Seelensplitter von Moonprincess ================================================================================ Ägypten II: Rituale des Erwachsenwerdens ---------------------------------------- Für die nächsten fünf Jahre war Briefe schreiben für Atem die einzige Möglichkeit, Kontakt mit Heba zu halten. Bis Mistines jüngerer Bruder Antes das Königspaar ermorden ließ und sich selbst zum neuen König Hardas krönte. Danach hörte Atem kein Wort mehr von Heba und seine eigenen Briefe erreichten Heba, wie er später erfuhr, auch nicht mehr. „Kannst du nicht etwas tun, Papa? Wir müssen Heba irgendwie helfen!“ Atem stützte sich auf das polierte Holz des Schreibtischs seines Vater. Seine Augen funkelten geradezu vor Entschlossenheit und Tatendrang. „Offiziell gibt es bis jetzt keinerlei Beweise, daß Antes für den Tod seines Bruders und seiner Schwägerin verantwortlich ist und ich bezweifle, daß noch einer auftauchen wird. Der Meuchelmörder liegt sicher schon längst im Bauch eines Krokodils. Ohne einen Beweis kann ich keinen Krieg gegen Harda beginnen. Unsere Feinde würden diese Schwäche zu ihren Gunsten ausnutzen.“ Aknamkanon sah müde aus. Der Tod seines Freundes hatte ihn sehr mitgenommen. „Aber... Wir müssen doch etwas tun! Für Heba.“ „Im Moment ist Heba sicher. Antes braucht seinen Neffen, um seinen Anspruch auf den Thron gültig zu machen. Vorerst kann er behaupten, daß er das Land nur in Vertretung Hebas regiert bis dieser das Mannesalter erreicht hat. Eine unüberlegte Aktion unsererseits wird Heba aber mehr schaden als nützen.“ Aknamkanon erhob sich und umrundeten den Tisch, so daß er neben seinem Sohn stand. Er legte dem Jungen beide Hände auf die Schultern und sah ihn ernst an. „Wenn ich dort einmarschiere, kann Antes aufgrund eurer Korrespondenz behaupten, Heba hätte mit mir gegen sein eigenes Land konspiriert. Hochverrat wird immer hart bestraft.“ „Zum Regieren ist Heba also zu jung, aber um eine Verschwörung anzuzetteln nicht? Das ergibt keinen Sinn!“ Atem war frustriert. „Antes wird sich die Wahrheit so zurechtbiegen wie sie ihm nützt. Heba kann der Kronprinz von Harda sein, dann übersehen die Leute sein Alter, oder er ist ein kleiner Junge, der nicht regieren kann. Der Blickwinkel kann viel verändern.“ Atems Schultern sackten verzweifelt nach unten. „Warum hat Antes das getan? Ich verstehe es einfach nicht.“ „Antes wurde von seiner Gier nach Macht geblendet, mein Sohn. Es ist sehr leicht, diesem Teil in einem selbst nachzugeben, und zuerst findet man immer eine gute Ausrede, warum man diese Macht haben will. Um jemandem zu helfen oder um die Zustände um einen herum zu verbessern. Aber Macht verdirbt schnell den Charakter und dann will man noch mehr Macht. Dieser Pfad bringt nur Unglück über einen selbst, seine Liebsten und das Volk. Vergiß das niemals, Atem! Du mußt lernen, dich von solchen Versuchungen nicht verführen zu lassen.“ „Ich bin nicht wie Antes!“ Empört trat Atem zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich würde Heba niemals wehtun!“ „Nein, das bist du bist nicht, Atem.“ Aknamkanon schüttelte den Kopf. „Aber das heißt nicht, daß du vor Machtgier geschützt bist. Du bist noch sehr jung und mußt viel lernen, damit du einmal als Pharao weise und gerecht regieren und der Maat dienen kannst. Auf diesem Weg gibt es viele Hindernisse und erst wenn du sie überwunden hast, hast du deinen Titel wahrhaft verdient. Eine Krone macht aus dir noch keinen König, genauso wie ein Schwert in der Hand eines Knaben aus diesem auch noch keinen Krieger macht.“ „Werde ich jemals ausgelernt haben?“ seufzte Atem. „Mir platzt schon der Kopf aus allen Nähten von all den Sachen, die ich wissen muß. Sprachen, Diplomatie, Strategie, Geschichte, Geographie, Mathematik, Astronomie und –logie, Kriegskunst, Magie, Tempeldienst, die Grundbeherrschung aller Waffen... Ich hab keinen freien Platz mehr in meinem Kopf!