah mich um. Um kurz vor Acht, waren ungefähr noch eine handvoll Studenten an den Tischen. Ich sammelte meinen Kram zusammen, wechselte eiligst den Platz und las weiter. Jetzt hätte ich gern Evelyn oder Lilli dagehabt, die ich vorhin Beide genervt weggeschickt hatte. Meine Augen jagten den Wörtern förmlich hinterher. Während ich weiter las, packte ich meine Sachen zusammen und in meine Tasche. Dann nahm ich das Buch, ging zu einem PC und tippte mehrere Dinge in die Suche ein. „Japanisch“, „Legende“ und „Geschichte“. Das waren Wörter, die ich zuvor versucht hatte. Aber nun waren es konkrete Begriffe, mit denen ich arbeiten konnte. Eiligst schrieb ich die Kürzel auf ein kleines Stück Papier und rannte zu den Buchreihen. Ich hatte noch genau 10 Minuten in denen ich alle Bücher finden musste. Ich war so in meine Arbeit vertieft, dass mir überhaupt nicht bewusst war, dass ich alle Bücher gar nicht gleichzeitig lesen konnte. Während ich meine Liste systematisch weiter abarbeitete, stieß ich irgendwann auf das Buch, welches ich als nicht ganz passend befunden hatte. Mittlerweile war es auch schon zwei Minuten vor Acht und die letzte Lautsprecheransage schon 8 Minuten her. Hastig griff ich trotzdem zu dem Buch, rannte zum Ausgang und handelte mir, als ich den Stapel von Büchern auf die Theke balancierte, einen bitter bösen Blick ein, weil jetzt jemand 10 Minuten Überstunden machen musste. Tja, im Leben geht nun mal nicht alles wie geplant. Ein paar Tage später, hatte ich alle Bücher durch, bis auf eines natürlich. Meine Ausbeute war immens. Ich wusste zwar nicht, ob Herr Won sich darüber freuen würde, doch mir machte es so viel Spaß die Legende Stück für Stück zusammen zusetzten, dass ich gar nicht anders konnte, als sie zu meiner Strafarbeit zu machen. Eine alte japanische Sage besagt, dass es einmal eine Art „Königshaus“ gegeben hatte, welches an die Wiedergeburt glaubte. An und für sich nicht gerade spannend. Aber wie jede Sage hat sie doch etwas Märchenhaftes an sich. So erfuhr ich, dass es damals eine Familie gab, die im Rang nicht weit unter dem Kaiser gestanden hatten. 5 Krieger, allesamt durch Sternendeutung auserwählt, beschützten die Priesterin bzw. den Priester des Hauses. Sie wurden „der Stern“ genannt, da man sie als die symbolischen fünf Ecken eines Sternes sah. Es war Tradition, dass von Generation zu Generation eine Person ausgebildet wurde um auf die drohende Katastrophe vorbereitet zu sein. Viele Priesterinnen und Priester schieden dahin, ohne, dass auch nur etwas Nennenswertes geschah. Dennoch glaubte die Familie an ihre Bestimmung. Außerdem wurden ihnen heilerische Fähigkeiten nachgesagt, die manchmal auf Zauberei beruht haben sollen. Jedenfalls geschah plötzlich die vorhergesagte Katastrophe. Ganz Japan sollte untergehen. Doch die Priesterin griff, unterstützt von ihren 5 Leibwächtern, im rechten Moment ein, um die Katastrophe abzuwenden. Das Böse sei daraufhin geflohen. Leider fand ich nicht heraus, wie die Priesterin gekämpft hatte, die Geschichten gingen an dem Punkt ziemlich stark auseinander. Es war eine irrsinnige Arbeit gewesen, alle „Tatsachen“ zu lesen und diejenigen heraus zufiltern, die möglicherweise falsch sein könnten. Während meiner Recherche, die ich nachmittags bis abends in der Bibliothek und nachts zu Hause durchführte, erfuhr ich, dass es vielleicht auch um einen Tempel ging, der das Böse heraufbeschworen haben soll. In diesen heiligen Hallen soll es ein Buch gegeben haben, welches das Böse in einem Mann geweckt haben soll, als er es las. Während ich immer weiter auf Informationen stieß, musste ich irgendwann zugeben, dass unsere Hochschulbibliothek wohl nicht ausreichen würde um meine Suche zu verfeinern. Ich fuhr am Wochenende in die Hauptstadt zur Zentralbibliothek des Landes. Dort fand ich nach stundenlangem Suchen ein älteres Buch, dessen Seiten von einer alten Pergamentrolle kopiert worden waren. Leider waren es ausschließlich japanische Schriftzeichen. Aber wer konnte mich schon aufhalten? Ich würde schon jemanden finden, der sie mir übersetzen konnte. Leider erfuhr ich erst beim ausleihen, dass ich dieses Buch nicht mitnehmen könnte. „Aber warum denn nicht?“ „Mädchen, für wen machen wir eigentlich die ganze Arbeit? Da ist ein roter Punkt drauf, das bedeutet ‚Aus-leih-en ver-bo-ten’!“ Während der Bibliothekar mir dies erklärte und dabei die Arme vor dem Körper kreuzte, erinnerte er mich stark an Herrn Won. Geknickt ging ich erst einmal zurück. Warum zurück? Weil der nette Herr mir sagte, dass ich das Buch auch gefälligst dahin bringen soll, wo ich es her habe. Die Tatsache, dass es hier Angestellte gab, die die Bücher auch wieder einsortieren, überspielte er einfach. Noch bevor ich bei der staubigen Buchreihe im vierten Stock ankam, hatte sich eine Idee in meinem Kopf geformt. Ich sah mich um. Es war niemand zu sehen. Kameras? Mein Kopf wanderte nach oben. Ja, es gab ein paar. Aufgefallen war ich jetzt also auch schon. Ich lief weiter, als sei nichts gewesen, während ich mir hektisch überlegte, wie ich es anstellen sollte. Just in dem Moment gab es eine Lautsprecherdurchsage. Da fiel mir doch wirklich etwas ein, was ich im Internet gelesen hatte. Sofort warf ich mich auf den Boden und nahm die Fötushaltung ein. „Ah! Diese Stimmen! Diese Stimmen!“ rief ich. Ich hatte bereits den Aufkleber mit dem Chipsender vom Buch herab gerissen, der als zusätzliche Sicherheit bei den Meldern an der Tür Alarm schlagen sollte, wenn man ein Buch eingesteckt hatte. Man war ich gut. Schnell hatte ich das Buch unter ein Regal geschoben, während ich mit dem Rücken zur Kamera lag und so meine Tat verdeckt hatte. Ich war verdammt gut. Gerade als ich meinen Arm zurück zog, kam jemand um die Ecke und trat mir auf die Hand. „Au!“ „Oh, Verzeihung!“ Die Bibliothekarin sprang zurück. „Was ist mit ihnen? Geht es ihnen nicht gut?“ „Äh, nein…“ jammerte ich „Da war diese Stimme!“ Der Blick, den mir die Frau zuwarf, war mehr als fragwürdig. Entweder wollte sie lachen, oder mit den Augen rollen und sagen, dass ich verrückt sei. Sie konnte sich nicht so richtig entscheiden und stand aus der Hocke auf. „Ich brauche frische Luft!“ japste ich und setzte meinen besten Dackelblick auf, den ich überhaupt hinkriegen konnte. Unwillig half mir die Frau auf und bemerkte nicht, wie ich das Buch unter dem Regal hindurch stieß. Sie brachte mich zum Fenster und wollte wieder gehen, als ich protestierend meinte, dass sie mich bloß nicht mit dieser Stimme allein lassen solle. Ängstlich tätschelte die Frau mir den Rücken und sah sich nach Hilfe um, doch da war niemand. In großen Bibliotheken geht es wie bei einem gut bekannten Elektronikmarkt zu, die Angestellten haben einen Sensor für hilfesuchende Menschen. Dann laufen sie schnell in die andere Richtung. Ganze zehn weitere Minuten gab ich mein schauspielerisches Können preis, ehe ich mich von dem geöffneten Fenster abwandte und die Frau anlächelte. „Vielen Dank! Es tut mir Leid, aber ich habe eine kleines Problem mit Lautsprecherdurchsagen.“ Schnell winkte die Bibliothekarin ab, meinte, dass es nicht weiter schlimm gewesen sei, auch wenn ihr Blick etwas ganz anderes sagte und dackelte eilig davon. Aber natürlich nicht, ohne mein Buch zu bemerken, welches unter dem Regal in der nächsten Reihe hervorlugte und von der Kamera aus nicht zu sehen war. Sie hob es auf, drehte es in der Hand herum. Da hatte doch wirklich jemand den Aufkleber abgerissen. Ärgerlich lief sie hinab ins Erdgeschoss wo sich die Aufzüge für die Buchkisten befinden. Ich eilte ihr hinterher und versuchte so unauffällig wie möglich zu sein. Da drehte sie einfach in eine andere Richtung ab. Verdammt nein, nicht selber die Treppe runter laufen! Ich hastete ihr hinterher. Denk nach, Yara, denk nach!!! Ich folgte ihr weiterhin. Als wir im ersten Untergeschoss ankamen, war ich mir schon sicher, dass meine Idee in die Hose gehen würde. Was ich aber nicht wusste war, dass auch bei der Toilette versteckte Warnmelder angebracht worden waren. Während ich ihr also immer noch folgte und mich an den Kleinkindern vorbeidrängelte, die im Untergeschoss ihre Abteilung hatten, kam die Frau an einer Toilette vorbei, die sofort, aufgrund des Chipsenders unter ihrem Schuh Alarm schlug. Sie hielt an. Die Kinder, angelockt von dem Krach rannten teilweise zu ihr und fragten in ihrem kindlichen Denken, ob denn jetzt die Feuerwehr kommen würde. Gereizt, wie die Frau schon von mir war, herrschte sie eines der Kinder an, das sofort anfing zu plärren. Schnell griff sie in eine ihrer Taschen und holte ein kleines Telefon hervor. Wütend legte sie das Buch auf eines der kleinen Tischchen, die die Tür zur Toilette flankierten und benutzte dann ihr Telefon, in das sie eher hinein brüllte, als redete. Sie drehte sich herum, weil sie durch den ganzen Krach kein Wort verstand und anscheinend auch nicht verstanden wurde. Dem Ganzen noch eins drauf setzend nahm ein Kind das Buch und wollte es zu seiner Mutter tragen. Die Kleine kam direkt auf mich zu. Ohne groß zu überlegen schnappte ich mir das Buch und lief zurück zu den Treppen. Verdutzt sah das Kind mir erst nur verdutzt hinterher, dann schrie auch sie wie am Spieß. Oben angekommen war das Buch bereits in meiner Tasche verschwunden, als ich mich zwischen einer großen Masse von Kindern hindurch geschlängelt hatte. Den Göttern sei dank, dass heue eine Kinderanimation in der Bücherei stattfand. Ansonsten hätte mein Plan niemals funktioniert. Ungestört verließ ich das Gebäude durch eine der Drehtüren. Am nächsten Tag und zurück in der Uni. „Und das hast du wirklich gemacht?“ Corinne war hellauf begeistert. Den ganzen Tag über hatte ich jetzt schon von gestern erzählt. Zwischen zwei Lesungen, hatten wir uns alle zufällig auf der Toilette getroffen. Gerade war ich mit meiner Geschichte fertig geworden. Ich war selbst noch baff, wie das alles geklappt hatte. „Wetten die finden es doch heraus? Dann suchen die dich!“ lachte Corinne, als sie aus der Toilette kam. „Vielleicht kommt ihr mich dann ja im Knast für schwer erziehbare Buchdiebe besuchen.“ „Natürlich!“ stimmte Evelyn sofort zu „Das können wir gleich mit Lillis Aufenthalt bei den schwedischen Gardinen verbinden, wenn ihr Mord klappt!“ „Keine Sorge! Ich arbeite daran!“ Lillis düstere Stimme kam von einer weiteren Toilette. Was danach passierte, war der reinste Alptraum! Kapitel 6: Nackte Tatsachen --------------------------- Vielleicht lag es daran, dass ich bereits mit einem Blick süchtig nach einem Mann war und nicht darüber hinweg kam. Es könnte aber auch sein, dass die Ausarbeitung der Legende meinen Geist so in Beschlag nahm, dass ich an nichts anderes denken konnte. Egal was es war, das Folgende sollte den Rest meines Lebens, der noch normal geblieben war, auch noch endgültig auf den Kopf stellen. „Oh Mist!“ Ich sah in den Spiegel zu der Toilettentür, hinter der Lilli saß. „Hat vielleicht jemand einen Tampon? Mir sind sie ausgegangen.“ Ein Hilferuf einer Freundin! Lasst uns zur Tat schreiten. Ich kramte in meiner Tasche, zückte das begehrte Stück und ging dann zu der geschlossen Tür um Lilli das Tampon darunter hindurch zu reichen. Es durchfuhr mich wie ein Blitz. „Danke schön!“ sagte Lilli und schaute nach einer Weile verdutzt auf meine Hand, die ich immer noch nicht weggezogen hatte. „Ähm… danke.“ Sagte sie noch einmal, diesmal bestimmter. „Yara? Was ist?“ Evelyn trat zu mir. Meine kalkweiße Haut machte ihr sichtbar Angst. „Hey, Yara“ brachte sie mit einem gequälten Lacheln hervor. „Sonst bist du es, die immer nach Tampons fragt.“ Ihr Witz landete nicht. Quälend langsam sah ich zu ihr auf. „Yara?“ fragte sie noch einmal, dieses Mal noch besorgter. Ich hörte die Spülung und das Türschloss, welches herumgedreht wurde. Lilli kam heraus und sah mich ebenfalls an. Corinne blieb am Waschbecken und musterte mich. „Yara… bitte sag nicht…“ begann sie. Man merkte, dass sie ruhig hatte sprechen wollen. Doch es ging einfach nicht. Ich setzte mich auf die kalten Fliesen und kümmerte mich nicht um den Dreck. Scheiße, scheiße, scheiße! „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ „Du wiederholst dich! Bleib endlich ruhig.“ „Wie soll ich ruhig bleiben, Lilli? 3 Schwangerschaftstest! 3!!“ Es kümmerte mich nicht, dass man uns von allen Seiten mit Blicken musterte. Momentan interessierte mich gar nichts, außer meine eigenen Probleme. Lilli, die ihren Kopf leicht nach unten gesenkt hatte, warf immer wieder ihre Augen hin und her um die anderen Leute aus den Augenwinkeln zu sehen. Sie war genervt, am Meisten wohl von mir. Wir saßen jetzt schon über eine Stunde in dem überfüllten Wartezimmer. Wäre ich nur wirklich ruhig geblieben, dann hätte ich nach kurzem nachdenken begriffen, dass sie sich nur Sorgen um mich machte und mit der Situation genauso überfordert war, wie ich. Als ich endlich aufgerufen wurde, sah sie mir sehnsüchtig hinterher. Am liebsten wäre sie wohl mitgekommen, doch das musste ich alleine durchstehen. Die quälenden Minuten vergingen nur sehr langsam. Dann stand ich wieder in der Tür. „Lilli.“ Meine leiste Stimme, war ungewohnt weich. Kurz darauf waren wir wieder draußen auf der Straße. Sie hatte es bis dahin nicht gewagt auch nur einen Ton von sich zu geben. Vorsichtig griff ich nach ihrer Hand und hielt sie fest, als wäre sie eine Rettungsboje weit draußen auf dem Meer. Jetzt endlich war es soweit. Die Tränen strömten mir übers Gesicht und verwischten meine Schminke. Ich weinte, ich weinte so sehr, wie ich noch nie geweint hatte. Den ganzen Weg zurück zu meiner Wohnung konnte ich keine Sekunde lang aufhören. Eingepfercht in meiner kleinen Welt, bemerkte ich nicht einmal, dass wir plötzlich wieder in meiner Wohnung waren. Alles um mich herum schien unwirklich und nicht real. Lilli, die mich seitdem ich auf der Couch saß, dauerhaft in einer festen Umarmung gehalten hatte, stand kurz auf, als es an der Tür geklingelt hatte. Als sie wieder kam, hatte sie Evelyn und Corinne im Schlepptau. Wäre die Situation nicht ganz so brisant gewesen, dann hätte ich mich bestimmt gefragt, wie sie es immer wieder schaffen, so schnell hier gebündelt aufzutauchen. „Und, was soll ich jetzt machen?“ mein Kopf fühlte sich so leer an. All die Tränen waren versiegt. Es kam mir vor, als wäre ich vollends ausgetrocknet. „Nun ja, es gibt die bekannten drei Möglichkeiten.“ Evelyns ruhige Stimme passte ganz und gar nicht zu ihren nervösen Händen, mit denen sie ununterbrochen rang. Möglichkeit 1: Die Abtreibung. Früher hatte ich gedacht, dass das wohl die beste Möglichkeit wäre. Aber nun, da ich mitten drin steckte, konnte ich die jungen Mütter verstehen, die sich lieber für das Kind entschieden. All meine Vorurteile ihnen gegenüber, waren wie weggeblasen. Möglichkeit 2: Das Kind bekommen. Möglichkeit 3: Das Kind danach abgeben. „Ich kann das nicht allein entscheiden.“ Energisch schüttelte ich den Kopf. Doch als ich die anderen ansah und ihre gequälten Gesichter sah, wusste ich, dass ich es doch allein entscheiden musste. Die Entscheidung lag ganz bei mir. Sie würden sich sicherlich auch nicht gut dabei fühlen, mit dafür verantwortlich zu sein, was geschehen würde. „Okay!“ Corinne rutschte von der Couch herunter und setzte sich auf den Boden. Ihre Füße hatte sie unter den Tisch gelegt. „Machen wir es anonym.“ Soweit so gut. Stift und Zettel waren auch kein großes Problem. Während ich die Kästchen auf die Papiere malte und dahinter schrieb was man ankreuzte, konnte ich jedoch sehen, wie Evelyn, Lilli und Corinne schon jetzt Panik bekamen. Dann reichte ich Zettel und Stift an Corinne weiter und stand auf. Geschlossen folgte man mir zur Küchenzeile. Nach einander gingen wir zurück, dies nahm wohlgemerkt mehr als eine halbe Stunde in Anspruch. Ich konnte es keinem verübeln. Ich war die Letzte, die ihr Kreuzchen setzten musste. Während mein Blick abschweifte, dachte ich an die Legende. Ich konnte die Priesterin vor meinem inneren Auge sehen, die für ein ganzes Volk gekämpft hatte und die Generationen vor ihr, ein eher ruhiges Leben geführt hatten. Zurück in meiner Wohnung sah ich zu meinen Freundinnen. Dann setzte ich mein Kreuz. Während ich die Schnipsel nahm und mischte wurde mir langsam mulmig zumute. Meine Freundinnen, die um mich herum saßen, sahen meinen zittrigen Händen dabei zu, wie sie ein Papier nach dem anderen auseinander falteten und in eine Reihe legten. Der erste Zettel. Abtreibung. Der zweite Zettel. Kind abgeben. Der dritte Zettel. Kind behalten. Das war dann wohl meiner, dachte ich im Stillen. Jetzt hatten wir für alles eine Stimme. Während ich so überlegte, ob die Abtreibung wohl von Lilli kam und der zweite Zettel von Evelyn, faltete ich den vierten und letzten Zettel auseinander. Corinne holte erschrocken Luft. Der vierte Zettel…. Kind behalten. Ruhig lief ich die Treppen hinunter, die zu Herrn Won führten. Meine Arbeit konnte sich sehen lassen, immerhin war sie 50 Seiten dick. „Wollen Sie mich veralbern? Ich warne Sie, wenn ich auch nur eine Seite finde, auf der lediglich zwei Zeilen stehen, dann können Sie ihren Kram nehmen und aus meinen Vorlesungen verschwinden!“ „Ist gut“ gab ich selbstbewusst zurück. Herr Won grummelte irgendetwas hinter mir, während ich wieder hinauf zu meinem Platz ging. Dann wies er uns an, etwas im Buch nachzulesen, während er meine Arbeit durchsah. Es war nicht verwunderlich, dass so gut wie niemand in sein Buch sah. Von oben sah ich unserem Dozenten zu, wie er erst jede Zeile auf dem ersten Blatt anfing zu lesen, irgendwann auf die nächste Seite blätterte um schließlich ziemlich hektisch die Seiten umzuschlagen, wahllos inne zu halten und sich schließlich zerstreut mit einer Hand durch die wenigen Haare fuhr, die er noch besaß. Er sah zu mir herauf, als hätte er gewusst, dass ich ihn beobachte. Ein zaghaftes Lächeln zuckte über seine Lippen, ehe sein Gesicht wieder ernst wurde. „Nun denn, Yasmn. Ich bin beeindruckt.“ Und ich erst. Ein Lob vor allen Leuten? Oder waren sie hier womöglich alle samt bestochen? Ich genoss für einen flüchtigen Moment diese bedeutsame Stille, die nur mir galt. „Vielen Dank, Herr Won. Aber ich heiße Yara und ich hätte eine Bitte an Sie, die meine Arbeit noch um ein großes Stück bereichern würde.“ Verdutzt bemerkte er meine Unverschämtheit wohl nicht. „Um was geht es?“ „Also, wissen Sie, ich hätte da ein Buch.“ Ein weiteres Mal verflog die Zeit wie im Flug. Erst als mein Nacken von dem ständigen heruntersehen schmerzte, könnte ich mir eine kurze Pause. „Das ist wirklich sagenhaft.“ Herr Won benutzte seit Stunden nur diesen einen Satz während er das Buch las, welches ich aus der Landesbibliothek gestohlen hatte. „Wo haben Sie das nur her?“ „Ähm… zufällig entdeckt.“ Mein schiefes Lächeln irritierte ihn nicht weiter, zu meinem Glück. Während Herr Won vorgelesen hatte, hatte ich jedes Wort in den PC getippt. Wir waren noch lange nicht fertig, aber zum Glück war das Buch nicht sehr dick und die Schriftzeichen relativ groß. Leider gönnte der Mann niemandem eine Pause, nicht einmal sich selbst. Er sprach schon weiter, ehe ich es richtig begriffen hatte. Schnell legte ich meine Finger wieder auf die Tasten und bemühte mich hinterher zu kommen. Doch er hielt jäh wieder inne. „Was ist los?“ fragte ich, als ich mich über den Stuhl gelehnt hatte. Seine Augen starrten auf einen Punkt in dem Buch. „Hier steht…. Hier steht dein Name, Yara.“ Sein Blick traf meinen, während seine Worte langsam in mein Hirn einsickerten. Nach einigen Tagen waren wir fertig, nicht nur mit dem Buch. Wir hatten alles ausgedruckt, was ich geschrieben hatte. Auch wenn Herr Won mir nur ungern die Seiten überlassen hatte, so hatte er immer noch den PC und das Buch. „Du bist der Nordoststern.“ Ich zeigte auf Evelyn. „Du bist Südost.“ Mein Finger wanderte weiter zu Corinne. Ohne aufzusehen zeigte ich auf Lilli, während ich weiter auf mein Blatt Papier sah. „Und du bist der Nordstern.“ Den kurzen Moment des Schweigens bemerkte ich gar nicht. „Yara? Ich weiß, dass dir das alles momentan zu schaffen macht und die japanische Tollwut scheint auch einzusetzen. Aber ich bitte dich, wer glaubt das?“ „Ich!“ gab ich kurzerhand von mir. „Hier, lest selbst!“ Ich reichte jeder einen ausgewählten Stapel Papier und sah zu, wie ihre skeptischen Blicke über die Zeilen wanderten und immer größer wurden. „Yara! Das ist nicht witzig! Hier stehen Sachen, die du doch auch weißt.“ „Schon, aber nicht alles. Gib auf, Corinne, ich habe bereits bewiesen, dass wir Teil der Legende sind.“ Nachdem Herr Won und ich auf meinen Namen gestoßen waren, folgten bald weitere, sehr bekannte. In kurzen Auszügen standen die nennenswerten Ereignisse jeder Person, in diesem Raum, sprich meinem Wohnzimmer, chronologisch hübsch geordnet auf diesen Haufen von weißem Druckerpapier. „In Ordnung. Nehmen wir einmal an, dass das alles wahr ist“ begann Lilli und ich nickte begeistert. „Dann bist du also ein Nachkomme der Priesterinnen und Priester, die damals nur für den Fall aller Fälle gelebt haben um Japan zu beschützen. Des Weiteren sollen wir drei der fünf Leibwächter sein. Wo sind bitte die andere beiden?“ „Die Eine ist tot.“ Mein Tonfall war wohl doch eine Spur zu fröhlich gewählt. Die Blicke meiner Freundinnen trafen mich mit vollem Entsetzen. „Da lest weiter.“ Ich reichte ein paar Zettel weiter, die Evelyn sofort ergriff und laut vorlas, nachdem sie gefunden hatte, was sie suchte. „Susan Bringston, der Nordweststern, erlag ihren Verletzungen im Jahre 1993.“ Evelyns Stimme war immer leiser geworden. „Deine Ziehmutter.