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Lost and Found

Wenn dich die Vergangenheit einholt ...
von

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Hear me as I cry

„Komm da runter, Ga-chan! Oder willst du dir den Hals brechen?“

„Manchmal kannst du ein richtiger Spielverderber sein, weißt du das eigentlich?“

„Und du bist manchmal so ein Kind. Ich dachte du wärst sechzehn und nicht erst sechs, aber ich habe mich scheinbar getäuscht.“

„Lass nicht immer den Erwachsenen raushängen, nur weil du vier Monate älter bist als ich, Hi-chan.“ Meine Antwort wurde von einem Lachen begleitet, während ich tatsächlich von dem Klettergerüst herunterkam und mich zu meinem besten Freund gesellte, der nur ein paar Meter weiter auf einer Bank saß und mit seinen nackten Füßen Muster in den Sand malte. Ich ließ mich neben ihm auf die Bank fallen und rutschte so weit herunter, dass mein Kopf schließlich auf der Lehne auflag und mein Blick senkrecht nach oben gerichtet war.
 

Es war ein warmer Sommerabend Anfang August und die Dunkelheit brach gerade richtig herein. Es wurde langsam spät und das hieß, dass unsere gemeinsame Zeit bald vorbei sein würde. Wir kannten uns schon seit wir ganz klein waren, wir hatten nahezu jede freie Minute miteinander verbracht und wussten alles übereinander – wirklich alles. Er hatte mir erzählt, wenn es ihm gut ging, wenn es ihm schlecht ging. Er hatte mich um Rat gefragt, wenn er die Aufmerksamkeit eines Mädchens auf sich ziehen wollte, da er darin nie besonders gut war, ich aber schon. Ich hatte ihm ebenso alles anvertraut und stundenlang zusammen mit ihm über meinen Hausaufgaben gesessen, wenn ich sie nicht selbst hatte lösen können. Er war ein geduldiger Lehrer und gleichzeitig ein aufmerksamer Schüler. Meine Kindheit, die ich nie ohne Hideto verbracht hatte, war so glücklich gewesen, wie man es sich nur vorstellen konnte. Geradezu perfekt.

Und das sollte jetzt enden, von nun an, würden wir uns allein durch das Leben kämpfen müssen. Denn er zog weg – morgen schon – weil sein Vater einen neuen Job in den USA angenommen hatte. Ich hatte mich aufgeregt und geflucht und auch geheult, als Hideto es mir erzählt hatte. Wir beide hatten geheult. Doch es war alles umsonst gewesen. Selbst unsere halb ausgegorenen Pläne, dass Hideto doch hierbleiben und bei meiner Familie einziehen könnte. So hätte er weiter in seinem vertrauten Umfeld und vor allen Dingen bei mir sein können. Aber nein ... nichts.

Herrgott nochmal, Amerika! Eine Stadt auf der anderen Hälfte von Honshu hatte ja nicht ausgereicht, es musste unbedingt die andere Seite der Welt sein! So hätten wir wenigstens regelmäßig telefonieren und uns ab und zu besuchen können. Aber Amerika war so weit weg, dass es jedes Mal ein kleines Vermögen kosten würde, wenn wir einmal länger miteinander reden wollten. Von Besuchen ganz zu schweigen.
 

„Morgen ...“, seufzte ich und schloss die Augen.

„Du weißt, dass ich dich trotzdem nicht in Ruhe lassen werde?“

„Hm ...“

„Du wirkst schon wieder so betrübt. Wir können uns Briefe schreiben.“

„Ja, Briefe.“ Er hatte Recht, ich war betrübt. Aber war das wirklich so außergewöhnlich? Klar, Briefe waren eine Möglichkeit in Kontakt zu bleiben, aber sie waren nicht dasselbe. Wenn du eine Person dein Leben lang kennst und sie (bis auf ein paar klitzekleine Ausnahmen) täglich bei ihr bist, dann ist es nicht gerade leicht, wenn diese Person wegzieht und ihr euch auf einmal nicht mehr seht.

„Ich versprech's dir, Ga-chan. Ich werd den Kontakt nicht einschlafen lassen. Dazu bist du mir einfach zu wichtig.“ Als er dies sagte, nahm er meine Hand, die bisher locker auf meinem Bauch gelegen hatte, in seine und drückte sie leicht. „Vertrau mir.“

Ich öffnete die Augen wieder und drehte den Kopf etwas, um ihm ins Gesicht sehen zu können. In seinem Blick lag die gleiche Aufrichtigkeit, mit der er mich immer bedachte. Er hatte mich in meinem ganzen Leben nie enttäuscht und ließ mich ihm Glauben schenken.

„Ich vertraue dir, das weißt du.“ Ich würde ihm mein Leben anvertrauen.

„Danke.“ Er lächelte mich an und lehnte sich dann zur Seite, legte sich der Länge nach auf die Bank und bettete seinen Kopf in meinem Schoß, um ebenfalls nach oben in den Himmel zu schauen.
 

Wir blieben eine Weile so sitzen, sahen zu, wie nach und nach Sterne am Himmel sichtbar wurden, lauschten dem Rauschen des seichten Windes, der durch die Baumkronen um uns herum strich, und schwiegen ansonsten. Worte waren nicht nötig; wir verstanden uns auch so perfekt und ich wusste, dass Hideto unter all seinem Optimismus genauso traurig war wie ich.

Wir hätten wohl die ganze Nacht auf dieser Band verbracht – was nicht unbedingt schlimm gewesen wäre, da schließlich Hochsommer war – wenn nicht irgendwann gegen halb elf mein Handy geklingelt hätte. Ich wusste, dass es meine Mutter war, die wissen wollte, wo ich war und wie lange ich noch vorhatte wegzubleiben. Und genau aus diesem Grund wollte ich nicht rangehen. Sie würde verlangen, dass ich sofort nach Hause kam und das würde Abschied bedeuten. Abschied von Hideto und unserer gemeinsamen, glücklichen Zeit.

„Ga-chan, dein Handy“, machte mich Hideto nun auch noch darauf aufmerksam. Als ob der nervige Klingelton nicht schon ausgereicht hätte.

„Ich weiß. Ich will nicht.“

„Und wenn es wichtig ist?“

„Meine Mum ist mir egal; du bist heute das Wichtigste.“

„Du wirst Ärger kriegen, wenn du nicht rangehst. Sei vernünftig, Ga-chan.“

„Du schaffst mich echt noch. Also gut“, gab ich endlich nach und schob meine freie Hand in meine rechte Hosentasche, wo mein Handy fröhlich flötete. Als ich danach fischte, hoffte ich, dass der Anrufer aufgeben würde, bevor ich das Gerät in die Hand bekommen konnte. Wenn es tatsächlich meine Mutter war, dann konnte ich darauf allerdings lange hoffen. Womöglich stand sie gerade zu Hause in der Küche und schrieb den Einkaufszettel für die nächste Woche, während sie darauf wartete, dass ich abnahm. Sie beschäftigte sich immer mit solchen Kleinigkeiten, was ihr eine unglaubliche Ausdauer verlieh. Ich brachte es schließlich über mich und drückte den kleinen grünen Hörer, der direkt unter dem Display war und hielt mir das Telefon dann ans Ohr.

„Ja?“, meldete ich mich.

„Hallo Gackt, wo steckst du gerade?“ Jap, definitiv meine Mum.

„Ich bin noch mit Hideto unterwegs. Wir sitzen im Park beim Spielplatz.“

„So spät noch? Wann habt ihr das letzte Mal auf die Uhr gesehen? Hideto muss doch sicher auch bald nach Hause.“

„Ach, Muuuuum“, maulte ich und verdrehte die Augen, „er zieht morgen weg, das weißt du doch. Lass mich noch ein bisschen, ich bin schließlich kein kleines Kind mehr. Ich-“

„Lass nur, Ga-chan“, mischte Hideto sich dann auf einmal ein, richtete sich etwas auf und sah mich wieder direkt an, „es ist wirklich schon spät.“ Ich warf ihm einen empörten Blick zu.

„Fall du mir doch nicht auch noch in den Rücken! Ich bin dabei, die Verhandlungen zu gewinnen.“

„Wie bitte, Verhandlungen?“, kam es nicht minder empört vom anderen Ende der Leitung, was ich erst einmal gekonnt ignorierte. Hier hatten jetzt andere Dinge Priorität.

„Bist du nicht und jetzt gib mal her.“ Dann nahm er mir einfach das Telefon aus der Hand, um selbst mit meiner Mutter zu sprechen. „Guten Abend, Camui-san. Machen Sie sich bitte keine Sorgen, ich werde mich sofort mit Gackt auf den Weg machen. Er wird in zehn Minuten zu Hause sein.“ In dem Moment legte er mir seine Hand auf die Brust und hielt mich auf Abstand, weil ich verzweifelt versuchte, mein Handy zurückzuerobern. „Nein, das macht mir nichts aus, morgen ist ja auch noch ein Tag ... ja, danke sehr ... vielen Dank, ich richte es meinen Eltern aus ... okay, Ihnen auch. Auf Wiederhören.“ Dann legte er tatsächlich auf, ehe ich noch einmal die Gelegenheit bekam, noch ein wenig mehr Zeit herauszuschlagen.

„Wieso hast du das gemacht? Ich hatte sie fast so weit!“, wollte ich von ihm wissen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ach, Ga-chan, du weißt doch, wie streng deine Mutter ist, wenn es um die Uhrzeit geht. Wir haben es schon überzogen. Du kriegst nur unnötigen Ärger.“

Ich schnaubte: „Pfft, von wegen unnötig. Es geht hier schließlich um-“

„Mich, ich weiß.“ Er lächelte und strich mir mit der Zeigefingerspitze über den Nasenrücken. „Aber wir sehen uns doch morgen nochmal.“

„Ja, kurz bevor du fährst.“

„Du kannst auch gerne früher kommen und mir helfen, den Rest zusammenzupacken.“

„Noch früher als acht Uhr morgens?“

„Wenn du willst.“ Darauf lachte er sein unwiderstehliches Lachen, was einen einfach immer dazu verleitete, es ihm gleichzutun. Und auch dieses Mal war keine Ausnahme. Ich lachte mit ihm und kicherte und genoss es in vollen Zügen. Ich würde sein Lachen jetzt schließlich für eine lange Zeit nicht mehr hören.

„Dann schon um sieben?“, fragte ich nach ein paar Augenblicken.

„Gerne, dann kannst du auch gleich bei uns frühstücken.“

„Klingt gut.“

„Na dann ... gehen wir nach Hause, sonst kommst du noch später.“

„Okay“, stimmte ich – wieder einmal seufzend – zu. Hideto erhob sich gleich darauf, sodass auch ich aufstehen konnte. Allerdings musste ich noch etwas warten, bis er komplett fertig war, da er sich erst die Schuhe wieder anziehen und zubinden musste. Doch als auch das getan war, machten wir uns dann endgültig auf den Heimweg. Wir wohnten beide nicht weit weg von diesem Park ... zum Glück, muss ich sagen, denn sonst hätten wir uns wohl nie kennengelernt. Unsere Mütter waren damals oft mir uns hierher gekommen und irgendwann hatten wir uns dann gesehen; oder eher gefunden.
 

Heute war es Hideto, der mich bis vor die Haustür begleitete. Er machte das manchmal, wenn wir zusammen weggegangen waren. Manchmal brachte auch ich ihn nach Hause – eben so, wie es uns gerade einfiel.

„Also dann bis morgen früh, ne?“, fragte er, schob die Hände seine Hosentaschen und blickte mich milde lächelnd an.

„Jap, morgen früh um sieben“, bestätigte ich nickend. „Ich vermiss dich jetzt schon.“

„Ach, Ga-chan ... ich dich auch.“ Sein Lächeln zitterte und ich konnte sehen, dass er sich dazu zwingen musste, seine Mundwinkel obenzubehalten. Sie krümmten sich immer wieder nach unten.

„Hi-chan ...“

„Bitte ... nicht dieser Ton. Du siehst doch, dass ich gleich ...“ Und noch bevor er seinen Satz beenden konnte, war es mit seiner Beherrschung am Ende: Tränen quollen aus seinen Augen und rollten an seinen Wangen hinunter. Instinktiv trat ich einen Schritt näher und nahm ihn in den Arm. Sofort konnte ich spüren, wie seine Finger sich in den Stoff meines dünnen T-Shirts krallten, und dann waren auch schon leises Schluchzen von ihm zu hören.

„Ich will hierbleiben, Ga-chan. Ich will nicht nach ... nach A-amerika ziehen. M-mein Englisch ist doch auch ... g-gar nicht so g-gut.“ Seine Stimme zitterte, sein ganzer Körper zitterte, als er diesem Weinkrampf erlag und einfach nicht aufhören konnte. „Ich ... ich w-will ... bei dir bleiben ...“

„Ich weiß ... ich weiß es doch ...“ Ich kämpfte selbst mit den Tränen, während ich ihm diese Worte zuflüsterte und seinen Rücken streichelte. Es war schon fast ironisch, dass er nun so zusammenbrach, nachdem er mich doch bisher immer beruhigt hatte. Dass er nun scheinbar den Glauben und die Hoffnung verlor. Er litt definitiv genauso wie ich. „Pscht ... nicht weinen, Hi-chan, nicht weinen. Wir bleiben in Kontakt. Wir haben's versprochen.“

„Ja ... aber ...“ Wieder brach er in Tränen aus und ließ sich auch so schnell nicht beruhigen. Es dauerte ein ganze Weile und ich war so froh, dass in dieser Zeit keiner von meinen Eltern nach draußen kam oder noch einmal versuchte, mich anzurufen. Es hätte gestört und Hideto vermutlich nur wieder aufgewühlt.

„Wir haben's versprochen“, sagte ich noch einmal, ehe ich mich vorsichtig ein wenig von ihm löste, um ihn ansehen zu können. Seine Wangen waren tränenverschmiert und seine Augen ganz rot und geschwollen. Er schluckte und nickte dann, war wohl nicht fähig, noch etwas zu sagen.

„Ich ... ich muss dann“, krächzte er schließlich doch und rieb sich mit beiden Händen über das ganze Gesicht, um die Tränen wegzuwischen.

„Sicher?“ Ich wollte ihn so eigentlich nicht allein lassen, auch wenn sein zu Hause nur ein paar hundert Meter weit weg war.

„Ja, es ... es geht schon ... denke ich.“

„Du kannst auch hier übernachten, wenn du willst.“

„Danke.“ Mein Angebot ließ ein kurzes Lächeln über seine Lippen huschen. „Würde ich sehr gern, aber ... ich kann nicht. Ich will nochmal in meinem Zimmer schlafen, bevor ich gehe ...“

„Natürlich.“ Verständlich.

„Okay.

Dann schwiegen wir beide für ein paar Sekunden. Als ob sich keiner von uns beiden trauen würde, sich zu verabschieden. Gott, wenn das jetzt schon so schwer war, was würden wir dann erst morgen machen, wenn es endgültig wäre? Ich wusste es nicht, ich konnte es mir nicht vorstellen. Ich würde bis morgen warten müssen. Doch irgendwie mussten wir uns verabschieden.
 

Und dann war ich derjenige, der das in die Hand nahm, indem ich einem Impuls folgte, der just in diesem Moment in mir aufkam. Ich hielt Hideto immer noch in den Armen und zog ihn nun wieder näher an mich heran, um mich etwas zu ihm herunterzubeugen und ihn zu küssen.

Es war kein flüchtiger Kuss auf die Wange, nein. Ich legte meine Lippen direkt auf seine, schloss die Augen und verharrte so. Dies schien mir der einzige Weg zu sein, ihm mitzuteilen, was ich im Moment empfand. Mein Kummer, meine Traurigkeit, meine aufrichtigen Gefühle für ihn. Einfach alles.
 

Nach ein paar Sekunden löste ich mich wieder, schaute ihn an und sah in seine Augen, die weit geöffnet waren. Er stand einfach nur da und starrte mich an, total angespannt. Hatte ich es etwa verschlimmert?

„Hi-chan?“, fragte ich. Er reagiert nicht und ich fragte nochmal: „Hideto?“

Dann endlich kehrte er ins Hier und Jetzt zurück, schüttelte den Kopf und beeilte sich, mir zu antworten: „Wie? Äh ... entschuldige, ich ... uhm ... ich denke, ich muss ins Bett. Ist schon spät. Gute Nacht, Ga-chan. Wir sehen uns morgen früh und ... ja ... bis morgen.“ Gleich danach drehte er sich um und lief auf unser Gartentor zu.

„Hi-chan, warte!“, rief ich ihm hinterher. Aber er war schon draußen auf der Straße und blieb nicht noch einmal stehen, obwohl er mich gehört haben musste. Was ... war denn das? Warum war er so urplötzlich abgehauen? Wollte er nicht noch einmal so vor mir zusammenbrechen? Nein, das konnte es nicht sein, er hatte sich noch nie vor mir geschämt. Aber irgendetwas war falsch, so viel stand fest. Es war einfach nicht Hidetos Art, mich einfach stehen zu lassen oder auch nur etwas vor mir zu verheimlichen. Doch genau das war gerade geschehen und es verursachte ein flaues Gefühl in meiner Brust – genau da, wo das Herz saß. Ich würde es hoffentlich morgen aus ihm herausbekommen. Doch bis dahin war es noch lang; viel zu lang für meinen Geschmack.
 

*
 

Ich hatte die halbe Nacht kein Auge zugekriegt und war um drei Uhr morgens erst eingeschlafen. Sonderlich erholsam war es dennoch nicht gewesen und zu allem Überfluss konnte mein übermüdeter Körper den Schlaf nicht abschütteln, als um halb sieben mein Wecker klingelte. Das Resultat: Über eine Stunde später weckte mich meine Mutter mit der Frage, ob ich denn nicht noch einmal zu Hideto wollte, um ihn zu verabschieden. Ich schwöre, so schnell war ich noch nie aus dem Bett, in meinen Klamotten und draußen auf der Straße.

Scheiße! Verdammte Scheiße! Ich war eine knappe Stunde zu spät dran und das, obwohl ich versprochen hatte, so früh es ging bei ihm zu sein, um noch möglichst viel Zeit zusammen zu verbringen.

Ich sprintete die Straße runter, verlor dabei zweimal die losen Schuhe, in die ich in aller Eile geschlüpft war, und fluchte innerlich nur noch mehr. Keuchend und nach Luft schnappend kam ich schließlich vor der Tür der Takarais an und drückte den Klingelknopf.

Ich wartete, dass Hideto mir aufmachen würde, vielleicht ein wenig enttäuscht, dass ich so spät kam, aber dennoch froh über mein Kommen. Als sich jedoch nichts tat, drückte ich abermals auf die Klingel und wartete erneut. Vielleicht hatten sie mich nicht gehört. Beim dritten Versuch nach ich den Finger eine halbe Minute lang nicht vom Knopf, abermals erfolglos. Was ging hier vor sich?

Erst dann fiel mir der weiße Briefumschlag auf, der mit Klebeband an der ebenso weißen Tür befestigt war. Ein Briefumschlag in dessen unterer, rechter Ecke mein Name stand. Sofort erkannte ich Hidetos feine, säuberliche Schrift und das flaue Gefühl von gestern Abend kehrte zurück. Er schrieb mir einen Brief anstatt anzurufen. Zitternd streckte ich meine Hand aus und löste den Umschlag von der Tür, öffnete ihn und zog ein Blatt Papier heraus. Viel stand nicht darauf, aber es erklärte die Sache vollkommen:
 

Hey Ga-chan. Es tut mir leid, dass wir uns nicht mehr sehen konnten. Meine Eltern wollten früher los und so sind wir schon um kurz vor sieben gefahren. Es tut mir echt leid. Ich hoffe, dass du mir verzeihen kannst. Bitte vermiss mich nicht zu sehr, es bringt mich ja sowieso nicht zurück. Hab lieber Spaß mit den anderen und lache und leb einfach weiter, ja?

Hideto
 

Automatisch drehte ich den Zettel um, nur um auf die leere Rückseite zu starren. Wie? Das war alles? Kein 'Ich schreib dir', 'Wir telefonieren mal' oder ... 'Ich vermisse dich'? Nicht einmal ein wirkliches Wort des Abschieds? Ich las den Brief noch einmal und merkte nun, wie flüchtig und gefühllos alles wirkte. Ich sollte Spaß mit anderen haben und ihn nicht zu sehr vermissen? Das meinte er nicht ernst! Das war nicht er.

Ich griff in meine Hosentasche und holte mein Handy, welches sich von gestern noch dort befand, heraus, drückte die Kurzwahltaste für Hidetos Nummer und hielt mir das Telefon ans Ohr, wartend. Als am anderen Ende abgenommen wurde, konnte ich zahlreiche Stimmen und viel Gewusel hören. Und dann auch seine Stimme: „Hallo?“

„Hi-chan, ich bin's.“

„Gackt!“ Es klang beinahe so, als wäre es ihm unangenehm, mit mir zu reden.