“ „Du wirst die Schule verlassen, aber weiterlernen wirst du dein ganzes Leben! Ich lerne auch noch jeden Tag etwas Neues, aber mein Kopf ist, wie du siehst, noch ganz.“ Aknamkanon lachte und tippte sich gegen die Schläfe. „Ich weiß ganz genau, daß deine Ausbildung sehr hart ist, schließlich habe ich sie selbst auch einmal durchlaufen, aber verlier nicht den Mut. Sei fleißig und gib niemals auf!“ Atem nickte nachdenklich. „Danke. Ich wünschte nur, daß ich etwas für Heba tun könnte, Papa.“ „Das ist die schwerste Lektion von allen, mein lieber Junge: Zu lernen, nichts zu tun und abzuwarten.“ „Worauf soll ich warten?“ „Auf eine Möglichkeit, Heba zu helfen ohne seine Situation zu verschlechtern.“ Aknamkanon warf Atem einen aufmunternden Blick zu. Die Tür öffnete sich. „Pharao?“ Akunadin trat ein. „Die Audienz beginnt gleich. Ich habe die benötigten Papyri hier, wie von Euch verlangt.“ Erst dann sah er Atem. „Hoheit, seid gegrüßt.“ „Seid gegrüßt, Akunadin.“ Atem lächelte, aber sein Herz war nicht dabei. Er mußte an Antes denken und daran, daß Heba ihm nun hilflos ausgeliefert war. Vielleicht deswegen, weil Akunadin sich seit der Ankunft des jungen Set anders benahm. Warum, das konnte Atem nicht sagen, aber er wußte, daß Akunadin wie Set treue Anhänger der Krone waren. Er sah offenbar schon Gespenster vor lauter Sorge um Heba. „Am besten du gehst jetzt und lernst noch etwas.“ Aknamkanon lachte als Atem mit den Augen rollte. „Ich bin ja schon weg“, murmelte Atem, verbeugte sich kurz vor seinem Vater und ließ ihn mit Akunadin allein. Atem war unzufrieden. Er konnte nicht einfach nur dasitzen und abwarten, wenn ein Freund seine Hilfe brauchte. Mit Nefertiti hatte er schon geredet, aber sie war genauso ahnungslos wie er selbst, wie man Heba retten könnte. Also beschloß er, seine Mutter um Rat zu fragen. Sie war eine kluge Frau, vielleicht fiel ihr etwas ein. Er rannte in die Gemächer seiner Mutter und kam schlitternd vor der Liege zum Stehen, auf der sie lag. Ebe hob ihren Kopf und blinzelte. Mit einer Hand strich sie über ihren geschwollenen Bauch. „Atem? Schatz, was hast du denn? Du bist ja vor Aufregung ganz rot im Gesicht.“ „Mama, du mußt mir helfen!“ „Wobei denn, mein süßer Igel?“ Ebe rutschte auf der breiten Liege etwas und klopfte mit der flachen Hand auf das Polster. „Aber komm erstmal her und dann erzähl in aller Ruhe.“ Atem ignorierte es, daß seine Mutter ihn wieder Igel nannte. Seit ein reisender Händler einige dieser possierlichen Tierchen an den ägyptischen Königshof verkauft hatte, schien seine Mutter auf diesen Kosenamen direkt fixiert zu sein, da sie fand, Atems Frisur sähe aus wie die Stacheln eines Igels. Atem legte sich neben seine Mutter, die einen Arm um ihn legte. „Also?“ „Du hast doch gehört, daß Antes geputscht hat, nicht wahr?“ Ebe nickte. „Ja. Eine furchtbare Geschichte.“ „Ich möchte Heba so gerne helfen! Es muß doch entsetzlich für ihn sein, bei seinem Onkel leben zu müssen, nach allem was dieser unfruchtbare Diener des Seth ihm angetan hat!“ „Atem!“ Ebe sah ihren Sohn streng an. „Du weißt, ich dulde solche Beschimpfungen nicht.“ „Es ist trotzdem wahr.“ Wütend wollte Atem sich aufsetzen, aber Ebe ließ ihn nicht los. „Ich weiß, daß Heba dein Freund ist, aber ich fürchte, im Moment sind uns allen die Hände gebunden.“ Sie strich sanft durch sein Haar. „Du kannst nur die Götter bitten, auf Heba achtzugeben.“ „Papa will, daß ich abwarte und du willst, daß ich bete, Mama. Das ist so wenig!“ „Ja, aber wenig ist besser als nichts. Du mußt verstehen...“ Ebe unterbrach sich und fuhr mit einem Schmerzensschrei in die Höhe. Mit einer Hand faßte sie nach ihrem Bauch. Atem war vor Schreck aufgesprungen. „Mama? Geht es dir nicht gut? Ist es das Kind?