Rumo und die Wahrheit der Alchimisten von -Echo ================================================================================ Kapitel 9: Das Todestagsfest ---------------------------- Sledwaya war eine der abgelegensten Städte Zamoniens, nur noch übertroffen von der absoluten Einsamkeit Nebelheims und Nordends, wo sich wirklich keine denkende Seele hin verlor. Wer hierher kam, tat dies im vollen Bewusstsein dieser Abgeschiedenheit, denn an Sledwaya kam man nicht zufällig vorbei, es sei denn der Zufall hasste einen zutiefst. Das durfte man allerdings nicht falsch verstehen – das kleine Städtchen war, rein optisch, herzallerliebst und seine Bewohner galten als stets freundlich und offen. Vielmehr war es so, dass Sledwaya schlichtweg sehr ungünstig lag, nördlich eingefasst von den Hutzenbergen, südlich, östlich und westlich vom zamonischen Ozean, dem bekanntlich rausten Ozean der Welt. Dennoch war es unglücklicherweise so, dass durch eine meteorologische Anomalie nicht die geringste Spur salziger Meeresluft die Stadt erreichte und sie somit den Titel „Kurort“ vergessen konnte. Tatsächlich konnte man in Sledwaya das nahe Meer – das einzig Attraktive der sonst kargen Landschaft – weder sehen noch hören, sodass es kaum jemanden hierher verschlug. Eigentlich niemanden, wenn man bei der Wahrheit bleiben wollte. Eine der wenigen Ausnahmen dieser traurigen Realität schob sich soeben durch die weitläufigen Felder vor den Stadtmauern. Und wirklich, „schieben“ schien genau der richtige Ausdruck für die grotesk schleppende Art der Fortbewegung zu sein, die das kleine Wandergrüppchen hier an den Tag legte. Schuld daran war niemand anderes als Hildegunst von Mythenmetz, der vor etwas mehr als sieben Kilometern beschlossen hatte, jegliche Form der aktiven Fortbewegung für die nächste Zeit zu verweigern. Der Lindwurm bestand vehement darauf zu pausieren, bis seine – in ihrer Existenz doch eher fragwürdigen – Fußkrämpfe (welche für einen Vertreter seiner Gattung durchaus tödlich verlaufen konnten, wie er immer wieder versicherte) abgeklungen waren und er sich sicher war, dass auch wirklich keine Lebensgefahr mehr bestand. Seine Forderungen unterstrich er mit einer beiläufigen Erwähnung seiner Saurier-Vorfahren, die offenbar Hunde und Bären regelmäßig zum Frühstück verspeist hatten. Und angesichts des erstaunlichen Maßes an Aggressivität, das die in die Jahre gekommene Echse an den Tag legen konnte, wenn jemand eine seiner zahlreichen Gebrechen anzweifelte, ließen es Rumo und Blaubär vorsichtshalber nicht auf einen Versuch ankommen und fügten sich ihrem Schicksal. So hatten der Wolpertinger und der Buntbär, nach einigen erfolglosen Sekunden des Schieben und Ziehens, Mythenmetz gepackt und sich über die Schultern gehievt, sodass er nun mehr oder minder zwischen ihnen baumelte. Das war noch wesentlich schwieriger, als es sich anhört, denn der schwergewichtige Schriftsteller hatte seiner Leidenschaft für Kulinarisches in den letzten Jahrhunderten nicht nur auf dem Papier gefrönt. Doch eine Verzögerung durch einen patzigen Prominenten konnten sie sich beim besten willen nicht leisten – wenn Rumo richtig gezählt hatte, hatten sie durch ein Gewitter in den Hutzenbergen so oder so bereits einen Tag verloren. Mythenmetz, der die Huckepack-Tragweise strickt verweigerte – sie sei bei weitem unter seiner Würde – war sich hingegen nicht zu schade, sie dann und wann an seine Anwesenheit zu erinnern. „Eure Unkenntnis in spätzamonischer Erlebnislyrik ist geradezu erschreckend!“, betonte der Lindwurm nun schon zum wiederholten Male, als Blaubär sich außerstande sah, das neunundsiebzigste Gedicht der dritten Schaffensphase des Ojahnn Golgo van Fontheweg zu rezitieren. „Die Jugend von heute ist der Untergang der Literatur und niemand tut etwas dagegen!