“ Stellte sie dann fest, ihre Stimme war nicht mehr als ein Hauch. „Nur mal so nebenbei. Bedeutet das dann auch, dass wir nur bei dir sind, weil wir als deine Leibwächter wieder geboren wurden?“ Während Lillis Gedanke so durch den Raum flatterte, sah ich von einer zur anderen und musterte ihre Gesichter. Es war nicht undenkbar, der Gedanke war mir immerhin auch schon gekommen. Ich sah zu, wie Corinne Lilli in die Seite knuffte. „Das glaube ich nicht!“ Somit war das Thema schon einmal geklärt. Als ich wieder allein war, legte ich mit zusammen mit einem Teller Spaghetti und den restlichen Blättern auf die Couch und bedankte mich bei Gott, dass mir nicht, wie so vielen Frauen, andauernd schlecht wurde. Nachdem ich noch einmal gelesen hatte, was für meine Ziehmutter vorhergesagt wurde, las ich für den letzten Teil des Sternes weiter. Nach einer Weile hatte ich den Namen und einen ungefähren Aufenthaltsort. Helga Schneider, die Frau ist wohl schon eine Oma, dachte ich mir und legte die Zettel beiseite. Morgen würde ich mich darum kümmern sie ausfindig machen zu müssen. Mein Blick schweifte gedankenverloren über die Stapel von Büchern, die überall im Wohnzimmer verstreut herum lagen. Mit jedem Buch kamen die Erinnerungen hoch, die ich an die Legende hatte. Von Anfang an, war sie mir so bekannt vorgekommen. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, aber diese Aufgabe hatte mir einen wahnsinnigen Schub nach vorne gegeben. Es füllte mich und mein Sein komplett aus. Unwillkürlich wanderte meine Hand zu meinem Bauch. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich schwanger war. Angeblich würden Frauen doch so etwas spüren, doch ich spürte gar nichts. Ich hatte nur mehr Hunger als sonst. Allerdings hatte ich verschiedene andere Symptome einer Schwangerschaft ja auch nicht. Während meine Gedanken weiter schweiften, dachte ich plötzlich an Tian. Sofort war ich auf den Beinen. Unruhig trug ich den leeren Teller zur Spüle und ging dann zu einem Fenster, von dem aus ich die Straße vor der Eingangstür sehen konnte. Von hier oben konnte ich die Mülltonnen von damals nur erahnen, aber es erschien mir immer noch wie gestern. So langsam fiel mir auch der Zussamenhang mit mir auf. Immerhin war ich auch ohne Vater groß geworden. Über meine Mutter war auch nichts bekannt. Solange ich denken konnte, war meine Ziehmutter für mich da gewesen. Ich hatte sie oft gefragt, wie ich denn zu ihr gekommen sei, doch ich hatte nie eine Antwort auf meine Frage erhalten. Schließlich war sie bei einem schweren Autounfall tödlich verunglückt. Susan war eine Tochter aus reichem Hause gewesen. Sie widersetzte sich damals der Tradition und zog von zu Hause aus, ohne den Wohlwollen ihrer Eltern. Natürlich für einen Mann, offensichtlicher geht es gar nicht mehr. Doch dieser verleugnete sie, als sie bei ihm vor der Tür stand und ihm sagte, dass sie nichts mehr mit ihrer Familie zu tun haben wolle. Diese waren generell gegen eine andere als ihre geplante Heirat gewesen, also sah Susan keine andere Möglichkeit. Leider hatte sie sich geirrt, der Mann ihrer Träume, knallte ihr die Tür vor der Nase zu. Ohne Geld war sie für ihn nichts weiter als eine billige Nutte. Vor die Tür gesetzt konnte sie nirgendwo anders hin. Auch zurück zu gehen war undenkbar. Niemand wollte sie jetzt mehr. Als Aufsässige und Nutte abgestempelt, begann sie ihr Leben allein zu leben. Sie lies keine Männer an sich heran, egal wer, sie wollte mit diesem Geschlecht nichts mehr zu tun haben. Sie hatte damals nicht mit ihrem „Traummann“ geschlafen und dennoch hatte er sie beschimpft. Wie gemein konnten Männer also noch sein? Susan war nicht verrückt genug um das herausfinden zu wollen. Meine Ziehmutter hatte mir ihre Geschichte erzählt um mich vor allen Männern zu warnen, egal ob klein oder groß. Anfangs glaubte ich ihr, doch irgendwann begann ich sie als Grieskram zu sehen, der sich lieber nicht mit Problemen beschäftigte. Als sie gestorben war, wollte ich endgültig diese Art von ihr los werden, die sie versucht hatte in mir zu pflanzen. Und hier stehe ich nun, schwanger und verlassen. „Susan hatte Recht…“ murmelte ich traurig. Dann sah ich etwas. Ich presste meine Hände an die Scheibe und sah genauer hin. Mein Blick suchte den Gehweg gegenüber ab, doch es war nur ein ganz normaler Schatten im Hauseingang. Für einen kurzen Moment hatte ich gedacht, dass Tian dort unten stehen und zu mir hoch sehen würde. „Närrin!“ schallt ich mich laut selbst. Kopfschüttelnd ging ich zurück zum Sofa und fiel beinahe, als ich über einen Stapel Bücher stolperte. Noch mehr Unordnung würde hier gar nicht auffallen, doch mein Blick blieb an einem Buch hängen. Ich bückte mich um es aufzuheben und las mir noch einmal den Titel auf dem Buchrücken durch. „Wings.“ Ich hatte gar nicht bemerkt, wie ich laut geredet hatte. Das war das Buch, welches ich erst gar nicht hatte mitnehmen wollen. Nun gut, wenn ich es schon einmal in der Hand hatte, dann wollte ich wenigstens anfangen es zu lesen. Immerhin musste es seine Überziehungsgebühr ja wert sein. Ich setzte mich wieder auf die Couch und schlug die erste Seite auf. Es war ein Roman. Die ersten paar Seiten interessierten mich nicht so richtig. Das Buch erzählte von einem Jungen, Sky und einer Prinzessin, Mikan deFlourite. Sky, der als kleiner junge bereits Leibwächter der etwas jüngeren Hoheit wurde, war als Findelkind von Mönchen aufgezogen worden um schließlich in den Dienst des Königs zu treten. Es klang nicht wirklich interessant, doch dann las ich etwas weiter und entdeckte, dass sich hinter dem anfänglichen Aufbau, eine bezaubernde Geschichte versteckte, die von Treue, Freundschaft und am Ende sogar von der Liebe erzählte. Später kam noch ein Konkurrent hinzu, der Mikans Herz zusätzlich verwirrte. Sogar als ich schon im Bett lag, konnte ich das Buch nicht weglegen. Ich wollte wissen, wie es weiterging. Im Laufe der Seiten erfuhr ich, dass es Geflügelte gab, die schon früher dem König und der Königin zu Augen gekommen waren. Später erfuhr ich, dass auch Sky ein solcher Geflügelter und die Wiedergeburt des vorherigen war. All die Jahre hatte er seine wahre Identität nicht gezeigt, aber als Kind schon mit einer erstaunlichen Reife überrascht. Mikan, die sich letztendlich für Sky entschied, der sie gerettet hatte, als sie von einem Turm der Burg gefallen war, musste am Ende zusehen, wie Sky unter großem Gestein begraben wurde. Ihr junger Leibwächter, der mittlerweile kein Kind mehr war, hatte sie und Skys Konkurrenten vor den Steinmassen gerettet, die durch den Angriff einer feindlichen Armee herunter gestürzt waren. Sky starb. Ich sah auf, als ich die letzten Worte gelesen hatte. Es war schon 3 Uhr Nachts! Schnell schaltete ich das Licht aus und versuchte zu schlafen. Kurz blieb ich liegen, dann rollte ich mich herum, nur damit ich kurz darauf weiter bewegte. An Schlaf war nicht zu denken. Wie auch? Sky war tot, dabei hatte ich ihn so sehr gemocht. „Es gibt echt blöde Autoren!“ murmelte ich ins Kissen. Irgendwann schlief ich doch ein. Kapitel 7: Die fünfte Leibwächterin ----------------------------------- In dieser Nacht träumte ich. An und für sich ja nicht unnormal, aber es kam mir so… real vor. Während ich also so durch die Gänge eines prunkvollen Palastes lief und die vielen Lagen Stoff meines fürstlichen Kimonos mit mir herum schleppte, traf ich auf viele Menschen. Sogar zwei Leute sah ich, bei denen ein merkwürdiges Gefühl in mir wach wurde. Mir war sofort klar, dass es sich hier um „meine“ Eltern handeln musste, doch viel Zeit hatte ich für sie nicht. Ich wurde bereits weiter bugsiert. Ich sah erst zur einen, dann zur anderen Seite. Auch diese Menschen kannte ich. Es waren drei Männer und zwei Frauen. Gemeinsam waren sie „der Stern“, meine Leibwächter, die auch in eben dieser Formation um mich herum waren. Wir folgten dem Weg hinaus zu einem großen Platz, der von allen Seiten mit Gebäuden gesäumt war. Der alte, japanische Stil gefiel mir. Er hatte etwas Beruhigendes. Dennoch hielten wir nicht an. Immer weiter folgten wir dem Weg aus weißen und grauen Steinplatten. Ihre Farbe war atemberaubend. Obwohl wir uns mittlerweile draußen befanden, war hier alles makellos und sauber. Meine Begleiter verschwendeten keine einzige Sekunde damit, sich dieser Atmosphäre zu erfreuen und liefen eiligst weiter. Dennoch sah ich mich um und erblickte bald weiter hinter mir zwei junge Frauen, die ihre Hände in den Ärmel hatten und auf Brusthöhe hielten. Ihre Blicke hatten sie gesenkt. Als ich zurück sah, bemerkte mich eines der Mädchen, sah auf und sofort wieder weg. Erst war ich verwundert, doch ich beließ es dabei. Mittlerweile hatte ich so viele Bücher über Japan gelesen, dass ich wusste, dass man jemandem so hohes wie dieser Priesterfamilie niemals in die Augen sehen durfte. Ich sah wieder nach vorn und nahm die Welt jetzt mit ganz anderen Augen war. War dies eine Erinnerung einer meiner Vorfahren? Um ehrlich zu sein, wusste ich sonst keine andere Antwort und war durch diese ganzen Mythen sowieso schon ganz leicht gläubig geworden. Wir passierten ein weiteres Gebäude, durch das wir geradewegs hindurch gingen. Immer wieder hielten wir an und warteten, dass meine Zofen, die sonst immer hinter mir liefen, die Schiebetüren öffneten. Oh man, dauert das lange, dachte ich und versuchte nicht genervt auszusehen. Während sich die Zeit so dahin zog, erreichten wir doch endlich einen Tempel, der etwas weiter weg von den palastähnlichen Wohnhäusern, aber dennoch innerhalb der Gebietsmauer stand, die mein zu Hause vollständig umschloss. Die großen, hölzernen Tore, mit den fantastischen Schnitzereien, wurden dieses Mal von innen geöffnet. Gemeinsam traten wir ein, wobei meine Zofen zurück blieben. Dann schloss sich die Tür wieder hinter uns. Es war sehr dunkel in dem großen Vorraum. Die Deckenhöhe schätzte ich auf mindestens 5 Meter. Durch die hohen, schlanken Säulen, wirkte der Raum noch um einiges höher, als er vielleicht in Wirklichkeit war. Mein Blick folgte den grünen Steinen, die in einiger Entfernung von der Wand standen und sich zu beiden Seiten über die gesamte Länge, des rechteckigen Raumes erstreckten. Weiter hinten sah ich ein halbrundes Podest, das man über zwei niedrige Stufen erreichen konnte, die sich um die gesamte Erhöhung erstreckten. Unsere Karawane ging weiter. An den Wänden hingen überall Schriftrollen mit Bildern und japanischen Zeichen. Hier und da standen auch einzelne Holzstücke, auf denen Krüge, Schwerter und andere Sachen zur Schau gestellt wurden. Neugierig blickte ich mich um, bis wir kurz vor dem Ende ankamen. Jetzt konnte ich auch sehen, dass das gar kein Podest war, welches mir vielleicht gerade mal ein Stück über die Knöchel reichte. Die Steinplatten waren einfach nur eine kunstvolle Erhöhung, die zu einem Wasserbecken führten. Links und rechts davon waren Türen. Eine von Beiden öffnete sich, als meine Knie sich bereits einknickten und ich zu Boden sank. Das Wasser lag ruhig da, so als sei es verzaubert und unbewegbar. Der Mann in der Priesterrobe kam näher, während ich meine Verbeugung vollendete. Als der dumme Wecker mich plötzlich aus meinem Traum holte, wusste ich erst nicht wo ich war. Schläfrig warf ich den Blick herum, bis er schließlich bei dem Ding landete. Ärgerlich klingelte der immer lauter und schneller. Da stand mir der Wecker in nichts nach. Wütend knallte meine Hand auf ihn drauf, damit er endlich Ruhe gab. Müde legte ich meinen Kopf zurück in das Kissen und schloss kurz die Augen. Kurz nur, aber natürlich so kurz, dass ich prompt wieder einschlief. Wie nicht anders zu erwarten, kam ich zu spät zur Uni. Dieses Mal hatte ich sogar den Bus genommen. Trotzdem konnte das die ersten Stunden nicht wieder herbeizaubern. Keuchend und schnaufend rannte ich durch den Gang und warf die Tür auf, die mit einem phänomenalen Knall gegen die Wand schlug. Herr Won sah zu mir auf, genauso wie alle anderen Anwesenden in dem Raum. Oh, scheiße! „Wir freuen uns auch, dass sie da sind!“ Gut, Herr Won klang freundlicher als sonst, aber dennoch war er wütend aufgrund der Störung, die ich verursacht hatte. Warum war ich auch nicht einfach leise rein gegangen? „Gomenasai, Senpai Won! Shitsureishimashita“ Ich verbeugte mich fast automatisch. Es war als würde ich neben mir stehen und mich selbst betrachten. Hatte ich gerade japanisch geredet? Und das mit einem exzellenten Akzent? Naja, um ehrlich zu sein, weiß ich nicht genau, ob es exzellent war, aber es klang für mich täuschend echt. Was habe ich eigentlich gesagt? „Daijōbu.“ Und was hat er jetzt um Himmelswillen gesagt? Panisch folgte ich dem nächst bestem Impuls und setzte mich. Ich kramte in meinem Hirn nach Wörtern, die ich durch meine Studie vielleicht aufgeschnappt haben könnte. Herr Won redete unten ungestört weiter und erklärte, dass wir nun zu einem anderen Themenfeld übergehen würden. Ich konnte mir förmlich vorstellen, wie sich meine Ohren, wie Satelliten, in seine Richtung drehten. „Unser nächstes Thema wird Japan sein.“ „Japan?“ gaben meine Freundinnen im Chor skeptisch von sich. „Exakt!“ lächelte ich triumphierend. Da mir dieses Thema so viel Spaß machte, würde das sicherlich ein Kinderspiel werden mit Herrn Won auf einen grünen Zweig zu gelangen und gute Punkte zu ergattern. „Ich bin beeindruckt! Ich hätte niemals gedacht, dass dein Geschichts-Futzi mal so nett sein würde.“ „Du sprichst mir aus der Seele, Corinne“ gab ich glücklich zurück. „Vielleicht wird jetzt wirklich alles gut.“ Mein Lächeln erstarb. Ich vergaß für kurze Momente gern, dass ich schwanger war und ohne dazugehörigen Vater da stand. Geschweige denn, dass meine finanziellen Mittel überhaupt ausreichend für zwei Personen waren. Sie waren es immerhin gerade mal für mich! „Yara, egal was passiert, wir können dir immer helfen!“ Mein Blick wanderte von Evelyns Augen zu ihrer Hand, die meine ergriff. Dankbar schenkte ich ihr ein Lächeln. „Danke, ich weiß eure Hilfe echt zu schätzen.“ Wir schwiegen kurz ehe Corinne wieder zu reden anfing, was ich als besser empfand. Diese bedrückende Stille, die auf allen gelastet hatte, war irgendwie schmerzhaft gewesen. „Also fahren wir am Samstag früh los?“ Ich nickte. „Ja. Ich dachte so an 8 Uhr. Dann sind wir gegen Mittag in Hamburg.“ „8 Uhr? So früh?“ warf Evelyn ein. Nicht wegen ihr, sondern wegen mir. Irgendwie ahnte ich schon, dass es wieder so kommen würde, dass ich als Einzigste verschlafen würde. Zögerlich nickte ich wieder. „Na, das kann ja was werden.“ Sie lehnte sich in ihrem Plastikstuhl weit zurück und rollte mit den Augen. „Hey, wenn ich jetzt japanisch kann… dann bin ich vielleicht auch kein Langschläfer mehr!“ warf ich protestierend ein. Ich wusste immer noch nicht, was ich da gesagt hatte, geschweige denn bekam ich die Buchstaben noch einmal in die richtige Reihenfolge. Natürlich, samstagmorgens, 8 Uhr, und ich lag noch immer im Bett. Die Fahrt nach Hamburg war anfangs ganz lustig gewesen. Letztendlich war Zug fahren aber doch anstrengend, obwohl man eigentlich nur da saß. Zuerst hatte man mir verziehen, doch am Ende lagen unsere Nerven durch die stundenlange Fahrt blank. Wir zickten uns alle gegenseitig an, teils grundlos, teils berechtigt, bis wir endlich den Zug verlassen hatten und vor dem Bahnhof standen. Die frische Luft war wie Balsam für unsere überhitzten Gemüter. Evelyn hatte im Internet recherchiert und eine Adresse herausgefunden. Sogar wie wir dahin kommen sollten, hatte sie sich überlegt. Brav den Anweisungen folgend stiegen wir in einen Bus und an einer Haltestellen von vielen aus, nur um in einen anderen Bus einzusteigen. Trotz der ganzen Vorbereitungen konnte Corinne es nicht lassen jeden Busfahrer nach der Haltestelle zu befragen, an der wir aussteigen wollten. Vielleicht flirtete sie auch, aber da war ich mir nicht wirklich sicher. Sie redete ziemlich überheblich mit Männern, die mindestens über 40 und so gar nicht in ihrer Liga waren. Es war wohl auch kein Wunder, dass sie immer ziemlich genervt zu uns stieß und sich setzte. „Corinne, was ist los?“ Erschrocken zuckte die Angesprochene durch mich zusammen. „N-nichts… gar nichts!“ Ihr Gesicht, welches die Farbe von einem leichten Braun zu Rot änderte, verriet sie. „Corinne?“ fragte ich säuerlich. Ich hatte keine Lust auf solche Spielchen. „Sag jetzt was los ist!“ Ich hätte etwas an Schärfe aus meinem Ton genommen und versuchte so etwas wie teilnahmsvoll zu klingen. Ärgerlich verzog sie Mund und Stirn. „Ist ja gut! Ich hatte ein Date mit einem 20 Jahre älterem Mann! Zufrieden?“ An Zufriedenheit reichte meine Verblüffung keineswegs heran. Erst überraschte mich nur die Tatsache, dass er um einiges älter war. Allerdings verflog dies, als ich darüber nach dachte, dass jemand Reiferes ihr vielleicht das geben konnte, was Corinne sich von den Bubis wünschte, die sie schon alle gedatet hatte. Jedenfalls kam mir sofort ein neuer Gedanke. Während wir alle Corinne ansahen, die unseren Blicken in der Vierersitzgruppe nicht entkommen konnte, außer sie sprang aus dem Fenster, stellte ich die vermeintliche Frage: „Bist du verliebt?“ Für jemand Außenstehenden mag diese Frage jetzt weit hergegriffen klingen. Aber nichts und niemand konnte unsere Corinne so aus der Bahn werfen, zumindest nichts uns bekanntes. Jetzt saßen wir alle da und schauten der nervösen Corinne zu, die mit ihren Händen rang und auf ihrem Stuhl hin und her rutschte, weil sie sich von den Blicken anscheinend ziemlich bedrängt fühlte. Als sie meine Frage hörte, wich sie entsetzt meinen Augen aus, mit denen ich sie festzunageln versuchte. „Also ich…“ nuschelte sie, als sie merkte, dass sie uns jetzt wirklich nicht mehr ausweichen konnte. Ihre Stimme versagte und so nickte sie nur. Völlig geplättet fielen mir und Evelyn die Kinnladen herunter. Lilli zog nur skeptisch eine Augenbraue hoch. Etwas anderes hatte ich von ihr auch nicht erwartet. In ihrem schwarzen Kleid mit der schönen, gleichfarbigen Spitze an den Säumen, sah sie so unnahbar und mystisch aus, wie eine erhabene Hexe. Zumindest glaube ich, dass sie so aussehen, immerhin kenne ich nur die Eine. Als die Durchsage für unsere Haltestelle durch die Lautsprecher über uns ertönte, begriffen wir erst nicht, dann aber rafften wir schnell unsere Sachen zusammen und stolperten aus dem Bus. Ich sah mich um, wodurch mein Blick wieder auf Corinne fiel. „Was ist?!“ fragte sie genervt und drehte sich, die Arme vor der Brust verschränkt weg. So einfach wollte ich nicht klein beigeben. „Sag doch mal, wie lange geht das mit euch Beiden denn schon?“ Ich muss zugeben, meine Neugierde ist manchmal unmöglich. „Sind wir jetzt hier um über mich zu reden, oder wegen dieser Tussy?!“ motzte Corinne zurück. Spätestens jetzt musste mir klar sein, dass Corinne nicht reden wollte. Traurig und beleidigt zugleich sah ich auf die Wegbeschreibung und stapfte wieder los. Im Gänsemarsch folgte man mir, bis ich schließlich in irgendeiner Straße, vor lauter Ärger interessierte mich gar nichts mehr, außer die Tür von Hausnummer 17, stehen blieb. Ich las noch einmal die Zahlen, sowohl auf dem Blatt Papier, als auch an der Hauswand. Dann betrachtete ich die Namensschilder neben den Knöpfen. Ich konnte eine Helga Schneider dennoch nirgends finden. „Evelyn, sind wir hier wirklich richtig?“ Ich stellte mich wieder gerade hin und sah in die Runde. Nach einer weiteren Prüfung von Evelyns Seite, sah auch sie sehr verdutzt aus. „Ja, ich habe alles zweimal überprüft. Immerhin wollte ich nicht, dass wir unnötig in so einer großen Stadt herumlaufen.“ Tatsache war aber, dass wir es doch getan hatten. „Okay, was jetzt?“ Ich erhielt keine Antwort, ich hatte ja selbst nicht mal eine. Doch dann marschierte Lilli an mir vorbei, drückte irgendeinen Knopf und wartete. Nichts geschah. Sie probierte einen weiteren. Diesmal hörte man das Knacken des Lautsprechers. „Hallo?“ „Guten Tag, bitte entschuldigen Sie die Störung. Wir suchen eine Helga Schneider. Kennen Sie die Frau vielleicht?“ „Nö, nie gehört“ erwiderte die äußerst „reizende“ Stimme und legte prompt auf. Anscheinend waren Evelyn, Corinne und ich die Einzigen, die das störte. Lilli drückte noch einen Knopf und erzählte dem Mann das Gleiche wie der ersten Frau. „Oh, Frau Schneider liegt im Altenheim „Zum Forst.“ „Können Sie uns vielleicht sagen, wo das ist? Wir sind sehr weit gefahren, weil unsere Freundin, durch einen Zufall, von einer unbekannten Verwandten erfahren hat. Und wir wollen… wir wollen…“ Anscheinend würde ich heute noch öfters baff sein. Lilli täuschte gerade wirklich Tränen vor. „Oh, aber natürlich. Kommt rauf.“ Kam es nach kurzem Zögern durch den Lautsprecher zurück. Dann hörten wir wieder das Knacken und anschließend das Summen des Türöffners. „Hat das gerade wirklich funktioniert?“ „Sieht so aus.“ Lili mit ihrer gleichgültigen Stimme, war wieder ganz die Alte, während sie uns die Tür aufhielt. Ich hatte ja bereits geahnt, dass unsere Frau Schneider schon älter sein dürfte. Aber das, was ich dort in dem Bett liegen sah, sah mehr nach einem Urzeitdinosaurier aus, als nach einem Menschen. Evelyn rammte mir ihren Ellenbogen in die Seite, als ich mit offenem Mund dort in dem Raum stand und Helga unhöflich anstarrte. Sie begriff nicht gleich, dass sie Besuch hatte. Als ihre trüben Augen uns endlich erfassten, sah sie uns mit soweit hochgereckter Nase an, wie es ihre liegende Haltung erlaubte. „Was wollt ihr?