„Ja. Hör mal, ich hab heute Morgen verschlafen, deshalb konnte ich nicht pünktlich sein. Es tut mir wirklich leid.“

„Uhm ... schon gut, Ga-chan. Du hättest mich sowieso verpasst.“

„Hm. Aber wieso hast du denn nicht Bescheid gesagt? Ihr hättet doch bei uns anhalten können, ich wollte dich nochmal sehen und mich richtig von dir verabschieden ... und dich was fragen.“

„Du redest ja jetzt mit mir. Und was wolltest du fragen?“ Ich wollte nicht wissen, wie ich gerade aussah. Wahrscheinlich stand mir das Entsetzen, das ich empfand, während ich seinen Worten und seiner Stimme lauschte, ins Gesicht geschrieben. Er redete mit mir, als ob er nur kurz einkaufen wäre und gleich wiederkäme. Aber so war es nicht, verdammt! Er ging nach Amerika ... für immer!

„Ich ... uhm ...“ Ich war verwirrt; er brachte mich vollkommen aus dem Konzept, wenn er so war.

„Ja? Sorry, Ga-chan, aber ich muss mich beeilen, wir sind schon auf dem Flughafen.“

„Ich wollte wissen, wieso du gestern Abend so komisch warst, bevor du nach Hause gegangen bist.“

Für eine Sekunde herrschte Stille, dann räusperte er sich: „Ich ... es war nichts. Wirklich. Ich hatte nur so viel im Kopf ... wegen heute Morgen und so ... du weißt schon: Sachen packen und so.“

„Das glaub ich dir nicht.“

„Es ist aber so.“

„Nein, ist es nicht, ich weiß es.“

„Bitte, Ga-chan, glaub mir einfach. Wieso sollte ich dich anlügen? Das hab ich noch nie.“

„Nein, hast du nie.“

„Siehst du. Du, ich muss jetzt Schluss machen, wir müssen einchecken. Tschüss.“

„Warte-“ Zu spät, er hatte aufgelegt. Er hatte aufgelegt und mich einfach stehengelassen. Und was noch schlimmer war: Er hatte mich definitiv angelogen.
 

tbc.
 

~~~ ** + ** ~~~
 

Meine Fresse ... das sollte eigentlich nur ein Prolog werden. Knapp, einleitend und die Vergangenheit etwas beleuchtend, damit man nen Eindruck bekommt. Nu hat's über 3000 Worte und konnte das ganze Vorgeplänkel trotzdem noch nich vollständig abdecken xD

Und – vielleicht hat man's gemerkt, wenn nich isses umso besser – ich hatte keinen Betaleser; lediglich einen Alphaleser (a.k.a. me). Diesmal wird auch keine Beta nachgereicht, hat persönliche Gründe. Nehmt mir meine Tippfehler also bitte nicht allzu übel ^^'

Leave this sadness behind

In der Anfangszeit weigerte ich mich, ihn einfach so und ohne ausführliche Erklärung gehen zu lassen. Aber er reagierte nicht, nahm keinen meiner Anrufe an, meldete sich selbst nicht bei mir und ließ mir auch keine Adresse zukommen, an die ich hätte schreiben können.

Ich machte mir in dieser Zeit furchtbare Sorgen, dass ihm etwas passiert war und er sich nicht mehr melden konnte ... dass er gestorben sein könnte und ich – sein bester Freund – nichts davon wusste. Es brachte mich fast um. Ich schickte ihm sogar eine Textnachricht und fragte, ob er noch lebte. Er schrieb zurück, dass alles in Ordnung wäre und er viel mit dem Umzug und der neuen Schule zu tun hätte. Das war die einzige Antwort, die ich in der ganzen Zeit von ihm bekam.

'Absence makes the heart grow fonder' wie der Amerikaner so schön sagt, doch nach zu viel Zeit hält die Wirkung des Abstandes nicht mehr an. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen dagegen, dass Hideto mir weniger bedeutete, aber irgendwann passierte es doch: Ich nahm hin, dass ich ihn wohl niemals wiedersehen würde. Ich kam über ihn hinweg, so traurig es mich auch machte. Aber die Wahrheit war, dass mein Leben auch ohne ihn weiterging und ich sogar Spaß haben konnte. Und bei ihm schien es genauso zu sein, sonst hätte er doch sicher einmal von sich hören lassen ... nicht wahr?

Trotzdem fand ich nicht einfach so ins Leben zurück. Ich hörte auf seinen Rat und hielt mich mehr an meine anderen Freunden, damit ich Hideto nicht so sehr vermisste. Allerdings hatten sie mir alle nie so viel bedeutet wie er.

Irgendwann verliebte ich mich auch und war mit diesem Mädchen für ungefähr anderthalb Jahre in einer Beziehung. Nachdem es nicht mehr funktionierte, suchte ich mir eine neue Freundin. Und dann noch eine und noch eine. Die Beziehungen wurden mit der Zeit immer kürzer und zwischendurch hatte ich sogar eine unbedeutende Affaire mit einem Mann, um auszuprobieren, ob mich auch das anmachen konnte. Ich machte meine Erfahrungen und ich machte sie ohne Hideto.
 

Elf Jahre war es nun her, dass er nach Amerika gezogen war. Ich dachte noch ab und zu an ihn und schwelgte in Erinnerungen, aber es schmerzte nicht mehr so wie am Anfang. Das letzte Mal, dass ich wirklich über ihn nachgedacht hatte, war vor knapp vier Jahren gewesen, als ich weggezogen war, um nach Kyoto zu gehen. Ich wählte diesen Weg, weil ich nach Jahren endlich etwas gefunden hatte, was mir genauso wichtig war wie er: Musik.

In der High School hatte ich aus Spaß gelernt, wie man Schlagzeug spielte, es aber schnell wieder sein lassen, obwohl man mir gesagt hatte, dass ich gut wäre. Die Launen der Jugend, nehme ich mal an. Ich konnte auch schon seit frühester Kindheit ein wenig Klavierspielen, weil meine Eltern es so gewollt hatten. Aber erst als ich mit dreiundzwanzig auf einem kleinen Konzert in einem der Nachbarorte gewesen war und diesen Kerl Gitarrespielen gesehen hatte, war es um mich geschehen. Seine Finger flogen nur so über die Saiten und er erschuf damit Melodien, die ganz so wirkten, als hätte er sie sich eben ausgedacht – so leicht und fliegend, ohne jegliche Anstrengung oder Bearbeitung. Er erweckte in mir den Wunsch, solche wundervollen Dinge auch erschaffen zu wollen.

Zufälligerweise hatte seine Band zu dieser Zeit gerade einen neuen, festen Schlagzeuger gesucht und ich hatte mich sofort angeboten. Zwar war ich da ein wenig eingerostet, aber sie hatten mich trotzdem genommen. Im Grunde waren wir ein ziemlich unorganisierter Haufen: Ein Gitarrist, ein Bassist, ein Schlagzeuger und die Frage, wer singen sollte. Nach langem Hin und Her hatte ich mich dafür bereiterklärt und erstaunlicherweise kamen wir damit an. Die Leute mochten meine Stimme und auch mir machte es unheimlichen Spaß, sodass ich mich immer mit der Rolle des Sängers identifizierte und das Schlagzeug schließlich ganz aufgab. Die einzigen Instrumente, die ich noch gelegentlich spielte, waren das Klavier und die Gitarre. Letzteres hatte mir You – unser Gitarrist und Violinist – beigebracht.

Die Songs schrieben wir alle zusammen, für die Worte war ich allerdings ziemlich schnell zuständig. Ich könnte mich einfach am besten ausdrücken, hatte You gesagt. Ob es auch tatsächlich so war, wollte ich selber nicht beurteilen. Aber solange es unseren Fans gefiel, war die Welt für mich in Ordnung. Und wir hatten Fans – Fans, die mit jeder Woche mehr wurden. Wir machten uns recht bald einen Namen in Japan und den umliegenden Ländern und unsere Band wuchs.
 

Und jetzt war es so weit, dass wir nach Amerika gehen wollten. Wir wollten die ganze Welt mit unserer Musik erobern und die Staaten sollten nur der erste Schritt dazu sein. So kam es, dass ich genau jetzt in einem Flugzeug nach Las Vegas saß, wo wir an einer Musikveranstaltung teilnehmen würden, um damit gleichzeitig unsere Promotiontour zu starten.
 

Ich war gerade dabei, die Ablaufpläne, die man uns hatte zukommen lassen, durchzugehen, als sich You auf dem Sitz neben mir niederließ. Die Veranstalter hatten uns eine Privatmaschine zur Verfügung gestellt, sodass wir zu sechst (wir fünf Musiker und unsere Managerin) ein ganzes Flugzeug für uns allein hatten.

„Und?“, sagte er.

„Was und?“, hakte ich nach und sah schmunzelnd von den Plänen auf.

„Na ja, wir landen bald. Dann sind wir in Amerika und touren dort. Bist du nicht aufgeregt?“ Dass er aufgeregt war, konnte man eindeutig sehen und hören. Er glühte förmlich vor Aufregung. Ein Grund mehr, ihn damit ein bisschen aufzuziehen.

„Nicht im Geringsten“, antwortete ich schulterzuckend, „ist doch nur Amerika.“

„Nur Amerika? Nur Amerika?! Bist du betrunken?“, empörte er sich und blickte mich fassungslos an.

„Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war ich noch vollkommen nüchtern. Danke der Nachfrage, You.“

„Dann bemerkst du die Aufregung nur nicht richtig. 'Nur Amerika', das gibt’s doch wohl nicht! Du-“

„Schon gut, schon gut“, lachte ich und klopfte ihm auf die Schulter, „ich bin zwar nicht so hibbelig wie du, aber aufgeregt bin ich schon irgendwie.“

Dafür verpasste er mir einen Schlag gegen die Schulter: „Du bist unmöglich! Und wer ist hier hibbelig? Ich bestimmt nicht.“

„Nein, überhaupt nicht“, bemerkte ich, immer noch lachend, und warf dann einen Blick auf die Uhr, um zu sehen, dass wir tatsächlich sehr bald da sein würden.

Ich erhob meine Stimme, um das auch den anderen mitzuteilen: „Leute, in zehn Minuten sind wir da. Wir sollten unseren Kram zusammenräumen.“ Dann begann ich auch selbst damit, die ganzen Papiere, die ich auf dem Tisch vor mir verstreut hatte, zu sortieren und sorgfältig einzupacken. Das Event, bei dem wir das erste mal live in Amerika spielen würde, war schon morgen und unser Zeitplan bis dahin war ziemlich dicht – wir mussten uns also genau an die Abläufe halten, wenn wir nicht wollten, dass das alles furchtbar schiefging. Und dazu gehörte ebenfalls, dass außer unserem Manager auch jemand aus der Band die Zeiten richtig kannte. Diese Aufgabe war mir zugefallen, da ich mich mit den Jahren irgendwie zum zweiten Bandleader entwickelt hatte (neben You, der unser eigentlicher Leader war ... auch wenn man es ihm durch die Aufregung gerade nicht anmerkte).
 

Schon ein paar Minuten später kam auch aus dem Cockpit die Ansage, dass das Flugzeug jetzt zum Landeanflug ansetzen würde und wir uns anschnallen sollten. Ich folgte der Anweisung, legte den Gurt um und lehnte mich zurück. Fliegen war nichts Neues mehr für mich und obwohl mein Magen die ersten paar Male immer stark rumort hatte, ertrug ich die Landungen jetzt mit Leichtigkeit. Aber nicht allen aus unserer Band ging es so und das zeigte sich mal wieder, als hinter mir erst ein würgendes Geräusch ertönte und gleich danach ein spitzer Aufschrei.

„Junji, nicht doch! Ist das jetzt der Dank, dass ich dich den ganzen Flug über abgelenkt hab, damit du nicht kotzen musst?“ Das Gezeter kam von Chacha, unserem anderen Gitarristen. Und als ich den Kopf drehte, sah ich, dass sich Junji, welcher mich am Schlagzeug ersetzt hatte, wohl sein Mittagessen noch einmal durch den Kopf hatte gehen lassen. Chacha, der direkt neben ihm saß, hatte zwar noch schnell genug die Beine hochziehen können, sodass seine Hose sauber geblieben war, aber der mit Teppich ausgelegte Boden des Flugzeugs war nicht so glimpflich davongekommen.

„Tut mir leid“, kam es in einem erbärmlichen Tonfall kam es von unserem Drummer, „aber mir ist so schlecht.“

„Hättest du es die paar Minuten bis wir draußen sind denn nicht mehr aushalten können?“

„Es tut mir doch leid. Ich konnte nicht mehr.“

„Ja ja ... schon gut ...“ Auch wenn es ein einziges Gemaule war, schwang doch ein gewisses Maß an freundschaftlicher Sorge in Chachas Ton mit. Er war eben der Älteste unter uns und die gute Seele, die dafür sorgte, dass wir nicht zu wenig aßen oder uns auf der Bühne und während der Proben zu sehr verausgabten. Und dass er quasi unsere Glucke war, bewies er uns genau in diesem Moment einmal mehr, indem er ein Päckchen Taschentücher aus seinem Handgepäck herauswühlte und sie Junji gab, damit der sich den Mund sauberwischen konnte.

„Hat jemand einen Kaugummi oder was anderes mit besserem Geschmack als ... das hier?“, fragte er dann auch in die Runde und deutete mit leicht pikiertem Blick auf die Sauerei am Boden.

„Hier, ich“, meldete sich Ju-Ken – das letzte Mitglied und der Bassist unserer Gruppe – darauf und reichte Chacha sofort einen Streifen Pfefferminzkaugummi.
 

Während wir alle die Aufmerksamkeit auf Junji und Chacha gerichtet hatten, bemerkte keiner von uns, dass wir bereits beträchtlich an Höhe verloren hatten und der Flughafen immer näher kam. Auch die Rollbahn, auf der wir landen würden, war schon in Sicht und dann – wirklich nur zwei Minuten später – war ein leichter Ruck zu spüren, als die Maschine wieder auf festem Grund aufsetzte. Zwar schlug sich unser flugkranker Drummer noch einmal die Hände vor den Mund, um ganz sicher zu gehen, dass auch nichts mehr passierte, doch er überstand es ohne seinen Mageninhalt noch einmal vor uns auszubreiten. Dafür war er aber auch der erste, der aus seinem Sitz sprang, nachdem wir zum Stehen gekommen waren, und zur Tür sprintete. Er stand da wie bestellt und nicht abgeholt, während er darauf warten musste, dass er endgültig aus dem Flieger konnte.

„Irgendjemand muss dem Personal sagen, dass sie lieber mit den starken Putzmitteln kommen sollten“, scherzte Ju-Ken, schnallte sich ab und machte sich gemächlich auf den Weg nach draußen.

„Ich mach das“, meldete sich You zu Wort, worauf er auch gleich nach vorn ins Cockpit stiefelte, wo sich neben den Piloten auch eine Flugbegleiterin befand. Das war Teamwork – unser bunter Haufen hatte sich wirklich gemausert und arbeitete jetzt Hand in Hand, immer und in absolut jeder Lebenslage.
 

*
 

„Gott, endlich ausruhen!“, seufzte Junji genüsslich und ließ sich auf sein Bett fallen. Wir bezogen gerade das Appartement, das für uns reserviert worden war, und ich musste zugeben, dass man dabei nicht gesparrt hatte. Immerhin waren wir gerade erst am Anfang, wenn es um unsere Bekanntheit in Amerika ging, und dann wurden wir schon in einem der besten Hotels von Las Vegas untergebracht. Mir entlockte das Gebaren unseres Drummers jedenfalls nur ein Grinsen und ein Kopfschütteln, während ich das Zimmer durchquerte, um in den nächsten Raum zu gelangen, wo ich schlafen würde.

„Tu doch nicht so, als ob du heute schon so viel getan hättest“, sprach You die Worte aus, die ich mir verkniffen hatte, „wir sind hergeflogen, mehr nicht.“

„Euch ging es dabei ja auch wunderbar.“

„Du wolltest die Reisetabletten ja nicht nehmen“, schaltete sich Chacha ein und hievte seine Reisetasche auf die freie Hälfte des Doppelbettes, auf dem Junji sich bereits breitgemacht hatte.

„Die sind so bitter.“

„Meine Güte ...“ You verdrehte die Augen. „Hör auf zu jammern und räum lieber dein Gepäck aus dem Weg, bevor noch jemand drüber stolpert und sich was bricht. Wir können uns keine Unfälle leisten.“ Dann folgte er mir, seinen Koffer hinter sich herziehend, ins nächste Zimmer. Wir teilten uns eines für die Nächte, so wie wir es fast immer taten. Die anderen drei würden in dem Raum schlafen, den ich gerade verlassen hatte, und unsere Managerin hatte eine Suite für sich. Bei fünf Männern auf einem Haufen würde sie wahnsinnig werden, wenn sie nicht wenigstens nachts ihre Privatsphäre bekäme, hatte sie gesagt. So schlimm waren wir doch gar nicht.

„Waaas?! Wieso habt ihr mir das einzelne Bett übrig gelassen?! Ich will nicht alleine schlafen. Ich will mit ins Doppelbett!“, tönte es dann auf einmal durch das Appartement. Ju-Ken. Und die Antwort auf eine Frage, die ich nicht gestellt hatte. Vielleicht waren wir irgendwo tatsächlich noch ein bunter Haufen ... zumindest phasenweise.

Ich schüttelte abermals den Kopf und rief zu ihnen hinüber: „Verschiebt die Diskussionen über die Aufteilung der Betten doch bitte auf später und macht euch lieber fertig. In einer Stunde wir fängt die Stellprobe an. Und da müssen wir dabei sein, falls ihr es vergessen habt.“

„Eine Stunde nur? Und wie stellst du dir das vor, G-kun?“, wollte You von mir wissen, „allein du brauchst schon über eine halbe zum Duschen.“

„Dann solltet ihr euch mit der restlichen Zeit gut arrangieren“, antwortete ich grinsend, nahm mir ein Handtuch und den Beutel, in dem sich alles befand, was ich im Bad brauchte, und steuerte auf eben jenes zu.

„Oh nein, damit hast du dich aber geschnitten! Hier wird gerecht geteilt!“, rief You gleich darauf und schoss auch nur einen Moment später – ebenfalls mit Handtuch und Kulturbeutel bewaffnet – an mir vorbei.

„Ich bin trotzdem als Erster dran!“

„Bist du nicht!“

„Stimmt“, mischte sich auch Ju-Ken noch ein, „ich geh zuerst!“

„Ich geh dann mal rüber zu Hima-san und frag, ob ich bei ihr duschen kann“, war Chachas Beitrag zu der ganzen Situation.

Ich glaube, die Phasen, in denen wir uns nicht ganz so erwachsen benahmen, wie wir es vielleicht sollten, waren wohl doch größer als ich gedacht hatte. Na, wenigstens beschränkte sich das auf die Zeit, die wir nicht im Rampenlicht standen.
 

*
 

Obwohl es bei dem ganzen Wer-darf-zuerst-ins-Bad-Chaos schon recht erstaunlich war, schafften wir es doch noch pünktlich in das Casino, in dem die Preisverleihung stattfinden würde. Wie sich herausstellte, hätten wir uns allerdings nicht solchen Stress machen müssen, da wir am Anfang noch eine ganze Weile ziemlich verloren herumstanden. Zwar wuselten hier jede Menge Mitglieder vom Staff herum, aber es fühlte sich wohl niemand so richtig für uns verantwortlich. Sie kümmerten sich alle um die 'einheimischen' (ergo englischsprachigen) Künstler, von denen augenscheinlich jeder einzelne mehr zählte als wir – eine kleine Band aus Japan, die hier erst noch Fußfassen wollte. Erst als sich unsere Managerin Kyoko Hima-san irgendwann bei jemandem beschwerte, sagte man uns, dass auch diese Stellprobe streng nach dem Ablaufplan des eigentlichen Events vonstatten ging. Nun ja, alles andere wäre ziemlich unhöflich gewesen, da man uns schließlich ebenfalls eingeladen hatte und wir sogar ein Teil der Show waren.

Fünf Minuten später kam dann auch endlich ein Mann, der einen Mitarbeiterausweis um den Hals hängen und ein Klemmbrett in der Hand hatte. Er eilte geradewegs von der Bühne aus auf uns zu, wo er eben noch mit der Band gesprochen hatte, die sich jetzt offenbar an die Probe ihrer Performance machen wollte.

„Hallo! Ihr seid Cains:Feel, richtig? Ich bin Mark“, begrüßte uns der Mann mit einem Blick auf sein Klemmbrett und bat uns auch gleich um Verzeihung, „Entschuldigt bitte, dass das alles so lange gedauert hat; uns fehlen heute ein paar Leute und hier ist der Teufel los. Hoffentlich läuft das morgen alles glatt.“

„Ist schon in Ordnung“, sagte ich höflich und richtete meine Aufmerksamkeit wieder ganz auf ihn, „wir sind ja jetzt dran.“

„Danke. Also, die Show fängt morgen um 20 Uhr an. Ihr habt circa eine Stunde, in der ihr euch von euren Plätzen aus alles ansehen könnt. Dann solltet ihr euch langsam und möglichst unauffällig hinter die Bühne begeben. Euer Auftritt ist dann um 21.20 Uhr, direkt nach dem der Award für den besten Newcomer verliehen wurde.“ Nichts von dem, was er uns erzählte, war mir neu. Er hatte scheinbar genau die gleichen Ablaufpläne dabei, die auch uns im Voraus zugeschickt worden waren und die ich mir so gründlich durchgelesen hatte. Ich kannte sie auswendig. Aber umsonst war das hier auch nicht; es hätte sich ja zwischendurch noch etwas ändern können und ohne dieses Treffen hätten wir das nicht mitbekommen und am Ende unseren Auftritt verpasst. „Dürfte die perfekte Einleitung für euch sein, oder? Ihr seid doch die Band aus Japan, die hier erst anfängt?“

„Ja, das-“, setzte ich an, brach aber ab, als ein ohrenbetäubender Krach von der Bühne her kam. Ich drehte den Kopf und sah, dass die Band, die der Mitarbeiter vor uns abgefertigt hatte, scheinbar mit ein paar technischen Problemen kämpfte.

„Kann mal bitte jemand einen Techniker ranholen?“, rief ein Mann mit glatten, dunkelbraunen, halblangen Haaren, Schlabberklamotten und einer großen Sonnenbrille. Er war wohl der Sänger der Band und spielte gleichzeitig auch Gitarre. „Mit meinem Verstärker stimmt was nicht.“

„Warte, ich schau selbst kurz. Vielleicht lässt sich das auch so beheben“, antwortete ihm einer seiner Kollegen, der ebenfalls eine Gitarre umhängen hatte, in der gleich Lautstärke und eilte zu dem Ersten hinüber.

„Danke!“

„Kennt du sie?“, fragte dann auf einmal jemand ganz nahe bei mir und holte mich damit in unser Gespräch zurück.

„Wie bitte?“, hakte ich nach und schaute in die Runde.

„Kennst du die Jungs, die gerade auf der Bühne stehen?“, wurde die Frage wiederholt. Es war Mark, der Mann vom Staff, der mich das gefragt hatte.

„Uhm ... nein, nie von ihnen gehört.“ Ich wusste weder ihren Namen, noch konnte ich überhaupt ihre Gesichter erkennen, da sie zwar in Hörweite waren, aber eben doch nicht nahe genug, um solche Details erkennen zu können. „Sollte ich denn?“

„Na ja, nicht unbedingt, hätte allerdings sein können. Sie sind nämlich auch Japaner – zumindest der Kern der Gruppe.“

„Ach so ... aber sie sprechen und performen auf Englisch. Akzentfrei“, meinte ich darauf. Ich hatte mich zwar selbst sehr gut auf diese Reise in die Vereinigten Staaten vorbereitet, aber ich wusste, dass ich trotz allem nicht perfekt war – besonders was meine Aussprache anging.

„Ja. Kann dran liegen, dass sie schon länger hier sind. Sie haben letztes Jahr den Award für das beste Musikvideo gewonnen und eröffnen dieses Jahr die Verleihung.“

„Gut zu wissen“, murmelte ich leise.

Und Junji kam dann gleich auf aberwitzige Ideen: „Hey, wie wär's, wenn wir sie fragen, ob sie mit uns was trinken gehen. Über die Heimat reden ...“

„Die Heimat, die für sie vielleicht keine mehr ist“, warf Chacha lachend ein, doch Junji ließ sich dadurch nicht beirren. Er fuhr einfach fort: „Und sich ein paar Tipps holen, wie man hier am besten erfolgreich werden können.“

Nun begann auch ich zu lachen: „Gute Idee. Wenn sie keinen zu engen Plan haben, sollten wir das wirklich machen.“

„Versucht das nur“, schaltete sich der Kerl, der uns in alles einwies, wieder ein, „ich zeig euch jetzt noch eure Plätze und dann sind wir hier erstmal fertig. Danach müsst ihr leider eine Weile warten, bevor ihr proben könnt. Ihr habt noch drei Bands vor euch, aber das wird euch Paul genauer erklären; er ist für alles zuständig, was die Bühne betrifft. Kommt mit.“ Dann drehte er sich um und wir dackelten hinterher; durch die Reihen und Sitzblöcke, wo wir uns jetzt schon setzen konnten, solange wir darauf warteten, dass die Bühne für uns frei wurde. Die anderen Jungs aus Japan hatten ihre Probleme scheinbar inzwischen behoben, die Probe erfolgreich (wenn auch recht schnell) beendet und waren bereits verschwunden. Die würden wir wohl heute nicht mehr zu Gesicht bekommen. So viel zu der Frage, ob sie am Abend mit uns etwas trinken gehen würden. Nun ja, dann vielleicht morgen, auf der After-Show-Party.
 

tbc.
 


 

