Die Mauer von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Die Mauer -------------------- Ludwig konnte seinen eigenen Atem in der eisigen Winterluft sehen. Er hauchte einmal in die Hände, rieb sie aneinander und vergrub sie wieder tief in den Taschen seines Mantels. Er hatte gedacht, er würde keine Handschuhe brauchen. Seine Hunde liefen einige Meter vor ihm, tollten im Schnee umher. Er beobachtete sie und lächelte beinahe. Es wäre besser, umzukehren. Schon eine Stunde lief er jetzt an der fast vier Meter hohen Betonmauer entlang. Nur noch fünf Minuten, sagte er sich. Fünf Minuten werde ich noch warten. Es war albern. Die Wahrscheinlichkeit war gering; hatte er doch keine Ahnung, was dort drüben passierte. Einer seiner Hunde wälzte sich im Schnee. Außer Ludwig und seinen Hunden schien niemand draußen zu sein. Jedenfalls konnte er nichts hören, was darauf hingedeutet hätte. Der Schnee, sanft in weißen Kristallen zu Boden fallend, hüllte die ganze Welt in winterliche Stille. Alles war weiß und doch wirkte es finster. Es war keine friedliche Ruhe, viel mehr ließ es ihn an beklommenes Schweigen denken. Und die Decke aus Schnee war nicht leicht; sie war schwer und bedrückend und er war einsam, allein in diesem unerträglich weißen Wirbel aus Schneeflocken- Schritte. Dann eine Stimme. „Eh, du! Geh nicht so nah an die Mauer, hörst du!“ Das musste ein patrouillierender Soldat von der anderen Seite sein. Ludwig konnte ihn nicht sehen, obwohl er so nah klang. „Reg dich ab“, erwiderte eine andere Stimme, höher und irgendwie herablassend klingend. Ludwig blieb abrupt stehen. Bruder. „Wenn ich rüberklettern wollte, hätte ich einen Enterhaken mitgebracht. Oder eine Leiter.“ Wieder Schritte. Ludwig wusste nicht, ob es Gilbert oder der Soldat war, der sich entfernte. Wenn er jetzt sprach, und der Soldat war noch in der Nähe, würde man Gilbert wahrscheinlich festnehmen. Aber wenn sein Bruder wegging, hätte Ludwig ganz umsonst gewartet- Ein kleiner, gelber Vogel tauchte plötzlich auf der Mauer auf. Er piepte ein paar Mal, hüpfte dann nach links auf dem Beton entlang. Ludwig folgte ihm ein Stück, hörte Schritte auf der anderen Seite im Schnee und wusste, dass Gilbert neben ihm ging. Als der Soldat sich weit genug entfernt zu haben schien, hob der große Bruder erneut die Stimme. „West?“ Ludwig atmete erleichtert auf. „Gilbert!“ Seine Hunde kamen neugierig auf ihn zugerannt, sahen ihn fragend an. Er streichelte sie und wandte den Kopf dorthin, wo Gilbert stehen musste; wo er aber nur kalten, nackten Beton sah. „So nennt man mich. Wartest du schon lange?“ „Nein.“ „Lügner.“ Ludwig kannte diesen Ton nur zu gut und hatte deutlich vor Augen, wie Gilbert grinste. Seine Schritte hielten inne und auch Ludwig blieb stehen. „Wie geht es dir?“, fragte der Blonde schließlich. „Könnte besser sein. Dir?“ Ein Klappern ertönte, dann ein merkwürdig rauschendes Geräusch. „Es geht. ... Gilbert?“ Wieder das rauschende Geräusch. „Ja?“ „Was machst du da?“ „Widerstand leisten.“ „...“ Gilbert lachte auf. „Mach nicht so ein Gesicht! Ich kann förmlich hören, wie du die Stirn runzelst! Ignorier' es einfach.“ „Aber-“ „Und, wie ist die Luft da drüben?“ „Kalt“, erwiderte Ludwig trocken, verschränkte die Arme und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer. Sein Bruder war so nah; nur etwa zwanzig Zentimeter Beton trennten sie voneinander – doch das war offenbar genug. Genug, um Länder, um Familien, um Freunde auseinander zu reißen. Genug, um Schmerzen zu bereiten, um Tränen zu herbeizuführen. Doch anscheinend nicht genug, um Gilberts Willen zu brechen, für den sein kleiner Bruder ihn so bewunderte. Wieder das Klappern und dann das Rauschen. Gilbert lachte auf. „Ach was. Ich dachte, ihr hättet Hochsommer da drüben.