“ Ihre Stimme war straf und klang nur wenig nach einer alten Frau, die bettlägerig war. „Wenn ihr euch über eine alte Frau lustig machen wollt, dann geht woanders hin!“ „Ich… nein… wir… ähm…“ Es hatte mir doch wirklich die Sprache verschlagen. Der Raum war durch die roten, alten Vorhänge verdunkelt und tauchte alles in ein merkwürdiges Licht, als wäre die Zeit stehen geblieben. Die anderen zwei Betten waren leer, nur zwei, drei Dinge zeugten von den Bewohnern dieses Raumes, die das Alter oder die Krankheit dahin gerafft haben mag. Mir lief ein Schauer über den Rücken, denn mir war nie bewusst gewesen, dass ich Altenheime nicht mochte. Sie rochen nach Tod und Verfall und versetzten mir einen grausamen Stich der Traurigkeit, der dauerhaft in meinem Herzen anhielt. Die Frau, deren Bett in der Ecke zwischen zwei Fenstern stand, musterte uns. Irgendwie hatte sie eine andere Reaktion von uns erwartet. Ihre Züge wurden weicher. „Kinder, was wollt ihr von einer alten Frau, die nicht einmal mehr von ihren Verwandten besucht wird?“ Bitterkeit schwang in ihrer Stimme mit. Evelyn trat vor. „Sie sind Helga Schneider, oder?“ Mein Blick wanderte von der alten Frau zu Evelyn und dann zu Lili, deren Gesicht totenblass war, obwohl noch immer die gleichgültige Maske darauf lag. Egal wie viel Selbstbewusstsein wir wohl haben, es wird immer Situationen geben, in denen unsere Sicherheit mit einem Mal verpufft. „Ja, die bin ich. Und wer seid ihr?“ Ja, wer waren wir eigentlich? Für sie waren wir sicherlich völlig wildfremde Gören, die ihre restliche Zeit vergeudeten. Ich schluckte schwer. Warum hatte ich mir das hier alles so leicht vorgestellt? „Wir sind 3 Teile des Sternes.“ Die Sicherheit, die in Evelyns Stimme mitschwang, verwunderte mich. Die alte Helga anscheinend auch. „Bitte, wer genau?“ Hilfesuchend sah Evelyn jetzt zu mir. Ihre ruhige Stimme war also nur ein Bluff gewesen? „Ähm…“ begann ich, wurde aber bald unterbrochen. „Wer ist denn welcher Teil?“ Verdutzt riss ich die Augen auf. Sah ich richtig? Helgas Augen glänzten vor Begeisterung! Eine nach der anderen begann zu lächeln, während wir nur langsam begriffen, dass Helga irgendwie Bescheid wusste. „Woher wissen Sie davon?“ Feuer und Flamme, wie ich war, ging ich jetzt näher an das Bett heran. Ich hörte sie leise lachen, während sie die Augen kurz schloss und dann wieder öffnete. Ein Feuer schien jetzt in ihnen zu liegen, was schon lange verloren geglaubt war. „Irgendwann konnte ich diese Visionen in meinen Träumen nun mal nicht mehr ignorieren.“ Es dauerte nicht lange, da kam eine Pflegerin herein und bat uns, Frau Schneider nicht weiter anzustrengen. Doch diese wimmelte die Frau ab, schimpfte sie eine Närrin und hustete kurz darauf. Besorgt sahen wir uns an und entschieden dann in stillem Einvernehmen, dass nur eine hier blieb und mit ihr sprach. Dieser jemand war zweifelsohne ich. Immerhin hatte ich mich am meisten mit dem Thema beschäftigt. Während ich nun so auf dem Stuhl saß und mit dieser alten Frau redete, fühlte ich mich seltsam geborgen. Ich vergaß Zeit und Raum und berichtete Helga, wie ich alles herausgefunden hatte. Ich wollte ihr am liebsten mein ganzes Leben erzählen, doch nachdem ich das Wichtigste gesagt hatte, musste ich einsehen, dass Helga alt und schwach war. Ihre Augen waren wieder trüb geworden, als sie selbst eine Weile von ihrem Leben erzählt hatte. Sie sah an die Decke, aber eigentlich nirgendwohin, während sie sich in ihre jüngeren Jahre zurückversetzte und das Husten ignorierte, welches ihr ständig in der Kehle kratzte. „Könntest du mir etwas Wasser geben?“ Ihre Stimme war nicht mal mehr als ein Flüstern, sodass ich Mühe hatte sie zu verstehen. Ich sah mich um und erblickte einen Krug auf dem Beistelltisch zusammen mit einem Glas. Wahrscheinlich war das Wasser bereits abgestanden. Mit einer Hand hob ich das Gefäß hoch, stand auf und sah zu Helga. „Ich hole schnell Neues, ja?“ Ein kurzer Augenblick verging, während ich das reglose Gesicht der alten Frau betrachtete, das wie schlafend wirkte. Mit zittriger Hand stellte ich den Glaskrug wieder ab. Dann fiel ich auf die Knie und ergriff eine der kalten, faltigen Hände, um sie mit meinen zu umschließen. Kapitel 8: Der falsche Weg? --------------------------- Ich gab mir, um ehrlich zu sein, nur kurz selbst die Schuld an dem Tod der alten Frau. Sie war alt gewesen und ein Tiger, der kraftlos nur noch in seinem Käfig herumgelegen hatte. Früher hatte Helga ein Feuer besessen, an das so schnell keiner heran gereicht hatte. Sie hatte für ihre Familie gelebt, die ihr unter den Händen weggestorben war. Auch wenn Helga gemeint hatte, dass nicht mal ihre Verwandten sie besuchen kommen, so wusste ich es jetzt doch besser - es gab keine mehr. Niemand war übrig geblieben. Selbst ihre eigenen Kinder hatte sie unnatürlicher Weise zu Grabe tragen müssen. Es verwunderte mich doch etwas, dass sie nach all der Zeit, doch keine allgemeine Verbitterung gehegt hatte. Helga war für mich wirklich und wahrhaftig weise gewesen. Unser Weg führte uns zurück zum Hauptbahnhof von Hamburg. Es war mittlerweile schon später Nachmittag bis wir endlich ein paar von diesen kalten Bänken in Beschlag nahmen, die verteilt am Gleis standen. Irgendwie machte uns der allgegenwärtige Tod ziemlich wortkarg. Solange bis Corinne endlich zu erzählen begann. Sie erzählte von dem Mann, den sie kennen gelernt hatte und morgen wieder sehen würde. Sie beschrieb sein Aussehen, sein erwachsenes Verhalten und seine schier endlose Geduld. Ganz so sicher war ich mir bei Letzterem nicht, immerhin kannten sie sich erst seit ein paar Wochen, für mich erst seit ein paar Stunden. Des Weiteren berichtete unsere Freundin, dass sie sich im Kino kennen gelernt hatten, als ein anderer Typ sie versetzt hatte. Sie hatte sich wohl so ähnlich wie Rumpelstilzchen verhalten und war so ungemein aufgefallen. Ich betrachtete sie, wie sich ein Lächeln immer öfter in ihr Gesicht schlich. Auch Evelyn verdrängte den Tod wieder. Und Lili… die lächelte zwar nicht, war aber sichtlich an Informationen interessiert. Ich sah wieder nach vorn und über die Bahngleise und Plateaus hinweg. Es war nicht so sehr die Tatsache, dass jemand direkt vor mir gestorben war, es ging wohl eher darum, dass sie eigentlich eine von uns gewesen war. Ein Teil des Sternes, von dem jetzt nur noch 3 übrig waren. Nachdem ich mir jetzt selbst ganz sicher war, dass diese ganze Geschichte über die Wiedergeburt stimmte, traf es mich wie ein schwerer Steinschlag. Es kam mir vor, als wäre Corinne, Evelyn oder Lili gestorben, die ich doch schon wesentlich länger kannte. Aber was bedeutete kennen schon, wenn man sich an frühere Leben erinnern konnte? Endlich konnte mein beschränkter Horizont diese ganzen Jahrhunderte endlich begreifen, die in meinem Geist eingeschlossen waren. Jemand anderem davon zu erzählen, hätte in Gelächter und der Psychiatrie geendet. Aber ich war ja zum Glück nicht allein. Wie also musst sich Helga gefühlt haben, als alle sie auselacht und sie für geisteskrank erklärt hatten, nachdem sie sich sicher war, dass mehr hinter ihrem Leben steckte? Noch einmal sah ich mich in diesem Zimmer mit den roten Vorhängen stehen, die das Licht so merkwürdig warm und schummrig gemacht hatten. In meinen Gedanken sah ich noch einmal, wie sich Helgas Lippen bewegten und ihre Augen strahlten. Meine Erinnerungen verblassten zwar bereits, aber ich erinnere mich immer noch an die faltige Haut an ihren Händen, die sich so unglaublich weich angefühlt hatten. Egal wie sehr man sie ausgelacht hatte, was sie mir auch erzählt hatte, sie war zufrieden eingeschlafen, da war ich mir sicher. Jetzt, da ihr Geist endlich Ruhe gefunden hatte, hatte sie sich endlich selbst erlöst. Und das, obwohl sie niemals geahnt hatte, dass wir sie finden würden. Zurück in der angeblichen Normalität musste ich feststellen, dass nichts mehr wie früher sein konnte. Nacht für Nacht träumte ich mein altes Leben, ja ich freute mich sogar darauf. Außerdem wölbte sich mein Bauch und ab und zu betätigte ich mich an dem völlig unschönen Rückwärtsessen. Und…. ich wurde grausam gefoltert: „Och, ist das süß! Und das hier! Und das! Schau mal hier! Yara! Aaaahhhh! Das ist besser! Schnell hierher! Hach! Oh mein Gott! Schau dir das an! Yara, das ist doch…“ Ich bemühte mich, so zu tun, als würde Evelyn nicht zu mir gehören. Ich mied akribisch die Blicke der Verkäuferinnen und der Kunden und verkrümelte mich hinter einem Hochglanz Magazin über Babys. Eins stand schon mal fest! Evelyn dürfte nicht auf mein Kind aufpassen! „Guck doch endlich mal!“ Die Stimme ertönte direkt vor mir und ich senkte etwas meinen missbrauchten Lesestoff, der mich leider kein bisschen interessierte. Die Farben darin hatten Stimmen. Quietschend grelle Stimmen. Evelyn hielt zwei Kappen hoch. Beide hatten Ohren und vorne zwei schwarze, aufgenähte Kulleraugen und einen Bärchenmund. „Blau oder Rosa?“ Sie hielt die Dinger abwechselnd hoch. „Also…“ gab ich betreten von mir „Ich tendiere eher zu so etwas.“ Mit einer Hand griff ich zu einer cremefarbenen Mütze, die einfach nur schlicht war. Ich sah auf, erfasste Evelyns Blick. Irgendwie war er leer, nicht deutbar. Ihr Mund ähnelte eher dem eines Strichmännchens. Irgendwie konnte ich sehen, wie in ihrem Kopf eins von vielen Zahnrädern sich verhakte und alles anhielt. Dann drehte sie sich plötzlich schwungvoll herum. „Wir haben noch gar nicht nach Stramplern geschaut!“ Ihre Stimme trällerte nur so vor Fröhlichkeit. Das nennt man dann wohl klassische Verdrängung. Wieder zu Hause und umgeben von Tüten. „Yara?“ „Ich bin hier!“ hörte man es dumpf. Corinne schob ein paar Tüten beiseite. „Weißt du, wie man sie ausstellt?“ „Leider nein!“ gab ich kläglich von mir und sah zu der Blondhaarigen auf, bei der eine Ader an der Stirn hervortrat, wie immer, wenn sie genervt war. „Mist!“ Und schon lies sie die Tüten wieder los, die mich sofort wieder umschlossen und unsichtbar machten. Ich hörte Evelyn über jedes kleine Detail staunen. Die Farbe, die Größe, das Muster, die Beschaffenheit und die Vorstellungen, wie es an meinem Kind aussehen würde. Ich staunte hingegen nur über eins: Die Leichtigkeit meiner Geldbörse. Vor mir wurden die Tüten wieder auseinander geschoben, doch dieses Mal war es Lilli, die mich auch endgültig aus meinem Gefängnis befreite, aus dem ich mich, so schlapp, wie ich war, nicht hatte selbst befreien können. „Wir haben uns etwas überlegt.“ Ich war zu müde um verdutzt aussehen zu können. Also fragte ich einfach nur resigniert: „Was denn?“ „Wir greifen dir ein wenig unter die Arme, bis die Kindergeldstelle mal den Hintern hoch bekommt.“ Ich verstand nicht. „Wir geben dir ein Darlehen, sozusagen. Eins, dass du nicht zurück zahlen musst“ fügte meine Freundin hinzu, als sie meinen fragenden Blick gesehen hatte. „Ähm…. Was?“ war meine kluge Antwort darauf. „Wir wollen uns beteiligen“ half mir Corinne auf die Sprünge. Ich öffnete den Mund um zu protestieren, jedoch sagten alle drei im Chor meinen Namen. Das ist so, wie wenn deine Mutter sieht, wie du etwas Unartiges vorhast und dich kurz davor noch drohend warnt, dachte ich. Aber warum versuchte man mich, die eigentliche Mutter in spe, zu erziehen? Und warum funktionierte es auch noch? „Sieh es doch einfach als Geschenke auf einer Babyparty.“ Natürlich, auf die Idee, für so etwas eine Feierlichkeit zu schmeißen, konnte nur Evelyn kommen. Ich rollte mit den Augen und gab mich geschlagen. Vorerst. „Yara? Seit wann hast du einen PC?“ Ich sah mich um. „PC?“ Jetzt erst fiel mein Blick auf das Bücherregal. „Ach…. Das Ding! Ich hab ihn mir geliehen.“ Kurz zuvor hatten sich die Köpfe einheitlich in die Richtung bewegt, in die auch Corinne gesehen hatte. Nun drehten sie sich mir wieder synchron zu. 3 Augenpaare, die versuchten mir durch Blicke eine Nachricht zu übermitteln. „Herr Won hat für die Recherche seine Connections spielen lassen und für mich einen Laptop mit mobilem Internet besorgt.“ Noch immer stierte sich mich an, nur mit größeren Augen. „Ich darf ihn umsonst nutzen.“ Und jetzt mit noch Größeren. Wieder war es zuerst Corinne, die ihre Sprache wiederfand. „Lasst uns Pronos gucken!!“ Jetzt riefen wir ihren Namen. Viele Studenten hatten einen Laptop, Lilli, Evelyn und ich gehörten eigentlich nicht dazu. Ich persönlich war ja arm wie eine Kirchenmaus, Lilli hasste derlei Schnick Schnack. Aber warum hatte Evelyn eigentlich keinen? Sie meinte mal, dass ihr der Eine zu Hause reichen würde. Corinne hatte so einen Rosafarbenen, genauso quietschig wie sie es selbst manchmal war. Allerdings beschränkten sich ihre Kenntnisse in derlei Hinsicht extrem. Sie lies sich da gerne helfen. Früher war es eine „Hilfe“ gewesen, die auf eine Sache hinauslief. Diese Sache hatte sich aber durch ihren Freund, ja, mittlerweile konnte man das so nennen, mittlerweile geändert, von dem sie übrigens pausenlos zu erzählen wusste. Wenn es nichts Neues gab, dann fing sie einfach noch einmal von vorne an. Um es auf den Punkt zu bringen: Sie ging mir gewaltig auf den Keks. Anfangs war es ja noch witzig gewesen, aber jetzt nicht mehr. Sie wohnte schon praktisch bei ihm und hatte ihr Elternhaus Hals über Kopf verlassen, nur mit ihrem Handtäschchen bewaffnet. Freie Wochenenden besaß sie auch nur noch mit 4-wöchiger Voranmeldung. Außerdem… hatte er ihr ein neues Handy geschenkt… Wir gönnten es ihr ja, ausnahmslos, aber sie ging doch an in einer Pause zu weit. Corinne telefonierte gerade, wie jede freie Minute. Musste der Kerl nicht auch irgendwann mal arbeiten? Als wir sie das einmal gefragt hatten, meinte sie, er würde seine Pausen nach ihren richten. Er sei ein ganz hohes Tier in der Reifenbranche. Das hatte damals gereicht, um unser Desinteresse hervor zu rufen. Die Gesprächsbreite für Gummi, war bei uns nicht gerade reichlich vertreten. „Wie bitte?“ „Wollen wir nächste Woche in Babygeschäfte um ein Bett auszusuchen?“ fragte mich Lilli noch einmal mit Nachdruck. „Mein Vater hat mir unser Auto zugesagt, dann können wir es gleich zu dir fahren und aufbauen.“ Ihr müsst euch das in etwa so vorstellen. Corinne telefoniert und das nicht gerade leise. Meine Hexengöttin und ich reden. Evelyn hat sich in ihrem Stuhl zurück gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Soweit die Darstellung. „Ähm…“ Ich überlegte, ob und wann ich am Samstag Zeit hätte. Lilli hatte mich nicht gehört und verstand mich anhand meiner Lippenbewegung falsch. „Wie, nein? Warum nicht? Yara! Du musst endlich Vorbereitungen treffen!“ Sie klang genervt, aber nicht wegen mir. Corinne wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, weil sie leiser sprechen sollte. Gleichzeitig redete sie aber mit ihrem Mister Lover Lover und erzählte ihm, dass man um sie herum zu laut sei. Lilli wich der Hand aus. „Ich hab nicht Nein gesagt.“ Corinne schnalzte entnervt mit der Zunge und rollte mit den Augen. Wenn sie mit ihm redete, war sie wie ausgewechselt. „Um wie viel Uhr dann?“ Ich lehnte mich über den Tisch, um mit Lilli vielleicht doch besser Kommunizieren zu können. „Wie wäre es mit um 11?“ „Klingt gut.“ Dann wandte sich Lilli an Eveleyn. „Und du? Magst du auch mit kommen?“ Doch die Angesprochene brachte nur ein trauriges Lächeln zustande. „PSSCHHTTT!!!!“ machte Corinne plötzlich und hatte den Zeigefinger auf Mundhöhe gehoben. „Könnt ihr nicht einmal ruhig sein?!!“ Ich wollte gerade etwas erwidern um die Lage zu entschärfen, da stand Lilli bereits auf. „Mir reichts! Telefonier du doch weiter, aber hör auf uns zu stören!“ Oh oh! „Das musst du gerade sagen, du dumme Kuh!“ Doppel Oh oh!! Ich sah besorgt von einer zur anderen. „Mit was störe ich denn?!“ „Mit deiner abfälligen Art! Du lässt ja noch nicht mal ’nen Typen an dich ran!“ Corinnes zornige dreinblickende Augen weiteten sich. „Bist du etwa lesbisch?!!“ Wenn man die Lautstärke davor schon Brüllen nannte, was war Corinnes Ausruf dann erst? Verdutzte Blicke, auch von Lilli. Dann schlug sie wütend die Fäuste auf den Tisch, nachdem sie sich kurz umgesehen hatte. Alle in der Mensa starrten zu unserem Tisch. „Du Schlampe!!“ „Du Lesbe!!!!“ „Notgeiles Aas!!!!“ „Hinterhältige Fotze!!!!!!“ „Ich gehe!!“ Ich hatte gar nicht bemerkt, wie Evelyn aufgestanden war. Es war still, wie zu einer Gedenkminute, während meine Freundin unseren Tisch und die Mensa verließ. Es hatte einen Moment gedauert, doch so langsam erwies sich die Zusammensetzung unserer Freundschaft entweder als momentan sehr schwierig oder generell nicht überlebensfähig. Ich eilte durch die Gänge auf der Suche nach Evelyn, doch meine Gedanken waren noch in der Mensa. Corinne und Lilli, anfangs verdutzt, waren sofort wieder übereinander hergefallen, bis sie sich schließlich in entgegen gesetzte Richtungen getrennt hatten. Ich wusste nicht, was in ihren Köpfen vorging, mit Evelyn schien auch etwas zu sein. Ich wusste nur, dass ich die Zeichen schon viel früher gesehen hatte. Warum war ich nur nicht darauf eingegangen? Weil es eigentlich gar nicht so schlimm gewesen war, deshalb, dachte ich. Eskaliert war es aber trotzdem. Während ich weiterhin nach einem roten Schopf Ausschau hielt, überlegte ich, wann diese Veränderung stattgefunden hatte. Als wir alle noch Single gewesen waren, war alles noch in Ordnung gewesen. Ich eilte um eine Ecke und erblickte Evelyn. Ich rief ihren Namen und sie blieb stehen. Schnell rannte ich zu ihr und hielt abrupt an. Sie weinte. „Yara…“ Sie und ich hatten uns einen Platz auf der großen Campuswiese gesucht. Leise hatte Evelyn geweint, während ich nur ihre Hand hielt, nachdem sie eine Umarmung abgewiesen hatte. Ich hatte die anderen Studenten beobachtet und sah jetzt wieder zu Evelyn. „Ich bin momentan etwas unentschlossen.“ Ich konnte ihr nicht so ganz folgen. „Wegen was?“ hakte ich also nach. Sie schluckte schwer und hatte Mühe weiter zu reden. Ihr Blick war stur auf einen Fleck gerichtet. „Ich stehe seit kurzem auch auf Frauen.“ Jetzt war ich baff. Als ich nichts erwiderte, sah Evelyn panisch zu mir und versuchte mir zu erklären, dass sie selbst nicht wusste, was mit ihr los sei. Sie hätte das noch nie gehabt, solche Gefühle beim gleichen Geschlecht. Außerdem sei sie sich sicher, dass sie wenn nur Bi sein könnte, immerhin hätte sie auch nichts gegen Männer einzuwenden. Evelyn erzählte mir, wie verwirrt sie sei. Dann erst änderte sich mein Blick, während meine Seele begriff, was meine Augen nicht wussten. Umso mehr ich hinsah, desto mehr konnte ich die Zeichen erkennen, die auf Evelyns kompletten Körper und auf ihren Klamotten waren. Meine Hand schnellte vor. Erschrocken holte Evelyn Luft, versuchte aber nicht ihre Hand zu entwinden. Dann weiteten sich ihre Augen, als sie sah, wie langsam irgendwelche Zeichen meinen Arm hinauf krochen. Kapitel 9: Die Wahrheit ----------------------- Es konnte sich nicht merkwürdig anfühlen. Es waren nur irgendwelche Symbole, die mein Jahrhunderte alter Verstand erkannte. Mein Körper fühlte sich nicht seltsam an. Es war nichts im Vergleich zu diesen ganzen Filmen, die im Fernsehen ihre Runden drehten. Was am Ende geschehen würde, wollte ich dennoch nicht herausfinden. Ein Lächeln trat auf meine Lippen. Ich war nicht mehr Yara. Nein, ich war eine Priesterin, die nun handeln musste. Eigentlich tat ich es bereits. Die Symbole wurden langsamer, sie glühten immer heller und heller. Evelyn vor mir erglühte in demselben inneren Licht, welches sich hoch bis zum Himmel warf, wie eine Art Säule. Ich wusste, dass es bei zwei Frauen auf diesem Gelände genauso laufen würde. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um die wilden Strudel, die meine Freundin hinter mir sah, erkennen zu müssen. Das Licht der Runen erhellte mein Gesicht und meine Haare, die wieder aller Natur, nach oben wanderten. Sanft flog mein Haar und mein Lächeln wurde immer breiter. Eine Säule für mich schoss vom Himmel herab und hüllte mich ein. Ich wurde völlig davon verschluckt. Langsam öffnete ich wieder die Augen. Um mich herum war es tief schwarz. Ich sah mich um, doch da war nichts, außer ich. Völlig nackt und von innen heraus leuchtend, war ich in dieser endlosen Ewigkeit aus Schwarz gefangen. Doch schon erweckte etwas vor mir meine Aufmerksamkeit. Die Runen sammelten sich, in langen Schlangen umflogen sie sich selbst und bildeten ein rundes Gebilde. Während sie seltsame Klänge von sich gaben began ich zu verstehen. Jemand hatte uns ausgewählt in der Gewissheit, dass wir diejenigen waren, die ihn aufhalten konnten. Unbemerkt hatte der Zauber auf uns gelegen, hatte uns Stück für Stück verändert. Unser Persönlichkeit beraubt hatten wir genau das getan, was er bezweckt hatte. Wir sollten uns entfremden und uns auflösen. Getrennt waren wir also kein Grund zur Sorge. Der Kampf hatte wieder begonnen. Wir waren im Krieg, noch ehe wir es gewusst hatten. In mir ergab alles einen erschreckenden Sinn. Haargenau im selben Moment schloss ich einen Pakt. Ich würde mich, mein Leben, mein Kind für die Dauer dieses Kampfes aufgeben. Ich, die Yara dieser Zeit, würde ein Stück meiner Existenz verlieren und derjenigen Platz machen, die gewinnen konnte. Tief in meinen Augen konnte man die Veränderung bemerken, die da in mir vorging, während meine Seele einen Schritt zurück trat und Platz für das neue Alte machte. „Du gehörst mir!