~~~ ** + ** ~~~
 

*hust* Bitte verzeiht mir meine fehlende Kreativität bei der Wahl des Bandnamens ^^' Aber was hätte ich sonst nehmen sollen? GacktJOB is schlecht, Malice Mizer ginge so gar nich und ein eigens ausgedachter Name hätte sich einfach falsch angefühlt. Cains:Feel hatte sich einfach in meinem Kopf festgesetzt, ohne dass ich vorher großartig drüber nachgedacht hab – irgendwo passt es so auch am besten :3 Und ich hab ja sowieso ein paar Eckdaten aus Gackts Leben eingebaut ... gut, dass ich erst vor Kurzem Jihaku nochmal gelesen hab xD

A vision out of my dreams

Auch der nächste Tag war für uns vollgepackt bis oben hin. Wir mussten ziemlich früh aufstehen, um alles zu schaffen, obwohl wir am gestrigen Abend noch eine ganze Weile in der Bar unseres Hotels gesessen und etwas getrunken hatten. Um sicher zu gehen, dass wir auch wirklich alle pünktlich aus den Federn kamen, hatte Hima-san mich extra angerufen.

„Morgen, Hima!“, begrüßte ich sie munter und klemmte mir das Handy zwischen Ohr und Schulter, um weiter Klamotten aus meinem Koffer holen zu können.

„Morgen, du bist also wach“, stellte sie fest.

„Wach, geduscht und schon halb angezogen.“

„Wundert mich nicht. Und die anderen?“

„Ju-Ken steht grad unter der Dusche, Chacha versucht seine Haare zu entwirren und You kämpft damit, Junji aus dem Bett zu bekommen“, berichtete ich und fand endlich das Oberteil, nach dem ich gesucht hatte.

„Hat er also gestern Abend doch zu viel getrunken?“

„Nein nein, der Jetlag macht sich nur langsam bemerkbar. Und er ist doch sowieso eine Schlafmütze.“

„Auch wahr. Seht jedenfalls zu, dass ihr um 10.30 Uhr bei der Generalprobe seid. Wenn es wieder so lange dauert, wie gestern, könnte es bis zum Mittagessen knapp werden.“

„Ja, ich weiß, aber danke für die Erinnerung.“

„Doppelt hält besser.“ Ich konnte das Lachen in ihrer Stimme hören. „Nun denn-“

„Ah, warte mal kurz“, fiel ich ihr ins Wort, ehe sie sich verabschieden und auflegen konnte.

„Ja?“, fragte sie.

„Kannst du mir einen Gefallen tun?“

„Worum geht es denn?“

„Um diese Band, die wir gestern gesehen haben. Sie waren schon weg, bevor ich mit ihnen reden konnte. Kannst du versuchen, etwas über sie herauszufinden? Wo sie unter Vertrag sind, ob wir sie irgendwie treffen können, in welchem Hotel sie übernachten und solche Dinge.“

„Ich kann es versuchen. Kennst du ihren Namen denn inzwischen? Sonst wird es schwierig.“

„Nein, leider nicht“, musste ich eingestehen, „aber ... was hatte der Kerl gestern gesagt? Sie haben letztes Jahr den Award für das beste Video gewonnen und eröffnen heute Abend die Show. Damit dürfte sich doch was machen lassen.“

„Ich werd sehen, was sich tun lässt.“

„Danke, Hima“, sagte ich und schmunzelte.

„Bitte sehr. Bei der Probe kommt ihr allein zurecht?“

„Klar, wir sind doch schon groß.“

„Na dann ... wir sehen uns beim Mittagessen.“

„Jep!“ Dann legte sie auf und ich tat es ihr gleich, um mich für die Generalprobe fertig anzuziehen. Während man gestern nur ausprobiert hatte, ob die Technik stimmte, wurde heute der komplette Auftritt geprobt. Also nicht nur Sound, sondern auch sämtliche Effekte; selbstverständlich gleich im Bühnenoutfit. Dabei war es von Vorteil, dass wir noch am Vormittag einen Slot bekommen hatten, da wir so gleich für das anschließende Mittagessen mit einer Plattenfirma, welche uns eventuell unter Vertrag nehmen wollte, gestylt waren. Danach würde es sofort zu einer Radioshow weitergehen und knapp vor der Preisverleihung ging es dann noch zum Abendessen mit einem anderen Label. Wirklich voller Plan also; alles musste glattlaufen, damit wir nicht in Verzug kamen. Und dazu gehörte auch das Aufstehen, wie es mir You in diesem Moment wieder einmal deutlich machte.

„Junji, jetzt komm endlich!“, knurrte er reichlich ungehalten, „oder willst du in Unterhosen zur Probe? In fünf Minuten geht’s los!“ Letzteres stimmte zwar nicht, aber wenn es half ... der Zweck heiligte manchmal eben doch die Mittel. Ich begab mich jetzt auch in den vorderen Raum, um dem Schauspiel beizuwohnen. Es versprach, interessant zu werden.

„Was?!“, rief der Angesprochene darauf überrascht, „warum sagt mir das denn keiner?“

„Was denkst du wohl, was ich hier die ganze Zeit über mache?“

„Gah!“ Darauf fiel er nahezu aus dem Bett und eilte durch den Raum. „Hey, lasst mich ins Bad, ich muss duschen und ... Zähneputzen und ... ich bin noch nicht fertig!“

„Wir doch auch nicht“, meinte Chacha dazu, ohne seinen Blick von dem Spiegel, der in die Garderobe integriert war, abzuwenden.

„Huh?“, kam es fragend von unserem Drummer.

„You hat dich verarscht“, erklärte ich es ihm, „wir haben noch Zeit. Bist aber selber dran Schuld, wenn du auf sowas reinfällst.“

„Ihr seid schlimm.“

„Du auch!“
 

*
 

Anderthalb Stunden später standen wir geschlossen und in voller Montur auf der Bühne. Man hatte all unsere Instrumente haargenau so positioniert, wie wir es angegeben hatten, und auch die Effekttechnik stand bereit. Während gestern alle Beteiligten eine Einweisung in das Prozedere bekommen hatten, waren heute nur Künstler anwesend, die auch performen würden. Wir waren die letzten mit einem aufwändigen Set, da zu unserem Song literweise Wasser gehörte und man nach uns erst einmal eine Runde durchwischen musste.

Alles lief glatt, wir bekamen Komplimente (sowohl von Mitarbeitern als auch von anderen Bands und Sängern) und konnten die Probe mit einem sehr positiven Gefühl verlassen. Wenn wir das heute Abend genauso gut – wenn nicht gar besser – hinbekamen, dann würde das der perfekte Startschuss für unsere Promotour sein.
 

Sonderlich viel Zeit hatten wir dann auch nicht und eilten sofort weiter zu dem Restaurant, in dem wir zum Essen verabredet waren. Dort trafen wir auch Hima-san wieder, die sich allerdings etwas verspätete. Wir saßen alle schon und unterhielten uns angeregt mit dem Vertreter unseres potenziellen Plattenlabels über unsere bisherige Arbeit, unsere Pläne, was den amerikanischen Musikmarkt anging, und was wir alles geben würden, um auch hier erfolgreich zu werden.

„Alles natürlich“, antwortete You auf die letzte Frage, „wir sind sehr ehrgeizig und arbeiten hart, um unsere Ziele zu erreichen.“

„Davon gehe ich aus“, entgegnete unser Gegenüber, „aber damit sind Sie nicht die Einzigen. Zu was wären Sie bereit?“

Diesmal übernahm ich das Antworten: „Da wir unsere bisherigen Erfolge auf dem japanischen Musikmarkt erreicht haben, haben wir uns natürlich auf Texte in unserer Landessprache konzentriert, damit die Botschaften unserer Songs auch so ankommen, wie wir sie vermitteln wollen. Für Amerika wären wir selbstredend dazu bereit, die Texte ins Englische zu übertragen, um auch hier so verstanden zu werden.“ Wir hatten uns schon vorher alle möglichen und unmöglichen Antworten zurechtgelegt, um nur nicht so zu wirken, als könne man uns nach Gutdünken verbiegen. Gewisse Zugeständnisse mussten wir natürlich trotzdem machen, da kein Musikmarkt dieser Welt wie der andere war.

„Ihre Einstellung ist sehr löblich.“

„Wie You bereits sagte: Wir tun alles, was nötig ist, um erfolgreich zu sein. Und die Anpassung der Sprache ist eine ebenso große Notwendigkeit wie überhaupt erst den Schritt auf diese Seite der Musikwelt zu wagen. Wir möchten uns erweitern und an der Herausforderung wachsen und das ginge schlecht, wenn wir uns nur auf den asiatischen Markt beschränkten.“

„Ich verstehe ...“

Es ging noch eine Weile so weiter, bis der Herr uns scheinbar alles gefragt hatte, was er von uns wissen wollte, und ziemlich zufrieden wirkte. Das Essen auf Kosten des Labels beendete unsere Vorverhandlungen und als sich der Mann verabschiedete, waren wir erst einmal entlassen.
 

„Immer wieder anstrengend“, seufzte Chacha und lehnte sich zurück.

„Ja.“ Besonders wenn man souverän wirken wollte, indem man furchtbar gestelzte Formulierungen benutzte. Und heute Abend würden wir das ganze nochmal in grün durchmachen müssen, um uns mit einem weiteren Label gutzustellen, wenn uns dieses hier ablehnen würde.

„Gackt“, sprach mich Hima-san auf einmal an, „ich hab mich um diese Band gekümmert.“ Ah~ stimmte ja.

„Und?“, hakte ich nach.

„Sonderlich viel hab ich nicht rausfinden können. Die Leute hier sind so verschwiegen, als ob es um den Präsidenten persönlich ginge und wir spionieren wollten. Und der Rest weiß einfach nichts.“

„Und was hast du?“

„Allgemeine Informationen wie man sie auf jeder Fanpage im Internet findet: Die Band besteht aus zwei Leuten; alle anderen sind nur Supportmusiker, die regelmäßig wechseln. Sie machen seit sechs Jahren zusammen Musik, drei davon unter ihrem eigenen kleinen Label. Keine Ahnung, wo sie untergebracht sind und ob sie Zeit für uns hätten. Und selbst wenn wir das Hotel wüssten, würde uns das Personal sicher auch nichts sagen. Wäre ja auch noch schöner, wenn die ausplaudern, wer bei denen so ein- und ausgeht.“

„Schade ... kann man aber nichts machen.“

„Sicher sind sie auf der After-Show-Party“, klinkte sich You in unsere Unterhaltung ein, „alle werden da sein; sie also auch.“

„You hat Recht“, gab auch Junji seinen Kommentar dazu ab, „und zur Not haben wir noch morgen, um mit ihnen zu reden. Wir fahren doch erst am Nachmittag weiter.“

„Insofern sie dann noch da sind“, wandte ich ein, „abgesehen davon wird das nur was, wenn es heute Abend nicht zu spät wird. Bei keinem von uns.“

„Mal was anderes“, meldete sich schließlich auch noch Ju-Ken zu Wort, „wie heißen die Jungs eigentlich?“ In dem Moment, als er die Frage stellte, kam es mir auch endlich in den Sinn. Wir wussten ihren Namen überhaupt noch nicht. Ich drehte den Kopf zu Hima-san und war damit nicht der Einzige – alle anderen taten es mir gleich.

„Hatte ich das noch erwähnt?“, fragte sie überrascht. „Sie nennen sich VAMPS.“

„VAMPS?“ Junjis Frage. „Klingt eher wie eine Frauenband.“

„Eigentlich die Kurzform von 'Vampires'. Ich habe auch irgendwas von Frauen gelesen, aber das wirkte nicht so wichtig. Und ihr wisst, dass man weder dem Internet noch Rockmusikern alles glauben darf.“ Wobei sie damit Recht hatte.

VAMPS ...
 

*
 

Die Zeit war heran, in zwanzig Minuten würde die Verleihung beginnen und wir saßen nach einem Tag, wie er fast besser nicht hätte laufen können, auf unseren Plätzen im Saal des größten Casinos, das Las Vegas zu bieten hatte.
 

Nach dem Mittagessen waren wir in einer Radiosendung zu Gast gewesen. Der Moderator der Show hatte uns ungefähr dieselben Dinge gefragt, die auch der Kerl von dem Label, bei dem wir vorgesprochen hatten, hatte wissen wollen: Bisherige Karriere, Pläne, Ziele und so weiter. Im Gegensatz zu unserem Vorstellungsgespräch war aber alles sehr locker vonstatten gegangen und man hatte uns auch die ein oder andere persönliche Frage gestellt: Ob wir alle noch zu haben wären, unser persönlicher Musikgeschmack oder wer unsere Vorbilder waren zum Beispiel. Zwei Stunden hatten wir in dem Studio gesessen, ehe Hima-san uns mitgeteilt hatte, dass wir zum nächsten Termin mussten.

Der nächste Termin war ein verfrühtes Abendessen mit dem anderen Label gewesen. Es verlief ähnlich wie das erste Treffen: Ich hatte wieder das Wort übernommen (die Bürde, wenn man der Sänger und damit das Aushängeschild einer Band war), die anderen hatten mich unterstützt, wo sie sich passend hatten einbringen können und am Ende hatten wir abermals den Eindruck, dass wir uns recht gut verkauft hatten.

Nun hatten wir das aber erstmal hinter uns, das nächste Gespräch dieser Art würde erst nächste Woche stattfinden und wir konnten uns bis zu unserem eigenen Auftritt entspannen. Wobei 'Entspannung' in diesem Falle relativ war. Zwar waren wir nach über drei Jahren der gemeinsamen Arbeit mittlerweile sowas wie Profis, aber das auch nur bei uns zu Hause. Amerika war vollkommen neu, hier mussten wir fast bei Null anfangen und uns alles von Neuem erarbeiten. Und das machte uns alle – auch mich, der sonst mit Aufregung recht gut klarkam – nervös. Junji hatte auch schon wieder angefangen, auf seinen Beinen herumzutrommeln, obwohl wir ihm bereits mehrmals gesagt hatten, dass es das nicht besser machte.

„Junji“, zischte You, der neben ihm saß und deshalb die stärksten Nerven brauchte.

„Ich übe den Song“, flüsterte jener zurück.

„Das ist jetzt auch zu spät. Außerdem kannst du ihn doch auswendig.“

„Und wenn ich ihn plötzlich vergesse?“

„Das wirst du nicht.“

„Und wenn doch?“ Darauf gab You ein genervtes Geräusch von sich, wohl nicht mehr gewillt, darauf zu antworten.

„Dann kriegst du morgen nichts zu essen“, sagte Chacha stattdessen, „und jetzt hör auf damit. Wir sind alle nervös.“

„Gah-“
 

Und dann war es plötzlich so weit: Das Licht ging aus, die Scheinwerfer an und aller Aufmerksamkeit richtete sich auf die Bühne, die noch von einem weißen Vorhang verdeckt wurde. Auch dahinter gingen Lichter an, sodass riesengroße Schatten an das Tuch geworfen wurden.

Einzelne Gitarrenklänge ertönten, die sich schon bald zu einer sanften Melodie zusammenschlossen. Dann kam der Gesang hinzu – die männliche Stimme wisperte hauchzarte Worte ins Mikrophon, gerade laut genug, um das Instrument zu übertönen. Nur ein paar Verse, bevor auch die restlichen Mitglieder der Band einsetzten. Es wurde laut und rockig und mit der veränderten Atmosphäre des Songs fiel der Vorhang, gab den Blick auf die Künstler frei.

Sie steckten alle in einer seltsamen Mischung an Klamotten. Schon bei den gestrigen Proben hatte ich sie alle in schlabberigen Sachen gesehen, aber das hier schlug dem Styling-Fass den Boden aus: Einer trug ein ärmelloses Shirt und eine weite Dreiviertelhose in Kombination mit schweren Boots und einer halblangen Weste. Ein anderer – ihr Sänger – hatte sich tatsächlich für diesen Auftritt in einen langen Mantel mit Leopardenfellmuster geworfen und diesen auch noch zugeknöpft, sodass man nichts vom Rest sah. Der Mantel hing fast auf dem Boden, weil die Person darin nicht sonderlich groß zu sein schien. Beide hatten sie verspiegelte Sonnenbrillen auf, wie schon bei der Probe. Selbst wenn sie auf einem der beiden großen Screens, die links und rechts von der Bühne angebracht waren, gezeigt wurden, konnte man kaum etwas von ihren Gesichtern ausmachen.