“ Sie nickte. „Hol Hilfe“, preßte sie mit Mühe heraus. „Mama, da ist Blut!“ Atem starrte voller Grauen auf die rote Flüssigkeit, die allzu reichlich und viel zu schnell den Lendenbereich seiner Mutter rot färbte. „Geh!“ schrie Ebe, bevor sie auf die Liege sackte. Halb von Sinnen vor Angst lief Atem aus dem Zimmer und schrie nach Hilfe. Nehebka und einige ihrer Dienerinnen kamen gerade um die Ecke. „Tante Nehebka! Meine Mutter... Da ist Blut... Das Kind...“, versuchte Atem unter Tränen zu erklären, wovon er nichts verstand. Nehebkas Kopf flog zu den Dienerinnen herum. „Du holst die Heiler und die Hebamme. Du da, benachrichtige den Pharao! Lauft, als ginge es um euer Leben“, befahl sie. Dann sah sie zu Atem, der ins Zimmer seiner Mutter zurücklaufen wollte. „Du bleibst hier! Am besten du gehst in den Gemeinschaftsraum der Frauen und dort wirst du auch bleiben.“ „Aber...“ „Kein Aber! Das ist nichts für dich, glaube mir.“ Damit rannte Nehebka mit ihren restlichen Dienerinnen in das Gemach der Großen Königsgemahlin. Atem blieb tränenüberströmt zurück. Er konnte doch nicht einfach weggehen und seine Mutter alleine lassen, wenn es ihr so schlecht ging! Aber wenn er doch hineinging, würde Nehebka ihn sicher hinauswerfen. Also versteckte Atem sich hinter einer der großen Vasen, die den Gang schmücken sollten. Er sah, wie zuerst die Heiler, angeführt von der jungen Priesterin Isis, in das Zimmer eilten. Wenige Minuten später hastete Aknamkanon hinein. Der Gang vor den Gemächern der Großen Königsgemahlin füllte sich mit Priestern, Ministern, Dienern... Es schien, als würde der ganze Palast heute hier zusammenlaufen. Atem konnte das leise Gemurmel der Erwachsenen von seinem Versteck aus nicht verstehen, aber er sah die besorgten Gesichter und in einigen Augen sah er Tränen. Er weinte. Er wußte, das war schlimm, sehr schlimm! Er begann, alle Götter um Beistand anzuflehen, die sich um die Belange von Mutter und Kind kümmerten, in der Hoffnung, daß es nur besser werden konnte. Er wurde aus seinen Gebeten gerissen, als er die Stimme seines Vaters über sich hörte. Atem machte sich kleiner, da er eine Strafpredigt erwartete, aber nichts geschah. Sein Vater hatte ihn nicht bemerkt, sondern unterhielt sich leise mit Isis. Die beiden hatten wohl ein ruhiges Plätzchen für ihr Gespräch gesucht und sich dabei ausgerechnet vor die Vase gestellt, hinter der Atem saß. „Warum hast du mich auf den Gang geholt, Isis?“ „Pharao, verzeiht mir. Ich wollte mit Euch besprechen, wie es jetzt weitergehen soll. Ich wollte das nicht neben Eurer Gemahlin tun.“ „Wie weitergehen? Isis!“ „Der Blutverlust ist zu groß! Wir... wir können nichts mehr für sie tun.“ „Ebe wird sterben?“ Der Schock in Aknamkanons Stimme war so groß wie der, den Atem fühlte. „Es ist unvermeidbar. Aber wir haben noch eine Möglichkeit das Kind in ihrem Leib vielleicht zu retten, Pharao.“ „Ihr wollt sie aufschneiden.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. Atem hätte am liebsten vor Entsetzen geschrieen, als er daran dachte, daß jemand seiner Mutter mit einem Messer den Bauch aufschneiden wollte, aber sein Körper war völlig gelähmt. Aknamkanon schwieg für einen Moment. „Wenn Ebe es auch will...“ Seine Stimme brach. Leichte, schnelle Schritte entfernten sich daraufhin. Atem begann zu zittern. Nein! Sein Vater konnte das nicht erlauben. Das durfte er einfach nicht! Seine Starre fiel in dem Moment von ihm ab, als er den grauenvollen Schrei hörte. Atem sprang auf und rannte in das Zimmer seiner Mutter. „Mama! Laßt meine Mama in Ruhe!“ Mehrere Hände versuchten ihn zu greifen, aber Atem wich ihnen aus oder stieß sie zur Seite. Halb blind vor Tränen blieb er vor der Liege stehen, auf der seine Mutter lag. Ein riesiges, dunkelrotes Loch klaffte in ihrem Bauch und ihr Kopf war zur Seite gesunken. Ihre Augen waren gebrochen. „Nein“, wisperte Atem. Plötzlich wurde er gegriffen und hochgehoben. Es war Aknamkanon. „Laß mich los!