“ Meine Hände flogen in einer schwungvollen Bewegung nach vorn, als wollten sie diesen Ball aus lebendig gewordenen Symbolen umfassen. Ein Schrei zerriss die Luft und hämmerte in meinen Ohren. Das lebendige Gebilde vor mir krümte sich, versuchte zu entwischen. Doch die langen Linien waren nicht schnell genug. Die Priesterin bewegte ihre Arme und fing jedes Stück nach einander ein. Immer kleiner wurden sie, zusammengepresst durch die starke Magie. Mein altes Ich lies mich durch einen Zugang ein wenig Wissen gewähren. Diese Magie vor uns, war schon uralt. Sie würde immer bestehen. Sie war der Grund, warum Menschen sich änderten. Man brauchte sie, ansonsten konnte ein menschliches Wesen nicht in der schnellen Welt bestehen, die sich mit jeder Sekunde veränderte. Sie konnte die Macht nicht vernichten. Um das Gleichgewicht zu bewahren, musste sie... In gebündelten Strahlen schoss die Symbole nun auf ihre Hände zu und versanken in ihrer Handfläche. Solange, bis nichts mehr von ihnen übrig war. Wieder wurde es ein Stück noch dunkler, als es um uns herum sowieso schon war. 'Niemand kann so etwas vernichten.' Meine eigene Stimme klang seltsam. Daran musste ich mich wohl von nun an gewöhnen. 'Lass uns nun zurück kehren...' Mit diesen Worten löste sich die Dunkelheit bereits auf, wurde von Licht verschluckt. Im nächsten Moment stand ich wieder auf der Campuswiese. Evelyn rannte auf mich zu und auch von hinten hörte ich meinen Namen. Ich wusste gar nicht wohin ich zuerst sehen sollte. Bald war ich umringt und wurde mit Fragen nur so überschüttet. „Beruhigt euch doch“ lachte ich. Ich war wohl wieder Yara, diejenige, die sie kannten. Aber warum? 'Weil wir nicht gegeneinander kämpfen... Sondern miteinander' sagte die Priesterin lächelnd. 'Ich könnte deine Hilfe gebrauchen, Yara.' Und schon war sie wieder verschwunden. Ob ich wollte oder nicht, die nächste Zeit würde hart für mich werden. Niemand außer ich, war nun eins mit ihrer Vorfahrin. Während ich mit Wissen und Informationen überschüttet wurde, kümmerten sich die Anderen um den Zusammenhalt und das weitere vorgehen. Mit glasigen Augen saß ich irgendwo herum und lies die Bilder vor meinem inneren Augen vorbei fliegen. Ich hatte ungehinderten Zugang zu der Vergangenheit, meinen früheren Leben. Mittlerweile war uns allen klar, dass uns die Zeit davon gerannt war. Wir hatten viel zu lange gebraucht und waren voll in die Falle getappt. Das würde uns nicht noch einmal passieren, schworen wir uns. Wir gaben unsere Leben einfach auf, zerstörten jeden Weg der Kontaktmöglichkeit. Wir waren wieder wir selbst und wir brauchten nur uns. Aber gerade hätte ich gern noch jemanden gebraucht, die uns als Haushälterin beigestanden hätte. „Der Topf ist schwer!“ Keine Reaktion. „Er ist wirklich schwer!!“ rief ich lauter und doppelt so energisch. Evelyn kam mir zu Hilfe und wuchtete das rießen Ding vom Herd zur Spüle. Der Qualm stob um uns herum, als wir die Nudeln Stück für Stück in das viel zu kleine Sieb abgossen. „Ich mach das hier weiter, bring du doch schon mal das Geschirr rüber.“ Ich tat wie mir geheißen und drehte mich herum. Wir wohnten nun alle in meiner Wohnung. Überall lagen Dinge verstreut, die Laptops waren im Dauereinsatz und wir auf ständige Bereitschaft. Nichts weiter als kurze Nachrichten waren den Angehörigen in die Hände gelangt. Wir verrieten uns hier nicht. Unser Gegner, unser Feind, wusste wo ich wohnte. Aber das war egal. Er konnte uns so nicht angreifen, wenn wir beisammen waren. Der Stern, wenn auch nur aus drei Teilen bestehend, bildete gemeinsam eine Barriere, die er, Tian nicht überwinden konnte. Überrascht? Ich irgendwie nicht mehr. Da wir seinen Plan vereitelt hatten, würde er nun doch nach Japan reisen müssen. Er wusste, was geschehen war. Immerhin hatte er die Magie der Veränderung gebündelt und auf uns losgelassen. Wir hatten ihn ein Stück weit zurückgeworfen, das konnte er nicht übersehen. Allerdings war er uns immer noch um Meilen voraus. Während wir uns hier versammelten, konnte er bereits im Flieger nach Japan sitzen. Ihr könnt immer noch nicht folgen? Ok, noch einmal langsam. Tian ist unser Feind, er hat versucht unseren Kreis zu zerbrechen. Damit wären wir keine Gefahr mehr für ihn und er könnte einfach von dem Ort aus, an dem er sich befand, den Weltuntergang herbeiführen. Es würde nur länger dauern. Die Magie, die er losgeschickt hatte, hatte ihren Ursprung in Japan. Dort wurde sie gebündelt. Da ich ja bereits erwähnt habe, dass man diese alte Magie nicht einfach vernichten darf, wäre sie nach der Erfüllung ihrer Aufgabe einfach zurück gekehrt. So ein großer Haufen an alten Runen existiert nicht an einem x-beliebigen Ort, sondern an einem bestimmten. Es ist ein Tempel gemeint. Man muss nur wissen, wie man die Magie dazu bringt, nun ja, zu plaudern. Wenn ihr versteht. „Ich komme mir so allwissend vor“ brach Corinne das Schweigen am Tisch. Ich grinste, alles war wieder beim Alten. „Natürlich, da du es ja auch warst, die herausgefunden hat, wie man die Magie, die Yara gefangen hat, für unsere Zwecke benutzen kann“ warf Evelyn spöttisch ein. „Nun hör aber mal!“ Sie neckten sich gegenseitig, haargenau wie früher. Lilli und ich warfen uns einen verschwörerischen Blick zu. Evelyn war nicht lesbisch und würde es wohl auch nie werden. Selbst wen, sie gehörte immer zu unserer Gruppe dazu. Corinne, unser kleiner Wirbelwind, war es leid sich diesem einen Mann zu verschreiben, der noch dazu eigentlich immer gleich handelte. Wie oberflächlich, hatte sie gemeint. Und Lilli, für sie war ihr neuer Verehrer immer noch ein Dorn im Auge, aber sie wollte ihm die Chance auf ein Date gewähren, sobald wir die Welt gerettet hatten. Du meine Güte, wie das klingt. Auf meiner To-Do-Liste stehen nun Dinge wie: Bösewichte besiegen. Aber ich fügte mich doch recht gut in die Rolle einer Heldin. Ich meckerte nicht, ich jammerte nicht und ich rannte nicht blind drauf los. Außerdem hatten wir Informationen über Japan aufgetrieben, die uns bei der Suche des Zieles helfen konnten. Mit Hilfe der alten Magie war es uns gelungen die Stelle des Kampfes fast genau zu bestimmen. Hokkaido hieß die kleine Insel, die Nördlichste von allen. Die nächste Aufgabe war nun nur noch gewesen dorthin zu gelangen. Das klang im Vergleich zu all dieser Magie doch recht einfach. Leider bin ich Yara, das Aberkind. „Was willst du jetzt gegen diese Klage unternehmen?“ Ja, was sollte ich tun? Ich hatte ein Buch gestohlen und man hatte mich doch ertappt. Um an einen Ausweis zu kommen hatte ich meine Daten angeben müssen, der Rest war nur noch simples Bildschirm anstarren gewesen. Die Videokameras hatten all meine Schritte verfolgt. Außerdem hatten sie wohl durch eine Mitarbeiterin der Bibliothek schnell einen Hinweis bezüglich mir erhalten. Wäre ja auch zu schön gewesen. Aber das Buch war gar nicht mehr in meinem Besitz. Mit dem Schreiben in der Tasche gingen wir gemeinsam zur Uni zurück. Wir wollten nur kurz bleiben und ich beschloss das Ende der Geschichtsstunde zu wählen um Herrn Won die Zurückgabe des Buches zu „erklären“. Es läutete, doch niemand kam heraus. Unsicher sahen wir uns an. Nach weiteren zehn Minuten klopfte ich. Keine Antwort. Wie auch? Der Raum war groß, ein Klopfen hörte man sicherlich nicht. Vorsichtig öffnete ich die Tür und linste hinein. Sofort herrschte mich ein wütender Herr Won an, warum man seine Stunde unterbreche. Da hatten wir des Rätsels Lösung: Er überzog zur Strafe einfach maßlos die Stunde. Warum war ich nicht früher darauf gekommen? Ich hatte wirklich gar keine Zeit um groß darüber nachzudenken. Die Priesterin schubste mich in den Hintergrund und formte meine Lippen zu unbekannten Lauten und Worten. Während ich also auf Japanisch auf Herrn Won einredet, der genauso verdutzt war wie ich, verstand ich nicht ein Wort. Danke schön, an dieser Stelle. Sie hätte mir wenigstens sagen können, dass sie einen Plan hat und vielleicht hätte ich ihr dann mitgeteilt, wie man meinen Dozent richtig anpackte. Aber hey, ich bin es ja nur, die deutsche Yara. Grummelig lies ich sie gewähren und hörte die Antwort des Japaners. Ich verstand immer noch nichts. Das war doch zum verrückt werden. Wie eine Marionette bewegte ich mich wieder aus dem Raum und schloss die Tür. Große Augen sahen mich an und ich war wieder ich selbst. Wütend presste ich die Lippen aufeinander. „Was hat er gesagt“ fragte Lilli zögernd. Ich schwieg. „Oh, war wohl doch nicht so gut, oder?“ Sehr hilfreich Corinne, wirklich. „Yara, jetzt sag doch endlich was!“ „Diese vermaledeite Kuh! Ich habe keine Ahnung was sie gesagt hat!“ Nein, ich hörte nur das Lachen von ihr, tief in meinem Inneren. „Sie amüsiert sich gerade köstlich“ fügte ich noch erklärend hinzu, nicht minder erbost. Plötzlich öffnete sich die Tür hinter mir und Herr Won, breit lächelnd sprang fast wie ein junges Reh an uns vorbei. Wir starrten ihm hinterher. „Was um Himmelswillen...?“ Ja, was war da nur geschehen. „Ich weiß es auch nicht...“ gab ich nach einiger Zeit zurück. Hinter uns kamen die Studenten heraus, die den Gang nach dem Dozenten absuchten und schließlich fix das Weite suchten. „Wartet! Was ist passiert?“ riefen wir schon fast gleichzeitig. Einige musterten uns abfällig. Was hatte meine Vorfahrin nur gesagt? „Er ist begeistert von deinem Vorschlag, was sonst?“ Die Studentin klang mehr als angepisst. „Da du jetzt anscheinend eine von ihm bist, pff!“ Mehr Antwort gab es nicht. Als wir wieder allein waren, fand ich endlich meine Stimme wieder. „Was habe ich nur getan?!“ Wir gingen Herrn Won suchen und fanden ihn schließlich auch. „Er ist gerade mitten in einem Gespräch mit dem Herrn Direktor! Ihr könnt jetzt nicht zu ihm!“ „Ja, aber warum ist er bei ihm?! Rede ich den Chinesisch?!“ Meine Geduld war mit der Suche verloren gegangen. „Nein... aber japanisch“ kicherte es hinter mir. Tolle Hilfe, wirklich. „Ich verbitte mir diesen Ton, junge Dame! Ihr wartet entweder im Gang oder kommt morgen wieder! Das ist mein letztes Wort!!“ Bis morgen wollten und konnten wir nicht warten. Wer wusste schon, was da drinnen vorging? Vielleicht wollte man mich von der Uni werfen, weil ich gestohlen hatte. Oder man wies mich ein! Ausgeschlossen! Also warteten wir. Und warteten... und warteten... und.... Eine Stunde später kam Herr Won endlich wieder zum Vorschein. Verdutzt sah er in die Gesichter von jungen Frauen, die ihm jeden möglichen Fluchtweg abschnitten. Schließlich grinste er wieder so breit, als hätte er einen Stock im Mund, der alles verursachte. „Es ist besiegelt“ rief er erfreut aus. In meinem Kopf fuhr ein Zug vorbei. Er war laut, sehr laut sogar. Hatte ich jetzt den Rest überhört? „Bitte... was wurde besiegelt?“ Der Japaner sah mich verwundert an und öffnete noch einmal den Mund. Wieder hörte ich einen Zug. Dann ging er fröhlich von dannen. „Was hat er gesagt?“ „Yara, sei doch nicht albern! Er hat es jetzt zweimal gesagt!“ Alle waren aus dem Häuschen. Aber warum nur? „Bitte, ich möchte es noch einmal hören, ja?“ „Yara!“ Evelyn legte mir eine Hand auf die Schulter. „Wir fliegen nach Japan!“ Kurz darauf gab der Zug eine triumphiernde Fanfare zum Besten. Ich war vielleicht kein blinder Held. Aber taub auf jeden Fall! Kapitel 10: Hokkaido, wir kommen! --------------------------------- Wir hatten uns so schnell zusammengefunden, dass einige sogar ihre Bankdaten Zuhause hatten liegen lassen. Wir hätten mit Corinne natürlich einfach auf die Bank gehen können. Aber nicht einmal sie hatte Geld für 4 Flüge nach Japan und selbst wenn, für den Rückweg hätte es sowieso nicht gereicht. Wir hatten schon überlegt, wie wir es angehen wollten. Das die Priesterin diese Sache nun erledigt hatte, sollte uns vielleicht nur zeigen, wie dringend und brenzlig die Lage war, die wir ihrer Meinung nach noch immer nicht begriffen hatten. Waren wir dann wirklich Helden? Oder war es eigentlich nur ein alter Geist, der in meinem Körper steckte? Waren wir nur Mittel zum Zweck? Solche und andere Dinge wanderten durch meinen Kopf während wir in der langen Schlange am Flughafen standen. Als Horde waren wir dort aufgetaucht. Meine Freundinnen waren mit von der Partie. Ich hatte Herrn Won gar nicht erkannt. Erst als er direkt vor uns stand, war mir klar, dass mein Lehrer auch ein Freizeitmensch sein konnte. Kneift mich doch bitte mal jemand! „Schnell, schnell! Unser Flieger geht“ trällerte er fröhlich und dennoch herrschsüchtig. Eine seltsame Kombination, die keinem seiner Studenten geheuer war. Jeden Moment konnte es soweit sein und er verwandelte sie zurück. Vielleicht würde er das Flugzeug übernehmen und in einem Terrorakt der Ehre sie einfach alle abstürzen lassen. Ich sah in die Gesichter der Anderen. Einige Studenten kannte ich nicht, höchstens vom Sehen. Lehrgangsübergreifende Veranstaltung, hatte Herr Won es vollschwanger erklärt. Er steckte wohl generell viel zu viel Enthusiasmus in die Sache hinein. Vielleicht war er auch einfach nur froh, für wenig Geld, nach Abzug der ganzen Vergünstigungen einer Studentengruppe, nach Hause zu können. Es würde mich nicht wundern, wenn sie ihn gar nicht hätten haben wollen. „Meinst du, da, wo der herkommt, gibt es noch mehr von seiner Sorte? Das wäre ja schrecklich“, meinte eine junge Frau zu ihrer Kollegin, gleich neben sich. Ich prustete laut los. Evelyn stumpte mir ihren Ellenbogen in die Seite und versuchte selbst nicht zu lachen. Ich sah auf. Oh Schande, Herr Won kam her. „Wie ich sehe, amüsieren sie sich!“ Er klang sauer, er musste es ganz eindeutig ein. Jetzt erklärte er uns sicher, dass er uns für dumm verkauft hatte und wir hier, morgens um 11 Uhr, ganz umsonst standen, da wir nicht fliegen würden. „Wartet nur, bis ihr dort seid! Ihr werdet begeistert sein!“ Um Himmelswillen, er ist tatsächlich verrückt geworden. Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn wir in der Tat abstürzten. Wie sollte ich ihn nur die nächsten 11 Stunden auf engstem Raum ertragen? Ganz einfach! Ich pennte einfach weg. Sobald ich in meinem Stuhl saß und wir endlich abhoben, war ich auch schon sanft davon geratzt. Ich war einfach nur todmüde. In den letzten Tagen waren so viele Informationen auf mich eingeprescht worden. Die Priesterin kannte kein Erbarmen, nein, sie kannte nicht einmal schlaf. Ich glaube, wenn Japan noch immer so ist, dann will ich da nicht lange bleiben. Vier Stunden später wachte ich wie gerädert auf. Ich versuchte mich genüsslich zu strecken, doch der Platz reichte dafür einfach nicht aus. „Na, du Schlafmütze?“ Lillis sanfte Stimme war wie Balsam. „Dreh dich mal herum. Du hast wirklich merkwürdig in deinem Sitz geschlafen.“ Ihre Worte lockten die Anderen an. Evelyn und Corinne drehten sich auf ihren Sitzen herum und sahen über die Kopfstützen zu uns zurück. Lilli massierte mir den Nacken, so gut es hier eben ging. „Wie lange habe ich geschlafen?“ „Drei Stunden mindestens“, gab Corinne mit Schalk in den Augen zurück. „Aber du musst auch schlafen, Yara. Ich glaube kaum, dass Tian lange warten wird.“ Evelyn setzte sich mal wieder für mich ein und kämpfte für mich gegen Corinne an. Warum war ich denn nur so müde? „Wir sollten wirklich versuchen, irgendwie aus der Gruppe auszubrechen“, sprach meine Freundin leise weiter. „Das wird nicht klappen. Ihr habt ihn vorhin doch gehört.“ „Was gehört?“ Na toll, während ich fröhlich entschlummert war, ging hier wohl voll die Sause. „Er hat ein straffes Programm, dein Geschichtsdozent. Wenn wir selbst versuchen nach Hokkaido zu gelangen, sind wir vielleicht mit etwas Glück schneller. Aber mit ihm könnten wir uns den Stress ersparen. Außerdem haben wir bereits für alles bezahlt.“ Evelyn verzog das Gesicht. „Corinne hat für alles bezahlt“, schob sie noch schnell nach, ehe unsere Freundin gekränkt sein könnte. War das wirklich so in Ordnung? Ich hatte so meine Zweifel. Wir konnten die Anderen doch nicht da mit hineinziehen. Allerdings.... wenn wir versagten, waren sie wohl sowieso an keinem Ort der Welt sicher. Wenn Tian gewann, dann wäre dieser Planet bald menschenleer. Diese ganzen Entscheidungen, sie fingen an mich langsam aber sicher zu erdrücken. Lilli hatte aufgehört mich zu massieren und auch die Anderen waren wieder auf ihre Sitze gesunken. Ich sah zu meiner Sitznachbarin herüber, die gerade einen Reiseführer aufschlug. „Oh, denn kenne ich! Im Jahr 628, so will es die Legende, zogen zwei Fischer mit ihren Netzen eine kleine Statue der Barmherzigkeitsgöttin Kannon aus dem Miyato-Fluss. Als alle Versuche fehlschlugen, die Figur ins Wasser zurückzubefördern, lieferten die beiden den mysteriösen Fund bei ihrem Herrn ab. Dieser ließ alsbald eine Halle errichten - den Vorläufer des heutigen Tempels. Der spätere Bau von 1692 überstand zwar das große Kantō-Erdbeben von 1923, nicht aber die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs. Die Rekonstruktion aus Stahlbeton wurde 1958 eingeweiht. Die sagenumwobene Kannon-Statue ist freilich schon seit Jahrhunderten verschwunden. Der Sensōji bildet bis heute das geistige und bauliche Zentrum des Stadtteils Asakusa, der lange Zeit das größte Vergnügungsviertel der Stadt war. Wie eng hier geistige Funktion und weltlicher Handel und Wandel zusammenhängen, erfährt noch heute jeder Besucher, der an Wind- und Donnergott vorbei durch das mächtige Südtor Kaminarimon unter der gewaltigen roten Laterne hindurch die quirlige Ladenstraße Nakamise betritt, die auf den Sensōji zuführt. Mit dem Golddrachentanz wird zweimal im Jahr, Mitte März und Mitte Oktober, am Sensōji die Entdeckung der Kannon-Figur gefeiert. Täglich geöffnet von 6-17 Uhr. Erreichbar mit 2-3-1 Asakusa, Taitōku, U-Bahn.“ Evelyn und Corinne tauchten wieder über den Sitzen auf und starrten mich gemeinsam mit unserer Frau Hexe an. Vielleicht wollte ich diesen Druck ja auch....? Als wir in Japan gelandet waren ging der Streß erst richtig los. Unser Japener Won kam erst so richtig in Fahrt, hörte gar nicht mehr auf zu reden und scheuchte uns von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Wir hatten gar keine Zeit alles in gebührendem Maße auf uns wirken zu lassen, da gingen wir auch schon weiter. Das, was ich von Japan mitbekam, war wundervoll! Es war unbeschreiblich schön wie sich Technik mit der Moderne, über Natur bis hin zur Tradition miteinander verband und ineinander überging. Erst schienen uns die Hochhäuser erschlagen zu wollen, die im einmaligen Design um uns herum aus dem Boden gestampft worden waren. Nur um dann regelrecht zu verschwinden und den Ausblick auf eine wunderschöne Parkanlage freizugeben, die, sobald man sie durchschritten hatte, einen monumentalen Tempel zu erkennen gaben. Ein Mal hielten wir sogar eine Sekunde zulange an. Die Priesterin in mir lies mich auf die Knie fallen und meine Füße schmerzhaft verrenken, nur um sich dann nach vorne zu lehnen und tief ihre Ehrerbietung entgegen zu bringen. Während Herr Won wütend bellte, zogen meine Freundinnen eine völlig verdutzt drein blickende Yara hoch und zerrten mich fast fallend hinter ihnen her. Und das alles nur, um den Zug zu erwischen. In Deutschland war es nun 7 Uhr in der früh. Bei uns schon 14 Uhr nachmittags. Wir waren fix und fertig und ich war froh doch noch etwas Schlaf im Flugzeug bekommen zu haben. Zweimal sogar. Herr Won schien irgendwie unermüdlich. Er wirkte so jung wie wir. Obwohl, wenn ich mich so umsah, sahen wir aus wie Greise. Im Zug schliefen sie alle. „Jetzt geht es nach Hokkaido, Yara“ flüsterte mir Lilli halb im Schlaf zu. Immerhin, ich hatte schon längst den Überblick verloren, wohin wir gingen, wo wir uns befanden oder wo wir gewesen waren. Eine reife Leistung also von meiner schwarz haarigen Freundin. Aber genau wie sie, war ich schon im Halbschlaf und konnte es gar nicht mehr so recht würdigen. Leider währte die Zeit der Entspannung nur kurz. Man weckte mich energisch. Blinzelnd realisierte ich, dass in unserer Vierersitzgruppe das Essen auf dem Tisch stand. Wortlos und müde stillten wir unseren Hunger. Ich erbot mich danach das Geschirr wegzubringen, da ich sowieso auf die Toilette wollte. Als ich endlich an besagtem Ort ankam musste ich feststellen, dass mein Oberteil völlig zerknittert war. Ich hatte extra etwas weiteres ausgewählt, da man sehen konnte, dass ich einen Braten im Ofen hatte. Vorsichtig legte ich eine Hand auf meinen Bauch und hoffte inständig, dass es meinem Kind da drinnen, trotz Anstrengung und bevorstehendem Kampf, gut ging. Genau da hörte ich eine Stimme. Erschrocken drehte ich mich herum, doch da war nichts. „Ach, Yara, du wirst paranoid!“ Warum nur hatte ich mir eingebildet, dass das Quietschen der Wagons die Stimme eines Kindes gewesen sein könnte? Ich war wirklich übermüdet. „Yara?“ Das bildete ich mir jetzt aber nicht ein! Hastig wusch ich mir die Finger und trocknete sie ab. Dann ging ich hinaus. Ich war überrascht. Mir stand ein Student gegenüber, der in der Clique von Lillis Verehrer war. Ich hatte ein paar Mal mit ihm geredet, aber das war es auch schon gewesen. „Ähm, ja?“ Er wollte gerade ansetzen und öffnete bereits den Mund, doch eine jüngere Ausgabe von ihm, brüllte schon von Weitem seinen Namen. „Anour!“ Der Student vor mir seufzte. „Er versaut mir heute wirklich noch den Tag. Was ist?!“ Zuerst hatte er geflüstert und schließlich zurück gerufen. „Wolltest du nicht...“ Wenn ich es nicht besser wüsste, dann schlug seine Verwunderung mich zu sehen gerade in Hass um. „Was willst du mit der?!“ „Freut mich auch deine Bekanntschaft zu machen“, warf ich säuerlich zurück. Hoffentlich war das hier bald vorbei. Ich musste mich auf wichtigere Dinge vorbereiten. „Aaron...“, zischte er ihm leise zu, „Verzieh dich!“ „Warum? Nur wenn du mitkommst? Einer muss dich ja vor der retten.“ Mit diesen Worten musterte er mich abfälligen. Der Junge war wirklich reizend. Am liebsten hätte ich ihm Nüsse oder Feigen geben. Kopfnüsse oder Ohrfeigen versteht sich! „Aaron....! Verschwinde jetzt...!