Und dennoch strahlten sie so viel Energie aus, dass man wirklich spüren konnte, dass sie ihren Job mit Leidenschaft taten. All diese Energie schwappte förmlich über und selbst wenn die Worte komplett auf Englisch waren – was die Wirkung auf mich schon etwas dämmte, da ich mit schmückendem Englisch noch nicht so gut umgehen konnte – strömten sie in mich hinein, bis in jede Faser meines Körpers. Und es gab einen weiteren positiven Aspekt: Der Song hatte eine so einnehmende Wirkung, dass er uns ablenkte. Selbst Junji hatte aufgehört zu trommeln, was ich sehen konnte, als ich einen Blick auf meine Freunde und Kollegen warf.
 

Ein paar sehr kurze Minuten später endete die Performance dann auch schon mit erneuten sanften Gitarrenklängen und unter Danksagungen des Sängers von VAMPS. Dann verschwanden sie, von Applaus begleitet, und gaben die Bühne für die Moderatorin des heutigen Abends frei. Eine Frau, die sich in ein glitzerndes, cremefarbenes Cocktailkleid geworfen hatte und eine blassrosa Blume in ihrem dunklen Haar trug. Sie war sehr hübsch und ihr Lächeln machte sie nur noch hübscher. Als sie zu sprechen begann, könnte man ihre angenehme Stimme vernehmen. Auch ihr Lachen klang schön – hell und klar. Man musste einfach bezaubert sein, wenn man es hörte. Und man hörte es oft, denn sie führte das Publikum gut gelaunt durch das Programm.
 

Die Zeit verging wie im Flug und nachdem Awards für Rock, Pop, Jazz, Hip Hop, R'n'B, das beste Live und das beste Album verliehen waren, waren wir an der Reihe. Es gab jetzt eine kleine Pause, in der die Zuschauer vor dem heimischen Fernseher Werbung sehen würden, und danach kam der Preis für den besten Newcomer. Wir mussten also genau jetzt in den Backstagebereich, damit man uns verkabeln und auch sonst noch fertigmachen konnte. Gleich danach gingen wir hinaus auf den Teil der Bühne, der noch von einer Trennwand verdeckt wurde und warteten darauf, dass die Laudatoren und Gewinner den vorderen Teil verlassen und Platz machen für uns würden.
 

Und dann ging es los. Das Licht wurde heruntergedreht und ein einzelner Scheinwerfer wurde auf die Moderatorin, die uns ankündigte, gerichtet. Ich bekam nicht genau mit, was sie sagte, denn ich war schon in unserer eigenen kleinen Welt, in die wir uns immer dann begaben, wenn wir auf der Bühne standen. Ich hörte nur noch unseren Namen, dann wurde es auch endgültig dunkel und die Trennwand fuhr zurück.

„Der Regen wäscht alles rein“, wisperte ich sanft ins Mikrophon, ohne aufzusehen, „Rain!“

Dann setzte die Musik leise ein und mit ihr auch die Beleuchtung. Langsam schalteten sich Scheinwerfer ein, tauchten uns in blaues Licht, das so seicht war wie meine Stimme, die ich kurz darauf erhob. Ich formte Worte in meiner Muttersprache, die ich so liebte und in der ich mich einfach am besten ausdrücken konnte. Wir hatten bereits eine Übersetzung erarbeitet und damit geprobt, aber es war mir so verzerrt und seltsam vorgekommen, dass wir uns im Endeffekt dazu entschieden hatten, den Song doch auf Japanisch vorzutragen. Die Übersetzung verwendeten wir trotzdem. Sie wurde auf den beiden Screens eingeblendet, genau auf mich abgestimmt, damit jeder verstehen konnte, wovon ich sang.

Die Atmosphäre war bezaubernd und ruhig ... solange bis auch Junjis Einsatz kam und er einen kräftigen Rhythmus auf dem Schlagzeug spielte. Ich sang lauter, emotionaler, ausdrucksvoller, streckte eine Hand aus, um in die Ferne zu greifen und doch nichts fassen zu können. Selbst wenn keiner im Publikum meine Sprache verstand oder die Übersetzung las, sollten sie von den Gefühlen in diesem Song erreicht werden.

Ich beugte mich nach vorn und legte die Hand auf meine Brust, sang wieder sanfte Worte ... nur ein paar Zeilen, um danach erneut auszubrechen. Es war ein Auf und Ab, ein Wechselspiel aus Kraft und Ruhe. Und dann begann es zu regnen. Ein Vorhang aus Wasser fiel vor uns herab und es sah gerade so aus, als ob wir mitten im Regen stehen würden. Die perfekte Kulisse.

Ich ließ mich auf die Knie sinken und sang weiter, ein Hauch von Schmerz in der Stimme. Ich krümmte mich, sah auf, versuchte Hoffnung zu schöpfen, wo keine mehr war. Ich schlug auf den Boden ein, drang tiefer und tiefer in den Abgrund der Gefühle vor, den ich für die Bühne kreiert hatte, bis ich selbst daran glaubte und der Illusion erlag. Es war verloren, alles verloren. Nirgendwo war mehr Rettung und dennoch wollte ich es nicht wahrhaben. Ich raffte mich hoch, brachte alle Kraft auf, die ich noch hatte, sehnte mich nach Erlösung, zog den Ton in die Länge. Und dann war es vorbei.

Ich lehnte mich nach hinten, in die unendliche Dunkelheit meiner verlorenen Welt starrend, während You die letzten Töne auf der Violine spielte. Den aufkommenden Applaus hörte ich kaum; Tränen liefen mir über die Wangen und den Hals, durchtränkten den Stoff meines Shirts.
 

„Hey, G-kun, geht’s dir gut?“, drang Yous Stimme leise in mein Ohr. Ich nickte knapp, bewegte mich sonst aber immer noch nicht.

„Wir müssen von der Bühne, G-kun, die wollen weitermachen.“

„Okay“, bekam ich dann doch hervor, ließ mir von meinem Freund aufhelfen und von der Bühne geleiten; alle anderen waren schon vorausgegangen. Tränen brannten in meinen Augen und ich war immer noch gefangen in den Emotionen, die der Song ausgelöst hatte. Ich fühlte mich schwach und duselig; als wir die Treppe vom Bühnenaufgang heruntergingen sah ich sogar Dinge, die gar nicht da sein konnten. Dennoch blieb ich stehen und starrte auf die Person, die gerade auf dem Weg nach oben war.

Es ging nicht. Das war unmöglich. Ich hatte nicht erwartet, ihn jemals wiederzusehen. Im Grunde hatte ich ihn vergessen. Aber nun war er hier, stand klar und deutlich vor mir; diesmal ohne Sonnenbrille, die sein Gesicht halb verdeckte: Der Sänger von VAMPS und ...

„Hideto.“ Seine Augen weiteten sich, als ich dies murmelte. Sämtliche Zweifel zerstreuten sich von selbst und alles brach über mich herein.

„Hideto!“
 

tbc.
 

~~~ ** + ** ~~~
 

*hust*² Auch hier ein Sorry für den Bandnamen ... und/ oder die Tatsache, dass ich euch VAMPS als Hydes langjährige Band verkaufe. Macht sich aber besser so – weniger Leute, die ich unterbringen muss (mit dem JOB hab ich schon genug zu tun) :P Und ich wollte Laruku einfach nicht so darstellen, wie ich sie hätte darstellen müssen, wenn ich sie für die Fic benutzt hätte; aber das seht ihr später. Sie sind mir schließlich immer noch die Liebsten :3

Für den Song von VAMPS hab ich übrigens an 'Time goes by' gedacht, auch wenn der nich komplett englisch ist, und bei 'Rain' bitte nicht zu sehr auf die Lyrics/ Übersetzung achten – ich hab sie mir nur einmal durchgelesen und mich eher an mein Gefühl beim Hören gehalten.

What can I do?, I ask

„Hideto!“ All die Erinnerungen und Gefühle, die ich verdrängt hatte, kehrten mit einem Mal zurück.

Die Sekunden verstrichen, keiner von uns rührte sich, wir starrten uns nur gegenseitig an – Ungläubigkeit in seinen Augen, Freude in meinen. Ich hatte ihn gefunden! Zum zweiten Mal in meinem Leben.

Dann erst sagte er endlich etwas: „Wie bitte?“ Er sprach englisch und klang dadurch ein wenig anders. Ich hatte ihn schon vorher englisch sprechen hören, aber nie damit gerechnet, dass er es sein würde. Doch nun sah ich ihn und erkannte sie wieder. Wie auch anders? Ich hatte sie sechzehn Jahre lang jeden Tag gehört und verinnerlicht. Die Möglichkeit, sie in diesem Moment nicht zu erkennen, gab es nicht.

„Du bist Hideto“, sagte ich in einem Ton, der nicht fragte, sondern feststellte. Es musste ihm einfach auffallen, wer ich war; spätestens jetzt, wo ich mit ihm redete. Ich war zwar nicht mehr derselbe von vor elf Jahren, aber ich hatte mich doch nicht so sehr verändert, dass mich selbst der beste Freund aus meiner Kindheit und Jugend, für einen Fremden hielt. „Erkennst du mich denn nicht? Ich bin's ... Ga-“

„Sie müssen mich verwechseln!“, schnitt er mir das Wort ab und presste die Lippen kurz aufeinander. Ich bekam ein ungutes Gefühl. „Ich weiß zwar nicht, woher Sie meinen Vornamen wissen, aber ich kenne Sie nicht. Wenn Sie uns dann bitte entschuldigen, wir müssen die nächste Laudatio halten. Danke.“ Ohne auf eine weitere Antwort meinerseits zu warten, erklomm er auch die restlichen Stufen der Treppe, gefolgt von einem Mann, der offensichtlich ebenfalls japanischer Abstammung war.

„Halt, warte bitte!“, rief ich ihm noch beinahe verzweifelt hinterher, aber sie wurden bereits anmoderiert.

„... Und der Award für das beste Musikvideo wird überreicht von den Gewinnern des letzten Jahres! Begrüßen Sie mit mir Hyde und Kaz von VAMPS!“
 

„G-kun, du kennst ihn?“, fragte mich You, der die ganze Szene beobachtete hatte.

Ich nickte, starrte aber weiterhin nach oben zur Bühne und war im Grunde nur halb anwesend: „Ja, er ... er war mein bester Freund bis wir sechzehn waren. Dann ist er weggezogen, hierher nach Amerika.“

„Ach so. Du hast nie über ihn gesprochen.“

„Nein und das hat auch seine Gründe.“ Ich sah ihm nun auch endlich ins Gesicht. „Er ist einfach gegangen, ohne sich wirklich zu verabschieden. Wir hatten seit seinem Umzug keinen Kontakt mehr. Ich hab ihn irgendwie ... vergessen und er mich offenbar auch; nur dass er sich gar nicht mehr an mich zu erinnern scheint.“

„Er ist einfach gegangen? Wieso das?“

„Weiß ich nicht, er wollte es mir nicht sagen.“

„Und jetzt?“

„Das ... weiß ich auch nicht. Ich hätte nicht gedacht, dass er jemals so mit mir reden würde. Es fühlt sich schrecklich an.“ Ich untertrieb maßlos: Eigentlich zerriss es mich fast. Was war ich für ein Narr, dass ich gedacht hatte, über ihn hinweg zu sein? Ja, die Gefühle waren blass und dünn geworden, aber das lag offensichtlich nur daran, dass wir uns die ganze Zeit weder gesehen noch miteinander gesprochen hatten. Jetzt, wo er wieder so nahe war, war alles wieder da – haargenau so stark wie früher.

„Lass uns zu den anderen zurückgehen“, beendete ich meine eigenen Gedanken schließlich, „die fragen sich sonst noch, wo wir so lange bleiben.“

„Willst du nicht lieber zurück ins Hotel?“, wollte You besorgt wissen. Nach Hideto war er der zweite Mensch, der es verstand, meine Stimmung richtig zu deuten. Er wusste, dass ich mich schlimmer fühlte, als ich es zugegeben hatte, und versuchte alles von mir abzuwenden, was mich nur noch mehr runterziehen könnte.

„Nein, es geht. Das hier ist wichtig für uns und ich übersteh das schon. Es war nur der Schreck des ersten Moments, denke ich.“

„Sicher?“

„Ja.“ Nein.

„Okay.“

Dann verließen wir den Backstagebereich wieder und kehrten zu unseren Plätzen zurück. Chacha, Ju-Ken und Junji schauten gerade dabei zu, wie der Preis für den besten internationalen Künstler vergeben wurde, weshalb sie wohl nicht bemerkten, dass wir ein wenig länger als nötig gebraucht hatten. Mir fiel jedoch auf, dass immer noch jemand von uns fehlte.

„Wo ist denn Hima?“, wollte ich leise flüsternd wissen.

„Hat was zu erledigen“, kam es von Ju-Ken.

„Und das konnte sie nicht auf später verschieben?“

„Wenn du dringend auf's Klo müsstest, würdest du auch nicht warten. Spätestens zur After-Show-Party wollte sie wieder da sein. Wenn nicht, hat sie sich sicher verlaufen, und wir sollen sie dann suchen.“

Meine Reaktion darauf, war ein Lachen, das sich partout nicht zurückhalten ließ und mir das missbilligende Räuspern meines Sitznachbarn – irgendein Kerl im Anzug, den ich nicht kannte – einhandelte.
 

Eine halbe Stunde später war die Show beinahe gelaufen. Es stand nun nur noch die letzte Performance aus, die – traditionsgemäß, wie man uns sagte – dem Gewinner des Awards für den besten nationalen Künstler zufiel. Einerseits eine schöne Geste, andererseits Pech für die sechs anderen Nominierten, die leider leer ausgegangen waren und sich trotzdem wie alle anderen vorbereitet hatten. Hima-san hatte sich inzwischen auch wieder eingefunden und sich gleich, nachdem sie sich auf den Platz neben mir hatte fallen lassen, darüber beschwert, dass es bei einer Veranstaltung diesen Ausmaßes wirklich mehr Damentoiletten geben müsste. Aber dafür hätte sie eine Überraschung für uns, hatte sie mit einem Augenzwinkern hinzugefügt.

Ganz zum Schluss standen noch einmal alle Gewinner des Abends auf der Bühne, während eine Band bestehend aus sechs Männern ihren Auftritt abhielt. Sie hatten einen sehr eigentümlichen Stil, der sich auf der anderen Seite aber doch sehr gut anhörte und begründete, wieso sie gewonnen hatten.
 

Danach ging es zur After-Show-Party, die ebenfalls in diesem Gebäude stattfinden würde. Allerdings mussten wir dazu den Saal verlassen und in einen anderen Teil des Casinos wechseln. Dort hatte man eine Tanzfläsche, ein Buffet, Sitzecken, angenehme Dekoration und noch alle möglichen anderen Dinge vorbereitet, damit sich die Gäste wohlfühlten.

„Hima, verrätst du uns jetzt endlich, was das für eine Überraschung sein soll?“, hakte ich nach, während wir uns durch die Menge schoben. Sie hatte es uns einfach nicht sagen wollen; egal wer sie gefragt hatte und wie freundlich er dabei gewesen war.

„Ihr Männer seid so ungeduldig“, sagte sie wie auch die letzten paar Male (und bei jeder Antwort hatte sie ein wenig genervter geklungen), „wartet es doch ab, ihr werdet es sowieso gleich wissen.“

„'Gleich' ist eine relative Größe.“

„Fünf Minuten noch.“ Sie führte uns durch den Raum, vorbei am Buffet – Junji jaulte auf wie ein getretener Hund – und in Richtung der Tische. Unterwegs bot uns ein Kellner ein Tablett voller Sektgläser an, wovon wir uns jeder eins nahmen. Ich blieb noch kurz stehen und genehmigte mir gleich einen Schluck, ehe ich den anderen wieder folgte. Sie waren alle vor mir, als wir dann bei einem der runden Tische stehenblieben, sodass ich zwar mitbekam, dass dort schon jemand saß, aber nicht sehen konnte, wer es war. Erst nachdem sich jeder einen Platz suchte und mein Sichtfeld frei wurde, erblickte ihn. Mir fiel fast das Glas aus der Hand.

„Hima, sag nicht ...“, begann ich, brachte meinen Satz aber nicht zu Ende.

„Doch“, sagte sie mit einem Lächeln im Gesicht. „Hab ich das nicht gut hinbekommen?“ Es war eine Frage, auf die sie keine Antwort erwartete.

Ich ließ meinen Blick von unserer Managerin zu Hideto wandern. Er saß nur zwei Plätze neben ihr und bedachte mich mit demselben kühlen Blick, den er auch vorhin, als wir uns hinter der Bühne begegnet waren, schon aufgesetzt hatte.

„Hallo“, sagte ich, schenkte ihm ein Lächeln und ließ mich auf dem verbleibenden Stuhl nieder. Ich saß ihm jetzt genau gegenüber.

„Weshalb wir Sie sprechen wollten ...“, begann Hima-san auf Englisch, wurde aber erst einmal vom Gitarristen der anderen Band unterbrochen.

„Sie dürfen gerne japanisch sprechen, wenn Sie wollen. Wir sind beide japanischer Abstammung und haben den Großteil unseres Lebens dort verbracht, bevor wir uns hier in den USA kennengelernt haben. Seine Muttersprache vergisst man nicht.“

„Vielen Dank.“ Hima-san deutete eine leichte Verbeugung an, ehe sie sie das Gespräch tatsächlich auf Japanisch fortsetzte. Sie stellte uns der Reihe nach vor und auch uns wurden die Namen der anderen beiden gesagt, selbst wenn wir sie bei der Verleihung schon gehört hatten. Ich gab lediglich noch eine höfliche Begrüßung von mir und hielt mich ansonsten aus der Konversation heraus. Die anderen übernahmen das Reden, sie konnten das auch ohne mich sehr gut.

Ich fühlte mich seltsam, die ganze Situation wirkte so erdrückend. Hideto saß mir gegenüber, kühl und distanziert. Und das nachdem wir – die besten Freude – uns elf Jahre lang nicht gesehen hatten. Wieso? Wieso war es nur so? Ich freute mich, dass ich ihn endlich wiedergefunden hatte, und wartete nur auf den richtigen Moment, ihn noch einmal zu sprechen. Es konnte nicht sein, dass er mich tatsächlich komplett vergessen hatte. Mich und all die Zeit, die wir miteinander verbracht hatten.

Ab und zu sah ich ihn an, doch er blickte nie zurück. Er schaute immer zu einem der anderen oder auf die Tischdekoration hinunter, mit steinharter Mine. Er setzte dann sogar seine verspiegelte Sonnenbrille auf, auch wenn das eine ziemlich unhöfliche Geste war. Mein Herz sank, als ich das sah.
 

Irgendwann schien er wohl keine Lust mehr auf die Gespräche zu haben, denn obwohl sich fast alle angeregt unterhielten, lautete sein erster Wortbeitrag in unserer Runde: „Ich würde dann gern gehen, diese After-Show-Parties liegen mir nicht so. Kaz?“

„Oh ...“, entschlüpfte es dem Angesprochenen, „ich würde gern noch bleiben.“

„Tu dir keinen Zwang an, ich kann auch alleine gehen.“

„Huh? Ist irgendwas mit dir?“

„Nein, alles bestens.“

„Hyde-“

„Lass mal.“ Damit erhob er sich, um die Lokalitäten zu verlassen.

„Warte!“, rief ich dann auf einmal, ohne es wirklich geplant zu haben, „wenn es dir ... Ihnen tatsächlich nicht liegt, dann könnten wir das hier doch in ein anderen Umfeld verlagern. Es lässt sich sicher eine Bar finden, in die wir uns setzen können. Dann ist alles etwas inoffizieller und ungezwungener.“ Ich hoffte zumindest, dass es das sein würde.

„Ich habe wirklich keine-“, setzte er bereits an, wurde aber von seinem Kollegen abgewürgt, indem dieser einfach zusagte. „Gute Idee.“

„Sag mal ...“

„Ach, hör auf!“ Kaz' Worte waren streng und in dieser Umgebung nicht gerade angebracht, aber man sah es ihm im Gesicht an, dass er es nicht bösartig meinte. „Du bist schon den halben Abend so mies drauf, ein bisschen Spaß wird dir gut tun. Oder hast du Angst, dass du dich amüsieren könntest?“

„Als ob.“

„Dann ist doch alles geklärt.“ Damit war es abgemacht und Hideto musste sich geschlagen geben. Sonderlich glücklich sah er dabei nicht aus, aber trotzdem schloss er sich brav unserer Gruppe an, die sich auf den Weg nach draußen machte.

Kaz führte uns, da er schon einen Ort wusste, an dem wir ein wenig ungestörter sein konnte. Nun ja, sie waren auch nicht zum ersten Mal in der Stadt, wie er uns vorhin erzählt hatte. Nach ein paar Minuten des Laufens kehrten wir dann in ein Lokal ein, in das man erst nur hineinkam, wenn man einen gewissen Status hatte. Den Status eines in Amerika bekannten Musikers zum Beispiel.

Eine Hostess brachte uns in einen kleinen, separaten Raum,wo wir uns ausgelassen unterhalten konnten, ohne dass uns jemand störte oder wir von jemand anderem gestört wurden. Und sobald das Eis auch bei Hideto gebrochen war, würden wir ebenfalls richtig entspannen können. Wir orderten Drinks und Cocktails, unterhielten uns neben Dingen, die das Business angingen, mehr und mehr über Privatsachen, gelangtem relativ schnell zum Du und endeten bei noch mehr Drinks und Cocktails. Man könnte auch sagen, dass wir uns gegenseitig Saufgeschichten erzählten. Zumindest galt das für die meisten von uns. Einzig Hideto hielt sich weiterhin im Hintergrund und tat das einzige, was ihm da noch übrig blieb: Er widmete sich seinen Getränken.

Wenn du so weitermachst, redest du noch von ganz alleine, schoss es mir durch den Kopf, als die Hostess erneut mit einem Tablett hereinkam und das bunt dekorierte Glas vor ihm auf dem Tisch abstellte.

„Danke“, murmelte er auf Englisch, zog es zu sich heran und nippte sofort daran.
 

Der Abend schritt schnell voran und je später es wurde, desto lustiger wurde es auch. Das war zu einem Großteil sicherlich dem Alkohol geschuldet, aber wer sollte es uns verbieten? Die Preisverleihung lag hinter uns, wir hatten den ganzen nächsten Vormittag Zeit, um uns von diesem Gelage zu erholen, und das wichtigste Argument: Jetzt war es sowieso zu spät.

Vollzählig waren wir aber auch schon nicht mehr. Hima-san hatte sich als erste verabschiedet, da sie es nicht übertreiben wollte. Dann hatte auch Chacha die Runde verlassen, der den betrunkenen Junji ins Hotel bringen und gleich dort bleiben wollte. You ließ sich nichts anmerken, hatte aber auch noch nicht so viel intus; ich fühlte mich ganz in Ordnung und Ju-Ken war ziemlich trinkfest. Auf Kaz schien das ebenfalls zuzutreffen und Hideto ... nun ja, Hideto war nicht mehr zu helfen; die ganzen süßen Cocktails zeigte ihre Wirkung deutlich. Er redete wie ein Wasserfall – mit jedem von uns, also auch mit mir. Er behandelte mich wie einen normalen Menschen; nicht wie jemanden, dem er am liebsten nie begegnet wäre. Und genau das freute mich unheimlich. Vergessen war die Tatsache, dass er mich anfangs so ignoriert hatte. Später fing er auch an zu singen: Laut, mitten in der Strophe plötzlich das Lied wechselnd und so schief, dass ihm keiner geglaubt hätte, dass er eigentlich ein erfolgreicher Sänger war.

„Hyde, du musst ins Hotel“, meinte Kaz und packte ihn am Oberarm, damit er nicht umkippte.

„Ich will nich ins Bett“, protestierte dieser und versuchte die Hand seines Bandkollegen wegzuschlagen.

„Dann trink wenigstens nicht mehr so viel.“

„Sollich verdurstn? Bedienung, noch einen bitte!!“

„Hyde ...“ Kaz seufzte, schüttelte den Kopf und wandte sich dann wieder an uns. „Denkt jetzt bitte nichts Schlechtes von ihm, er betrinkt sich eigentlich nicht. Das letzte Mal ist schon ewig her.“

„Macht nichts“, winkte You die Entschuldigung ab, „Junji hat sich ja auch schon daneben benommen.“

„Okay, Jungs. So leid es mir tut, aber ich muss dann wohl auch. Wir sehen-“

„Ich könnt gehn“, warf ich dann auf einmal ein.

„Hm?“

„Ich wollt bald los und könnt ihn mitnehm.“

„Würdest du das wirklich tun? Wäre echt nett von dir.“

„Klar doch.“ Ich nickte eifrig und griff schon einmal nach meiner Jacke, die ich vor einer Weile ausgezogen und hinter mir abgelegt hatte. „Welches Hotel?“

„Golden Palm's.“

„Cool! Wir auch.“ Das traf sich doch! Ich ließ mir die Zimmernummer und den Schlüssel geben und stand dann auf. Nach dem langen Sitzen war ich etwas wackelig auf den Beinen und die Umgebung drehte sich für einen Moment, hielt aber schon bald wieder an. Vermutlich der Kreislauf und das schnelle Aufstehen.

„Willst du nicht noch austrinken?“, warf Ju-Ken ein und deutete auf mein mehr als halbvolles Glas.

„Oh, ja“, stimmte ich zu, setzte meinen Cocktail an und leerte ihn in einem Zug. Zucker und Alkohol fluteten meine Sinne und stiegen mir zu Kopf. Doch ich ignorierte das Gefühl, zog stattdessen Hideto auf die Füße und hakte mich bei ihm ein.

Zusammen wankten wir aus dem Lokal, winkten den Hostessen beschwingt zu und gingen auf die Straße hinaus. Der Weg zu unserem Hotel war nicht weit, es würde also nicht lange dauern, selbst wenn ich mich langsam ein wenig tipsig fühlte. Hideto schmiegte sich regelrecht an meinen arm und lächelte glückselig. Er war so dicht, dass es wirklich erstaunlich war, dass er nicht jede Menge Zeug ausgeplaudert hatte. Entweder war das Glück oder unterbewusste Selbstbeherrschung.
 

„Ga-chan?“, fragte er dann.

„Ja?“

„...“

„Hm?“

„Da is ... so ne ... wie heiß' das?“ Er rieb sich mit der rechten Hand über das Gesicht und deutete dann auf etwas, das sich direkt vor uns befand. Ich musste dreimal hinsehen, um es genau zu erkennen. Meine Augen ließen wohl schon ein wenig nach.

„Sieht aus wie 'ne Kirche“, antwortete ich ihm.

„Ja, genau ... Kirche“, sagte er und kicherte, „weiß' du, dass ma hier gans schnell heiratn kann? Rein un zack bissu dran, gans einfach.“

„Echt?“

„Hm. Willsu auch ma?“

„Heiratn?

„Jep.“

„Du hast mir gar kein' Antrag gemacht.“

„Holn wa nach.“ Dann schleifte er mich auch schon hinein.

Und ich hätte wissen müssen, dass mein Kreislauf vollkommen in Ordnung war und ich auch nichts an den Augen sondern viel mehr im Kopf hatte. Ich war schlicht und einfach betrunken.
 

tbc.
 