“ Atem zappelte. „Laß mich runter! Warum hast du das zugelassen? Mama! Mama! Nein…“ Er schluchzte und streckte die Arme nach dem Körper aus, der eben noch seine Mutter gewesen war. Aknamkanon trug seinen Sohn aus dem Zimmer. Das letzte, was Atem hörte, war Isis’ Stimme: „Es ist hoffnungslos. Er atmet einfach nicht.“ In diesem Moment war es Atem, als würde sein Herz in Millionen kleiner Stücke zerbrechen. *** Die Nacht war schon lange angebrochen und hatte den Himmel tintenschwarz verfärbt. Atem war erschöpft und doch rastlos zu dieser späten Stunde, also wanderte er durch die zahllosen Gänge des Palastes. So viele Tagen waren seit dem Tod seiner Mutter und seines Brüderchens vergangen, so viele Tage seit der Beerdigung, aber die Bilder in seinem Kopf waren noch so frisch als wäre es erst gestern geschehen. Atem hatte damals mit Bestimmtheit das Gefühl gehabt, seinen Vater für immer hassen zu müssen, aber schon bald hatte er erkannt, daß er Aknamkanon nicht hassen konnte. Nicht er hatte Atems Mutter getötet, auch nicht Isis oder der Arzt oder das kleine Kind... Niemand war dafür verantwortlich und das machte es nur schlimmer. Es gab niemanden, den Atem in seiner kindlichen Trauer wenigstens hassen und dem er Rache schwören konnte. Er war verdammt zur Untätigkeit und diese Hilflosigkeit fraß Atem auf. Er hatte seine Mutter nicht beschützen können, genauso wenig wie seine Geschwister oder den armen Heba, der Gefangener in seinem eigenen Heim und seines eigenen Onkels war. Nichts hatte Atem darauf vorbereitet, sich jemals hilflos zu fühlen. Er war als Kronprinz eines der mächtigsten und wohlhabendsten Länder aufgewachsen. Er lernte zusammen mit seiner Schwester und seinen Freunden in der Palastschule all die tausend Dinge, die nötig waren, um Ägypten zu verstehen, zu kennen und zu regieren. Er wie auch seine Schwester wurden von den Lehrern dazu angehalten, sich immer mehr anzustrengen als ihre gleichaltrigen Mitschüler, fleißiger zu sein und ihre Lektionen schneller zu lernen. Wenn Atem nicht die Palastschule besuchte, dann war er im Hort der Magie, mußte an seiner Militärausbildung arbeiten bis er abends vor Erschöpfung fast über seinem Abendessen einschlief oder verrichtete seinen Tempeldienst. Als Pharao mußte er einmal Politiker, Diplomat, Richter, Oberbefehlshaber des Heeres, Herr aller Magier und Hohepriester aller Schreine und Tempel sein. Die Luft zum Atmen wurde dem jungen Kronprinzen immer knapper. Vor ein paar Jahren noch hatte er den halben Tag unbeschwert durch die Palastgärten tollen können und die Schrecken, denen er sich Tag für Tag stellte, waren nur seiner Fantasie entsprungen. Jetzt schien es ihm als würden mit jedem Tag die Stunden, die er allein für sich und seine Freunde haben konnte, immer weniger werden. Und schon wieder fühlte Atem sich hilflos. Wie sollte er auch anderen helfen, wenn er nicht mal sich selbst helfen konnte? Frustriert, müde und traurig lief er einen weiteren Gang hinunter. Sanfter, liebevoller Gesang kam ihm entgegen und Atem folgte ihm. Er wußte nicht, wohin, und es spielte auch keine Rolle. Die Frauenstimme zog ihn mit sich und berührte sein schmerzendes Herz. Schließlich stand Atem vor Nefertitis Zimmertür. Zögernd öffnete Atem die Tür leise einen Spalt und lugte in das Zimmer. Nehebka saß singend auf dem Boden und bürstete das schwarze Haar Nefertitis, die vor ihr kniete. Atem kam sich wie ein Eindringling vor, ein Fremdkörper. Er dachte an seine Mutter, daran, wie sie ihm jeden Abend vor dem Zubettgehen eine Geschichte erzählt oder ihm etwas vorgesungen hatte. Daran, wie sie sich immer lachend darüber beschwert hatte, daß Atems Haare einfach unmöglich zu kämmen seien und wie sanft sich