“ Endlich fiel Ludwig ein, woher er dieses Geräusch kannte. Erschrocken stieß er sich wieder von der Wand ab und starrte sie an, als könne er den anderen durch den Beton hindurch sehen. „D-Du hast da doch nicht etwa eine Farbsprühdose?“ „Nein, das ist Haarspray“, erwiderte Gilbert sofort und wieder konnte man förmlich das Grinsen aus seinen Worten heraushören. Ludwig legte eine Hand über die Augen und atmete tief durch. „Lass das lieber sein“, sagte er bemüht ruhig. „Wenn die dich erwischen-“ „Bin eh gleich fertig“, erwiderte der Albino gelassen. „Und hier ist weit und breit keine Menschenseele.“ „Was schreibst du überhaupt?“, fragte Ludwig, unsicher, ob er es tatsächlich wissen wollte. „Nichts Besonderes. Die üblichen Parolen.“ Die Hunde bellten Gilbird an, der sich einen Spaß daraus machte, knapp außerhalb ihrer Reichweite über ihren Köpfen umher zu schwirren. Der Schneefall wurde stärker. Ludwig lehnte sich wieder an die Mauer, lauschte dem Klappern und Sprühen und dem gleichmäßigen Atmen seines Bruders, das er über die Mauer hinweg zu vernehmen glaubte. Irgendwann hörte das Sprühen auf. „... West?“ „Ja, Bruder?“ „Musst du bald wieder gehen?“ Seine Stimme war jetzt näher und Ludwig hatte vor Augen, wie sich Gilbert auf der anderen Seite an genau der gleichen Stelle gegen die Mauer lehnte. Sie standen Rücken an Rücken, ohne einander zu berühren. „Nein. Ich kann bis heute Abend bleiben, wenn du willst.“ „So war das nicht gemeint!“, kam es auf einmal heftig von der anderen Seite. „Ich frag nur, weil du nichts mehr sagst. Wenn du dich langweilst, kannst du auch gehen...“ „Ich langweile mich nicht.“ Kurzes Schweigen, dann: „Ha, offenbar weißt du meine Gesellschaft wenigstens zu schätzen.“ Ludwig seufzte und ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen. „Wir sollten hier ein Loch reinbohren...“, murmelte Gilbert auf einmal nachdenklich und das Rascheln von Stoff sagte dem Blonden, dass er sich von der Wand wegdrückte und sie wahrscheinlich nachdenklich musterte. „Du willst es wirklich darauf anlegen, oder?“, fragte er argwöhnisch. „Ivan wird-“ „Rede bloß nicht von dem!“, unterbrach Gilbert ihn. „Und das deutsche Volk wird sich bestimmt nicht von den Alliierten unterkriegen lassen!“ Wie um das zu unterstreichen, begann er wieder mit dem Sprühen. Ludwig öffnete den Mund und wollte etwas antworten, doch da wehte auf einmal eine andere Stimme zu ihm herüber – es war weder Gilberts noch die des Soldaten. Diese Stimme war sanft und zugleich bedrohlich. Sofort tauchte das Bild eines großen, stämmigen Mannes mit hinterhältigem Lächeln vor Ludwigs geistigem Auge auf. „Darf ich fragen, was du hier tust?“ Das Sprühen stoppte sofort. Ein Rascheln war zu hören, als Gilbert herumfuhr. „Das nennt sich Kunst“, erwiderte er höhnisch, doch das Zittern in seiner Stimme verriet ihn. Er hatte Angst. Ludwig stand reglos da – wusste er doch, dass er nichts tun konnte. Schnee knirschte unter schweren Schuhen. „Wir wollen doch nicht die schöne Mauer beschmutzen, oder, Gilbert...?“ Ivans Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Wie gesagt, es ist Kunst“, beharrte der andere. Sein Bruder stand auf der anderen Seite ballte die Hände zu Fäusten. „Lass ihn in Ruhe, Ivan.“ „Oh!“ Er klang amüsiert. „Heimliches Treffen der Brüder an der Mauer...? Wie rührend.“ „Halt die Klappe“, fauchte Gilbert. „Ich mag es nicht, wenn du unhöflich wirst“, entgegnete Ivan glatt. Ein Geräusch ertönte, als würde etwas aus einer Tasche gezogen- „Nein!“, rief Ludwig, doch da ertönte schon ein lauter Knall, gefolgt von einem Schmerzensschrei. Der Blonde schlug mit den Fäusten gegen die Mauer. Seine Hunde winselten unruhig. „Gilbert...!