~~~ ** + ** ~~~
 

Heiraten oder nicht heiraten? Das hier hier die Frage. Die zugehörige Antwort gibt’s im nächsten Kapitel xD

Aber narg, schon wieder Besoffene >O< Es ist so ein Klischee ûu Die Sache mit der Kirche war nur leider die Initialzündung für die ganze Story und dazu mussten sie schön dicht sein. Ohne Klischee-Besäufnis also keine FF. Freut ihr euch? :3

Where is love?

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war es kein sanftes, langsames Munterwerden. Nein. Es war eher ein Aus-dem-Bett-fallen, weil jemand den ganzen Raum zusammenschrie.

„Was'n passiert?“, fragte ich automatisch, als ich aus dem Schlaf hochschreckte und mich in einem fremden Zimmer wiederfand – in einem fremden Bett, um genau zu sein. Wenn auch komplett angezogen.

Was passiert ist?!“, schrie die Person, die mich geweckt hatte. Der schrille Ton dröhnte in meinem Kopf, einen leichten Schmerz hinter meiner Stirn hervorrufend. Zum Glück schien ich keinen Kater zu haben, sonst würde sich das hier noch wesentlich schlimmer anfühlen. „Wir haben geheiratet, du Idiot! Ge-hei-ra-tet!“ In dem Moment flogen meine Augen förmlich auf und ich erblickte Hideto – er stand da, mit wutverzerrtem Gesicht, geballten Fäusten und funkelte mich an.

Im Hintergrund lief ein Fernseher und beim zweiten Hinsehen registrierte ich, dass ich selbst dort zu sehen war, zusammen mit ihm vor einem kitschigen Altar stehend. Da fiel mir alles wieder ein. Wir waren auf dem Weg ins Hotel gewesen, als er mich auf einmal in diese Kirche geschleift hatte. Sogar zu dieser späten Stunde war noch ein Standesbeamter dort gewesen, bei dem wir ... einfach geheiratet hatten ... aus Spaß an der Freude.

„Wieso hast du das mit mir gemacht?!“, schrie er weiter, „ich bin erledigt, wenn das rauskommt! Und das alles, weil du unbedingt hier aufkreuzen musstest! Du konntest mich ja nicht in Ruhe lassen. Verdammt nochmal, ich hatte meine Gründe, dass ich mich nie gemeldet habe! Gott, Gackt ... verschwinde endlich aus meinem Leben! Du bringst nur alles durcheinander; das hast du damals schon getan!“

„Moment mal!“, schaffte ich es dann endlich auch, mich zu Wort zu melden und sein Geschrei zu unterbrechen, „zum Heiraten gehören immer noch zwei! Du hast genauso Ja sagen müssen wie ich.“

„Aber ich war betrunken! Ich war unzurechnungsfähig!“

„Ja, denkst du denn, dass ich zurechnungsfähig war?“

„Wer weiß?“, schnappte er zurück.

„Was soll das jetzt wieder heißen? Und überhaupt: Ich soll dein Leben durcheinandergebracht haben? Wann?“

„Als du-“ Er war drauf und dran mir endlich – nach elf Jahren – den Grund für sein abschiedsloses Verschwinden zu sagen, ich hatte es im Gefühl. Aber er brach ab und giftete stattdessen nur: „Vergiss es! Hat sowieso keinen Zweck mehr.“

„Und du scheinst nicht zu bedenken, dass ich es nicht vergessen kann!“, machte ich meinen Standpunkt klar. Ich wollte es wissen. „Ich habe es elf Jahre lang nicht vergessen können, es wird auch jetzt nicht klappen.“

„Dann ist das dein Pech!“

„Was ist nur los mit dir, Hideto?“ Meine Worte waren ruhig, eigentlich sogar schon besorgt. Dennoch passten sie ihm nicht, denn er schrie wieder.

„Zur Hölle nochmal! Nenn mich nicht so! Mein Name ist Hyde, Hideto gibt es nicht mehr. Besonders für dich nicht!“

„Gestern gab es ihn scheinbar noch“, erinnerte ich ihn, „du hast mich Ga-chan genannt.“

„Das ist mir scheißegal!“ Zur Bekräftigung seines Ärgernisses versetzte er dem Bettpfosten einen Tritt und wütete dann weiter durchs Zimmer, griff sich wahllos Sachen, die wohl ihm gehörten, und pfefferte sie in eine offene Reisetasche. Als er dann seine Jacke vom Tisch nahm, stockte er und bekam darauf einen erschrockenen Gesichtsausdruck.

„Gah!“, stieß er aus und starrte dann wieder böse zu mir. Ich zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Eheringe!“, grollte er und warf mir ein paar Zettel zu. Die Rechnung wie ich vermutete. „900 Dollar das Stück und ich hab sie bezahlt! Genau wie diese ganze bescheuerte Hochzeit. Verdammte Scheiße!“

„Ich geb dir das Geld zurück“, sagte ich leise, während ich mir die Blätter, die er mir 'gegeben' hatte, durchlas. Es war nicht nur die Rechnung, sondern auch unsere Heiratsurkunde. Zwar hatte ich in meinem Leben noch nie ein solches Dokument gesehen (erst recht nicht eins aus den Vereinigten Staaten), aber das hier sah ziemlich echt aus. Da waren unsere Namen, Geburtsdaten, Unterschriften und der Stempel und die Unterschrift des Standesbeamten. Es war also wirklich offiziell, ich war mit meinem ehemaligen besten Freund verheiratet. Dieses Dokument zu sehen machte die ganze Heiraterei noch einmal viel realer, auch wenn ich mich daran erinnerte, es getan zu haben.

„Bezahl die Scheidung und wir sind quitt; den Rest kannst du stecken lassen. Ich will das nur so schnell wie möglich wieder rückgängig machen!“ Auf diese Worte schaute ich auf und starrte ihn an.

„Was guckst du so?“, fragte er genervt, als er meinen Blick bemerkte.

„Nichts. Ich hab nur noch nicht dran gedacht, dass wir das wieder rückgängig machen sollten.“

„Natürlich sollten wir das! Oder glaubst du ich bleibe aus Jux mit dir verheiratet? Vielleicht habe ich ja eine Freundin, die ich heiraten möchte.“

„Natürlich ...“, stimmte ich zu und hakte dann nach, einfach so, „hast du denn?“

„Ich wüsste zwar nicht was es dich anginge, aber nein, habe ich nicht.“

„Ich wollte nur fragen, immerhin waren wir mal beste Freunde“, begründete ich meine Frage und zuckte mit den Schultern.

„Du sagst es: Wir waren beste Freunde. Du kennst mich nicht mehr und ich dich nicht. Punkt. Wir werden uns sowieso nie wieder sehen, wenn ich erstmal weg bin. Apropos ... würdest du mich dann bitte allein lassen? Ich muss noch zusammenpacken. Und du solltest dich um die Scheidung kümmern, damit das so schnell wie möglich vom Tisch ist. Danke.“ Seine Stimme hatte des gleichen kühlen und desinteressierten Ausdruck wie gestern hinter der Bühne. Er sah mich auch nicht an, während er dies sagte, sondern räumte nur weiter Sachen in seine Tasche hinein. Ich seufzte und wusste, dass ich im Moment nichts tun konnte. Er war mies drauf und das würde sich nicht ändern, wenn ich gegen seinen Willen bei ihm blieb und auf ihn einredete. Nicht, dass ich nicht genau das gern getan hätte – ich sah ihn schließlich noch immer als meinen Freund an – aber es war gerade einfach nur unpassend und falsch.
 

Ich stand aus dem Bett auf und machte mich auf die Suche nach meinen Schuhen. Sie waren quer durch das Zimmer verstreut; einer lag vorn an der Tür und der andere unter dem kleinen Tisch, von dem ... von dem Hyde seine Jacke und die Papiere für unsere Ehe genommen hatte. Auf der dunklen Tischplatte lagen nun noch zwei goldene Ringe – beide mit einem aufwändig eingearbeiteten Muster und drei winzigen Steinchen versehen – und eine offene, leere DVD-Hülle.

„Was machen wir mit dem ganzen Zeug hier?“, stellte ich die Frage in den Raum, schaute zu ihm hinüber und deutete gleichzeitig auf die Sachen.

„Die Ringe bring ich zurück, ich hab sie schließlich bezahlt. Mit der DVD kannst du machen, was du willst, ich brauch sie nicht“, kam die klare Antwort, bei der er mich wieder einmal nicht eines Blickes würdigte.

„Okay“, stimmte ich deshalb nur zu, nahm die DVD, die inzwischen durchgelaufen war, aus dem Player und legte sie zurück in die Hülle. Wenn er sie nicht wollte, nahm ich sie eben. In ein paar Jahren würde ich mich sicher köstlich darüber amüsieren, einmal betrunken in Las Vegas geheiratet zu haben.

Nachdem ich mir die Schuhe wieder angezogen hatte, hob ich auch meine Jacke vom Boden auf und verließ dann das Zimmer. Ich murmelte noch eine kurze Abschiedsfloskel, bekam aber lediglich ein „Ja“ zurück.
 

Draußen auf dem Gang musste ich mich erst einmal orientieren und schauen, wo ich überhaupt war. Auf der Zimmertür war ein Schild mit der Nummer 517 angebracht. Fünfter Stock also, zwei Etagen über unseren Räumen, die sich im dritten befanden. Ich machte mich auf den Weg dorthin und schaute zwischendurch auf die Uhr meines Handys. Es war kurz nach neun – kein Wunder, dass sich noch niemand Sorgen um mich gemacht hatte. Sie würden sicherlich alle ihren Rausch ausschlafen. Damit täuschte ich mich allerdings, denn just in diesem Augenblick klingelte mein Telefon.

„Ja?“, fragte ich, als ich den Anruf annahm, ohne großartig darauf zu achten, wer da mit mir sprechen wollte.

„Gackt, wo steckst du?“ Chacha war dran.

„Im Hotel, bin schon auf dem Weg zu euch.“

„Ach so ... ich hab mir schon Gedanken gemacht, als du heute Morgen nicht in deinem Bett warst. Wann bist du aufgestanden?“

„Gestern früh.“

„Wie bitte?“, kam es verwirrt aus dem Hörer.

„Ich hab woanders geschlafen.“

„Aha. Und wo genau?“ Immer noch ein gewisses Maß an Verwirrung, wenn auch weniger als eben.

„Das ... erzähl ich dir später. Am besten wenn die anderen dabei sind. Es gibt da nämlich ein Problem.“

„Hast du was angestellt?“

Ich lachte bitter auf und erklärte dann: „Kann man so sagen. Du erfährst es dann, ja? Ich will nicht alles dreimal erzählen müssen, weil der Rest noch schläft.“

„Meinetwegen.“

„Danke. Bis gleich.“

„Jep.“
 

Keine fünf Minuten später klopfte ich an der Tür unserer Suite und wurde von Chacha eingelassen.

„Die anderen sind wach und Hima-san hab ich auch schon Bescheid gegeben. Junji hängt nur gerade neben dem Klo, weil er befürchtet, sich sämtliche Getränke von gestern Abend nochmal durch den Kopf gehen zu lassen“, wurde ich mit einem wahren Wortschwall empfangen.

„Wenigstens gleich das Klo und nicht der Teppich, lassen wir ihn lieber da“, murmelte ich scherzhaft und trat ein. You saß neben Ju-Ken auf der Couch im Wohnbereich unserer Suite und Hima-san hatte es wohl noch nicht geschafft, herzukommen. Dafür hatte es sich allerdings Kaz in einem der beiden Sessel gemütlich gemacht.

„Morgen!“, begrüßte er mich, als ich die Augenbrauen verwundert nach oben zog.

„Morgen. Wie kommst du denn hierher?“ Ich meinte es nicht böse, es kam mir nur seltsam vor.

„Ich hab auf dem Sofa übernachtet. Dir hab ich den einzigen Schlüssel zu unserem Zimmer gegeben und Hyde hat mir nicht aufgemacht, als ich geklopft hab. Hat vermutlich schon geschlafen. Und wo warst du?“

„Bei Hyde.“

„Tatsächlich?“ Er klang angenehm überrascht. „Dann scheint ihr euch ja blendend zu verstehen.“

„Ja, könnte man denken.“

„Könnte man?“

„Könnte man. Erklär ich euch, sobald Hima da ist und-“

„Hier!“, rief Besagte auch schon durch den Raum und schloss die Zimmertür hinter sich, „also: Was hast du angestellt? Chacha wollte mir nichts verraten.“

„Ich wusste auch nichts, was ich dir hätte verraten können“, verteidigte sich dieser und gesellte sich zu You und Ju-Ken auf die Couch. „Dann spuck es mal aus, Gackt.“ Alle Blicke ruhten auf mir und ich kam nun wirklich nicht mehr umhin, mit der Sprache herauszurücken. Ich beschloss daher, es möglichst kurz zu machen.

„Also“, begann ich und räusperte mich noch einmal, „um es auf den Punkt zu bringen: Ich hab letzte Nacht geheiratet. Und bevor ihr mich zu irgendwas beglückwünscht, sag ich euch gleich, dass wir das umgehend wieder rückgängig machen werden. Hyde hat es nicht sonderlich gefallen, dass er ungewollt zu meiner Braut gemacht wurde.“

Hyde?!“, kam es sofort von allen Anwesenden, als ich meinen letzten Satz beendet hatte.

„Ja, Hyde. Wir waren ziemlich betrunken, als wir in diese Kirche rein sind. Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte, aber es ist nun mal so und ich muss sehen, wie wir da wieder rauskommen.“

„Und das bei seiner momentanen Laune“, seufzte Kaz und fuhr sich durch die Haare. Ja, das hatte ich mir auch schon gedacht. Wenn er noch Hideto gewesen wäre, hätte ich gewusst, wie ich mit ihm umgehen musste, aber jetzt mit Hyde ...

„Hast du vielleicht einen Tipp für mich?“, fragte ich den Gitarristen von VAMPS.

„Kommt drauf an“, meinte dieser und zuckte mit den Schultern. „Hat er gesagt, dass du ihn in Ruhe lassen sollst?“

„Ja.“ Die Frage war noch relativ normal, jeder würde das fragen.

„Hat er sich höflich bedankt, nachdem er dich weggeschickt hat?“

„Ja.“ Das wurde nun schon spezieller.