doch immer dabei gewesen war, damit ihm das Auflösen der Vogelnester, wie seine Mutter die Knoten in seinem Haar genannt hatte, nicht wehtat. Atem mußte wohl geschluchzt haben ohne es selbst zu hören, aber plötzlich stand Nehebka vor ihm. Sie reichte ihm die Hand und zog ihn in das Zimmer. Sie lächelte ihn warm an und sagte ihm, er solle sich hinknien, dann könnte sie auch seine Haare bürsten. Er ließ es geschehen und als Nehebkas ruhige Stimme ihn in einen tiefen, erholsamen Schlaf sang, fühlte er das erste Mal seit dem Tod seiner Mutter so etwas wie Frieden. *** Atem schlief nun fast jede Nacht in Nefertitis Bett. Sie murrte zwar, daß Atem ihr immer die Decke wegnehmen würde, aber sie schien zu verstehen, daß er nachts nicht allein sein konnte. Tagsüber vergrub sich Atem in seinen Studien. Er arbeitete hart und es begann, sich auszuzahlen. Der ihm schier unabtragbar erschienene Berg an Aufgaben und Lektionen wurde langsam, aber stetig immer kleiner. Er schloß seine Magierausbildung ab, ebenso seine militärische Ausbildung. Fächer fielen weg sobald er den erforderlichen Wissensstand erreicht hatte und die Lehrer darauf vertrauen konnten, daß er sich sonstiges benötigtes Wissen in Zukunft selbst erarbeiten konnte. Nefertiti und Mana waren glücklich, mehr mit ihm spielen und faulenzen zu können, aber andererseits beschwerten sie sich, da die Lehrer nun natürlich von allen ihren Schülern einen ähnlichen Lerneifer wie den Atems erwarteten. Drei Jahre vergingen so wie im Flug für Atem. Einige Wochen vor seinem dreizehnten Geburtstag ließ sein Vater ihn zu sich rufen und die beiden machten einen ausgedehnten Spaziergang durch die Palastgärten. Die Luft war angefüllt mit den unterschiedlichsten Gerüchen von Blumen und Blüten aus der ganzen Welt. Vögel zwitscherten und Bienen summten eifrig von Blume zu Blume. Atem wußte, daß etwas im Busch war, soviel verriet das Benehmen seines Vaters, aber er konnte nicht sagen, was. „Also...“, begann er schließlich. „Gibt es einen besonderen Anlaß?“ „Darf ich nicht einfach mal nur mit meinem Sohn zum reinen Vergnügen Zeit verbringen?“ Aknamkanon lächelte gutmütig. „Du hast dich in den letzten drei Jahren sehr angestrengt, so sehr, daß ich schon fast dachte, du würdest bald umfallen.“ „Es geht mir gut!“ versicherte Atem und sah seinen Vater erwartungsvoll an. „Also?“ „Du bist ein aufmerksamer Beobachter geworden.“ Aknamkanon legte Atem anerkennend einen Arm um die Schulter und drückte ihn. „Beinahe ein junger Mann und kein Knabe mehr.“ Atem lachte vergnügt. „Das hoffe ich doch!“ „Nun, dann will ich dir sagen, worüber ich mir Gedanken gemacht habe.“ Aknamkanon führte Atem zu einer Bank und setzte sich. Atem folgte seinem Beispiel. „Du wirst bald dreizehn und auch, wenn es dir vielleicht früh erscheint, hast du genug Reife bewiesen, um nun offiziell in den Kreis der Männer aufgenommen zu werden. Dein Geburtstag wird außerdem dieses Jahr von einer besonders glückverheißenden Sternenkonstellation begleitet, also habe ich mich entschlossen, deine Beschneidung gleich an deinem Geburtstag durchführen zu lassen.“ Atem hatte vieles erwartet, aber nicht das. Eine Stimme in seinem Kopf schrie begeistert ‚Ich werde endlich ein Mann, ein Erwachsener sein!’, eine zweite allerdings warnte ihn: ‚Das wird wehtun, wenn sie dich beschneiden, und du darfst dich als Kronprinz noch nicht mal drücken!’. „Alles in Ordnung?“ Aknamkanon hatte den Zwiespalt seines Sohnes offenbar bemerkt. „Vielleicht wäre nächstes Jahr doch besser...“ Atem schluckte den Kloß in seiner Kehle hinunter und schüttelte den Kopf so heftig, daß seine Ohrgehänge gegen seinen Goldkragen schlugen. „Nein, dieses Jahr ist mir recht. Wenn die Sterne so günstig stehen, dann sollte ich das ausnutzen.“ „Gut, dann soll es so geschehen.