“ Sein Bruder trollte sich schließlich doch noch. „Bitte entschuldige. Er ist ein Miststück! Ähm... ich meine... er ist... ein Trottel. Volltrottel um genau zu sein!“ So haspelte sich Anour vorwärts. Er war ja irgendwie ganz süß, so, wie er da stand und völlig hilflos sich selbst zu retten versuchte. „Also... ich... ähm... ja...“ Ich erwischte mich dabei, wie ich ihn mit Tian verglich. Der starke, souveräne Tian gegen den stotternden Anour. Die Priesterin untersuchte den Mann vor mir genauer. Doch sie konnte nichts finden, was ihn als Feind entlarvt hätte. Vielleicht war mein Kommiliton wirklich nett und von Grund auf Gut. Aber was dachte ich da? Anour passte so gar nicht in die Reihe von Arschlöchern, mit denen ich bereits die Ehre hatte meine Zeit zu vergeuden. Der Letzte hat mich sogar geschwängert, dafür musste er in der Hölle schmoren. Und, ich bitte euch inständig, erzählt mir jetzt nicht, dass daran immer zwei beteiligt sind. Ich für meinen Teil habe ja verhütet, was kann ich dafür, wenn die Pille nicht wirkt? Völlig mit mir selbst beschäftigt, redete Anour sich um Kopf und Kragen. Er erklärte, dass er sich nicht getraut hatte mich anzusprechen, da die Mädels immer und überall um mich herum waren. Er sagte, dass ich seinen Bruder einfach vergessen soll, denn ich sei wirklich toll, oder hübsch, oder was auch immer. „Anour... sei mir nicht böse, aber ich bin schrecklich müde. Können wir diese Unterhaltung vielleicht fortführen wenn wir...“ Ja, wenn wir was? Wenn ich, was ich nicht hoffte, gestorben war? Haha, Yara, du bist ein Trampel! „.. wenn wir, endlich wieder zurück im Hotel sind, ok?“ Er nickte schnell, nachdem er darüber nachgedacht hatte. Immerhin war das keine völlige Absage, aber auch keine Zusage. Vielleicht dachte er ja, für ihn wäre noch alles offen. „Ok.... ich... ähm, geh dann mal, ja?“ Ich wies in die Richtung unseres Abteils und wollte schon losgehen, als er es auch tat. Wir hatten die selbe Richtung und ich war heute etwas trantütig. Ich will hier weg, jammerte ich im Stillen. Keine fünf Minuten später lies ich mich in den Sitz plumsen. „Wo warst du so lange?“ „Ich, also, naja... ich...“ Mit den Händen wies ich mal hierhin und kurz darauf dorthin. Nur um sie dann ineinander gelegt, einer Kapitlutation gleich, auf meinen Schoß sinken zu lassen. „Yara, du glühst ja regelrecht!“ Ich bekam nicht mehr als ein nervöses Lachen zustande, welches schließlich sogar mehr nach einem Gekrächzen klang. Nervös gelacht hatte ich vorhin auch. Da wir uns gegenseitig behinderten, lies mir Anour schließlich den Vortritt und wartete. Doch dann kam ich durch den wackelden Zug aus dem Gleichgewicht, prallte gegen ihn und landete gemütlich in seinen Armen. Mir verschlug es schlichtweg alles. Die Worte, die Luft, nicht einmal aufhören zu glotzen konnte ich. Hastig machte ich mich von ihm los und brachte mich im Eilschritt zurück ins Abteil. Genau das erzählte ich meinen Freundinnen und ihre Münder standen offen vor Freude. Ich war auch irgendwie glücklich. Doch dann sah ich aus dem Fenster das Meer und eine schöne Insel am Horizont. Hokkaido. Meine Freundinnen, die 3 verbliebenen Teile des Sternes sahen mit mir aus dem Fenster. Gemeinsam wurden unsere ernsten Blicke zu Einem, während wir dem Kampf, der nun ganz nah war, in Form dieser Insel sahen. Irgendwo dort, war sicherlich Tian und auch ein Tempel, der vielleicht bald nicht mehr existierte, wenn wir uns nun nicht völlig konzentrierten. „Hokkaido...“ flüsterte Corinne und gemeinsam führten wir den Satz zu Ende. „... wir kommen!“ Kapitel 11: Bitter-Süße Träume ------------------------------ Der Zug hielt an einem kleinen Bahnhof, ganz nah an der Küste. Von dort ging es weiter mit der Fähre. Das war das einzigste Mittel um trocken drüben anzukommen. Als wir wieder ausstiegen hielt ich auf der letzten Stufe inne und sah nach links und rechts. Hinter mir staute es sich bereits. Eilig ging ich weiter. Doch als mein Fuß die Erde berührte, ging ein Ruck durch meinen Körper. Es war eine Art Impuls, aber richtig schmerzhaft. Mein Knie knickte ein und schon fiel ich. Evelyn, die vor mir gegangen war, fing mich im letzten Moment auf. „Yara!“ Als ich wieder stand sah ich zurück zu Corinne und Lilli, die von oben nur tatenlos hatten zusehen können, wie ich fiel. „Kommt.... er ist hier.“ Ich war nicht ich und ich las in ihren Augen, dass sie es ebenfalls wussten. Zügig schritten wir nun voran, überholten die Leute unserer Gruppe und Einheimische. Nicht ein einziges weiteres Wort kam über meine Lippen, während wir wie eine Einheit unsere Schritte nicht verlangsamten und sogar Herrn Won überholten. Unser Lehrer sah unseren Rucksäcken hinterher, die sich immer weiter entfernten. „Hey! Wo wollt ihr hin?!“ Eine seltsame Fügung, Herr Won kam damit wohl eher nicht klar. Man ist der unflexibel. Ich sah nicht zurück oder eine der Anderen. Jetzt wurde es ernst. Wir hatten keine Zeit für Erklärungen. Die Priesterin wusste genau, wohin sie wollte. Als wir den Hafen verlassen hatten, öffnete sich das gesamte Land scheinbar vor uns. Zu unserer linken waren zwei Haltestellen. Die Priesterin steuerte auf diese zu und las das Schild auf der ankommenden Straßenbahn. Plötzlich rannte sie, wollte anscheinend unbedingt noch diese Bahn erwischen. Hinter uns wurden die Rufe von Herrn Won immer lauter. Mit einem Sprung war ich in der Bahn und wieder ich selbst. Ohne diese innerliche Kontrolle, blieb ich abrupt stehen. Ein Aufprall war unvermeidbar. Der Fahrer sah uns sehr merkwürdig an und sagte etwas auf Japanisch. Ich lächelte nur entschuldigend, immerhin hing ich ihm fast auf dem Schoß. Die Mädels hinter mir machten etwas Platz und ich konnte wieder von der Abtrennung zwischen Fahrer und Einstieg verschwinden. Doch noch bevor wir uns gesetzt, geschweige denn bezahlt hatten, war der Rest unserer Gruppe auch schon da. Schnaufend und mit hochrotem Kopf stieg Herr Won in die Straßenbahn und lynchte mich regelrecht mit seinem Blick. Nein, eigentlich nicht mich, ich war doch gar nicht Schuld! Da man uns von allen Seiten bereits schief musterte, beschloss Herr Won, erst einmal unser Gruppenticket vorzuzeigen und alle einsteigen zu lassen. Eng an Eng standen wir in dem schmalen Gang. Die Bahn schaukelte ruhig hin und her als es los ging. „Wir sprechen uns nachher noch!“, sagte Herr Won und wieder musste mein Gesicht als Spuckeauffang herhalten, während er sich an uns vorbei quetschte und einen Schüler anblaffte aufzustehen. Dann setzte er sich selbst auf dessen Platz und strafte uns alle mit Ignoranz. Mir war es recht egal. Immernoch sahen wir uns nicht an. Ich behielt den Blick auf die Fenster gerichtet damit die Priesterin mir sagen konnte, wo wir aussteigen mussten. Doch sie sagte nichts. Schließlich war es Herr Won, der aufstand und durch den gesamten Zug rief: „Wir steigen hier aus!!!“ Erschrocken reckte ich den Hals nach ihm. Völlig aufgelöst sah ich mich um, suchte nach einem Zeichen, lauschte auf ein Wort. Aber es passierte nichts. Warum nicht?! Augenpaar um Augenpaar richtete sich auf mich, erwartete ein Signal. Nur ein Wort von mir und sie alle wären sitzen geblieben. Wollte die Priesterin das wir ausstiegen? Oder nicht?! Verdammt nochmal! Hastig rappelte ich mich hoch und drückte mich an den anderen Studenten vorbei. Ich musste die Erde berühren, war es das? Das musste es sein! Doch als ich aufkam, war da nichts. Mir wurde schlecht. Schlecht vor Angst, schlecht vor Panik, die mir im Hals hinaufkroch. Jetzt erst begriff ich wirklich, dass die Realität einem so gehörigen in den Arsch treten kann, dass du nie wieder aufstehen kannst. „Warum sagst du nichts!“, ich schrie es hinaus, es gab dafür keinen Halt. Die Verblüffung war groß und meine Hoffnungslosigkeit wuchs. Verband uns nicht ein Band? Hatten wir nicht ein und dasselbe Schicksal? Mussten wir nicht... „Fräulein!“ Der Schmerz durchzuckte mich, als Herr Won seine Hand um meinen Oberarm wand. Ich schrie auf vor Schmerz und er ließ etwas lockerer. Hektisch sah er sich um, versicherte den Umstehenden, auf deutsch und japanisch, dass er mir nichts tun wolle. Wie süß! Das ich aber generell aufsässig wäre. Nicht so süß! Aber was kümmerte mich das? Ich hatte andere Probleme, hochgradig schlimme Probleme, wenn uns die Priesterin nicht half. Und zwar sofort! „Wir werden jetzt den letzten Tempel besuchen... und du wirst dich benehmen! Verstanden!“ Sein leises Flüstern nahm nichts aus der Schärfe heraus, die nur ein Vorgeschmack für das sein konnte, was noch auf mich zukommen sollte. Ohne Widerstand lies ich mich von ihm weiter bugsieren. Er verstärkte wieder seinen Griff, rechnete wohl mit einer Reaktion. Doch ich fühlte mich so leer, so völlig ohne Antrieb. Plötzlich war die Hand weg. „Was fällt Ihnen ein? Sie tun ihr doch weh!“ Corinne... „Nehmen Sie Ihre Griffel weg!“ Evelyn.... „Yara? Geht es dir gut? Sind wir hier richtig?“ „... Ich weiß es nicht, Lilli“, meine Stimme wankte. Es war ein Wunder, dass meine Beine mich überhaupt noch trugen. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Lilli zu Corinne und Evelyn, die beide fragend drein blickten und meine Worte nicht gehört hatten. Besorgt schüttelte die Schwarzhaarige nur mit dem Kopf und reihte sich mit mir in die Gruppe von Studenten ein, die dem schmalen Asphaltweg folgten. Wir sollten nicht hier sein... wir gehörten nicht hierher. Wer hatte das eigentlich jemals behauptet? Mir stockte der Atem und meine Lippen öffneten sich leicht. Ich war es! Ich hatte sie alle überzeugt, hatte das Märchen mit meinem kranken Hirn zusammen gesponnen. 'Es tut mir leid...' Sie klang traurig. Die Priesterin klang genauso, als wären das ihre letzten Worte. Und ich konnte ihr keine Schuld geben. Denn ich hatte mir ausgedacht, dass wir es schaffen könnten, dass wir die Auserwählten seien. Das Tuscheln unserer Kommilitonen erstarb nach einer Weile. Mein gesenkter Blick gab wohl nicht genügend Stoff für stundenlanges Plaudern. Sie waren fertig mit mir, und ich war es leider auch. Ich hatte nicht einmal mehr Lust mir die Architektur dieses wunderschönen Gebäudes anzusehen. Groß war es, mehrstöckig sogar, wie man im Inneren herausfinden konnte. Wie Mönche sahen sie aus, mit ihren Gewändern, die so kunstvoll den Körper umwickelten und aus einem Stück zu bestehen schienen. Und, das brachte sogar ein leichtes Lächeln auf meine Lippen, sie passten mit ihrer blauen Farbe perfekt zur Inneneinrichtung des Souvenirladens. Vom Boden bis zur Decke, im Erdgeschoss und höher, nichts als Schnick Schnack. Langsam drehte ich den Kopf. Betrachtete die gerunzelten Stirnen der Leute, die mit uns nach Japan gekommen waren. Auch zu meiner linken war man nicht weniger verdutzt. Die Frage stand ihnen ins Gesicht geschrieben: Was taten wir hier? Wir taten, was alle Touristen taten: sich für Dinge interessieren, die für die Einheimischen einen schlechten Scherz darstellten. Hier war kein Japaner außer den Angestellten oder Herr Won. Wirklich... niemand! In mir begann es zu brodeln. Meine Hände ballten sich zu Fäusten während ich innerlich einen Satz an die Priesterin richtete. 'Lass... deine Entschuldigung... bloß stecken!' „So“, richtete Herr Won wieder an uns alle das Wort, „da eure liebe Kollegin ja nichts besseres zu tun hat, als uns alle lächerlich zu machen, möchte ich ihr nun die Chance geben, dass ihr euch in Grund und Boden schämen könnt!“ Er drehte sich halb herum und wies mit einer weit schweifenden Handbewegung auf das Innere des Tempels mit der breiten Treppe, die von Stockwerk zu Stockwerk verlief, und von der aus man einen guten Ausblick nach oben hatte, da man großzügig Platz in der Mitte der Etagen gelassen hatte. „Niemand kommt hierher. Dieses Gebäude wird bald nicht mehr bewohnt sein, da sich die Einnahmen nicht lohnen und es als Schande der japanischen Kultur gilt! Ich danke dir, Yara!“ Er kam wieder näher und erdolchte mich mit seinen Blicken. Eingeschüchtert senkte ich den Blick und sah zur Seite. Ich hasse es, wenn er Recht hat! Ich hasse mich selbst dafür! „Wir werden hier etwas verweilen. Tut euch nur keinen Zwang an, ihr könnt alles in Ruhe genießen oder euch draußen aufhalten und warten, bis wir wieder fahren!“ Meine Hände schmerzten. Noch immer waren sie geballt. Meine Fingernägel schnitten sich tiefer in meine Haut. Als sich die Ersten umdrehten, um hinaus zu gehen, hätte ich... Ja, was eigentlich? Im Erdboden versinken können? Das hätte nicht gereicht. Mich entschuldigen sollen? Mit welcher Begründung hätte ich meinen Ausfall denn erklären sollen? Tut mir Leid, aber ich dachte die Welt geht unter und ich versuche sie vor einem Mann zu retten, dachte ich spöttisch. So tat ich gar nichts und hörte nur, wie dieses Biest von Bruder zu Anour sagte: „Die hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank die Alte, hast du'n Knick im Hirn?!“ Herr Won sah den Studenten nach, die sich einheitlich nach draußen bewegten, bis sie nicht mehr zu sehen waren. „Sobald wir zurück sind werde ich persönlich dafür Sorge tragen, dass du keinen einzigen Schritt mehr in meine Universität setzt!“ Mit seiner Zornesröte marschierte er davon und ebenfalls hinaus. Meine Freundinnen sahen ihm nach, dann wandten sie sich wieder mir zu. „Yara?“ Corinne fand als Erstes ihre Stimme wieder. Sie wollte endlich wissen, was hier vorging. Aber ich wusste es doch selbst nicht! Also tat ich das Einzige, was mir in dem Moment einfiel. Ich stürzte davon, rannte die Treppe hinauf und versuchte mich irgendwo zu verstecken. Nicht nur vor den mir wichtigsten Personen. Nein, auch vor jeglichen anderen Menschen und meinen Gedanken. Konnte ich nicht einfach aus diesem Alptraum erwachen und herausfinden, dass alles nur seltsam real gewesen war? Ich konnte die Tränen nicht mehr halten. Heiß brannten sie auf meinen Wangen, spülten jegliches Make Up einfach weg. Aufhören... das musste aufhören! In meinem Kopf hämmerte es wie verrückt. Meine Lunge gab mir nicht soviel Luft, wie ich benötigte und mein Herz stach in meiner Brust. Irgendwo hielt ich an. Ein kurzer Blick nach unten verriet mir, dass ich mich im dritten Stock befand und Evelyn mir hinterher hastete. Panisch sah ich mich um. Ich musste mich verstecken! Wie ein gescheuchtes Tier hastete ich weiter, rannte um ein Regal mit Plüschfiguren herum und verschwand hinter dem nächsten. Ich hörte Evelyn japsen und vorbei rennen. „Yara?... Yara, bist du hier? Bitte komm raus.“ Nach einer Weile beschleunigte sie wieder ihre Schritte und rannte weiter. Als ich sie nicht mehr hören konnte kam ich hinter dem Kimono hervor und stützte mich mit einer Hand an dem großen Fenster ab. Mein Hals fühlte sich so trocken an. Ich schluckte mehrmals um dieses Gefühl los zu werden, dass die inneren Wände meines Hals zusammenklebten. Es half ein wenig. Mein Blick fiel auf die Auslagen. Nichts wirklich wichtiges befand sich darunter. Schlüsselanhänger, Schneekugeln mit dem Tempel im Miniformat darin und andere Dinge. Man hatte wirklich versucht mit allem Geld zu machen, was man, egal in welchem Land, als Souvenirs verkauft. Ich lief an den Babuschkas mit aufgemalten Japanerinnen vorbei und hielt mich weit vom Geländer fern. Ziellos lief ich das Rondell ab. Der Herr in der Uniform musterte mich kritisch, sah aber schnell weg, als ich den Kopf nach ihm umdrehte. Schließlich wanderte mein Blick wieder umher. Die restlichen Teile der ehemaligen Wand, sahen noch genauso aus wie früher, oder zumindest so, wie im Reiseführer. Wahrscheinlich hatten sie da schon versucht die Wahrheit über dieses sinnlose Ziel zu vertuschen. Wütend biss ich die Zähne aufeinander. Wie verrückt hatte ich über den Informationen gesessen, hatte versucht mir alle Tempel anzusehen, sie mir einzuprägen, um vielleicht einen Plan schmieden zu können. Eine sinnlose Unternehmung. Zu meiner linken eröffnete sich mir das Meer in seiner vollen Bandbreite. Die Panoramafenster schränkten die Sicht in keiner Weise ein. Doch dann kam wieder eine etwas breitere Wand und ich blieb stehen. Ungläubig starrte ich hin, blinzelte um diese Illusion zu vertreiben. Alles half nichts. Ich ging näher heran und streckte den Kopf vor wie eine Schildkröte und glubschte dieses Bild von einer Japanerin an. Ihre Augen waren etwas größer und nicht ganz so schräg gestellt, wie bei den meisten Japanern. Ihr hellbraunes Haar ging ihr gerade mal bis zu den Schultern. Ich verstand nicht. Sie ähnelte mir so sehr. Sie wirkte so erhaben auf diesem Bild, lächelte zuckersüß dem Betrachter zu, als ob sie kein Wässerchen trüben konnte. „Also, wenn das ein personifizierter Alptraum ist, dann sind es wenigstens süße Träume. Leicht bitter, aber süß.“ So stand ich vor dem Bild der Priesterin und sprach mit mir selbst, während ich beschloss, die Sache auf meine Art zu lösen. Kapitel 12: Kommunikationsprobleme ---------------------------------- „Ich gehe auch nach ihr suchen!“ „Brauchst du nicht.“ Lilli hatte gerade losstürmen wollen, da kam ich wieder die Treppe herunter. Ich wischte mir mit einem Taschentuch die verschmierte Schminke vom Gesicht und ging ruhigen Schrittes auf die Beiden zu. Evelyn rief von oben herab und rannte mir wieder hinterher. Ich machte den Dreien wirklich nichts als Kummer. „Bevor ihr fragt: Ich habe keine Ahnung! Ich weiß nicht, warum sie nichts sagt. Ich weiß auch nicht, was wir tun müssen. Ich weiß nur, dass wir hier richtig sind und ab jetzt auf uns allein gestellt sind.“ Irgendwie beruhigte ich meine Mädels damit nicht im Geringsten. Meine Ideen waren wirklich schon mal besser gewesen. Da fiel mir etwas Neues ein. „Ihr könnt gehen und von dieser Insel verschwinden bevor sie untergeht. Ich bleibe hier und...“ „Spinnst du!“ Corinne, die kleine zierliche Corinne, griff nach meinen Schultern und schüttelte mich kräftig durch. „Wir bleiben bei dir und stehen das gemeinsam durch!“ „Du schaust zu viele Filme...“, das war wohl so etwas wie eine Bestätigung auf Lillis Art. Sie würden nicht gehen, nicht wenn alle Dämonen der Hölle hinter ihnen her wären. Vielleicht kamen die aber wirklich? Ja, ich weiß, noch schlechter konnten meine Einfälle kaum werden. Schon klar! Als wir wieder vollständig vereint waren, erklärte ich auch noch einmal Evelyn, dass ich keine Ahnung hatte, wie es weitergehen musste. „Wir bleiben bei dir und stehen das gemeinsam durch!“ Was guckt ihr so? Ich habe ihr nicht einmal mehr angeboten gehen zu können. „Ihr habt doch alle einen Knall!“ „Sagt ausgerechnet die Hexe unter uns!“ „Hey, ich berufe mich lediglich auf altbewährte Traditionen und Bräuche!“ Somit war es abgemacht. Gewitterwolken zogen am Horizont herauf. Tief schwarz brachten sie einen enormen Wind mit sich. Draußen hatte man zudem beschlossen sich für die Abreise bereit zu machen. Vielleicht wollten sie uns auch einfach nur zurück lassen und unser wegbleiben in Deutschland einfach als ganz normalen Schwund von Studentenfahrten erklären. Ha ha.... hahaha.... nicht witzig! „Ihr müsst gehen.“ Nach der ersten Verwunderung sahen sie wirklich so aus, als ob es besser wäre uns zurück zu lassen. Ich seufzte innerlich. Das würde es für uns vielleicht leichter machen. „Kommt ihr nicht mit?“ Anour trat einen Schritt vor und sah mich eindringlich an. Ich lächelte entschuldigend. „Tut mir Leid, aber das geht nicht“, antwortete ich ruhig. Der Wind peitschte mir mittlerweile die Haare ins Gesicht und lies mich blinzeln. „Was soll das heißen?“ „Das soll heißen, dass wir euch jetzt zur Haltestelle bringen!“ Ich sah zu Lilli, dem Nordstern. „Und die restlichen Leute in diesem Tempel auch!“ Evelyn, der Nordoststern, trat an ihre Seite. „Ihr werdet es kaum glauben, aber wir kommen schon alleine klar“, sagte Corinne und trat an Lillis linke Seite. Eine perfekte Konstellation! Sie versperrten mir damit die Sicht... Jegliche Proteste und versuche vorbei zukommen wurden damit unterdrückt. Eisern hielten sie stand und ließen niemanden zu mir durch. „Vielen Dank!“ Ich verbeugte mich kurz und rannte dann den Weg um den Tempel herum. Sie würden die Leute aufhalten, sie schon irgendwie von hier fort bewegen, darauf musste ich jetzt einfach hoffen. Immerhin mussten wir einen Weg finden um den Untergang zu verhindern. Während ich fiebrig überlegte, was des Rätselslösung sein könnte, lief ich weiter auf die Klippen zu. Kurz überlegte ich, ob ich nicht doch wieder umdrehen und im Tempel nach etwas Ausschau halten sollte. Nervös biss ich mir auf die Unterlippe und sah mich um. Es führte ein Weg hinab zu einem schmalen Strand. Ich sah einen Moment zurück. Ich konnte auch hier beginnen zu suchen. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass man mich suchen kam und wenn ich ihnen direkt in die Arme lief, war das dem Weltuntergang nur förderlich. Die Treppenstufen waren schmal. Vorsichtshalber stützte ich mich an den steilen Hängen zu meiner Linken und Rechten ab, ein Geländer gab es nicht. Unten gab es Holzplanken die nah an den Klippen entlang liefen. Warum machte sich jemand die Mühe hier einen Steg zu bauen? Neugierig eilte ich auf den Brettern entlang und gelangte zu einer Einbuchtung, die nach der Kurve ein kleines Häuschen frei gab. Ich ging näher heran. Die weißen Wände waren nicht eckig, sondern rund. Davon hatten sie nichts in ihrem Reiseführer erwähnt. Wirklich seltsam. Die Tür aus dunklem Holz ließ sich ganz einfach aufziehen. Da es keine Fenster gab, war es drinnen stockdunkel. Ich öffnete die Tür weiter und spähte hinein. Aber da war nichts. Nichts, außer einem schmalen Podest. Argwöhnisch ging ich hinein und sah mich um, zugleich spähte ich immer wieder zur Tür. Er war hier, hatte sie gesagt. Also konnte Tian mich vielleicht schon die ganze Zeit verfolgt haben. Ja, ich glaube wirklich immer noch, dass ich mir den ganzen Kram nicht eingebildet habe. Luftbestäubung gibt es nämlich nur bei Pflanzen! Plötzlich bebte die Erde unter meinen Füßen und Staub rieselte von der Decke. Vor Schreck ging ich in die Hocke und bedeckte meinen Kopf ganz automatisch mit den Armen. Das Beben dauerte nur kurz an. Nach ein paar Sekunden war alles schon wieder vorbei. Ich öffnete wieder die Augen. Direkt unter mir befanden sich Striche... und Zeichen.... und ein Kreis! Hastig wich in der Hocke zurück und wischte mit der Hand über den Boden. Dieser Staub musste weg! Ein Windstoß drang durch die offene Tür und riss den lästigen Belag einfach mit sich. In der Ecke bildete es sich zu einem kleinen Häufchen zusammen. „Besser“, sagte ich zu mir selbst und sah mir die Zeichen genauer an. Aber ich kam nicht weit. Ich blickte wieder auf, betrachtete das Häufchen und fragte mich insgeheim, ob ich das gewesen war. Ich musste energisch den Kopf schütteln, um mich wieder auf die Dinge zu konzentrieren, die im Moment wirklich wichtig waren. Leider verstand ich nicht ein einziges Wort von diesem Kreis. Ich kramte in meinem Kopf nach allen möglichen Filmen, die in diesem Zusammenhang stehen konnten. War es vielleicht ein Bannkreis? Ein Schutzzauber? Oder stand hier vielleicht einfach nur, wer das hier liest ist doof! Da mich diese Gedanken nicht weiter brachten, beschloss ich die Säule wieder näher unter die Lupe zu nehmen. Der obere Teil war breit und flach. Es sah aus wie ein Rednerpult. Die schräge Stellung lies mich wirklich auf ein Buch oder Zettel hoffen. Als ich die Fläche einsehen konnte, war sie aber leer. Nur ein Kreis mit Zeichen war in das Gestein eingeritzt worden. Was sollte das? Ich verstand doch kein Wort! Kritisch musterte ich das Bild und legte den Kopf schief. Vielleicht ergab es ja irgendwie doch einen Sinn. Oder gab es da einen Schalter? Mit der Fingerspitze fuhr ich die Zeichen nach und drückte auf den mittleren Kreis. Natürlich, es tat sich nichts. Schnell fuhr ich noch den äußeren Kreis nach, nur um sicher zu gehen. Das Ergebnis war eine Frau, die in einer kleinen Hüte stand und ärgerlich eine Faust in die Seiten stemmte. „Mist!“ Ich schlug mit der flachen Hand auf diese sinnlose Ansammlung von Zeichen und Kreisen. Meine Hand pixelte von dem Schmerz. Trotzdem zog ich die Hand nicht weg und sah mich lieber um. War hier vielleicht doch noch etwas? Irgendwas??? Meine Hand brannte immer mehr, sogar so sehr, dass es sich anfühlte, als würde ich die Hand in kochendes Wasser stecken. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog ich sie weg und hielt sie mit der Anderen. Der Schmerz lies nach, als wäre nichts gewesen. Verwundert betrachtete ich meine Haut. Es gab keine Anzeichen für Verbrennungen oder sonst etwas, sie sah ganz normal aus. Ein grünes Glühen, etwas weiter unten, lenkte mich von den ersten Anzeichen der Alterung auf meinem Handrücken ab. Jede eingeritzte Linie leuchtete mystisch und schien zu flimmern. Ich beugte mich näher heran. Flimmerte oder bewegte sich es? Grüne, zähe Flüssigkeit bahnte sich seinen Weg nach draußen durch die Ritzen. Ekel überkam mich und so zog ich mich an die Wand zurück ohne den Blick von dem Zeug abwenden zu können, das sich auf der Platte verteilte und an dessen Kanten in langen Fäden herunter tropfte. Hatte ich es etwa kaputt gemacht? Als wäre das noch alles nicht genug fing nun auch noch der Boden an zu pulsieren. Ich sah nach draußen, dort war alles ruhig. Die Wellen waren wie ein Herzschlag, zweimal hintereinander, dann war es kurz ruhig. Umso mehr von der Flüssigkeit auf den Boden lief, umso hektischer wurden die Impulse. Es dauerte nur einen Moment bis mir bewusst wurde, dass ich auch die Zeichen auf dem Boden aktivieren musste. Schnell rannte ich zu dem Zeichen direkt an der Tür und warf mich auf die Knie. Die Zeichen stellten kein Problem dar. Auch das Drücken in die Mitte des inneren Kreises nicht. Als ich dann aber mit dem Finger den äußeren Kreis nach fahren musste, dachte ich doch wirklich einen Moment darüber nach, wer sich so eine Scheiße hatte einfallen lassen müssen. So versuchte ich laut fluchend meinen Finger auf dem Boden zu behalten, auch wenn ich durch die grüne Flüssigkeit hindurch musste und diese höllisch brannte. Schließlich war es geschafft. Ich kam wieder oben an und drehte mich herum. Die Flüssigkeit hatte schon fast den inneren Teil völlig bedeckt. Ich sprang vor und machte mich auf den Schmerz gefasst. Leichter gesagt als getan. „Ahhhh!“, schrie ich. Langsam öffnete ich meine zusammengekniffenen Augen. Es tat ja gar nicht weh. Ich sah gerade noch, wie die grüne Maße kurz vor meinen Fingerspitzen angehalten hatte. Als gäbe es dort eine unersichtliche Mauer, die Haut und Schleim voneinander trennte. Kurz wabberte es noch auf der Stelle, dann erzitterte es und zog sich blitzschnell wieder zurück. Ungläubig sah ich zu, wie das Zeug, der Schwerkraft zum Trotz, durch die Luft wieder auf die Platte auf dem Podium flog und verschwand. Einen Moment blieb ich noch sitzen, ich musste erst einmal meine verschwitzten Haarsträhnen aus dem Gesicht streichen. Mit zitternden Beinen stand ich schließlich auf und begutachtete das Podium kritisch. Lag etwas darauf? Tatsächlich, als ich herum ging, fand ich darauf ein Buch mit einem grünen Einband. Alt sah es aus. Vergilbt an den Schnittkanten und mit vielen Eselsohren. Extrem vorsichtig streckte ich die Hand danach aus, zog sie sofort zurück und reckte sie wieder vor als nichts geschehen war. Ok, ganz ruhig, Yara. So etwas ist wirklich völlig normal... Das DA Plötzlich Einfach So Schleim Raus Kommt, Aus Dem Ein Buch Wird! Ich war hoffnungslos hysterisch. „Ok, hätten wir das soweit geschafft.“ Corinne sah dem Bus noch kurz nach. „Lasst uns als nächstes Yara suchen.“ Einvernehmlich nickten sie und rannten zurück zum Tempel. „Sag mal, klingelt dein Handy, Lilli?“ Die Schwarzhaarige holte ihren Rucksack im Laufen von ihren Schultern und kramte noch ihrem Mobiltelefon. „Das ist Yara!“ Sie nahm ab und rief aufgebracht meinen Namen. Da klingelte Corinnes Handy. „Hä?“, gab diese von sich und kramte auch nach ihrem Wunder der Technik. Wirklich, das ist ein Wunder. Das das Ding nicht kochen kann liegt nur an der Unverträglichkeit mit Wasser. Währenddessen rief Lilli immer aufgebrachter in ihr Telefon. „Hallo? Hallo, Hallo! Yara? Hallo? Yara!“ „Ähm... hi?“ „Corinne! Gott, warum geht keiner ans Telefon?!“ „Ähm.... ja“, mehr vermochte sie in dieser Situation auch nicht zu sagen. „Ach egal! Corinne, ihr müsst die Tempel finden!“ Die Blondhaarige zog die Augenbrauen hoch und sah zu diesem merkwürdigen Souvenirladen. „Ähm...“ „Sie sind klein und rund. An der Klippe gibt es einen Weg, der führt nach unten. Ihr müsst euch aufteilen!“ „Äh....“ „Einer ist in der Nähe der Haltestelle! Ich habe den ersten aktiviert! Ihr müsst die Zeichen auf den Podien nachfahren, dann in der Mitte drücken, die äußere Linie nach fahren und die Handfläche auf den mittleren Kreis legen! Dann müsst ihr so schnell ihr könnt das Gleiche auf dem Boden machen!“ Ich war voll in Fahrt. „Beeilt euch. Einer für jede Himmelsrichtung! Eine von euch muss zur Klippe, ich gehe den Weg weiter nach Süden! Wir treffen uns wieder am Tempel!“ Corinne sagte schon gar nichts mehr. „Viel Glück!“, wünschte ich noch und legte dann auf. Kaum nahm unser Lockenkopf das Handy vom Ohr, stürmten die Anderen auf sie mit Fragen ein. „Boden... Tempel.... Himmelsrichtungen....“, sie versuchte immer noch das zu verstehen, was ich ihr gesagt hatte. Schweigen. „War die Verbindung so schlecht?“ Kapitel 13: Ein Herzschlag -------------------------- Ich konnte sie hören. Ich hörte das Sirren der Waffen, die durch die Luft und Fleisch schnitten. Ich hörte ihre Schreie, die der Kämpfer und der Opfer. Sie mischten sich mit dem Qualm des Feuers und dem Blut, das überall in der Luft zu hängen schien. Meine Zunge fühlte sich schwer an unter dieser Last. Nur ungern wollte ich schlucken. Doch musste ich es tun. Ich musste ruhig bleiben und mich konzentrieren. Nur widerwillig öffneten sich wieder meine Augen. Das Blut nahm mir die Sicht. Doch dort, ein Stück weit entfernt nahm ich ein paar Punkte war. Ich blinzelte heftig, um wieder besser sehen zu können. Langsam formten sie sich zu einer Reihe, zogen sich in die Länge. Meine zitternden Knie erhoben sich, mein Körper bäumte sich auf. Niemals wieder.... Ungefähr 30 Minuten zuvor: Corinne rannte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse und die Luft schien nur zögerlich ihre Lungen zu erreichen. Dennoch rannte sie weiter, ignorierte den stechenden Schmerz in ihrer Seite. Sie musste diesen Tempel finden, komme was wolle. Ihr Herz führte sie, irgendwie wusste sie, dass sie sich darauf verlassen konnte. Und ja, schließlich sah sie die schmale Holztür, fast ganz verborgen hinter dem Sand. Es war schade um die letzte Maniküre, aber hier ging es um mehr. „Verflucht!“ Schnell waren ihre Nägel abgebrochen. „Das nächste mal werde ich doch nicht die bunten aus Korea nehmen!!!“. Ihre Lunge ließ sie sofort den Preis für diese Worte kosten. Die junge Frau schluckte schwer und warf sich dann mit aller Kraft gegen die Tür. Beim zweiten Mal gab das Holz mit einem Bersten nach. Lilli sah nach rechts. Dort musste Yara nun sein. Doch ihr Weg führte sie oben entlang und nach links. Nach einer Weile kam die Tür des nächsten Häuschen in Sicht, doch dahinter lag ein langer dunkler Weg, der mit schmalen Stufen hinab führte. Nur einen Moment hielt sie inne. Wie war es eigentlich gekommen, dass sie alle plötzlich los gerannt waren? Man rief sie, zwar nicht mit einer Stimme, aber dennoch gut genug, um zu wissen, in welche Richtung man musste. Die schwarzhaarige Frau atmete tief ein, dann machte sie sich an den düsteren Abstieg. Evelyns Weg war am längsten, aber sie war die Schnellste von allen Drei. Als sie ihren Tempel erreichte, war der Raum völlig leer aber groß. Ob Yara wohl auch in so einem großen Gebäude gewesen war? Unruhig ging sie wieder hinaus und um das Gebäude herum. Nichts, rein gar nichts. Das würde doch schwieriger werden als gedacht. Die Rothaarige ging wieder hinein und betastete die Wände. Keine Unebenheit verriet ein Versteck. Auch am Boden ließ sich nichts finden. Vielleicht an der Decke? Sie sah hinauf, doch das mit Stroh bedeckte Dach ließ auf nichts schließen. Evelyn verzweifelte langsam. Ihnen lief die Zeit davon und sie schien zum Scheitern verdammt. Der dunkle Weg führte Lilli weit unter die Erdoberfläche. Ihr Feuerzeug war eine spärliche und nicht gerade zuverlässige Lichtquelle. Entweder schien sie Schatten zu sehen, oder das blöde Dinge ging einfach durch einen Windzug aus. Es roch faulig und nach Verwesung, lediglich weitere Indizien dafür, dass sie sich weit weg vom Sonnenlicht befand. Mit einem schiefen Lächeln dachte sie an die Mobbingversuche aus ruhigeren Tagen. Hätte sie damals gewusst, dass sie wirklich einmal in Dunkelheit wandeln musste und sich wie in einem Grab fühlen würde, dann hätte sie wohl einen Scherz auf ihre Kosten gemacht. Schade nur, dass es sich gerade nicht um ein Spiel handelte. Jammerschade.... Immer wieder gab es Abzweigungen, weitere Wege, die ihr das Vorankommen erschweren wollten. Doch Lilli wusste, sie musste dorthin, wo es am dunkelsten, am vermodertsten und am unheimlichsten war – alte Filmweisheit. Irgendwann, sie wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, sah sie Fackeln, die ihren weiteren Weg erleuchteten. Die junge Frau beschleunigte ihre Schritte und kam in einen großen Raum. Die gewölbte Decke war Meter von ihr entfernt. Wie hatte etwas so großes existieren können, ohne, dass jemand etwas davon wusste? Allerdings, war vielleicht jemand hier, der den Tempel bewachte? Lilli hielt sich an der Wand und sah durch den Raum. Nichts war hier, außer einem großen, dunklen Haufen am anderen Ende. Vorsichtig ging sie näher heran und sah immer wieder zum Ausgang zurück. Unter dem Haufen erkannte sie einen Kreis und seltsame Zeichen. Das musste es sein! „Gefunden!“ Ihre Worte verließen schneller ihren Mund, als Lilli es überhaupt bemerkte. Ihre Stimme hallte in dem großen Raum unnatürlich wieder, gefolgt von einem gefährlichen Zischen. Der dunkelgefärbte Haufen bewegte sich, zog sich ineinander und auseinander. Der Kopf der riesigen Kobra nahm die Größe ihres Breitbildfernseher an. Doch dann stellten sich diese Hautlappen zu ihrer vollen Breite auf. Mit so einem Bildschirm wäre sie nicht einmal durch die Tür gekommen. Wieder zurück bei Evelyn. Ihr Weg hatte sie noch einmal um das Gebäude herum geführt. Sie hatte jeden Stein befühlt und unter die Lupe genommen. So war ihr die Tür auf der Rückseite natürlich nicht entgangen. Ein schmaler Spalt, nicht genug Platz um hindurch zu sehen. Evelyn ging einen Schritt zurück. Jetzt war keine Zeit für Versteckspiele! Ihr Stand war sicher, als sie sich seitwärts gestellt hatte und blitzschnell den Fuß zu einem Tritt hob. Der alte Zement gab ohne weiteren Widerstand nach.Dahinter konnte sie die Tür an der gegenüberliegenden Wand sehen, jedoch war der restliche Teil gänzlich verändert. Furchtlos ging Evelyn hinein, durch schritt die grüne Masse, die sie von dem Inneren trennte und sich wie Wasser anfühlte. Kaum war sie hindurch war der Grünstich verschwunden. Neugierig sah sie sich um und ging dann an dem Kreis in die Hocke. Ohne zu bemerken, wie hinter ihr das Konstrukt zu bröckeln anfing. Bei der Blondhaarigen entwickelte der Tempel ebenfalls ein Eigenleben. Nachdem sie sich durch den schmalen Spalt gequetscht hatte, fand sie sich unter der Düne wieder. Der Raum, schien mehr wie ein Keller. Die quadratischen Steinplatten befanden sich nicht ebenerdig, sondern waren hier und da abgesunken oder sogar erhöht. Eine dicke Schicht aus Staub und Sand bedeckte das Gestein und die sauerstoffarme Luft war schwer zu atmen. Am anderen Ende stand es, das Podest wartete nur auf sie. Siegessicher ging Corinne vorwärts. „Wie sagen die Japaner immer? Luky!“ Ihr ernster Blick verschmolz kurz zu einem Lächeln, welches sofort wieder davon war. Doch schließlich musste sie erschrocken feststellen, dass es kein „geradeaus“ geben würde. Wieviele Menschen waren gegangen? Hatten sich geopfert für ein gemeinsames Ziel? Mussten gehen aufgrund von menschlicher Willkür? Manche sagen, dass Gott es so wollte, dass alles schon von vornherein bestimmt worden war. Noch bevor das Licht unseres Lebens zu leuchten begonnen hatte, wurde der Teppich des Schicksals gewebt, fest versponnen und untrennbar bereit gelegt. Ich würde ziehen, mein Entschluss stand fest! Ich würde mich befreien, würde schneiden, reißen, ich würde tun, was auch immer notwendig war, um endlich frei zu sein. Begann es jetzt? Oder wann hatte ich diesen Entschluss gefasst? Ich weiß es nicht, auch jetzt nicht, wo alles immer klarer wird. Mein Kopf war erfüllt von Gedanken, die sich überschlugen, Ketten bildeten, altes auseinander wirbelten und neu formten. Und doch... es gesellte sich immer mehr dazu. Das Buch in meiner Hand, es offenbarte mir wesentliches. Ich konnte zwar nicht mehr in der Vergangenheit leben, aber hier stand alles, schwarz auf weiß. Jeder Kampf gegen ihn, gegen Tian, oder mit all seinen anderen Namen, wie er es immer wieder versuchte. Ich glaubte vor meinem inneren Auge Bilder sehen zu können. Bilder von früher, Bilder aus der Sicht meines alten Ichs. Aber die Priesterin blieb stumm. Eins musste ich mir wohl eingestehen... wenn es zum Kampf kam, waren wir alle allein! Doch dann entdeckten meine Augen eine Stelle, die ich mehrmals lesen musste. War das zu fassen? Konnte es wirklich sein, dass...? Die Herzen, sie schlugen schneller. Jede von ihnen konnte es fühlen. Blitzschnell schnellte der Kopf der übernatürlich großen Schlange vor, rammte ihre Zähne in die Erde, an den Punkt, wo Lilli bis gerade eben noch gestanden hatte. Einige Haarsträhnen klebten ihr im Gesicht, ihr Atem ging keuchend. Wie oft würde sie noch ausweichen können? Ein Stein traf sie hart. Evelyn sah auf. Um sie herum fiel das Gebäude völlig geräuschlos zusammen. Die Tür, durch die sie gekommen war, war schon fast gänzlich verschwunden. Wieso konnte das passieren? Corinne sprang, sprang um ihr Leben. Viele der Platten waren bereits gestürzt. Eine Falle war es, in der sie sich befand, lediglich von einem ausgeklügeltem System aus Pfählen gestützt. So tänzelte sie immer weiter vorwärts. Warum war die Luft hier unten nur so stickig? Wie konnte man das erklären? Wieso hatte es soweit kommen müssen? Warum sie? So teilten sich alle jungen Frauen die gleichen Fragen, die gleichen Gedanken und den gleichen Herzschlag, während sie erwachten... Kapitel 14: Was bist du wirklich? --------------------------------- Manche würden sagen, man kann es kaum glauben. Aber Corinne war die Erste. Vielleicht lag es an ihrer geringen Körpergröße oder ihrem eigentümlichen Charakter. Doch ihr erster Seitwärtssalto und die sichere Landung auf einer wackeligen Steinplatte bewiesen es, sie war die Schnelle, die Dolchkämpferin. Ihre schmalen Füße fanden überall halt, ihr kleiner Körper konnte kunstvolle Sprünge vollführen. Wie eine Tänzerin suchte sie mit scheinbar geschultem Auge die Platten aus, die am sichersten schienen. Auch wenn sie scheinbar eine Falsche erwischte, sprang sie einfach weiter und brachte so schneller Meter hinter sich, als außen herum zu laufen. Dennoch gefiel ihr das Geräusch nicht, das um sie herum immer lauter wurde. Die verbliebenen Pfähle ächzten schwer. Auch als Corinne drüben auf dem sicheren Podest angekommen war, wollte das Jammern nicht verschwinden. Geschwind und zugleich grazil ging sie in die Hocke, streckte dabei ein Bein zur Seite aus und begann den Kreis und die Ornamente nach zufahren. Die sensiblen Ohren dieser schnellen Jägerin erhaschten noch so kleine Geräusche. Doch außer dem lauter werdenden Ächzen, kam ihr nichts in die Quere. Schon bald leuchte der Bannkreis gelb auf. Das Licht schoss nach oben, erleuchtete die Decke und bündelte sich schließlich zu einem Kegel, dessen Spitze sich genau über der Mitte des Podests zusammenschloss. Wie Schnee fiel das gelbe Licht in kleinen Punkt hinab und erschuf magisch zwei kleinere Schwerter und das passende Geschirr. Wie hatte sie diese leichten Waffen vermisst? Ohne jeglichen Zweifel griff Corinne nach ihnen und hielt sie sicher in Händen. Das Gewicht kam ihr vertraut vor, nicht zu leicht, aber auch nicht zu schwer. Genau richtig, um viele und schnelle Schläge auszuführen. Mit einem Lächeln drehte sie sich auf den Zehenspitzen um die eigene Achse, führte einen Schlag mit beiden Waffen nach hinten aus und blieb einen Moment in ihrer niedrigen Haltung stehen. Dies war die Stimme gewesen, die sie gerufen hatte. Nun war es still. Außer dem Ächzen, dass zu einem beständigen Geräusch angewachsen war. Geschwind legte die Blondhaarige sich die Lederriemen um, verstaute ihre Waffen in den Haltern und machte sich auf den Rückweg. Ungefähr zeitgleich fuhr Lilli weiter die Zeichen nach und sprang im nächsten Moment schon wieder zur Seite. Nur eine Rolle hatte sie dieses Mal retten können. Ihr schwarzes Haar war zersaust und die Schlange schien einfach nicht müde werden zu wollen. Ihr schwarzer Schuppenpanzer glänzte im Licht der Fackeln. Doch Lilli hatte keine Zeit auch nur einen Moment diese überirdische Schönheit zu bewundern. Sie sprang wie ein fliehender Hase und wünschte sich in letzter Zeit mehr Sport getrieben zu haben. Allein die Angst vor den Schmerzen, dem unerträglichen Tod, waren es, die sie immer wieder dazu brachten, ihre schmerzenden Glieder zum weitermachen zu überreden. Hastig brachte sie sich in Sicherheit, drehte sich halb herum um die Schlange nicht zu lange aus den Augen zu lassen und wollte schließlich zurück springen, wenn da nicht die Wand gewesen wäre, die sie aufhielt. „Verflucht“, drang es ihr hinter zusammen gebissenen Zähnen hervor. Ihre Hände lagen auf dem glatten Gestein, ihr Blick fixierte die Schlange, die ihre Chance witterte. Sie schien zu grinsen und zischelte. Blitzschnell schnellte sie vor. Lilli blieb nur eine Wahl, die Flucht nach vorn. Mit einem Bein stemmte sie sich ab und warf sich an dem Schlangenkopf vorbei. Hinter sich konnte sie es krachen hören, während sie ungeschickt über den Boden rollte, weit entfernt von einem gewollten Purzelbaum. Mit Schwindel rappelte sie sich auf und bemühte sich zurück zu dem Kreis zu gelangen, ehe das Tier, oder was auch immer es war, sich von dem Aufprall erholt hatte. Ihre aufgeschürften Hände strichen über den Boden, vervollständigten die Ansammlung, doch außer einem schwachen, lilanem Glühen, geschah nichts. Das schwarze Monster schüttelte ein paar Mal energisch den Kopf und drehte dann sein Haupt Lilli entgegen. Wütend zischte sie nur noch lauter. Jetzt würde sie ernst machen, schien sie zu sagen. Ihr Körper bewegte sich blitzschnell vorwärts und überbrückte die wenigen Meter zwischen ihnen. Doch die Hexe hatte etwas anderes im Blick. Auch sie rannte vor. Das Tier schien nur einen Moment beeindruckt von ihrem Wagemut, beschleunigte aber nur noch mehr. Mit einem Hechtsprung in aller letzter Sekunde, und mit viel Glück, wie sie sich eingestehen musste, brachte sich die junge Frau wieder für einige Sekunden außer Gefahr und rannte wieder zurück zu der Wand, an der etwas kleines lag. Weiß, lang, spitz und getränkt mit einem tödlichen Gift. Hastig griff sie nach dem dickeren Ende und schwang sich mit ihrer neuen Waffe, die sie weit von ihrem Körper entfernt hielt herum. Dann war es still. Lilli befand sich Auge in Auge mit der monströsen Kreatur. Ihre gelben Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen zu schmalen Schlitzen verengt. Erst nach schier endlosen Sekunden brach der Leib zusammen und begrub Lilli unter sich. Ächzend und stöhnend befreite sich die Schwarzhaarige von ihrer Last und verharrte sitzend neben dem schwarzen Haufen, der sich keinen Zentimeter mehr rührte. In ihrer Hand hielt sie noch immer den abgebrochenen Zahn fest umklammert. Das würde ihr niemand glauben. Völlig fertig sah sie zu dem schwachen Licht hinüber, welches von dem Bannkreis ausging und befahl ihren zitternden Beinen wieder aufzustehen. Ihr Hals schmerzte und verlangte nach etwas Wasser, doch die Stimme, wusste, was zu tun war. Kaum hatte sie den ersten Fuß in den äußeren Kreis gesetzt erstrahlte das Licht in all seine Herrlichkeit, sodass alles um sie herum düster erschien. Lillis müder Arm streckte sich nach vorn und hielt den Zahn mit der Spitze nach unten über der Mitte des Ornaments. Ein einzelner Tropfen verließ zögerlich den Schaft, viel zu Boden. Doch die Schwerkraft schien, umso näher das Gift dem Boden kam, immer schwächer zu werden. In der Luft hielt er inne, bis sich darum ein kleines Fläschchen gebildet hatte. Auch hinter der Frau tat sich etwas. Die Schlange schmolz dahin. Ihr Körper löste sich zu Gliedern auf und wurde immer kleiner. Solange, bis nur noch ein Gürtel mit weiteren kleinen Fläschchen daran übrig blieb. Das helle Licht, verlor an Stärke und das Gefäß vor Lilli, wäre beinahe zu Boden gestürzt, hätte sie nicht schnell vorgegriffen. Kritisch musterte sie den Inhalt durch das durchsichtige Glas und bemerkte erst jetzt, dass der Zahn in ihrer Hand verschwunden war. „Das war ja so klar...