„Hat er sich die ganze Zeit mit etwas anderem beschäftigt und Desinteresse an dir gezeigt?“ Okay, Kaz wusste genau, was hier vor sich ging!

„Mensch, ja! Und was heißt das jetzt?“

„Nun ja“, er druckste ein wenig herum, suchte wohl nach Worten, die nicht ganz so hart klangen, „eigentlich ist das nichts Besonderes. Er reagiert immer so, wenn er ihn etwas wirklich nervt.“

„Ganz toll“, grummelte ich.

„Das darf man aber nicht zu ernst nehmen. Er beruhigt sich schon wieder, wenn er lange genug geschmollt hat. Nur ... er war gestern schon so komisch, nachdem wir euch hinter der Bühne begegnet sind. Er hat schließlich erst angefangen, mit dir zu reden, als er schon nicht mehr ganz nüchtern war. Allein vom Hörensagen kann ich es allerdings schlecht einschätzen; ich muss selbst mit ihm sprechen.“

Das würde ich ja erstmal nicht machen.“

„Keine Sorge, er wird mir den Kopf schon nicht abreißen“, entgegnete Kaz gelassen und grinste leicht. „Ich rede am besten gleich mit ihm. Könnte aber ein wenig dauern, da ich ihn sicher erst von seiner Palme runterholen muss. Komm in ... sagen wir zwei Stunden nochmal bei uns vorbei, dann dürfte ich ihn so weit haben.“

„Okay, nett von dir“, bedankte ich mich aufrichtig bei ihm.

„Kein Problem. Ihr seid echt coole Jungs, da wär es schade, wenn wir wegen Launen schon zu Anfang ein schlechtes Verhältnis hätten.“ Es fühlte sich wirklich gut an, einen 'Verbündeten' in dieser Sache zu haben. Er verabschiedete sich noch freundschaftlich von uns und ging dann auch schon – um mit Hyde zu reden, wie er es angekündigt hatte.
 

Der Rest von uns redete noch eine Weile über die Misere, in der ich mich befand, während Hima-san sich sofort hinter ihr Telefon geklemmt hatte und alles tat, um diese Blitzehe wieder rückgängig zu machen. Dabei lief sie ständig in unserer Suite hin und her und versuchte den Leuten am anderen Ende der Leitung klarzumachen, dass die Sache wirklich dringend war und möglichst schnell aus der Welt geschafft werden musste. Ab und zu stieß sie genervte Seufzer aus oder raufte sich die Haare, wenn man sie wieder einmal an die nächste zuständige Person weiterleitete. Es dauerte eine kleine Ewigkeit und das wo wir in nicht allzu ferner Zeit weiterreisen mussten Wir wurden heute Abend bereits in Los Angeles erwartet, um dort gleich morgen früh einen Promotionaufritt zu geben.
 

„Fangt schon mal an zu packen“, meinte Hima-san und hielt währenddessen das Mikrophon ihres Handys mit einer Hand zu, „dann verspäten wir uns nicht zu sehr, selbst wenn es sich noch hinziehen sollte.“ Ihr Wunsch war unser Befehl, wir wussten schließlich, wie wichtig unser Zeitplan war. Ich räumte (wie die anderen auch) alle meine Sachen in meinen Koffer – alle bis auf die DVD, die ich aus Hydes Zimmer mitgebracht hatte. Er musste sie schon gesehen haben, sonst hätte sie heute Morgen nicht in seinem Player gelegen. Ich hingegen hatte nur ein paar kurze Blicke darauf werfen können, ehe Hyde mich erneut angeschrien hatte.

„Was ist das?“, fragte You dann auch prompt, als er offenbar ebenfalls zu Ende gepackt hatte.

„Die Hochzeit“, antwortete ich knapp, ohne ihn dabei anzusehen.

„Das wird gefilmt?!“

„Sieht so aus. Ich hab's mir noch nicht richtig angesehen.“

„Ach so ... ich schau dann mal, was die anderen machen und wie es Junji geht.“

„Tu das.“ Es war ein Wink mit dem Zaunspfahl. Er verließ den Raum und ließ mich mit einem Fernseher und einem DVD-Player, wie sie in jedem Schlafzimmer standen, allein. Wieso diese Möglichkeit also nicht nutzen?

Ich stand auf, schaltete beide Geräte ein und schob die DVD in den Player. Das Video startete von allein und ich schnappte sofort nach Luft, denn ich hatte nicht erwartet, mal mit so einer Musik zu heiraten.
 

Eine dunkle, kalte Melodie ertönte; eine Melodie, die eigentlich so gar nicht für eine Hochzeit gemacht war: Darth Vader's Themasong aus Star Wars. Wer hatte sich das nur ausgesucht?!

Eine Weile war nichts zu sehen, nur eine Art Altar, ein paar billige Blumengestecke und ein großes Holzkreuz an der Wand im Hintergrund. Dann tauchte ein ganz in weiß gekleideter Mann auf, stellte sich in die Mitte vor den Altar und winkte irgendjemandem zu. Er hatte uns zugewunken, wie sich ein paar Momente später herausstellte, denn direkt darauf erschien ich auf dem Bild, Hyde bei mir untergehakt und kichernd.

Als wir schließlich direkt vor dem Herren in weiß standen, begann dieser in feierlicher Stimme mit uns zu reden. Nein, nicht wirklich mit uns. So wie Standesbeamte eben bei einer Hochzeit mit einem Paar redeten, was gleich heiraten würde.

„Wir haben uns hier eingefunden, um diese zwei Menschen vor mir in den Bund der Ehe zu geleiten.“ Klasse! Wir haben uns hier eingefunden ... das Wir bestand in dem Falle aus 'dem Paar' und ihm. Aber ich konnte mich auch nicht daran erinnern, dass es mich in dieser Nacht großartig gestört hätte. Wie auch? Ich hatte schließlich sogar protestlos geheiratet!

„Deshalb frage ich Sie nun ...“, er unterbrach sich, schaute zu mir und wartete wohl auf unsere Namen. Die gab ich ihm auch, nachdem ich zwei Sekunden gebraucht hatte, um zu registrieren, was er von mir wollte.

„Gackt Camui und Hideto Takarai“, lallte mein Ich auf dem Bildschirm, stutzte und richtete sich an Hyde, „du heißt doch noch Takarai, oder?“

„Weiß nich genau ... bestimmt ...“, lallte dieser ebenso. Wir waren wirklich beide so dicht. „Aber du heiß' doch Ga-chan und nich ... nich ...“

„Hm, Ga-chan.“

Der Standesbeamte räusperte sich und setzte dann von Neuem an: „Deshalb frage ich Sie nun, Gackt Camui, ob Sie den hier anwesenden Hideto Takarai zu ihrem gesetzlich angetrauten Ehemann nehmen wollen und ihn lieben und ehren wollen, bis dass der Tod Sie scheidet?“

„Ich will.“ Ich saß vor dem Fernseher und konnte nur den Kopf schütteln. Was hatte ich mir dabei gedacht, so klar und deutlich Ich will zu sagen?

„Und ich frage Sie, Hideto Takarai, ob Sie den hier anwesenden Gackt Camui zu ihrem gesetzlich angetrauten Ehemann nehmen und ihn lieben und ehren wollen, bis dass der Tod Sie scheidet?“

„Ich ... ich ...“ Wenn ich nicht schon gewusst hätte, wie das ganze ausgeht, hätte ich jetzt gehofft, dass Hyde mit einem Nein oder gar nicht antworten würde. Aber dem war nicht so. „Ich will.“ Und damit war es zu spät. So hatten wir also geheiratet.

„Hiermit erkläre ich Sie zu gesetzlich angetrauten Ehemännern. Sie dürfen sich jetzt-“
 

Ich schaltete den Fernseher aus, bevor das Video zu Ende war, packte die DVD zurück in ihre Hülle und verstaute sie dann in meinem Koffer. Lieben und ehren bis dass der Tod uns scheidet ... daraus wurde ja nun nichts, wo Hyde sich doch so aufgeregt hatte und Hima-san schon seit über einer Stunde am Telefon hing, um alle Hebel in Bewegung zu setzen. Ich-

„Gackt, kommst du mal bitte?!“, rief Hima-san dann auf einmal durch die geschlossene Tür, unterbrach damit meine Gedanken und erschreckte mich zu Tode. Ich atmete einmal tief durch, weil mein Herz nun förmlich raste.

„Gackt!“

„Sofort!“, rief ich zurück und machte, dass ich hoch und zu ihr kam. „Hast du was erreicht?“

„Ja, du hast heute Nachmittag um 17 Uhr einen Termin bei dem Standesamt, bei dem ihr geheiratet habt. Dort wird dann alles geregelt. Hyde sollte auch anwesend sein, sonst dauert es länger, weil er seine Unterschrift erst nachreichen müsste. Sag ihm lieber gleich Bescheid, damit er es einplanen kann.“

„Mach ich sofort. Und danke, Hima.“

„Bitte bitte, wir hängen da alle mit drin.“ Da stimmte ich ihr zwar nicht ganz zu, aber ich widersprach im Moment lieber nicht. Es gab dringendere Dinge zu erledigen. Die Zeit, die Kaz sich genommen hatte, war auch langsam ran, sodass ich mich tatsächlich sofort auf die Socken machen konnte.
 

Ich ging nach oben zu dem Zimmer, welches sich Hyde und Kaz teilten, und noch bevor ich die Hand erheben konnte, um anzuklopfen, flog die Tür direkt auf.

„Ich geh eine rauchen!“, grollte die kleine Gestalt, die mit dem Rücken zu mir in der Tür stand und schimpfte, „und wenn du irgendwas rumerzählst, dann vergess ich mich! Es geht ihn nichts, aber auch gar nichts an! Lass dir das gesagt sein!“ Anschließend drehte er sich um und erblickte mich. Seine Augen wurden für eine Sekunde weit, bevor er wütend die Augenbrauen zusammenzog.

„Sag nichts!“, warnte er mich, „und wag es bloß nicht, mir zu folgen ... oder irgendwas zu fragen! Verschwinde am besten wieder!“ Dann stürmte er den Gang hinunter, bog um die Ecke in Richtung des Treppenhauses und war verschwunden.

„Hör nicht auf ihn“, bat mich jedoch eine sanfte Stimme von der Tür her. Kaz stand dort. „Komm rein, es geht schon in Ordnung.“ Ich nickte und betrat das Zimmer, in dem ich auch heute Morgen aufgewacht war. Wie es aussah hatte Hyde die Einrichtung in einem Stücke gelassen, sich dafür allerdings in dem Geschenkkorb, der in einer jeden Suite für die Gäste bereitstand, ausgelassen. Auf dem Couchtisch lag haufenweise Papier, in welchem die Süßigkeiten aus dem Korb eingewickelt gewesen waren. Ich wusste, dass es daraus stammte, weil natürlich auch wir so einen bekommen hatten.

Ich ließ mich auf dem Sofa vor dem Tischchen nieder und wartete darauf, dass Kaz mir erzählte, was er erreicht hatte. Und er fackelte auch nicht lange.

„Lief nicht sonderlich gut, wie du gesehen hast“, sagte er und kratzte sich am Kopf. „Er hat die Lunte ziemlich schnell gerochen, obwohl ich vorsichtig war und das Thema langsam angegangen bin. Es ist trotzdem wirklich ungewöhnlich, dass er gleich dermaßen hochgeht.“

„Also hast du nichts aus ihm rausbekommen?“

„Nein“, bestätigte Kaz und setzte sich vorsichtig auf den Couchtisch. „Aber mir ist da noch etwas eingefallen. Ich hab dir ja erzählt, dass er so reagiert, wenn er genervt ist. Und ein einziges Mal hat er sich haargenau so verhalten, wie bei dir jetzt.“

„Echt? Und was war da?“

„So richtig kann ich dir das auch nicht sagen, da Hyde sich auch darüber ziemlich bedeckt hält. Jedenfalls war er wesentlich offener für andere, als ich ihn kennengelernt hab. Das ging auch noch eine ganze Weile so, bis wir dann beschlossen haben, eine Band zu gründen. Wir haben uns damals mit einem Freund zusammengetan, der Schlagzeug spielen konnte, und angefangen an Songs zu arbeiten, obwohl wir noch nach einem festen Bassisten gesucht haben. Irgendwann haben sich Hyde und Scott – so hieß dieser Freund – dann furchtbar gestritten. Sie haben gesagt, dass nichts wäre, aber glaub mir: Das sah nicht nach nichts aus. Hyde ist immer verschlossener geworden und hat gerade mal so viel Zeit mit uns verbracht, wie nötig war. Ich muss auch zugeben, dass ich damals nicht sonderlich hilfreich war, als ich die beiden zusammen im Proberaum eingesperrt habe, damit sie sich aussprechen konnten. Irgendwas ist da drinnen passiert, was sie mir auch nicht erzählen wollten. Scott ist dann aus der Band ausgestiegen und Hyde hat ziemlich lange nicht mehr mit mir geredet. Er hat auch nur wieder damit angefangen, als ich ihm versprochen habe, dass wir zwei allein die Band bilden und sonst nur mit Supportmusikern arbeiten. War auch nicht ganz einfach, auf diese Art groß rauszukommen, aber ohne Hyde hätte ich auch nicht erfolgreich werden wollen; wir hatten schließlich schon eine Menge Arbeit in die Band gesteckt.“

Aufmerksam lauschte ich der Geschichte, die mir Kaz erzählte, konnte mir aber keinen Reim darauf machen. Ich kannte diesen Scott nicht und ich hatte mich mit Hyde nicht gestritten – er war einfach so auf Distanz gegangen.

„Ich kann dir leider auch nicht sagen, wie du dich jetzt verhalten sollst“, redete Kaz weiter, „Scott hat das Problem damals gelöst, indem er gegangen ist. In Anbetracht der Tatsache, dass wir alle bald abreisen werden, wird es jetzt wohl genauso laufen. Aber auf der anderen Seite warst du Hydes bester Freund.“ Wie bitte? Mir fiel die Kinnlade herunter.

„Du weißt davon?! Ich meine ... woher?“

„Hyde hat es mir erzählt“, sagte er ganz selbstverständlich, „vor der Sache mit Scott hat er ab und an von dir gesprochen. Und die Art, mit der er von dir geredet hat ... du schienst ihm ziemlich viel zu bedeuten. Na ja, danach hat er dich nicht mehr erwähnt. Eigentlich ist er nach dem Vorfall nie wieder ganz er selbst geworden.“ Ich nickte.

Er hatte mich also doch nicht gleich vergessen, wie ich immer geglaubt hatte. Und er hatte sich nach diesem Ereignis komplett verändert; ich war da vielleicht nur mit hineingefallen, weil er sich von allem zurückziehen wollte. Blieb nur noch die Frage nach dem Warum. Was war passiert, dass er sich so verschlossen hatte? Wieso hatte er schon damals bei unserem Abschied so komisch reagiert? Weshalb erzählte er niemandem davon und fraß es stattdessen in sich hinein? Ich wollte es so gern wissen, denn selbst wenn er mich nicht mehr als seinen Freund ansah, ich betrachtete ihn als meinen.

„Danke, Kaz, wirklich.“

„Nichts zu danken. Willst du ihn jetzt suchen?“

„Ich denke schon. Ich muss ihm zumindest sagen, dass wir heute Nachmittag einen Termin beim Standesamt haben. Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?“

„Er wollte eine rauchen, er wird also draußen vor dem Hotel sein. Und nimm lieber die Treppen; wenn er schon wieder auf dem Rückweg ist, trefft ihr euch dort eher, als im Aufzug.“

„Werd ich machen. Wir sehen uns sicher nochmal.“

„Jep.“
 

Dann verließ ich die Suite und machte mich auf den direkten Weg aus dem Hotel heraus. Ich nahm die Treppen, wie Kaz es mir geraten hatte, und als ich gerade die große doppelseitige Treppe im Foyer hinunterging, erblickte ich Hyde auf der anderen Seite. Ich hätte ihn tatsächlich verpasst, wenn ich den Lift genommen hätte.

„Hyde!“, rief ich ihn, eilte die eine Treppe herunter und die andere wieder hinauf, ehe er wieder flüchten konnte.

Er blieb zwar stehen, schaute mich aber nur kurz an und ging dann weiter. Dennoch holte ich ihn auf der nächsten Zwischenplattform ein.

„Was willst du?“, maulte er genervt, als er mich hinter sich wahrnahm.

„Dir sagen, dass wir heute Nachmittag um 17 Uhr einen Termin für die Scheidung haben.“

„Schön. War's das dann?“

„Nein“, sagte ich ehrlich. „Ich wollte dich bitten, mir zu sagen, wieso du dich damals nie gemeldet hast.“

„Da hast du leider Pech.“

„Warum?“

„Weil ich das so sage.“

„Hyde-“

„Lässt du mich jetzt endlich in Ruhe?!“, fuhr er mich plötzlich an und drehte sich ruckartig um, „ich will nichts mehr mit dir zu tun haben! Wann kapierst du das endlich?!“ Ich ließ mich davon jedoch nicht beeindrucken – diesmal nicht.

„Sobald du mir die Wahrheit sagst“, sagte ich ernst.

„Es ist unwichtig, wieso ich mich nicht gemeldet habe. Es ist Vergangenheit!“

„Dann sag es doch, wenn es so unwichtig ist. Ich will wissen, wieso du mich so behandelst. Ich hab dir schließlich nie was getan.“

„Ja, genau ...“ Er zog beide Worte abwertend in die Länge.

„Hör bitte auf, Andeutungen zu machen, und rede.“

„Vergiss es!“

„Hyde, ich werde nicht aufgeben, bis ich die Wahrheit kenne“, machte ich deutlich und packte ihn am Oberarm, damit er nicht wieder weglaufen konnte. „Ich bin nicht Scott, der einfach aufgegeben ha-“ In dem Augenblick, als ich den Namen des Schlagzeuger aussprach, wusste ich, dass ich einen Fehler begangen hatte.

Was weißt du schon?! Ihr seid doch alle gleich!“, schrie er, entriss sich meinem Griff und stieß mich von sich weg, um auf Abstand zu kommen. Ich stolperte ein paar Schritte nach hinten und noch bevor ich mich wieder fangen konnte, sackte mein Fuß auf einmal ab. Viel zu spät realisierte ich, dass ich zu nahe an der Treppe gestanden hatte und jetzt keinen Halt mehr finden würde. Ich fiel. Endlos lange schien ich in der Luft zu hängen, zu schweben, denn die Sekunden dehnten sich und wollten scheinbar nicht vergehen. Ich schaute in Hydes geschocktes Gesicht, seine weit aufgerissenen Augen und auf seine ausgestreckte Hand. Er wollte mich zu fassen bekommen, schaffte es aber nicht.

Und im nächsten Moment: Schmerzen. Schmerzen und Schreie. Mein eigener und die fremder Leute und schließlich auch Hydes. Trommelndes Fußgetrappel, vibrierender Boden und Hände auf meinen Schultern. Und immer wieder wurde ich gerufen.

„Gackt ... Gackt, wach auf ... bitte!“

Ich öffnete die Augen ein Stück, sah Hydes Gesicht undeutlich vor mir und versuchte etwas zu sagen. Meine Lippen bewegten sich, aber es kamen keine Töne hervor.

„Holt schnell einen Arzt ... holt doch endlich jemand Hilfe! ... Gackt, bitte ... bitte bleib wach ... Ga-chan!!