“ Sein Vater war offenbar nicht völlig überzeugt, aber beließ es dabei. „Gibt es sonst noch etwas zu besprechen, Papa?“ „Ein Mann braucht eine Frau.“ „Ich soll mich vermählen?“ Vielleicht war die Beschneidung doch nicht so schlimm. „Du machst ein Gesicht als hättest du das als allerletztes erwartet.“ Aknamkanon mußte lachen. „Das ist nicht witzig.“ Atem stand auf, jeder Zoll beleidigte königliche Würde, und ging mehrmals vor seinem Vater auf und ab. „Wer soll meine Gemahlin sein?“ „Entschuldige, ich habe mich hinreißen lassen. Über das Thema habe ich mir lange Gedanken gemacht. Da du dich mit Nefertiti so gut verstehst, wie ich gehört und gesehen habe, halte ich eine Vermählung von euch beiden für das beste.“ Atem nickte. Nefertiti war ihm recht. Er kannte sie sehr gut und wußte, daß er sich auf sie verlassen konnte. Sie als seine Hauptgemahlin an seiner Seite zu haben war besser als irgendeine Fremde. „Weiß sie es schon?“ fragte er schließlich, als er sich wieder setzte. „Nein, ich wollte erst hören, was du dazu sagst. Da du einverstanden bist, haben wir dieses Jahr wohl noch eine Hochzeit zu feiern.“ Aknamkanon wirkte glücklich auf Atem. So glücklich hatte der alternde Pharao sicher seit der Zeit vor Ebes Tod nicht mehr ausgesehen. Atem beschloß, daß er auch diese Herausforderungen meistern würde. „Also, mein Junge, wenn ein Mann und eine Frau sich in Ehe verbinden wollen, dann...“ Atem sprang mit glühenden Wangen auf. „Danke, Vater, aber darüber hat Tante Nehebka mich schon zur Genüge aufgeklärt. Bis später!“ Aknamkanons tiefes Lachen folgte Atem bis in den Palast. „Mahado!“ Atem platzte wenig später keuchend in das Zimmer seines alten Freundes. Mahado schreckte von den Schriftrollen hoch, über denen er gebrütet hatte. „Mein Prinz.“ Er neigte kurz den Kopf. „Was kann ich für dich tun?“ „Laß das mit dem Prinzen, Mahado.“ Atem machte eine wegwerfende Geste. „Ich habe ein paar Fragen und ich denke, du bist der einzige, der sie mir ehrlich beantworten kann.“ Mahado schob einen Papyrus zur Seite und bedeutete Atem, sich ihm gegenüber auf einen Stuhl zu setzen. „Was für Fragen? Geht es um Magie?“ Atem schüttelte den Kopf. „Ich werde an meinem Geburtstag beschnitten und mein Vater wünscht, daß ich mich mit Nefertiti verheirate. Ich habe beidem zugestimmt.“ Falls Mahado überrascht war, zeigte er es jedenfalls nicht. „Die Beschneidung tut nicht besonders weh, wenn sie dir einen Betäubungstrank geben. Mach dir darum keinen Kopf, Atem. Für die nachfolgenden Tage gibt es gute Heilsalben.“ „Um meine Beschneidung mache ich mir keine Sorgen, das werde ich schon überstehen. Nein, es geht um meine Heirat.“ Atem beugte sich vor. „Du hast doch sicher schon mal mit einem Mädchen geschlafen, oder?“ Seine Stimme klang verschwörerisch. Mahados Augenbrauen verschwanden auf ihrem Weg nach oben unter einem dunkelbraunen Pony. „Das ist nun wirklich nichts, was dich etwas angeht.“ „Also hast du noch mit keinem geschlafen.“ Atem lehnte sich zurück und grinste herausfordernd. „Es geht dich nichts an, unabhängig davon, ob ich es nun getan habe oder nicht“, erwiderte Mahado streng. „Ich würde es dir erzählen!“ „Ich würde es nicht hören wollen, Atem.“ Mahado seufzte. „Du weißt doch, wie es funktioniert, oder?“ „Ja. Tante Nehebka hat es mir gesagt. Ich bin gerade noch meinem Vater entkommen, bevor er es mir auch noch mal erklären konnte.“ Atem verzog sein Gesicht. „Darüber will ich mich mit ihm wirklich nicht austauschen.“ „Also kommst du zu mir und steckst deine Nase in meine Intimsphäre.“ „Wir sind Freunde. Das ist was anderes. Komm schon, Mahado!“ Mahado seufzte und rieb sich über die Augen. „Ich werde dich wohl nur los, wenn ich es dir sage, nicht?“ Atem nickte. „Ich habe und es war schön. Reicht das?“ „Gibt es irgendwelche Regeln?“ „Regeln? Es ist kein Spiel, Atem! Du wirst dich schon nicht zu dumm anstellen, wenn es soweit ist.