“ „Es gibt keinen Grund, so laut zu werden“, sagte Ivans Stimme ruhig. „Du weißt, dass er nicht sterben kann. Obwohl es so aussieht, wenn man sich das ganze Blut anschaut, das aus der Schusswunde in seinem Bauch kommt... Nun, das nenne ich Kunst.“ Gilbert stöhnte auf. „Du... verdammter...“ „Was, hast du noch nicht genug? Warum können wir nicht einfach alle Freunde sein?“ Ludwig zitterte jetzt. Er war eine Nation, also warum konnten ihn ein paar Zentimeter Beton aufhalten? „Ich schieß' mir lieber selbst ins Knie, bevor ich dein Freund werde...“, keuchte Gilbert. Sein Bruder riss die Augen auf. Hör auf... „Das lässt sich einrichten.“ Ivan klang amüsiert. Ein weiterer Schuss. Gilberts Schrei hallte in der grausam weißen Winterlandschaft wider. „Ich schlage vor, du lässt es jetzt gut sein“, sagte Ivan und ignorierte die Schreie des anderen vollkommen. „Und ich schlage vor, du fährst zur Hölle.“ Hör auf. Hör auf! Ludwig fuhr sich durch die Haare und legte die Händen an die Mauer, schüttelte den Kopf und schlug schließlich mit einem Aufschrei wieder gegen die Wand, als abermals ein Schuss erklang. Gilbert stöhnte und Ludwig hatte es deutlich vor Augen. Rot auf weiß. Blut sickerte in den kalten Schnee. „Vielleicht möchtest du dich jetzt entschuldigen?“, fragte Ivan und klang nun immer bedrohlicher. „Du kannst mi-“ „HÖR AUF!!“ Gilbert verstummte und Ludwig sank auf die Knie. „Hör auf, Gilbert... Lass es sein. Bitte.“ Ein Kichern war zu hören. „Ja, hör auf das Brüderchen.“ Ludwig dachte, Gilbert würde nicht anders können, als darauf etwas zu erwidern. Doch er schwieg. Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien. Nach einigen Sekunden, in denen einzig Gilberts röchelndes Atmen zu hören war, sagte Ivan: „Ich würde sagen, die Vorstellung ist vorbei. Gehen wir.“ Wieder war das Rascheln von Stoff zu hören, das Knirschen von Schnee. „Bis bald, Ludwig“, kam es noch fröhlich von Ivan, ehe sich seine Schritte langsam entfernten. Der Blonde antwortete nicht. Stattdessen sprach er leise seinen Bruder an. „Gilbert...“ „Schon okay, West.“ Seine Stimme klang schwach. „Er hat Recht, ich kann nicht sterben. Und ein Preuße kennt keinen Schmerz. Haha...“ Er hustete und es klang, als fiele noch mehr Blut in den Schnee. „Na dann... wir sehen uns. Oder hören uns zumindest.“ Und damit schleppte sich auch Gilbert davon. Ludwig starrte die Mauer mit leerem Blick an und lauschte. Stille. Der Schnee verschluckte schon bald jedes Geräusch, das sein sich von ihm entfernender Bruder erzeugte. Erst, als einer seiner Hunde ihn mit der Nase anstupste, blinzelte er und richtete sich langsam auf. Er wollte sich gerade auf den Rückweg machen, als er wieder Schritte hörte. Der Soldat war wieder da. „Nanu, was ist denn hier passiert? Ich hab ihm gesagt, er soll von der Mauer wegbleiben...“ Zuerst wollte Ludwig ihn einfach ignorieren, doch dann sagte er: „Hey, Sie da.“ „Was? Man darf nicht über die Mauer hinweg Gespräche führen.“ Der Blonde seufzte. „Ich weiß. Nur sagen Sie mir bitte eines – was steht an der Mauer?“ Es klang, als würde sich der Soldat kurz umsehen, ehe er antwortete: „Das war vorhin aber noch nicht da. Hm, da steht... Die Mauer wird fallen. Kämpft für ein vereintes Deutschland. Haha, ja, viel Glück damit, Kumpel...“ Ludwig runzelte die Stirn und sagte nichts. „Oh Moment, da steht noch was. In klein. Gilbert ist ein Adonis...? Na, dem ganzen Blut nach zu schließen ist er jetzt ein toter Adonis.“ Der Soldat lachte und schien weiter zu gehen. Noch immer sagte Ludwig nichts. Gilberts Botschaft war eindeutig. Kämpft. Sie durften nicht aufgeben. „Ist gut, Bruder“, murmelte er und wandte sich endlich zum Gehen. „Eines Tages wird das alles hier ein Ende haben. Eines Tages wird die Mauer fallen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)