Und dann wurde alles schwarz.
 

tbc.
 

~~~ ** + ** ~~~
 

Und da wurde geheiratet x3 Hyde is hier ein wenig grantig (*husthusthust* völlig untertrieben xD), aber hey! Blitzhochzeit, sauteure Eheringe und das alles ungewollt – wer würde da nich ausrasten? Und er hat schließlich noch seine eigenen Gründe. Im nächsten Kapitel gibt’s dann auch die Auflösung für ALLES (a.k.a. Ende) :3

Die Sache mit Darth Vader's Themasong is übrigens nich auf meinem Mist gewachsen. Danke Nee-chan für die Inspiration x3

Take the pain away

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als ich das nächste Mal die Augen öffnete. Ich wusste auch nicht, wo ich war. Es war weder dunkel noch hell. Ich konnte nicht richtig sehen und alles war so verschwommen. Muster aus Licht zeichneten sich um mich herum ab und ich drehte den Kopf sachte, um zu sehen, wo sie hinführten. Dann entdeckte ich noch etwas ... irgendetwas ... irgendjemanden. Die Gestalt war größer als ich, sie beugte sich zu mir herunter und flüsterte: „Gackt?“

„Hnn?“

„Bist du wach, Gackt?“

„Ich ...“ Ich blinzelte, um meine Sicht zu klären, kniff die Augenbrauen zusammen, konzentrierte mich, aber ich konnte weiterhin kaum etwas erkennen. „Ich weiß nich ... was is ... uh ...“ Mein Kopf fühlte sich schwer an und der Rest meines Körper war irgendwie taub; gerade so, als ob ich eben ohne Pause einen ganzen See durchschwommen hätte. Ich konnte jeden einzelnen Knochen und jeden einzelnen Muskel spüren.

„Nicht überanstrengen, G-kun, lass dir Zeit.“ Dann endlich erkannte ich die Person, die bei mir war.

„You?“, fragte ich schwach.

„Ja, ich bin's.“

„Okay ...“ Es beruhigte mich, dass er hier war. Das Wissen, einen Freund bei mir zu haben, sorgte dafür, dass ich mich gleich viel weniger allein fühlte, als wenn es ein Fremder gewesen wäre. Ich entspannte mich, atmete einfach nur tief ein und aus und konnte fühlen, wie der Schmerz ganz langsam nachließ. Unterdessen bekam ich mit, dass You neben mir mit irgendetwas zu hantieren schien. Es hörte sich an, als ob er Tasten drückte. Aber was es war, konnte ich nicht ausmachen, da er ansonsten schwieg.
 

„You ...“, krächzte ich nach einer Weile wieder, „was is passiert? Wo bin ich?“

„Im Krankenhaus“, erklärte er mir mit leiser und ein wenig zittriger Stimme und atmete dann erst einmal durch, ehe er weiterredete, „du bist im Hotel die Treppe runtergefallen und hast dir dabei den Unterarm und drei Rippen gebrochen. Eine Gehirnerschütterung hast du auch und ... ziemlich viele blaue Flecken. Aber die Ärzte sagen, dass es schlimmer aussieht als es ist. Du wirst wieder ganz gesund.“ Als er diesen letzten Satz sagte, klang er selbst schon viel erleichterter. Im Krankenhaus also ... Das Letzte, woran ich mich erinnerte, waren Hydes vor Schreck weit aufgerissene Augen und seine Rufe nach Hilfe. Aber ob das mit dem Sturz, von dem You mir eben erzählt hatte, zusammenhing, wusste ich nicht.

„Was is mit ... mit der Tour und ...“

„Abgesagt. LA und San Francisco hast du schon verschlafen und mit deinen Verletzungen werden wir ganz sicher nicht weitermachen.“

„Hm ... Wie geht’s den anderen?“

„Sie sind besorgt.“ Wie auch anders? „Wir hatten echt Angst um dich, als sie dich hier eingeliefert haben; besonders Hyde. Wir haben ihn gar nicht mehr beruhigen können.“

„Hyde? Ehrlich?“

„Ja. Ihm geht’s wieder einigermaßen gut, aber sie haben ihm ein Beruhigungsmittel gegeben und ihn eine Nacht zur Beobachtung hierbehalten, weil er nach dem ganzen Stress zusammengebrochen ist. Er macht sich solche Vorwürfe, dass er fast die ganze Zeit hier ist. Wir müssen ihn jedes Mal von deinem Bett wegzerren, damit er wenigstens ein bisschen Schlaf bekommt.“

„Das is ...“ Das klang nicht nach dem Hyde, den ich hier kennengelernt hatte, sondern nach Hideto, wie ich ihn von früher kannte. Es war paradox.
 

Draußen auf dem Gang ertönten Schritte, das Klackern von hochhackigen Damenschuhen, und dann konnte ich hören, wie die Tür zu meinem Zimmer aufgemacht wurde.

„Sie haben geklingelt? Ist er wach?“, wollte eine weibliche Stimme wissen.

„Ja, seit ungefähr zehn Minuten“, antwortete You darauf.

Ich drehte meinen Kopf ein Stück und öffnete die Augen erneut. Dieses Mal konnte ich schon ein wenig mehr sehen, zwar immer noch nicht vollkommen klar, aber zumindest konnte ich den Raum und seine Einrichtung ausmachen: Neben meinem Bett stand hier auch noch ein zweites, was aber nicht belegt zu sein schien. Die Vorhänge waren zugezogen, damit die Sonne nicht direkt hineinstrahlte. Jemand hatte Blumen für mich mitgebracht und sie in einer Vase auf meinen Nachttisch gestellt. Darauf standen außerdem noch eine volle Flasche Wasser und ein leeres Glas. You hatte einen Stuhl für sich an mein Bett geholt, von dem er sich allerdings erhoben hatte, als die Ärztin eingetreten war. Sie kam auch gleich auf mich zu, verzichtete dabei auf jegliche Begrüßung oder Höflichkeit und widmete sich stattdessen sofort meiner Gesundheit.

„Wie fühlen sie sich?“, fragte sie mich.

„Als ob mein Kopf voller Watte wäre.“

„Das kommt von den Medikamenten, sonst würde sich Ihr Kopf noch ganz anders anfühlen.“ Sie machte sich ein paar Notizen auf dem Klemmbrett, das sie mitgebracht hatte. „Haben Sie irgendwelche Schmerzen?“

„Nein, keine ... is nur alles so ... bewusst.“

„Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen, das ist in einem Fall wie Ihrem völlig normal. Sie haben einen Bruch der Elle, Speiche, der unteren beiden Rippenbögen auf der linken und dem letzten Rippenbogen auf der rechten Seite erlitten. Außerdem haben Sie eine leichte Gehirnerschütterung“, erläuterte mir die junge Frau meine Lage, auch wenn es eigentlich unnötig war, da ich das ja alles bereits gehört hatte. „Wissen Sie noch, was Sie getan haben, bevor der Unfall passierte, oder fehlen größere Teile Ihrer Erinnerung?“

„Uhm ... der Sturz is nich mehr da ... aber sonst weiß ich alles noch ...“ Jedenfalls kam es mir so vor. Ich war am Morgen in Hydes Zimmer aufgewacht, hatte mich mit ihm gestritten und war dann zurück in unser Zimmer gegangen, um den anderen zu erklären, was ich angestellt hatte. Danach hatte ich meine Sachen gepackt, mir die DVD angeschaut, mit Hima-san gesprochen und war anschließend zu Kaz gegangen, um mit ihm zu reden. Und dann hatte ich Hyde auf den Treppen im Foyer getroffen, wo unser Gespräch erneut zu einem Streit geworden und schließlich eskaliert war. Da erst setzte meine Erinnerung aus und nachdem, was You erzählt hatte, war dort auch der Unfall passiert.

„Das ist ebenfalls nicht verwunderlich.“ Sie machte sich dennoch wieder ein paar Notizen und richtete sich dann an You. „Ich muss ihn jetzt untersuchen und würde Sie dazu bitten, draußen zu warten. Es wird nicht lange dauern.“

You nickte und lächelte mir noch einmal zu, ehe er mich schließlich mit der Ärztin allein ließ, die auch keine Zeit verlor und sofort mit der Untersuchung begann.
 

*
 

Eine knappe Stunde später war ich umringt von Menschen. You hatte während des Wartens wohl die anderen angerufen, die sich sofort ins Krankenhaus aufgemacht hatten und nun um mein Bett herum standen: Chacha, Junji, Ju-Ken, Hima-san und natürlich You selbst. Sie hatten mir frisches Obst, Schokolade und etwas zur Beschäftigung mitgebracht (ein englisches Buch, welches sie hier gekauft hatten; meine eigene PSP hatten sie absichtlich in meinem Koffer gelassen, weil das viele Knöpfedrücken nicht gut für meinen Arm gewesen wäre). Wir unterhielten uns über dies und das aber hauptsächlich eben über meinen Sturz von der Treppe und die Tour, die wir absagen mussten. Wir hatten die Fans, die wir bereits vor unserer Reise hierher Fans waren, damit sicher enttäuscht. Auch wenn wir bzw. ich im Grunde nichts dafür konnte, ärgerte es mich doch ungemein. Ich hasste es einfach, wenn man von mir enttäuscht war.
 

Wir waren nun auch schon seit über einer viertel Stunde in einer Diskussion darüber versunken, wann – das Ob stand außer Frage – wir die Tour am besten nachholen könnten, als es an der Tür klopfte. Sofort wurde es still, weil wir wohl alle dasselbe dachten: Oberschwester Kathryn, die meine Besucher des Zimmers verweisen würde, weil sie ihr zu laut waren. Sie hatte es vorhin schon einmal versucht, hatte aber nach meinen Beteuerungen, dass ich mich die Gesellschaft meiner Freunde in keinster Weise überanstrengen würde, nachgegeben.

„Ja?“, antwortete ich dennoch auf das Klopfen. Daraufhin wurde die Tür langsam geöffnet und Hyde stand im Raum, den Blick sofort auf mir.

„Hallo“, murmelte er leise, „ich hoffe, ich störe nicht.“ You hatte vollkommen Recht: Hydes Verhalten, seine Körperhaltung und besonders sein schuldbewusster Gesichtssaudruck drückten aus, wie schlecht er sich mir gegenüber fühlte.

Ich schenkte ihm ein Lächeln und sagte: „Nein, tust du nicht. Komm rein.“

„Danke.“ Dann schloss er die Tür und gesellte sich zu der Meute, die sich um mein Bett scharte. Die Atmosphäre hatte sich seit seinem Eintritt auf eine seltsame Weise geändert. Es herrschte Stille, keine peinliche oder angespannte Stille, aber man konnte genau spüren, dass unter meinen anderen Besuchern etwas vorging. Ich wusste nicht, was es war, schließlich konnte ich ihnen nur bis vor die Stirn gucken und nicht dahinter. Sie schienen sich allerdings vollkommen einig zu sein, denn Chacha meldete sich nach ein paar Momenten wieder zu Wort.

„Wir werden dann mal wieder gehen“, sagte er, für die Allgemeinheit sprechend, „zurück ans Reißbrett für die neue Tour, damit wir das so schnell wie möglich nachholen können.“

„Nachdem du wieder völlig gesund bist, versteht sich“, hängte You noch an und rückte dann ein Stück von meinem Bett ab.

„Huh? Ihr seid doch aber gerade erst hergekommen“, merkte ich verwirrt an.

„Man muss es ja nicht übertreiben“, bekam ich von von einem leicht grinsenden Chacha zur Antwort, „und Hyde ist doch da, wir lassen also nicht ganz allein.“ In dem Moment verstand ich, was sie vorhatten. Sie wollten mich mit Hyde allein lassen, damit wir miteinander sprechen konnten. Und ich musste zugeben, dass ich ihnen dafür sofort dankbar war. Einem anderen schien es jedoch höchst unangenehm zu sein: Hyde.

„Aber ... ihr müsst doch trotzdem nicht gehen, ich kann auch ...“, murmelte er.

„Lass mal“, meinte Ju-Ken dazu und klopfte ihm kurz auf die Schulter, schon auf dem Weg zur Tür. Sie verabschiedeten sich alle von uns beiden, egal was Hyde noch sagte, und gingen dann, ohne auf irgendwelche Proteste zu achten. Hima-san war die Letzte von ihnen, machte die Tür hinter sich zu und überließ uns damit uns selbst. Erneut kehrte Stille ein und diesmal war sie tatsächlich ein wenig drückend, denn Hyde war spürbar aufgeregt, trat von einem Fuß auf den anderen.

Noch bevor seine Nervosität auf mich überspringen konnte, durchbrach ich das Schweigen: „Setz dich doch. Du musst nicht die ganze Zeit stehen.“

„Oh ... ja“, sagte er hastig und beeilte sich, einen der Stühle, die an dem kleinen Tisch hier standen, an mein Bett zu holen und sich darauf niederzulassen. Nun knetete er allerdings die Hände in seinem Schoß; ihm schien nicht wirklich zu helfen zu sein.

„Wie geht es dir?“, fragte ich also, lächelte und erntete einen verwirrten Blick.

„Das sollte ich eher dich fragen.“

„Ich fühl mich nicht halb so schlimm wie du aussiehst. You hat gesagt, dass du zusammengebrochen bist.“

Er schüttelte den Kopf und seufzte: „Ich bin in Ordnung.“

„Er hat auch gesagt, dass sie dich regelrecht zum Schlafen zwingen mussten ... und dass du oft hier warst.“ Die Hände in seinem Schoß verkrampften sich regelrecht.

„Hyde?“

„Was soll ich denn sonst machen?“, wimmerte er nun und vermied es sorgfältig, mich anzusehen, „ich bin schließlich dran schuld, dass du ... dass du hier bist. Wenn ich nur nicht so verdammt stur gewesen und ausgerastet wäre und dich ... geschubst hätte ... Du hättest dir das Genick brechen können. Du hättest tot sein können und ... ich hätte dich fast umgebracht!“ Dann presste der die Lippen aufeinander und schien sich nur darauf zu konzentrieren, seine Tränen zurückzuhalten.

Ich schwieg. Niemand hatte mir gesagt, warum ich die Treppe heruntergefallen war; entweder, weil sie es selbst nicht wussten oder nicht wollten, dass ich es schon wusste. Ich hatte angenommen, dass ich gestolpert und durch meine eigene Unfähigkeit gestürzt war, aber nicht das. Hyde war dafür verantwortlich. Er hätte mich umbringen können, wie er selbst gesagt hatte.
 

Und doch gab ich ihm nicht die Schuld, denn ich konnte seinen Gesichtsausdruck im Moment meines Falles noch genau vor mir sehen: Schock und Entsetzen hatten sich darin wiedergespiegelt. Er hatte es sofort bereut – sofort und nicht erst nachdem er ausführlich darüber nachgedacht hatte.
 

„Es ist okay, Hyde“, sagte ich aufrichtig.

„Nein, ist es nicht“, widersprach er mir jedoch und schüttelte gesenkten Blickes den Kopf. Seine Stimme war nur noch ein Krächzen. Er glaubte mir nicht, aber ich würde keine Ruhe geben, ehe er es tat. Ich streckte die Hand nach ihm aus und berührte mit den Fingerspitzen seine Wange ganz sachte. Er zuckte kurz zusammen, ließ die Berührung aber zu.

„Hyde, es ist wirklich okay. Ich weiß doch, dass du das nicht wolltest.“

„Aber-“

„Bitte glaub es mir endlich; ich bin dir nicht böse. Würde ich sonst noch mit dir reden wollen?“

Er schüttelte den Kopf: „Nein.“

„Na also. Ich sehe dich immer noch als einen meiner besten Freunde an, auch wenn du das nicht willst.“ Darauf atmete er scharf ein und zittrig wieder aus, wimmerte wieder leise. Die Tränen konnte er auch nicht mehr halten. Ich sah, wie sie langsam über seine Wangen rollten. War es für ihn tatsächlich so schlimm, dass ich so dachte? Wieso denn nur? Wir waren doch unser halbes Leben lang perfekt miteinander ausgekommen, wir waren alles füreinander gewesen.

„Du musst nicht weinen, Hyde. Es ist doch alles in Ordnung.“ Er schüttelte aber wieder den Kopf.

„Nein, ist es nicht. Wir ... wir können keine ... Freunde sein. Ich will nicht, dass du dich quälst.“

„Was redest du denn da? Warum sollte ich mich quälen?“ Mir fiel einfach kein Grund ein.

„Na, weil ... weil du doch ...“ Er schluckte und kniff die Augen zusammen, bevor er die Worte, die so belastend für ihn zu sein schienen, förmlich ausspie: „Weil ich mich nicht in dich verlieben kann! Versteh mich nicht falsch: Du bist mir sehr wichtig, aber ich kann einfach nicht!“

Ich fiel aus allen Wolken.

„Wie bitte? Warum sollte ich wollen, dass du dich in mich verliebst?“

Darauf sah er mich endlich an, verwirrt und ungläubig.

„Na weil ... weil du doch in mich verliebt bist. Du hast mich geküsst ... damals, als ich weggezogen bin und ich ...“ Mir klappte die Kinnlade herunter. Er dachte wirklich, dass ich ... ich hatte monatelang darüber nachgedacht, was ich falsch gemacht haben könnte, dass er sich vom einen Moment auf den anderen so verändert hatte, aber dass es daran lag, hätte ich nie im Leben erwartet. Es war ... einfach absurd, dass Hyde gleich solche Schlüsse gezogen hatte – so absurd, dass ich einfach zu lachen begann. Darauf sah er mich endlich an, mit entgleisten Gesichtszügen.

„Wieso lachst du? Es ist mir ernst!“, versuchte er mir verzweifelt klarzumachen. Ich bemühte mich, schnell aufzuhören, um ihm die ganze Sache zu erklären.

„Ich weiß“, sagte ich und wurde wieder ernst, „mir auch. Aber ich bin nicht in dich verliebt. Du bist einer der wichtigsten Menschen für mich und genau deshalb hab ich dich damals geküsst. Du wolltest wegziehen und ich wollte dir zeigen, wie wie schlimm das für mich war und wie viel du mir bedeutest. Ich konnte mir in dem Moment nicht anders helfen, als dich zu küssen, um dir das alles zu sagen. Das war der Grund dafür.“

Stille, nur für einen Moment.

„Und ich hab es falsch verstanden ...“, murmelte er schließlich reumütig.

„Ja, hast du; und zwar gründlich.“

„Es tut mir leid, Gackt, wirklich. Ich ... ich hab dich jahrelang ignoriert und als dann auch noch die Sache mit Scott passiert ist ... ich hab euch ohne zu fragen in einen Topf geworfen ... es tut mir so leid ...“

„Ist doch jetzt alles geklärt, nicht?“

Hyde nickte: „Ist es.“

„Aber ... war er denn in dich verliebt?“ Ich war mir sicher, dass ich diesmal Antworten auf meine Fragen erhalten würde.

„... ja, war er. Und ich konnte nicht damit umgehen, weil ich eben nur mit ihm befreundet sein wollte und nicht mehr. Er hat gesagt, dass er damit klarkommen würde, aber es ging trotzdem total schief. Ich kann einfach nicht mit jemandem befreundet sein, der in mich verliebt ist. Ich hab alles getan, damit das nicht nochmal passiert, deshalb war ich so zu dir. Ich hab auf Teufel komm raus versucht, dass du von selbst nichts mehr mit mir zu tun haben willst. Und nach der blöden Hochzeit, hab ich Panik bekommen, dass du mich vielleicht trotz allem noch lieben könntest und alles wieder von vorne losgehen würde. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie leid es mir tut ...“

„So ist das also ...“

„Ja ...“, stimmte er mir zu, nickte abermals und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. Ich half ihm dabei, wischte die Spuren der Tränen von seinen Wangen.

„Würdest du denn wieder mit mir befreundet sein wollen?“, wollte ich von ihm wissen. „Ich vermisse dich und unsere gemeinsame Zeit nämlich wirklich.“ Darauf schenkte er mir ein Lächeln, und eigentlich war das schon Antwort genug.

„Sehr gern. Ich ... ich hab dich auch die ganze Zeit vermisst. Ich musste mich dazu zwingen, mich nicht bei dir zu melden, und hab mir selbst immer gesagt, dass es so besser wäre.“

„Idiot.“

„Ja, so ziemlich“, gab er zwar zu, verzog dann aber die Lippen abschätzig und funkelte mich an, „trotzdem ist das kein Grund, mich Idiot zu nennen.“ Und dann schlug er mir gegen den Oberarm. Nicht allzu fest, aber doch so plötzlich, dass ich es nicht hatte kommen sehen und unwillkürlich zusammenzuckte. Und das wiederum war nicht sonderlich gut für meine lädierten Rippen.

„Auuuuu!“, jaulte ich, was Hyde sofort wieder dazu brachte, sich schuldig zu fühlen.

„Oh! Es tut mir leid, Gackt. Ich wollte nicht-“ Aber ich winkte ab. Es hatte nur kurz (wenn auch heftig) gestochen und sich danach gleich wieder verflüchtigt.

„Geht schon wieder. Du kannst mich übrigens ruhig wieder Ga-chan nennen; ich hab es gern gehört.“

„Und ich hab es gern gesagt ...“ Und dann kroch ein schüchternes Grinsen auf seine Lippen. Ich sah jetzt schon, dass er die Erlaubnis zum Gebrauch meines alten Spitznamens sofort nutzen würde. „Ich bin schließlich der Ältere, Ga-chan.“

„Pfft, die vier Monate. Außerdem bist du der Kleinere, Hai-chan.“

„Hack nicht immer auf meiner Größe rum! Das hast du früher schon gemacht.“

„Ist ja auch lustig, weil du dich dann immer so aufregst und anfängst zu schmollen.“

„Ich schmolle nicht.“

„Doch, tust du, genau in diesem Moment ziehst du eine Schnute, die ihresgleichen sucht.“

„Nein!“

„Doch.“

„Ga-chan!“

Es sah so aus, als ob wir uns wieder lieb hatten.
 

*
 

Zu den drei Tagen, die ich nach dem Unfall verschlafen hatte, kamen noch zwölf weitere hinzu, die ich zur Beobachtung im Krankenhaus verbringen musste, bevor man mich mit einer langen Liste von Dingen, die ich in den nächsten Wochen nicht tun durfte, entließ. Darunter fielen natürlich auch sämtliche Arten von Bandaktivitäten, die über Songschreiben und Papierkram hinausgingen. Ob nun Bandproben, das Einsingen von Songs (das ging ja auch auf den Brustkorb) oder sonstiges Training – einfach alles hatte man mir verboten, sodass sich die Nachholtermine für die Promotiontour in Amerika noch weiter herausschieben würden. Ich sah die Langeweile jetzt schon vor mir.

Wenigstens wurde der Aufenthalt im Krankenhaus nicht ganz so öde, denn nachdem ich mit Hyde wieder Frieden und Freundschaft geschlossen hatte, kam er täglich vorbei und blieb so lange, wie es die Besuchszeit zuließ. Er könne sich diese Pause leisten, da sie sowieso gerade mit Studioaufnahmen für ein neues Album beschäftigt wären und damit sehr gut in der Zeit lägen, hatte er gesagt, als ich ihn gefragt hatte, ob er denn nichts zu tun hätte. So verbrachten wir Stunden in meinem Krankenzimmer und später auch im Park, der direkt an das Hospital angrenzte, redeten, erzählten uns gegenseitig, was in der Zwischenzeit alles passiert war, und lachten sehr viel zusammen. Wir fingen auch an, uns wieder wie die besten Freunde zu benehmen – als ob der Kontakt in den letzten elf Jahren nicht abgebrochen wäre. Es war ein wirklich gutes Gefühl, ihn wieder an meiner Seite zu haben, auch wenn es nicht ganz wie früher werden konnte. Wir lebten und arbeiteten in verschiedenen Ländern, sogar auf verschiedenen Kontinenten. Wir waren erwachsen geworden und hatten Verpflichtungen. Aber so lange ich sowieso nichts anderes tun konnte, als mich zu erholen, genoss ich die Zeit und dachte nicht an den Abschied, der unweigerlich kommen würde.

Auch die Nichtigkeitserklärung unserer Ehe brachten wir über die Bühne, als es mir wieder besser ging. Wir gingen zu dem Standesamt, bei dem wir getraut worden waren, unterschrieben die nötigen Formulare und hatten die Sache dann hinter uns. Nirgendwo würde auftauchen, dass wir beide jemals miteinander verheiratet gewesen waren. Der Vorfall existierte nur noch in unseren Erinnerungen, sodass wir bei Gelegenheit darüber lachen konnten (was wir erstaunlicherweise ja jetzt schon taten).
 

Doch dann mussten wir wirklich voneinander Abschied nehmen. Der Urlaub war vorbei und das richtige Leben wollte uns zurück. Für mich bedeutete das ein Leben, in dem ich meinen besten Freund nur ab und an zu Gesicht bekommen würde. Und als Hyde und Kaz uns am Flughafen verabschiedeten, bemerkte ich, wie wenig sich dann doch in den vergangenen Jahren geändert hatte. Ich fühlte mich fast genauso wie damals, als ich mich zum ersten Mal von Hyde hatte trennen müssen – nur dass wir uns diesmal nicht ganz so gehen ließen (man musste uns nicht in aller Öffentlichkeit heulen sehen). Aber ich konnte dennoch nicht gehen, ohne ihn noch einmal in den Arm zu nehmen.

„Kommt gut nach Hause“, murmelte er dabei, „wir sehen uns möglichst bald und ich ruf an. Ich versprech's.“ Damit brachte er mich zum Schmunzeln.

„Aber diesmal wirklich, ne?“

„Ja, diesmal wirklich, nochmal passiert uns das nicht.“

„Nein.“ Keine Geheimnisse oder Missverständnisse mehr. Wir hatten verloren, was für uns so kostbar war, und nun, da wir es endlich wiedergefunden hatten, wollten es auf keinen Fall noch einmal missen. Nie wieder.
 

tbc.
 