“ Atem verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich will es eben richtig machen.“ „Du wirst nicht daran sterben, einmal etwas beim ersten Mal nicht richtig zu machen“, erwiderte Mahado trocken. „Darf ich dir einen Rat unter guten Freunden geben? Entspann dich mehr! In den letzten Jahren hast du dich so dermaßen unter Druck gesetzt, daß nicht nur ich mich mehrmals gefragt habe, ob du nicht bald zusammenbrichst. Bei dem Tempo, in dem du ganze Magierstufen übersprungen hast, hätte mich das nicht gewundert. Du bist schon fast so wie Set.“ Atem hob fragend eine Augenbraue. „Eine Maske aus Eis auf dem Gesicht, besessen davon, sich zu beweisen und einen geraden Stock im Arsch.“ Mahado benutzte sonst nie so drastische Ausdrücke und gerade deshalb blieben die Worte so gut in Atems Erinnerung haften. „Vielleicht hast du recht“, gab Atem nach kurzer Überlegung zögernd zu. „Aber ich kann nicht vor jedem meine Gefühle so offen zeigen.“ „Ich weiß, aber deiner Familie und deinen Freunde brauchst du nichts vorzuspielen.“ Mahado rollte seine Papyri zusammen, dann stand er auf und holte ein rundes Spielbrett. „Was willst du mit dem Schlangenspiel?“ erkundigte sich Atem, der jede Bewegung verfolgt hatte. „Spielen.“ Mahado grinste. „Du schuldest mir noch eine Revanche, erinnerst du dich?“ „Wir haben das letzte Mal vor drei Jahren gespielt.“ Atem rutschte vor und begann, seine Spielfiguren aufzubauen. „Ja und das ist Teil des Problems.“ *** Geburtstage wurden normalerweise nicht groß gefeiert, aber da es dieses Mal auch gleichzeitig der Tag war, an dem Atem mannbar wurde, würde es am Abend ein Festessen geben. Davor aber mußte Atem sich der rituellen Beschneidung stellen. Auch wenn weder sein gerader Rücken noch seine gleichgültige Miene ihn nach außen verrieten, so schlug sein Magen dennoch heftige Purzelbäume und seine Knie fühlten sich an, als hätten sie sich über Nacht in Brei verwandelt. Eine kleine Prozession begleitete Atem durch Theben zum Tempel: Sein Vater, die Erwählten Priester und einige andere Priester und Magier. Atem wollte sich lieber nicht vorstellen, wie es sein würde, wenn alle diese Leute ihm bei diesem heiklen Moment zusehen würden. Der Eingriff machte ihn auch so schon nervös genug, aber die Demütigung, dabei beobachtet zu werden, ließ seinen Magen sich bereits jetzt zu einem harten Knoten zusammenziehen. Endlich vor dem Tempel angekommen stiegen Atem und Aknamkanon aus ihrer Sänfte, während der Rest von den Pferden absaß. Atem schluckte mehrmals. Seine Kehle war viel zu trocken. An der Spitze des Zuges betrat er den Tempel, wo die Priester sie bereits erwarteten. Wenigstens hier gab es für Atem kein bekanntes Gesicht, was seine Scham etwas milderte. Einer der Priester, kahl und mit runzeligem Gesicht, trat vor und verneigte sich. Die restliche Priesterschaft folgte seinem Beispiel. „Seid uns willkommen, großer Pharao, Prinz Atem.“ Das war das einzige, was Atem von dem langen und bedeutungsschwangeren Sermon noch mitbekam. Sobald er die Tür hinter den Priestern gesehen hatte, war er in seinen Gedanken schon in den dahinterliegenden Raum getreten. Erst ein leichter Stoß in seine Rippen holte ihn zurück. Aknamkanon warf seinem Sohn einen tadelnden Blick zu, bevor er sich bei den Priestern bedankte. Dann wandte er sich an sein Gefolge: „Ich werde meinen Sohn begleiten. Währenddessen könnt ihr hier eure Gebete und Opfer verrichten.