“ Langsam senkte sie die Hand. „Konnte ich nicht Magie abkriegen?“ Die Hexe schien doch herbe enttäuscht. Evelyn hingegen hatte ganz andere Sorgen. Immer schneller fielen ganze Gesteinsbrocken hinab. Sogar das Dach, welches äußerlich nach Stroh ausgesehen hatte, schien nicht aus weichem Material zu bestehen. Sie war noch nicht einmal bei der Hälfte des Kreises angekommen. Dennoch sah sie nach oben. Die junge Frau wollte sehen, warum es sie hier fast erschlug. Doch was sie sah, war nicht mehr die innere Seite eines Hauses. Die hohe Decke wirkte wie aus einem Ballsaal, den sie aus alten Filmen kannte. Mit einem Aufschrei sprang sie zur Seite. Ein Brocken, genauso groß wie ihr Kopf schlug neben wir auf dem Boden auf und zerteilte sich in viele kleine Stücke. Wieder sah sie nach oben, versuchte abzuschätzen, wie lange es noch dauern würde, bis das gesamte Mauerwerk über ihr einstürzte. Doch als der nächste Brocken herunter kam und sie schmerzhaft am Arm streifte, kam sie schnell zu dem Entschluss, nur noch nach vorne zu blicken. Auch wenn das nach unten sein musste. Während sie die Zeichen nach fuhr, schlug immer wieder etwas auf ihren Körper. Die Schmerzen wurden immer unerträglicher, doch außer den Schreien, die ihre Kehle immer öfter verließen, zeugte nichts von ihrer Panik. Evelyn biss die Zähne so fest sie konnte aufeinander, versuchte nur an ihre Aufgabe zu denken. Sie waren soweit gekommen. Das alles hatte einen Sinn. Sie durfte nicht diejenige sein, die sie zum Scheitern verurteilte. Und verdammt nochmal, diesen Arsch von Freund würde sie etwas erzählen, wenn er das nächste mal anrief! Dann war es geschafft. Die blaue Lichtquelle spaltete sich in vier Säulen, die Evelyn umschlossen. Da trotzdem immer noch die Decke herab fiel, streckte die junge Frau, deren Körper von Wunden, blauen Flecken und Blut gezeichnet war, die Hand in eine Säule. Etwas rief sie. Das Licht fühlte sich kühl auf ihrer Haut an und trotzdem irgendwie warm und weich. Ihre Fingerspitzen ertasteten etwas hartes schmales. Sachte schloss sich ihre Hand um den langen Schaft und zog den Speer aus dem Licht. Die Stimme war verschwunden, genauso wie das Licht, dass in einer Explosion auseinander gestoben und nun verblasst war. Die Erschütterung reichte aus, um dem Gebäude endgültig den Rest zu geben. Ein schwerer Stein traf Evelyn an der linken Schulter, brachte sie zum Taumeln. Sie musste hier raus, und das schnell. Ihr Haar flog durch die Luft, als sie sich hektisch umsah, um nach einem Ausweg zu suchen. Die Tür, durch die sie gekommen war, war völlig verschwunden. Die Trümmer, viel zu viel für ein einzelnes Dach, versperrten ihren Weg. Hart traf sie das nächste Geschoss von oben. Sterne tanzten vor ihren Augen. Ihr wurde schlecht und wollte sich am liebsten an Ort und stelle hinlegen. Plötzlich sah sie es. Das Loch in der Wand. Durch die Explosion waren rissige Teile hinaus geschleudert worden. Wenn sie es dort hindurch schaffte, dann war sie gerettet. Unwillig setzten sich ihre Beine in Bewegung. Sie schluckte schwer das hinunter, was ihre Kehle hinauf kriechen wollte. Der letzte Schlag war wirklich zu viel gewesen. Ihr Schädel schmerzte und ihre Gedanken gingen schwer. Trotzdem rannte sie, auch wenn es ihr so vorkam, als hätte man sie auf Zeitlupe gestellt. Das Loch kam nur langsam näher und das Haus um sie herum war bereit in seine letzten Einzelteile zu zerfallen. Evelyn wusste nicht, wie ihre Füße auf dem Geröll und Schutt halt fanden, aber irgendwie taten sie es. Solange, bis ein Stein nicht so wollte wie sie. Ihr Fuß rutschte zur Seite. Mit der letzten Haltmöglichkeit sprang sie vor, den Speer dicht an ihrer Seite. Das dumme war nur, dass es keine weitere Möglichkeit gab, den Sprung zu verlängern. Nach Luft schnappend öffnete Yara die Augen. War sie wirklich gerade dort gewesen? Hatte sie die Wirklichkeit gesehen? Das, was gerade geschah? Oder geschehen war? Wenn es Ersteres war, dann musste sie Evelyn warnen. Sie balancierte das Buch auf einen Arm und zog mit der freien Hand ihr Handy aus der Hosentasche, um die Kurzwahltaste der Nummer für ihre Freundin zu wählen. Noch vor dem ersten Klingeln hatte sie das Telefon an ihrem Ohr. Während ihre Augen etwas sahen, was sie völlig vergessen hatte, sprach eine Stimme das aus, an das sie ständig dachte. „...nicht zu erreichen. Bitte versuchen...“ Yaras Hand sank herab. Dort am Ufer kam gerade etwas aus dem Wasser. Über und über voll mit Meeresalgen schälte Tian sich in seiner vollen Körpergröße heraus. Sein Oberkörper war frei und die kurze Hose klebte an seinem Körper. Genau wie sein dunkles Haar. Doch seine Augen schienen zu brennen. Sogar auf dieser Entfernung konnte sie seinen Blick erkennen, in dem nicht mehr die Zuneigung und die Magie lag, die ihre Knie hatten schwach werden lassen. Die junge Frau wollte schlucken, doch keine Feuchtigkeit befand sich in ihrem Mund. Viel schlimmer noch, ihre Zunge fühlte sich an wie eine pelzige Raupe. Ihr Atem ging wie ein Uhrwerk, das mit einem Hindernis zu kämpfen hatte. Trotzdem ging sie aus der kleinen Hütte heraus. „Ich weiß, weswegen du hier bist...“ rief sie ihm schon von Weitem zu und versuchte so selbstsicher wie möglich zu klingen. „... aber du wirst es nicht bekommen!“ Einen Moment war er still. Nur die Wellen des Meeres rauschten besänftigend im Hintergrund. „Das klingt ganz nach einem Filmklassiker“, verspottete Tian sie. Er klang viel sicherer als sie. Yara hatte nur einen Moment, um zu überlegen, was sie darauf antworten konnte. Aber was hatte sie einmal gelesen? Derjenige, der die Frage stellt und den anderen zum antworten zwingt, ist der Überlegene? „Gewiss. Für dich ist das hier nichts weiter als eine Endlosschleife. Irgendjemand hat vergessen das „Repeat“ auszustellen. Ist es nicht so, Geflügelter?“ Überrascht weitete Tian die Augen. Jedoch war dies nur ein kurzer Moment, der einem Grinsen mit Boshaftigkeit schnell weichen musste. Blitzschnell schossen zu seinen Seiten schwarze Flügel in das Blickfeld der jungen Frau. Wings war kein Märchen gewesen. Kapitel 15: Miracle Day ----------------------- Die Erde begann unter meinen Füßen zu beben. In ganz Japan würde man sich jetzt wohl in Sicherheit begeben. Würde überhaupt jemand diese riesige Wellen sehen, die ich sah? Meterhoch türmte sie sich bereits am Horizont auf. Für menschliche Augen war sie vielleicht gar nicht sichtbar. Konnte man überhaupt bemerken, dass der Horizont viel weiter oben anfing als normalerweise? Ich presste das Buch fester an mich und richtete meinen Blick wieder auf Tian. „Was würde Sky dazu sagen?“ „Was schert es mich, was dieser Wicht denkt? Seine Zeit ist vorüber und er hat nicht mehr zu entscheiden! So einfach ist das.“ „Als ob es so einfach wäre. Er ist in dir...“ Ich stellte mich seitwärts und zeigte mit dem linken Zeigefinger auf den Geflügelten. „Irgendwann wird er sich an dir rächen.“ Tian lachte schallend auf. „Natürlich... gleich nachdem er sich wieder ein unbegabtes Menschenmädchen geangelt hat!“ Seine Stimme vor voller Hohn. „Es bringt nichts, „gut“ zu sein, denn die verlieren in Sachen Macht immer.“ „Mikan war nicht schwach und schon gar nicht unbegabt. Sky hat nur erkannt, welche Stärke wirklich in ihr lag! Und wenn die Guten doch immer verlieren, wie kommt es dann, dass die Welt noch immer nicht unter gegangen ist?“ Nun war es wieder still. Tian senkte leicht den Kopf und sah mich mit zu Schlitzen verengten Augen an. Ich sollte vielleicht aufhören ihn auch zu provozieren, wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich ihn aufhalten, geschweige denn besiegen wollte. „Lassen wir das...“ Seine Stimme jagte mir eiskalte Schauer über den Rücken. Instinktiv drückte ich das in Leder gebundene Buch noch enger an mich. „Gib es mir und vielleicht schafft es die Priesterin dich zu retten.“ Vielleicht, vielleicht aber auch nicht, dachte ich im Stillen. Mein Schweigen sprach Bände. Ich würde ihm dieses heilige Relikt niemals überlassen. In ihm stand, was er benötigte, um den Tempel, der vor mir unter der wilden See schlummerte, anzuzapfen und seine Macht gegen die Menschheit zu richten. Ein paar Sätze aus diesen alten Zeilen hatten schon gereicht, um mir Tians eigentliches Ziel zu erklären. Und dennoch, da war noch mehr. „Nun komm schon... bisher hat mein Plan doch auch funktioniert...“ Seine Stimme klang so ruhig. Er war sich seiner Sache so verdammt sicher, dass es mich nur noch wütender machte. Als ich schließlich in vollem Umfang begriff was er meinte, brachte es das Fass zum überlaufen. Nicht nur, dass er mich benutzt und hintergangen hatte, nein, er hatte gewollt, dass wir hierher kamen. Er hatte diese alte Magie geschickt, die meine Freundinnen befallen hatte damit wir ihr bis hierher folgen konnten. Er hatte uns kleine Krummen hinterlegt, die wir bereit willig aufgepickt hatten. Nur ich und der Stern konnten die Bannkreise aktivieren, um Energie in den versunkenen Tempel zu laden. Natürlich, so musste es sein. Warum hatte man mir nicht früher schon dieses Wissen dargelegt? Vorsichtig horchte ich in mir hinein. „Es ist nicht ihre Schuld, Mammi!“ Ein kleiner Aufschrei, direkt aus mir heraus, und meine Wut verpuffte. „Genug gespielt, jetzt mache ich Ernst. Ich warne dich nur noch einmal: Übergib mir freiwillig das Buch, oder ich hole es mir aus deinen kalten Händen!“ Tian war bereits in Kampfstellung gegangen und hatte alle Muskeln angespannt, die er hatte. „Was ist denn jetzt? Was soll dieser Blick?!“ Er klang ungehalten. Aber hatte er es denn nicht gehört? Die ungeschützte Magie hätte er doch hören müssen. Oh bitte, Leute, tut nicht so, als ob ihr nichts begreifen würdet. Wie soll ein Ungeborenes bitte mit seiner Mutter reden, wenn nicht mit Magie? Ich hatte keine weitere Sekunde, um darüber nachzudenken, als Tian seine erste Feuerkugel, so groß wie ein Auto auf mich schleuderte. Schützend hob ich die Hand und schloss die Augen. Wie würde es wohl sein am lebendigen Leib zu verbrennen? Ich konnte es mir beileibe nicht vorstellen. Doch es geschah nichts. Nur heftiger Wind kam auf und mein Haar flog zurück. Blinzelnd öffnete ich die Augen. Die Kugel löste sich vor meiner ausgestreckten Hand bereits wieder in Luft auf. „Wie...?“ „Das darf doch nicht wahr sein“, zischte Tian ärgerlich. Hatte er sich seinen Sieg wohl etwas leichter vorgestellt? Oh, der Arme! Nun war ich diejenige, die ihre Augen zu Schlitzen verengte. Ich würde kämpfen. Für meine Freunde, für mein Kind, für die Menschen, die da mal waren, derzeit sind und noch kommen mögen. Und, ja, ich wollte für mich kämpfen! Für die vielen Stunden mit meinem Sohn, für die Rache an Herrn Won, für viele weitere sonnige Tage und Spaß. Auch für Trauer und Tränen, denn ohne geht es nicht. Das Erdbeben war mittlerweile stärker geworden. Meine Hand ballte sich zur Faust und sauste schließlich herab. Schmerzen durchzuckten meinen Körper, doch die Magie schoss bereitwillig durch mich hindurch und in den Sand hinein. Sofort wanderte etwas schmales unter der Düne entlang und blitzschnell auf Tian zu, der verblüfft nur zusehen konnte, wie der Sand direkt unter ihm auseinander stob und Gesteinsbrocken von unten gegen ihn flogen. Schnell stand ich wieder auf. Das war ja voll der Wahnsinn! Doch was war aus Tian geworden? Mit gemischten Gefühlen sah ich zu dem Staubwirbel hinüber, aus dem sich der ehemalige Mann meiner Träume ohne einen Kratzer hervor schälte. „Aber, aber, meine Liebe, verhält sich so eine ergebene Geliebte?“ Wütend presste ich die Lippen aufeinander um bloß nichts darauf zu erwidern. Ich fing gerade erst an! Über ihm erschienen vier weitere Feuerbälle, die sich mich als Ziel ausgesucht hatten. Als würde ich jemandem ein paar Ohrfeigen verpassen, lies ich meine Hand durch die Luft schnellen, um die Geschosse noch vor dem Aufprall in neue Bahnen zu lenken. So hatte Tian genügend Zeit um sich eine neue Position für seinen nächsten Angriff zu suchen. Der Beste war zweifelsohne hinter mir. Seine Magie traf mich hart im Rücken und warf mich zu Boden. Es war aber keine Feuerkugel gewesen, die mir die Haut versenkte. Es hatte sich wie ein glatter Gesteinsbrocken angefühlt. Woher ich genau wusste, dass es keiner gewesen war, wusste ich nicht. Irgendwas an der Sache war merkwürdig. Ich spuckte den Sand aus meinem Mund und sah ohne aufzustehen hinter mich. Tian hielt eine Hand mit der Innenfläche locker nach oben. Etwas tanzte darauf. Es sah aus wie ein Tornado in Miniaturform. Wind, natürlich, wenn ich ihn benutzen konnte, konnte er es auch. Dieses Mal empfand ich es eher als ärgerlich, dass der Mann mehr Erfahrung hatte. Der Geflügelte holte bereits zum nächsten Schlag aus, als ich wieder Magie durch den Boden sendete. Dieses Mal tiefer, damit man sie nicht sehen konnte und in anderer Form. Leider blieb mir so keine Zeit mehr um ihm auszuweichen. Doch die Schmerzen waren nur der Lohn, um seine überraschten Schmerzensschreie zu hören, die er durch das flüssige Lavagestein ausstieß, welches direkt unter seinen Füßen hervor schoss. Schnell stand ich wieder auf und beobachtete, was Tian als nächstes tun würde. Seine Flügel hatten Federn lassen müssen, genügend, wie ich feststellte. Für einen Flug hätte er erst wieder Magie aufwenden müssen, die mir einen entscheidenden Zeitvorteil verschafft hätte. So blieb er also erst einmal an die Erde gebunden, die ich sehr gerne als Waffe benutze. Dennoch war mir in diesem Moment nicht bewusst, dass er immernoch viel schneller war als ich. Keuchend rannte Lilli den ganzen Weg zurück. Es war ja gut und schön, dass sie jetzt eine besondere Macht besaß, doch mehr als dem Wissen über Gift, war ihr bisher nicht aufgefallen. Warum nur hatte man ihr nicht irgendwas zur Fortbewegung gleich mitgeben können? Hätte sie gewusst, dass Corinne gleich hinter ihr war, jedoch ebenfalls nicht für Langstreckenrennen ausgelegt war, dann wäre das Ganze vielleicht erträglicher gewesen. Als die Blondhaarige sie dennoch schließlich einholte und ihren Namen rief, blieb Lilli für einen Moment stehen und sog begierig die Luft ein, die durch das anhaltende Erdbeben mit Staub und Dreck gefüllt war. „Corinne“, japste sie und staunte nicht schlecht, als sie das Geschirr aus Leder an ihrer zierlichen Freundin sah. Jetzt fragte sie sich nur noch mehr, warum gerade sie etwas bekommen hatte, das man jemandem einflößen musste, um es zur Waffe werden zu lassen. „Das darf doch alles nicht wahr sein“, langsam verzweifelte Lilli wirklich. Plötzlich hörte sie eine leise Stimme hinter sich. Gemeinsam hoben die beiden Frauen den Kopf und sahen zu Evelyn zurück, die rennend auf sie zukam, den Speer hoch in die Luft gestreckt. „Ich hab's geschafft!“ Während die Hexe die Distanzwaffe ansah und es ihr endgültig den Rest gab, überlegte sie schon, wer ihre Wut unverdienterweise zu spüren bekommen würde. „Kruzifix!“ „Nein, das ist ein Speer.“ Auch der nächste Schlag traf mich heftig. Blut rann mir an den Armen und Beinen hinunter. Egal wie oft ich ihn verletzte, ich bekam es immer doppelt zurück. Nicht nur, dass die Schmerzen immer größer wurden, nein, meine Magie kostete mich extrem viel Kraft. Eine sorgenvolle Stimme innerhalb meines Körpers rief immer wieder meinen Kosenamen. Ich versuchte Hoffnung und Zuversicht auszustrahlen, doch mit jeder Attacke schwand meine Macht und Tian gewann immer weiter die Oberhand. Als ich schließlich durch Zufall entdeckt hatte, wie man einen Bannkreis aufbaut, um sich zu schützen, war es bereits zu spät. Ich konnte nur noch meine letzte Kraft in diese Magie investieren und versuchen die Zeit zu überbrücken, bis mir jemand zu Hilfe kam. Aber wer sollte denn kommen? Selbst wenn Corinne und die anderen kamen, was sollten sie schon groß ausrichten können? Sie konnten Tian wohl kaum mit ihrem Make Up bewerfen und hoffen, dass er an dem Puder erstickte. Dennoch lies ich den Schild nicht herunter, ich kämpfte trotzdem. Komisch, vom Fernseher aus, sahen diese Kämpfe irgendwie leichter aus. Da brach er! Meine Magie fiel in kleinen Splittern herunter und glitzerte im letzten Schein der Sonne. Der nächste Angriff von Tian war bereits nah. In wirklich allerletzter Sekunde sprang ich zur Seite und rollte mich hinter einen kleinen Felsen, der mich sitzend gerade so verbarg. Ein paar wilde Geschosse flogen nur knapp an mir vorbei. Schließlich war es nur eine Frage der Zeit, bis er genau die Mitte des Steines traf und diesen mit aller Macht sprengte. Ich flog nach vorn, spürte weitere Schmerzen im Rücken und landete ungeschickt auf der Seite, als ich mich drehte, um mein Kind vor dem Aufprall zu schützen. Mein Haar stand zu allen Richtungen ab und klebte mir schweißnass im Gesicht. Der Sand und das Salz brannten in meinen Wunden und ließen die Schmerzen nur noch mehr zur Hölle auf Erden werden. Zitternd drehte ich mich herum. Blut floss in meine Augen und nahm mir die Sicht. „Yara!“ Ein Name und doch so viele Stimmen, die sich für mich verbündeten. Ich blinzelte und erkannte schließlich meine Freundinnen, die sich bereitwillig zwischen mich und Tian stellten. „Ist denn hier irgendwo ein Nest?“ Als hätte er nicht gewusst, dass der Stern hier war. Er entpuppte sich immer mehr zum kompletten Arschloch. Hatte es sich also doch wieder bestätigt: Yara gelangt immer nur an komplette Idioten! Corinne zog ruhig ihre kleinen Schwerter und fixierte ihren Gegner ruhig. Auch Eveleyn ergriff den Schaft ihres Speeres jetzt ebenfalls mit der anderen Hand und Lilli zückte zwei kleine Fläschchen, die sie zwischen drei Fingern einer Hand hielt und die erste mit den Zähnen entkorkte. „Lass uns spielen...“ Ihre Stimme klang anders, aber es war unverkennbar meine Freundin, die sprach. Sie alle waren gewachsen, nicht nur an den Aufgaben, die ihnen gestellt worden waren. Nein, das Wissen aus alter Zeit hatte sie reifen lassen. Genau wie mich. Dann sprangen sie vor und auf Tian zu. Vielleicht erwartete man ein unbedachtes drauf losschlagen, aber diese Frauen hatten einen gewissen Vorteil. Auch wenn ihre Körper nicht an die Strapazen des Kämpfens gewöhnt waren, so hatten sie immer noch den Taktikvorteil. Immerhin hatten sie alle schon einmal gemeinsam gekämpft, nicht nur einmal. So teilten sie sich auf und attackierten Tian von allen Seiten, um ihn von mir fern zu halten und einen Moment der Pause zu gönnen. Woran ich letzteres erkannte? Sie griffen nicht alle auf einmal an, sondern versuchten Zeit zu gewinnen. Keuchend rappelte ich mich auf. Ich sendete eine 'Alles in Ordnung?' in mich hinein und lauschte. Ein warmes Gefühl kam wie als Echo zurück. Das hieß wohl ja. Nun konzentrierte ich mich wieder auf die eigentliche Aufgabe. Was konnte ich tun? Mir gingen die Ideen für Attacken aus, die Tian überraschen könnten. Ich hörte wie Waffen aufeinander schlugen, hörte die Schreie und schmeckte mein eigenes Blut. Mit dem Ärmel meiner freien Hand wischte ich mir über das Gesicht. Mein Blick blieb an dem Buch hängen. Hastig öffnete ich es und blätterte darin herum. Es musste doch einen Weg geben, wie wir ihn bannen konnten! „Yara!“ Lilli warf sich hart gegen mich und brachte mich aus der Schusslinie. Sie selbst traf der magische Blitz mit all seiner Kraft. Ihr Körper zuckte, ehe sie schließlich auf die Knie sank und weiter zitterte. „Lilli!