~~~ ** + ** ~~~
 

Bevor ihr wegen dem Ende mit Mistgabeln auf mich losgeht, würde ich gern noch was sagen: Ich hab's euch ja gesagt – keine typische Earu-Kitsch-Romanze ^^' Aber ich versuch's wieder auszugleichen; gibt nämlich noch nen Epilog :3

Und wer die Mistgabeln eben doch zu verführerisch findet, um sie stehen zu lassen, der teile mir seinen Ärger bitte in Form eines Kommis mit xD

Ach ja: Der erste, der mir sagt, aus welchem Song die Kapiteltitel sind, kriegt was Süßes :3

I see you smiling at me

Drei Monate waren seit unserem Trip nach Las Vegas vergangen und seit ein paar Tagen hatte sich bereits das Gefühl breitgemacht, welches uns immer dann traf, wenn die Vorbereitungen für eine Tour direkt vor der Tür standen. Der zweite Anlauf unserer Amerika-Tour begann in zehn Wochen, was uns neben den ganzen organisatorischen Angelegenheiten wieder einen vollen Probenplan bescheren würde ... insofern mir mein Arzt bei der Untersuchung am nächsten Donnerstag grünes Licht gab.
 

Doch bis dahin war es noch eine knappe Woche und während dieser Zeit würde ich sicherlich nicht auf Gedanken an irgendwelches Training kommen. Ich würde beschäftigt genug sein, denn Hyde kam aus den Staaten, um mich zu besuchen. Heute, um genau zu sein. In zwei Minuten, um noch genauer zu sein.

Ich stand schon auf dem Flughafen von Kyoto; gekleidet in Klamotten, die kein Mensch bei mir vermuten würde, weil ich sie sonst nur zu Hause in meinen eigenen vier Wänden trug. Außerdem eine ganz normale Brille anstatt meiner gefärbten Kontaktlinsen und die Haare nicht großartig gestylt, sondern einfach nur glattgekämmt.

Ich freute mich so sehr auf ihn, dass ich permanent zwischen der großen Übersicht mit den Flügen und dem Gate hin- und herschaute. Laut Anzeige würde er pünktlich sein, lange konnte es also nicht mehr dauern. Vielleicht waren sie gerade auf der Rollbahn oder sogar schon am Aussteigen und-

„Ga-chan!“ Ich drehte mich in die Richtung, aus der ich gerufen worden war, und spürte, wie sich meine Mundwinkel wie automatisch nach oben bogen, als ich ihn erblickte. Hyde winkte mir zu, während er immer näher kam und dabei eine Reisetasche hinter sich her zog. Ich lief ihm sofort entgegen, begann mit jedem Schritt mehr zu grinsen und umarmte ihn, sobald ich ihn erreicht hatte.

„Hey!“, begrüßte ich ihn, „wie geht’s dir und wie war der Flug?“

„Gut, in beiden Fällen“, antwortete er und löste sich dann wieder von mir, damit wir den Flughafen möglichst schnell verlassen konnten und in mein Appartement kamen, wo wir ungestört sein würden. Ich nahm ihm sein Gepäck ab, sodass er selbst nur noch die Tasche, die ihm über der Schulter hing, zu tragen hatte. „Ich bin nur etwas müde.“

„Müde? Habt ihr durch das neue Album viel Stress? Es ist doch vor zwei Wochen rausgekommen, ne?“

„Du machst dir vielleicht Sorgen“, lachte er, gähnte aber gleich darauf. „Mit dem Album lief alles glatt und die paar Promoauftritte waren auch keine allzu große Sache. Es liegt an der Zeitverschiebung. Ich bin um Mitternacht aufgestanden, um drei ins Flugzeug rein und bei euch ist es jetzt schon wieder so spät. Mir fehlt fast ein ganzer Tag!“

„Ach so. Aber darf ich mir denn keine Sorgen machen?“

„Darfst du natürlich, musst du aber in dem Fall nicht.“

„Na okay. Jedenfalls wollte ich heute sowieso nur noch etwas kochen und den Rest des Abends nichts tun. Sightseeing ist morgen dran.“

„Sightseeing?“, fragte Hyde ungläubig, „sag mal, hast du vergessen, dass ich auch von hier stamme? Wir waren schon zig mal zusammen in Kyoto.“

„Und es war jedes Mal ein Spaß“, betonte ich.

„Ja, das war es.“

„Genau das ist der Grund, wieso wir wieder hingehen. Du warst schließlich seit ein paar Jahren nicht hier und wir haben einiges nachzuholen.“

„Aha, dann lass ich mich mal überraschen, was du dir ausgedacht hast.“

„Kannst du auch.“

Ein Grinsen zierte seine Lippen. Und meine ebenso.
 

*
 

Eine gute Stunde später saßen wir zusammen in der Küche des Appartements, das ich mir letztes Jahr gekauft hatte, unterhielten uns über dies und das und kochten nebenher. Wir machten Soba, eines von Hydes Lieblingsgerichten, weil er gesagt hatte, dass er nach dem ganzen amerikanischen Essen wirklich gern mal wieder etwas typisch Japanisches habe wollte, wenn er schon hier war. Außerdem war ich im Kochen nicht so gut und bei Soba konnte man ziemlich wenig falsch machen. Während ich auf die Nudeln aufpasste und die Brühe anrührte, kümmerte sich Hyde um die Beilagen, schnitt Frühlingszwiebeln klein, holte Eier und Garnelen aus dem Kühlschrank und kam immer wieder zu mir an den Herd, um seine Nase in den Kochtopf zu stecken und das Aroma der Brühe zu genießen.
 

„Wie willst du dein Soba eigentlich essen?“, fragte ich nach einer Weile, als ich die fertigen Nudeln von der Kochplatte nahm und abgoss. „Wenn du es kalt willst, müssten wir es noch in den Kühlschrank stellen, bevor wir anfangen können.“

„Ist mir beides recht“, antwortete Hyde, der gerade dabei war, den Tisch mit Geschirr einzudecken, „solange nur kein Natto dabei ist.“

„Kein Natto? Magst du es immer noch nicht?“

„Nein, und das wird sich wohl auch nie ändern“, meinte er lachend, „Natto mag man oder man mag es eben nicht.“

„Aber es ist gesund.“

„Und widerwärtig.“

„Du hast einfach keine Ahung. Nur, weil du einmal welches erwischt hast, das wirklich schlecht war.“

„Man lernt eben aus seinen Fehlern. Nie wieder Natto!“

Meine Antwort war nur ein Lachen und ein Kopfschütteln, ehe ich mich wieder voll und ganz den Nudeln widmete, damit ich sie nicht versehentlich mit dem Wasser in die Spüle goss. Ich ließ den Topf allerdings fast fallen, als sich unerwartet zwei Arme um meine Taille schlossen und Hyde sich an meinen Rücken schmiegte.

„Ist ... alles in Ordnung?“, hakte ich vorsichtig nach. Eben war er doch noch so gut aufgelegt gewesen, dass er sich allen Ernstes zu einer Diskussion über Natto hatte hinreißen lassen.

„Ja“, kam es leise und mit einem anschließenden Seufzen zurück. „Mir ist nur gerade mal wieder bewusst geworden, wie sehr ich so was hier vermisst hab. Und wie sehr ich dich vermisst hab. Ich kann es gar nicht richtig in Worte fassen.“ Seine Antwort zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht.

„Musst du gar nicht. Ich weiß es doch auch so.“

„Ich würde aber gerne.“ Dieser Satz zog eine kurze Stille nach sich, in der sich keiner von uns auch nur einen Millimeter bewegte. Wir standen einfach nur da – ich den Nudeltopf in den Händen und er die Arme um meinen Oberkörper. Für mich war das eigentlich schon genug, Hyde schien diese Nähe zu mögen und damit sagte er mir mehr, als Worte es jemals könnten.

Und dann tat Hyde etwas, das mir auch ohne Worte sagen würde, wie er sich fühlte: Er lockerte die Umarmung etwas, ließ seine linke Hand zu meiner Wange hinaufkriechen und brachte mich dazu, den Kopf etwas mehr zu ihm zu drehen. Er lächelte beinahe liebevoll, lehnte sich dann ganz nahe an mich heran und drückte seine Lippen auf meine. Ein Kuss. Ein Kuss, von dem ich haargenau wusste, was er bedeuten sollte. Nicht etwa Liebe oder gar Begierde, sondern aufrichtige Zuneigung zwischen zwei besten Freunden und Vertrauen, wie es größer nicht sein könnte. Er vertraute mir, dass ich nie mehr von ihm verlangen würde, und ich würde ihn darin nicht enttäuschen. Er war mein bester Freund, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

So würde es immer sein.
 

The End.
 

~~~ ** + ** ~~~
 

Bitte fragt nicht, wo die beiden in dieser Fic denn nun aufgewachsen sind. Ich weiß es nicht, da ich bisher dachte, dass Wakayama und Okinawa gar nich sooo sehr auseinanderliegen. Ha! Weiiit gefehlt, Okinawa is schon fast gar nich mehr Japan. Verlegen wir ihre Jugend einfach mal iwo in die Kansai-Gegend ^^'

Jedenfalls war es das nun. Und bevor wieder jemand auf Ideen kommt, sage ich es jetzt schon: Keine Bonuskapitel – insbesondere keine Lemons aus Hydes Sicht. Die beiden waren diesmal ZU dicht, um irgendwas miteinander anstellen zu können. So! xD … Außerdem war das nich der Sinn der Fic. Ich hoffe, dass es euch trotzdem gefallen, obwohl es keine richtige GakuHai war, und mal schauen, vllt melden sich ja jetzt noch ein paar mehr als die bisherigen Reviewer x3



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Kommentare zu dieser Fanfic (28)
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Von:  Charly2
2010-06-09T09:01:49+00:00 09.06.2010 11:01
"Es liegt an der Zeitverschiebung. Ich bin um Mitternacht aufgestanden, um drei ins Flugzeug rein und bei euch ist es jetzt schon wieder so spät. Mir fehlt fast ein ganzer Tag!“
glaubste ja wohl selber net...
er hat ain paar stunden gewonnen, weil er der sonne entgegen geflogen ist...
er muss die uhr zurück stellen, net vorwärts...
es sei denn, er ist über eurpa geflogen, was ich aber net glaub, das is nämlich zu weit...
aber die fanfic is trotzdem toll...
ich mag sie... *.*

Von: abgemeldet
2010-05-13T23:09:58+00:00 14.05.2010 01:09
Oh mein Gott.
Was für eine schöne Geschichte ;__;
Ich mag zwar Shonen ai sehr gerne, aber diese Story ist auch ohne Liebe, oder vielleicht gerade deswegen, unglaublich toll. <3
Ich weiß gar nicht mehr was ich sagen soll xD
Einfach toll halt :)
Von: abgemeldet
2010-05-13T21:59:58+00:00 13.05.2010 23:59
Wooooow *______*
Eigentlich spar ich mir mein kommi immer bis zum letzten Kaqpitel, aber hier hobt es so eine Stelle die ich unheimlich toll finde, das muss man ja mal sagen:

"Ich schlug auf den Boden ein, drang tiefer und tiefer in den Abgrund der Gefühle vor, den ich für die Bühne kreiert hatte, bis ich selbst daran glaubte und der Illusion erlag. Es war verloren, alles verloren. Nirgendwo war mehr Rettung und dennoch wollte ich es nicht wahrhaben. Ich raffte mich hoch, brachte alle Kraft auf, die ich noch hatte, sehnte mich nach Erlösung, zog den Ton in die Länge. Und dann war es vorbei."

Das ist wirklich genial geschrieben, ich frag mich wirklich wie man auf solche Formulierungen kommt.
Natürlich gefällt mir die Geschichte bis jetzt allgemein wirklich sehr gut, aber diese Stelle hat es mir irgendwie ganz besonders angetan. :)
Ich lehnte mich nach hinten, in die unendliche Dunkelheit meiner verlorenen Welt starrend, während You die letzten Töne auf der Violine spielte. Den aufkommenden Applaus hörte ich kaum; Tränen liefen mir über die Wangen und den Hals, durchtränkten den Stoff meines Shirts.
Von:  snowdrop
2010-05-07T19:34:12+00:00 07.05.2010 21:34
*freu* Ich hab es endlich geschafft den Epilog zu lesen. xD
Viel kann ich dazu auch nicht sagen.. ich finds klasse. Ein tolles Ende zur einer tollen FF. x33

Ich freu mich echt schon auf deine weiteren Werke. =)
Von:  Ina-Tenshi
2010-05-01T08:21:49+00:00 01.05.2010 10:21
süß...XDDD kurzzeitig hatte ich fast gedacht, das es jetzt doch in liebe endet, aber ist es zum glück nicht. ^__________^
ich finds so genau richtig und schööööööööööööön!!!
die fic war richtig toll. ich häts einfach nciht ausgehalten einen tag oder länger auf das nächste kapitel zu warten.
eigentlich lese ich immer fics die schon beendet sind, weil ich immer angst habe, das der schreiber irgendwann aufhört. bei dir weiß ich das das nicht der fall sein wird, trotzdem wollte ich mich nicht bis zum nächsten kapitel gedulden. ^-^

ich freu mich schon sehr auf weitere fics von dir ^////^
schreib bitte immer schon weiter, ja ???
^^
Von:  Ina-Tenshi
2010-05-01T08:11:45+00:00 01.05.2010 10:11
na ja du hast ja gesagt das es keine typische gakuhaistory wird... ^^
also ich war zumindest darauf vorbereitet, das sie nicht als paar enden.
aber ich fand das ende schön. so ein doofes missverständnis, ist aber auch klar, das hyde auf diesen gedanken kommen könnte. ich mein, gut, wenn es in der freundschaft vorher immermal ein paar küsschens gegeben hätte, aber das schien ja nciht der fall zu sein, also kann man schon mal auf sowas kommen. =.=
schade das sie dadruch so viele jahre verloren hatten. ;_;
naja jetzt ist ja alles wieder gut.
mal schaun was im epilog passiert. ^^
Von:  Ina-Tenshi
2010-05-01T07:50:31+00:00 01.05.2010 09:50
so jetzt hab ich endlich mal die gelegenheit weiter zu lesen. sorry, aber ich wollte unbedingt alle restlichen kapitel hintereinander lesen, weil ich nicht warten wollte bis es weiter geht. ^^;;;
deswegen kommen jetzt meine kommentare so spät und hintereinander.

yo das kapitel war ein bisschen lustig und spannend gleichzeitig. ich frag mich echt, warum hyde so ist und was eben passiert ist. O.o
bei der beschreibung der hochzeit musste ich lachen. irgendwie goldig. XDDD und der song ja.... *lach* echt der geilste song den man wählen kann.......*roll* tolle ideee!!!!!!!!!!! könnt mich jetzt noch darüber bepullern... XDDDDDDD

ich bin schon sehr gespannt weiter zu lesen und endlcih alles zu erfahren.
...
*abzisch und weiterles*
Von:  Kimiko02
2010-04-27T19:37:51+00:00 27.04.2010 21:37
Hach, was für ein schönes Ende *_*
Es ist wirklich genau richtig geworden ^^
Was anderes als Freundschaft zwischen den Beiden hätte in dieser FF auch gar nicht gepasst, so im Nachhinein betrachtet.
Es ist schon heftig, dass so ein blödes Missverständnis so viele Jahre zwischen ihnen gestanden hat. Ich bin froh, dass sie sich wieder vertragen haben und diesmal auch wirklich Kontakt halten.
Alles in allem wieder eine superschöne FF, die ich wirklich gerne gelesen habe ^_^
Es tut mir Leid, dass ich zu den anderen Kapiteln keinen Kommentar geschrieben habe, es hat einfach die Zeit gefehlt. Ich hoffe aber, dieser Kommentar entschädigt zumindest ein bisschen dafür ^^
Und wie schon im weblog gesagt, schreib bitte weiter so schöne Gakuhai-FFs *anfeuer* ^_^
Von:  Akai-chan
2010-04-27T18:08:27+00:00 27.04.2010 20:08
Ich stelle erfreut fest, dass du es nicht versaut hast. xD'
*hust*
Ermm... ja, ich weiß nicht. Dieser Kuss stört mich etwas. Ein wenig... *am Kopf kratz* Da könnte man auch wieder wer-weiß-was hinein interpretieren, wenn nicht gleich dahinter stehen würde, dass es nichts weiter als Freundschaft bedeutet. Ich kann mich einfach nicht richtig mit dem Gedanken anfreunden, dass sich zwei 'nur' Freunde einfach so auf den Mund küssen. =___= Aber das sieht wohl jeder anders. *Lippen spitz* °3°~
Jedenfalls schön, dass sie diesmal wirklich Kontakt gehalten haben. ;3
Von:  snowdrop
2010-04-25T13:36:33+00:00 25.04.2010 15:36
Er lebt!!!!!.. *___*
>>gerade so, als ob ich eben ohne Pause einen ganzen See durchschwommen hätte.<<
Wie sich sowas anfühlt, weiß der Herr ja schon, ne?.. XD

Und das Ende.. hach, sooo schön. <33 Endlich mal ne Abwechslung zu den anderen FFs, in denen Hyde und Gackt vorkommen. =)
Es ist echt schön eine FF zu lesen, wo die beiden wirklich nur Freunde sind.. solche FFs gibt es meiner Meinung nach viel zu selten.. ;__;

Hmm.. mehr hab ich dieses Mal auch nicht zu sagen.. ich freu mich schon auf den Epilog. :3


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