“ Einhelliges Nicken war die Antwort. Atem fiel ein so schwerer Stein vom Herzen, daß er meinte, man müsse das Poltern noch im Palast gehört haben. An der Seite seines Vaters betrat er die Kammer, die unter anderem dieser Zeremonie vorbehalten war. Der fensterlose Raum roch nach Weihrauch und allerhand Ölen. Unter einer mehr als lebensgroßen Statue des Horus war eine hohe Liege aufgestellt worden. Auf einem Tisch daneben lag das für diese Zeremonie so unentbehrliche Feuersteinmesser. Beim Anblick dieses archaischen Werkzeugs mußte Atem sich sehr zusammennehmen, nicht die Flucht zu ergreifen. Allein der Gedanke, an welch empfindlichem Teil seines Körpers dieses Messer gleich angewendet werden würde, machte ihn schwindelig. Ein Tempeldiener präsentierte ihm einen mit einer grünlichen Flüssigkeit gefüllten Holzkelch, den Atem ohne Umschweife leerte. Das Mittel beruhigte seine Nerven ein wenig. „Mein Prinz, wenn Ihr nun bitte Euren Schendit ablegen würdet?“ Der Priester von vorhin deutete auf einen Stuhl. Atem nickte. Kurz darauf lag er bis auf Sandalen und Schmuck unbekleidet auf der Liege. Als einer der Priester ihm ein Beißholz anbot, schüttelte Atem nur stumm den Kopf. Wenn der Trank alleine ihm nicht reichte, dann hätte er gleich gar nicht hierherkommen brauchen. Sein Vater hatte hinter dem Kopfteil der Liege auf einem zweiten Stuhl platzgenommen. Es beruhigte Atems Nerven noch mehr, ihn so nah zu wissen, aber als die Priester mit ihren rituellen Gesängen begannen, mußte er allen Mut zusammennehmen, um weiterhin stillzuliegen. Eisern konzentrierte er sich auf einen unsichtbaren Punkt an der Decke. Gleich war es überstanden! Danach konnte er wirklich stolz auf sich sein. Atems Kiefermuskeln spannten sich unwillkürlich an, aber kein Laut drang über seine Lippen, als die Priester den Schnitt machten. Es kostete ihn alle Mühe, nicht an seinem Körper nach unten zu sehen, etwas, von dem ihm sein Vater dringend abgeraten hatte. Plötzlich war der Schmerz vorbei und eine kühle Masse, eine Heilsalbe, wie Atem richtig vermutete, wurde vorsichtig auf die Wundränder aufgetragen. Es war schneller gegangen als er sich gedacht hatte oder sein Zeitgefühl hatte ihm einen Streich gespielt. Woran es auch lag, es war Atem recht. Eine seltsame Euphorie ergriff von ihm Besitz. Jetzt war er kein Kind mehr und die Welt könnte ihn nicht mehr zur Tatenlosigkeit verdammen. Er war ein Mann, der mit dem, was sich ihm in den Weg stellte, fertig werden würde. Der Priester überreichte ihm, nachdem er sich wieder angezogen hatte, einen Tiegel mit Heilsalbe und gab Instruktionen, was zu beachten wäre bis die Wunde verheilt sei. Danach war das Heraustreten aus der Kammer kaum mehr der Rede wert. Mit stolzem Gesichtsausdruck nahm Atem die Glückwünsche der Anwesenden entgegen. „Du warst sehr tapfer, Atem“, wisperte Aknamkanon ihm zu, als sie den Tempel verließen. „Ich muß zugeben, wenn mich mein Vater damals nicht mit einem Pferd bestochen hätte, mich hätten noch nicht einmal die Götter selbst in den Tempel gebracht.“ Er zwinkerte seinem Sohn zu. Atem lächelte. Es fühlte sich gut an, zu wissen, daß er mit seinem Gefühlen nicht völlig allein war. „Um ehrlich zu sein: Es gab Momente, in denen ich am liebsten weggerannt wäre.“ „Wahrer Mut ist nicht, keine Angst zu haben, sondern trotz seiner Ängste zu handeln.“ Aknamkanons Lob ließ Atems Herz vor Freude und Stolz beinahe überlaufen. „Und weil du dich als so mutig bewiesen hast, hast du dir das Pferd redlich verdient.“ „Welches Pferd?“ fragte Atem als er vor dem Tempel auch schon einen weißen Hengst mit goldbeschlagenem Zaumzeug stehen sah. Ein Diener hielt die Zügel und wisperte dem schönen Tier beruhigende Worte zu. „Dieses. Wüstenläufer wird dir sicher ein guter Weggefährte sein. Er ist ein Schlachtroß und kann laufen wie der Wind.“ Atem trat vor den Hengst und streichelte bewundernd über dessen weiche Nüstern. „Da bin ich mir sicher. Wir werden uns sicher zusammenraufen, oder, Wüstenläufer?“ Der Schimmel wieherte bevor er seinen Kopf leicht gegen Atems Brust stieß. „Ich sehe, ihr versteht euch.“ Atem nickte. „Tausend Dank, Vater!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)