“ Ich schrie, noch ehe ich es bemerkt hatte. Evelyn sah zurück, um zu sehen, was geschehen war und wurde so ebenfalls unvorbereitet von Tians Energie getroffen. Nur Corinne war nun noch übrig. Mit Tränen in den Augen schallt ich mich selbst. Ich machte alles nur noch schlimmer. Hätte ich nicht geschrien, wäre Evelyn unverletzt geblieben. Und hätte ich besser aufgepasst, hätte es nicht Lilli getroffen! Innerlich zerriss es mich selbst. „Was soll denn das?! Verdammt, Leute, Yara verlässt sich auf uns! Steht sofort wieder auf!!!“ Die kleine Corinne, ihre harte Stimme straffte ihrer Körpergröße Lügen. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich zu ihr hin. Auch Tian hielt einen Moment inne, um dieses sinnlose Schauspiel zu bewundern. Er amüsierte sich scheinbar köstlich. „Keine Sorge, Yara...“ Die leise Stimme war fast nicht zu hören. „Wir beschützen dich...“ Dieses Mal kamen die Worte von der rechten Seite. „... so, wie du uns immer beschützt hast!“ Hinter den Steinen kam Evelyn zum Vorschein. Sie hatte schon vor dem Kampf ausgesehen, wie ein schweizer Käse und nun sah sie nur noch schlimmer aus. Mein Blick wanderte umher. Auch die anderen sahen gebeutelt aus. Lillis schönes Kleid war zerissen und sogar auf dem schwarzen Stoff konnte man die dunklen Blutflecken sehen. „Wir halten ihn schon in Schach!“ Die schwarzhaarige Frau hatte sich wieder aufgerappelt und zog erneut eine Flasche aus ihrem Gürtel, dessen Inhalt das feurige rot von Mohnblüten innehielt. Mit einem Grinsen löste Lilli den Korken und nickte Corinne unbemerkt zu. Diese sprang schnell vor und lenkte Tians Aufmerksamkeit erneut auf sich. Lilli hingegen rannte näher heran, machte aber einen kleinen Bogen um den Geflügelten. Mit einer Feuerkugel in Corinnes Magen warf er die Angreiferin schließlich zurück und drehte sich siegessicher Lilli zu, die nun hinter ihm stand und das Fläschchen, schon eine Weile etwas entfernt von sich hielt. Gerade als er auf sie zuspringen wollte, stoppte er. Seine Glieder begannen zu zittern und sein Blick verschwamm. Was war los? „Wirklich schade, meine Rache hätte fürchterlich ausgesehen!“ Ich verstand kein Wort. Wie hätte ich auch ahnen können, dass Lilli mehr als froh darüber war, dass man einige Mischungen nicht trinken musste, um zu sterben? Ich riss mich nur widerwillig von dem Anblick los. Tian hatte sichtlich Mühe zu stehen, geschweige denn Magie zu wirken. Dennoch, auch wenn sie ihn geschwächt hatten, sie mussten weiter drauf halten. Während der Kampf weiter ging, die Erde immer stärker bebte und die Welle nun gefährlich nah war, kroch ich auf Händen und Knien zu dem Buch zurück, welches mir bei dem Stoß aus der Hand gefallen war und blätterte weiter. In Gedanken war ich bei meinen Freundinnen und dennoch verließ ich mich darauf, dass sie mir genug Zeit verschaffen konnten, bis ich gefunden hatte, was ich brauchte. Meine Augen überflogen die Zeilen und hielten plötzlich an. Da war sie, die Information, die ich brauchte! „Haltet durch!“ Ich rief so laut ich konnte und rappelte mich mit dem Buch erneut auf dem Arm wieder hoch. Der Weg zurück zum Souvernir-Tempel dauerte viel länger als der Weg zu der kleinen Hütte. Ich bemühte mich nach Kräften nicht zu fallen und dennoch so schnell zu rennen, wie mich meine Füße tragen konnten. Keuchend stieg ich die Stufen hinauf. Meine Kehle war wie zugeschnürrt. Der Wind, wohl ein Weltuntergangssymptom, warf meine Haare wirsch hin und her. Oben angekommen konnte ich endlich das volle Ausmaß des Erdbebens erkennen, welches immer noch anhielt. Überall hatten sich Erdspalten geöffnet. In meinen Ohren sauste der Wind, doch in meinem Blick stand verblüfft ein Anour. Was tat dieser Dummkopf hier? „Was tust du hier?“ „Ich bin zurück gekommen, weil mir das alles merkwürdig vorkam! Aber im Tempel seid ihr alle nicht gewesen!“ Es dauerte diese Worte und noch einen Moment, bis der junge Mann den gesamten Ausmaß meines geschundenen Körpers erfasst hatte. Er holte bereits Luft, um seine Verwunderung laut und nicht minder sauer in Worte zu fassen. Doch ich kam ihm zuvor. „Anour! Du musst mir jetzt vertrauen! Bring dich in Sicherheit und warte bis das Erdbeben vorbei ist!“ Obwohl ich versucht hatte normal zu klingen, hatte meine Stimme doch zwischen Sicherheit und Erdbeben an Lautstärke gewonnen. Vielleicht war es aber auch nur der Wind.... Anour wollte heftig protestieren und streckte die Hände nach mir aus. Hastig wich ich zurück. „Das ist mein Ernst“, schrie ich ihn an und schlug seine Hände, die immer noch nach mir verlangten, weg. Verwundert sah er mich an und musterte meine Augen, die ihm stur entgegen blickten. „Ich weiß nicht, was hier vor geht. Aber ich gebe dir zehn Minuten, dann komme ich dich holen!“ „Baka!“ Hastig drängelte ich mich an ihm vorbei und rannte weiter zum Eingang des Tempels. Aber obwohl ich ihn einen Idioten genannt hatte, ließen seine Worte mein Herz höher schlagen. Unwirsch schüttelte ich den Kopf und drängte diese Gedanken erst einmal beiseite. Ich war wohl ein seltsamer Anblick, als ich die hohen Türen des Souvenir-Heiligtums mit viel zu viel Kraft öffnete und blutüberströmt im Eingang stand. Nur eine Sekunde schnappte ich nach Luft und rannte dann auf die Treppen zu. Die Mitarbeiter starrten mich mit offenen Mündern an. Einige fingen sich für meinen Geschmack viel zu schnell und versuchten mich aufzuhalten. Ich schrie ihnen etwas auf japanisch entgegen, was wohl soviel hieß wie, dass sie mich durchlassen sollten. Dann ging ein heftiger Ruck durch die alten Gemäuer des Tempels und die Scheiben des Erdgeschosses zersprangen. Dahinter konnte ich kurz noch Tian sehen, ehe ich schützend meine Arme hob. Diese kleine Ablenkung half mir mich zu befreien und weiter zu rennen. Die Mitarbeiter schrien wild durch die Gegend. Einige gerieten in Panik. Andere gaben Anweisungen und hielten inne, als sie den Mann sahen, der mit weiten Flügeln ein Stockwerk weiter hinauf flog und dort wieder eine Attacke durch die Scheiben fliegen lies, um mich zu erwischen. Außer dem Sturm, der draußen tobte und das Klirren des Glases, war es für einen Moment still. Wenn man genau hinhörte, konnte man mein Schnaufen vernehmen. Die Stufen waren eine schier endlose Qual. Noch hinzu kamen die zusätzlichen Schnittwunden und das Glas in meiner Haut. Doch meine Sinne waren schon lange nicht mehr auf solche Kleinigkeiten aus. Viel mehr bemühten sie sich gemeinsam mich gänzlich in die Knie zu zwingen. Meine Sicht wurde immer schlechter und mein Wille reichte fast nicht mehr aus um auch nur noch einen Schritt zu tun. Doch dann war ich dort, wo ich sein musste. Ich rannte auf das Gemälde zu, legte Magie um meine freie rechte Hand und streckte sie vor. Zuerst waren es meine Fingerspitzen und schließlich fast mein ganzer Arm, der in dem Bild mit der Priesterin verschwand. Dieser verfluchte Mistkerl von einem Kellner. Da hatte er einen Moment nur so getan, als würde er zusammen brechen und sie in Sicherheit gewogen und schon hatte er seine Flügel stückchenweise mit Magie geheilt. Nun flog er weit über ihren Köpfen und versuchte Yara das Leben schwer zu machen. Evelyn kam schnaufend die Stufen hinauf gerannt, die hinunter zur Küste führten und sah nach oben. Aber sie hatte schon einen Plan. Sie rief Corinnes Namen so laut ihre Stimme es noch konnte und war sich sicher, dass die kleine Kämpferin jetzt nur noch mehr die Stufen hinauf fliegen und wie ein geölter Blitz bei ihr sein würde. Evelyn spannte ihren Arm nach hinten und warf ihren Speer weit oben gegen das Mauerwerk, wo er zielgenau in einer Ritze Halt fand. Blitzschnell drehte sie sich herum und streckte die Hand vor, die die Blondhaarige bereits begierig ergriff und Evelyn mit einem breiten Grinsen antwortete. Diese warf ihre Freundin mit aller Kraft herum und schließlich hinauf. Sie hatte gar nicht gewusst, dass solch eine Kraft und Magie in ihr steckte. Doch jetzt wollte sie das erst einmal in vollen Zügen genießen. Wären da nicht ihre Muskeln gewesen, die mit voller Kraft aufschrien und hoffnungslos übersäuerten. Dennoch machte sie weiter und setzte ihre gesamte Hoffnung in diesen Schwung und lies Corinnes Hand im rechten Moment los. Die junge Frau flog wie ein Geschoss durch die Luft, sauste an dem Speer vorbei ehe ihr Weg nach oben langsamer wurde und sie schließlich wieder viel. Ihre Beine klappten zusammen, als ihre Füße den Schaft des Speeres berührten und sie wie ein Katapult nur noch schneller nach oben warfen. Tian, der viel zu beschäftigt war, um Corinne zu bemerken, spürte plötzlich einen heftigen Schmerz in seinem Rücken, als Corinne eine ihrer Klingen ohne Rücksicht auf Verluste in ihn hinein rammte. Das Knochengerüst seiner Flügel und die Bewegungen wurden somit eingeschränkt. Brüllend vor Schmerz packte er hinter sich und riss die Frau an den Haaren, die sich nur noch energischer an ihre Waffe krallte und schließlich die zweite Klinge in ihn hinein rammte. Das war meine Chance. Als meine Angriffe mehr gekommen waren und auch Tian nicht in mein Blickfeld trat, wagte ich es, zu den zerstörten Fenstern zu eilen. In einer Hand hielt ich das Buch. In der anderen eine Halskette. Der unerbittliche Kampf wurde in der Luft fortgesetzt. Ungeschickt öffnete ich die Seiten und suchte nach dem Spruch. Laut vorlesend hielt ich die Kette in die Höhe. Die Worte, zweifelsohne nicht japanisch, soviel weiß mittlerweile sogar ich, verließen schließlich sogar ohne lesen meine Lippen. Ich konnte sie alle hören, die Frauen, die vor mir gekämpft hatten. Sie waren alle hier. So wurden wir nur noch lauter, bestärkt durch die jeweils anderen und riefen eine uralte Magie. Ein warmes Gefühl ging von Evelyn aus. Auch Lilli, die gerade die letzten Stufen geschafft hatte, konnte es fühlen. Sie legte zittrig eine Hand an ihre Brust und sah nach oben. Ihr Körper begann zu leuchten, genauso hell wie ein Stern am Firmament. Die Beschützer der Priesterin, der Stern war ein Teil dieser alten Kraft. Gruselig war nur, dass sie nicht nur das Licht der Lebenden spüren konnten. Dennoch lag ein Lächeln auf ihren Lippen. Das Beben verringerte seine Kraft, die hohe Welle, die vor der Küste gelauert hatte, zog sich wie von Geisterhand zurück und zeitgleich bündelte sich die Kraft von Magie, Liebe und Mut in einer kleinen Kette, die Yara mit letzter Kraft gegen Tian schleuderte. Das goldene Geschoss leuchtete mystisch, weitete sich aus und bildete ein Netz, welches sich fest um Tian schlang und seine Flügelschläge zum erliegen brachte. Corinne sprang in aller letzter Sekunde ab und landete ungeschickt in Yaras Armen. Der Geflügelte fiel hinab und prallte schmerzhaft auf dem Boden auf ohne zu sterben. Egal wie stark diese Magie auch war, sie hatte nicht die Kraft etwas so mächtiges wie einen Seelenwanderer zu töten. Corinne und ich hielten uns aneinander fest und horchten einen Moment nur auf unsere Atemzüge, die hektisch umher flatterten. Dann sahen wir uns an und konnten nicht anders als vor Glück losprusten. „Wir hatten ja schon immer gewusst, dass du eigentlich ein kleiner tasmanischer Teufel bist“, lachte ich. Nur einige Stunden später war die Polizei, alarmiert durch die Mitarbeiter des Souvenir-Handels, vor Ort. Man befragte uns, doch wir wussten nicht, was wir sagen sollten. Die Männer in Uniform brachten mit keinem Wort die Flügel zur Sprache, die man ganz eindeutig an Tian sehen konnte. Auf englisch fragten sie nur immer energischer, warum der Mann da am Boden so komisch da lag und nicht aufstehen konnte. Sie versuchten ihn hoch zu ziehen und schließlich zu halten. Doch sie mussten einsehen, dass es leichter war, ihn liegen zu lassen. Zumal er kein Wort sprach. Ich sag nur alte Magie... „Macht Platz!“ Eine herrische Frauenstimme drang durch die Menge, ehe diese sich teilte und eine kleine Gruppe in Sicht kam. Anour begriff kein bisschen was hier geschah. Er war einer derjenigen, die von den Polizisten zurück gehalten wurde. Irgendwann hatte er aufgegeben zu mir zu gelangen. Ich sah wieder zu der kleinen Gruppe von Japanern hinüber, die auf uns zukamen. „Es tut mir Leid für die Umstände“, sagte der Mann in einem langen Mantel und neigte ergeben den Kopf. „Oh, that's no problem but... Wie?“ Hatte er gerade meine Sprache gesprochen? „Nein, wirklich. Das Ganze hier ist mir äußerst peinlich!“ Mit finsterem Blick sah er zu dem Polizisten hin, der noch immer meinen Arm fest umklammert hielt. Plötzlich löste sich sein Griff und auch meine Freundinnen waren unvermittelt frei. „Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Yuuki Won. Ich bin der Bereichsleiter von Japan.“ Na toll, noch ein Mensch mit diesem Namen. „Was... was für ein Bereich???“ Hatte ich denn nicht schon genug Probleme gehabt? Warum redeten hier alle nur Bahnhof. „Bitte kommen Sie alle hier herüber. Ich werde es ihnen erklären.“ Höflich führte er uns weiter weg von der Menschensammlung, was Anour völlig missfiel. Aufgebracht rief er uns hinter her und versuchte wieder an den Wachen vorbei zu kommen. „Alles in Ordnung, Anour...“ Das klang so schrecklich merkwürdig. Ich begriff gar nichts und Anour flippte da hinten noch völlig aus. „Yara!“ War ja klar, dass er nicht einfach aufhören würde. Seine Rufe wurden schließlich leiser, als wie weiter um den ramponierten Tempel herum gingen. „Meine Damen, zu aller erst möchte ich Ihnen allen danken! Sie haben nicht nur Japan sondern die ganze Welt gerettet. Wir alle schulden Ihnen unser Leben.“ „Sie wissen davon?“, rief ich überrascht aus und schlug mir die Hände vor den Mund. „Natürlich. Hatten Sie gedacht, dass in all den Generationen kein Wissen mehr über die Kämpfe der Priesterinnen und Priester bestehen würde?“ Was sollte ich darauf schon antworten? Ja, ich hatte wirklich nicht gedacht, dass es eine Organisation geben würde, die darüber Bescheid wusste? Und doch waren sie jetzt hier. Die Minuten, in denen er uns das Nötigste erklärte, verstrichen. Die Dunkelheit war bereits über uns herein gebrochen, als er endlich seinen Monolog beendet hatte. Wir wussten jetzt immerhin soviel, dass es schon seit Jahrhunderten eine Gruppe von Leuten gab, die übernatürliche Angriffe bekämpften. Die Geflügelten waren nur ein Teil von all den Wundern, die sie schon gesehen hatten. Ihr wisst schon UFO's und so nen Kram, denn es nicht wirklich gibt... oder doch? Jedenfalls gibt es an vielen Orten, verdeckt unter anderen Organisationen, wie zum Beispiel Gefängnissen, Operationsorte, an denen Mitarbeiter ausgebildet, geschult und ausgeschickt werden, um dem Bösen Herr zu werden. Dieser Herr Won entschuldigte sich noch ein paar mal in japanischer Manier für seine Verspätung. Angeblich hatten sie viel zu spät von dem Angriff erfahren und waren schließlich mit einem Bus kollidiert, der gerade vom Tempel aufgebrochen war und dann die Straße blockiert hatte. Außerdem sei ihnen ein Herr begegnet, der nicht zu beruhigen war. Ich vermute auch heute noch, dass dieser Bereichsleiter und mein Geschichtslehrer verwandt sind und er uns deshalb alles so genau erzählt hat. „Und... was geschieht nun?“ Er schien auf diese Frage vorbereitet zu sein und antwortete ohne zu zögern. „Nun, wir werden ihn an Deutschland überführen und an einem geheimen Ort verwahren. Das Buch aber wird in unserer Obhut bleiben.“ Er musterte mich kritisch. Unschuldig sah ich zurück. „Welches Buch?“ „Bitte, lassen Sie uns gemeinsam dem hier ein Ende setzen und zu unserer verdienten Ruhe zurück kehren.“ Als ob er hier Blut und Wasser geschwitzt hätte. Dennoch, nach kurzem Zögern legte ich den Kopf geschlagen zur Seite und schnippte mit den Fingern. Direkt vor meiner Nase tauchte das schwere in Leder gebundene Buch wieder auf und fiel in meine bereits vorgehaltenen Hände. Dankbar nahm mir Herr Won das Relikt ab und lächelte mich an. „Vielen Dank! Wie ich sehe besitzen Sie ein gutes Gespür für Tarnungsmagie.“ Ich brummelte etwas unverständliches vor mich hin. Meine Freundinnen kicherten. „Wie bitte?“, fragte Herr Won höflich. „Ach, sie meinte nur, dass sie das als nächstes bei dem anderen Herrn Won in Gesch... mmmmmmmmm!“ Hastig hatte ich meine Hand vor Corinnes Mund geschlagen. Man hätte doch erwarten können, dass diese Erfahrungen in den letzten Stunden sie verändert hatten. Falsch gedacht. „Bitte?“ Jetzt klang der Bereichsleiter nicht mehr ganz so höflich. „Sie dürfen diese Magie, die Ihnen geschenkt wurde, nicht einfach so für Ihre niederen Zwecke missbrauchen!“ „Nein, nein, natürlich nicht“, warf ich hastig ein und versuchte Corinne mit meinen Blicken vor weiteren Worten abzuhalten. „Herr Won, wir sind hier vorne nun fertig.“ Einer seiner Untergebenen hatte sich zögerlich genähert. „Sehr gut. Nun, meine Damen, ich denke, Sie brauchen jetzt ebenfalls ein bisschen Ruhe, nicht wahr? Wir werden Sie begleiten und in einem unserer besten Hotels unterbringen.“ Mit diesen Worten führte er uns wieder um das Gebäude herum. Tian, die Polizisten und die Mitarbeiter waren verschwunden. Dort war nur noch Anour, der sich hartnäckig weigerte, auch nur einen Zentimeter zu weichen. Als er mich erblickte, brach der Tumult nur wieder von vorne los. „Kennen Sie den Herrn?“ „Ja, ist schon in Ordnung...“ Ein knapper Befehl auf Japanisch und Anour wurde los gelassen. „Yara! Was um Himmelswillen geht hier vor?“ Ich sah zu meinen Freundinnen, deren Blick ich nur zu deutlich lesen konnte. „Weißt du, Anour. Ich hoffe, du hast ein bisschen Zeit mitgebracht. Das kann etwas länger dauern. Ja, ich würde ihm wirklich die Wahrheit erzählen. Aber noch nicht jetzt. Epilog: 4 Jahre später ---------------------- Laute Musik, der Bass hämmert in meinen Ohren. Meine langen Haare fliegen durch die Luft, mein Körper bewegt sich völlig automatisch. Und dann singe ich mit. So laut wie es hier ist kann mich sowieso keiner hören. Und da meine Augen geschlossen sind, kann ich auch nicht sehen, ob mich irgendwer blöde anguckt. Ok, jetzt muss ich sie doch öffnen. Selbstsicher grinsend singe ich trotzdem weiter. Vor mir Lilli, Evelyn und Corinne. Gemeinsam bilden wir den Chorus, singen so laut wir nur können. „Oh what a night! I guess you're ready for the show! Live where be free again! Oh what a night! I guess you got to let me go! Live where be innocence!“ Ganz ehrlich, vielleicht waren wir völlig bekloppt. Aber Guano Apes wusste wirklich, wie man Stimmung aufheizte. Ich liebe es. Ja, das Lied auch. Aber ich liebe das Leben! Ich könnte noch ewig so weiter machen. Mich drehen, die Hände in die Höhe, Hüften kreisen und Singen bis ich heiser bin. „Yara!“ Huch? Hatte ich etwas gehört? „Yara!“ Ich drehte mich zu Corinne herum. Hatte ich mich doch nicht geirrt. Energisch tippte sie auf ihre Uhr. Oh Gott! Ich musste los! Schnell drückte ich allen einen Kuss auf die Wange und quetschte mich zwischen den Tanzenden hindurch. Sicherheitshalber drückte ich mein kleines, nein, winziges Handtäschchen ganz eng an mich. Schnell noch an der Kasse bezahlen und hinaus. Die Taxis warteten bereits und witterten fette Beute mit betrunkenen Insassen. Leider war ich völlig nüchtern und zudem noch zurechnungsfähig. Nachdem ich dem Fahrer ohne Lallen die Adresse angegeben hatte fügte ich noch ganz lapidar hinzu: „Und keine Tricks, ich kann ihren Zähler von ihr aus gut sehen.“ Lächelnd sah ich aus dem Fenster und beobachtete die Straßenlaternen, die an uns vorbei zischten. „Ich bin wieder da!“ rief ich in meine Wohnung. „Pünktlich wie die Maurer! War's schön?“ Eine Stimme ohne Fleisch und Blut. Bis er um die Tür herum kam. Anour trug bereits meinen Sohn voll angezogen auf den Armen, der sich verschlafen die Augen rieb. „Mammi....“ nuschelte er, als er mich erblickte. „Wir müssen los, mein Liebling.“ Anour küsste mich zuerst kurz, dann setzte er den Jungen ab und drückte mir die Autoschlüssel in die Hand. „Ihr könnt euch ja kurz melden, wenn ihr auf dem Rückweg seid.“ Ich war schon auf dem Weg zur Tür und rief zurück: „Machen wir! Bis später!“ Und zu meinem Sohn „Los, Sky!“. Der arme Junge, es war doch erst 4 Uhr in der früh. Die Autobahn war selbst zu dieser Stunde nicht unbefahren. Ich befand mich irgendwo zwischen 120 und 160 km/h. Also definitiv nicht die rechte Spur, wenn ihr versteht. Der Kilometerzähler lief und lief. Die Entfernung war eigentlich nicht von Bedeutung. Solange mein Sohn es sich wünschte, würde ich jedes Jahr diesen Weg auf mich nehmen. Und er hätte so oder so kein Problem damit. Sky schlief bereits nach wenigen Kilometern wieder in seinem Kindersitz ein. Vier war er mittlerweile. Erstaunlich wie schnell doch die Zeit vergeht. Ich sah auf meine Uhr. 8 Uhr, gleich würden sie die Insassen wecken. Das Gebäude vor uns war gesichter mit Maschendrahtzaun, Kameras, hohen Mauern, Hunden und jede Menge Paar wachsamer Augen. Nachdem die Kirchturm Uhr aufgehört hatte zu schlagen, begann mein Sohn aus vollem Halse das Happy Birthday Lied zu krächzen. „Happy Birthday to youuuuuu! Happy Birthday to youuuuuuuuu! Happy Birthday lieber Papa!!!! Happy Birthday... tooooooo...... yooooouuuuuuuuu!!!“ Jedes Mal ein Grund für mich einen Lachanfall gerade noch unter Kontrolle zu bekommen. Japsend stand er neben mir, während ich tief einatmete und die Augen schloss. Es kam mir vor, als könnte ich sein bitteres Lachen hören. Schon witzig wie das Schicksal einem einen Strich unter die Rechnung macht. Erst die Hand meines Kindes, die begierig die meine suchte, lies mich meine Augen wieder öffnen. „Das war sehr schön.“ Ich meinte das wirklich ehrlich. Gemeinsam gingen wir zum Auto zurück. Vor uns befand sich wieder eine vierstündige Fahrt. Sky drehte den Kopf zu mir und musterte mich kritisch. „Hm?“ „Mammi?“ „Ja?“ „Wann kommt Papi wieder?“ ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)