“ „Wenn ich nie wieder ein Buch in die Hand nehme, ist er schuld“, knurrte Rumo mit stur nach vorne gerichtetem Blick, als könne Mythenmetz ihn nicht hören. Er bemühte sich, das leise „Töte mich!“ von Löwenzahn und das „Töte ihn!“ von Grinzold in seinem Kopf zu ignorieren. „Warum noch mal haben wir ihn mitgenommen? Ich hätte genügend Mittel und Wege gekannt, alle nötigen Informationen aus ihm herauszubekommen.“ Blaubär schnaubte verächtlich. „Klar, dafür ist auch nicht sonderlich viel nötig. Lass ihn eine Woche lang nicht zum Arzt gehen und der knickt ein wie Reisig. (Ein empörtes Luftschnappen von Mythenmetz.) Aber im Ernst: Hättest du alleine den Weg nach Sledwaya gefunden? Wohl eher nicht. Ich wusste nicht mal, dass ein solches Kaff überhaupt existiert. Außerdem wissen wir noch gar nicht, ob unsere geheimnisvolle Person überhaupt noch hier lebt. Diese alte Echse ist vielleicht der einzige, der ihn finden kann. So ungern ich das auch sage: Wir brauchen ihn.“ Mythenmetz betrachtete selbstzufrieden seine Klauen. „Ich sehe jetzt einfach mal darüber hinweg, dass du mich als „alt“ betitelt hast, und freue mich, dass endlich einmal jemand von meiner Wichtigkeit für euren wahnwitzigen Plan Notiz nimmt. Und jetzt lasst mich los, ihr ungehobelten Groblinguisten. Wir sind da.“ War man sonst auch gut beraten damit, jede Aussage des exzentrischen Lindwurms mindestens einmal gründlich zu hinterfragen, so schien er dieses Mal doch tatsächlich Recht zu haben. Vor den drei unfreiwilligen Weggefährten ragte majestätisch eine hohe, steinerne Stadtmauer auf, gekrönt von einem prunkvollen Eingangstor aus massiver Eiche, die mit schweren Eisenscharnieren, etlichen Ornamenten und kunstvoll gefertigten Wappen der Stadtgrößen beschlagen war. Beim Durchschreiten der weit geöffneten Pforten über den grob gepflasterten Eingangspfad fiel Rumo auf, dass eins der oberen Wappen offenbar mit ziemlicher Gewalt heraus gebrochen worden war. An der seltsam leer wirkenden Fläche, die um einige Nuancen heller war als das restliche Tor, war das Holz geborsten und eigne Nägel ragten krumm und verlassen daraus hervor. Jemand hatte mit einer Axt oder etwas ähnlichem einen tiefen Spalt in das weiche Material geschlagen und beim näheren Hinsehen schien es geradezu so, als hätten noch weitere Bürger der Stadt ihre Wut mit diversem spitzen Gerät an dem unglücklichen Stück Holz ausgelassen. Dieser Anblick wollte so gar nicht zu dem sonst so sauberen Eingangsbereich des kleinen Städtchens passen - warum man diesen Schandfleck nicht behoben hatte, war Rumo ein Rätsel. Immerhin trug so etwas auch seinen Teil dazu bei, mögliche Urlaubsgäste abzuschrecken. Doch er kam nicht dazu, seine Verwunderung formulieren, denn schon hatte ihn Blaubär aufgeregt am Arm gepackt. "Schau dir das an!", forderte er seinen neuen Freund freudig auf, während er ihn ins Innere der Stadt zerrte. "Scheinbar ist hier gerade Jahrmarkt oder so etwas. Wir haben uns wohl den genau richtigen Zeitpunkt ausgesucht, um vorbeizuschauen." Rumo sah sich um. Der Buntbär schien Recht zu haben, die Straßen und Häuser um ihn herum waren auf das Prächtigste verziert und geschmückt worden. Überall hingen kleine Fähnchen und Wimpel in allen Farben des Regenbogens, Musik klang durch die Gassen, Menschen - ja, hier schien es tatsächlich noch ein paar Exemplare dieser Spezies zu geben - Zwerge, Rübenzähler und sonstige zamonische Daseinsformen tanzten, rannten und sprangen kreuz und quer über die Plätze und freuten sich ihres Lebens. Es gab haufenweise Stände, die Getränke und kleine Malzeiten anboten, Wahrsagerzelte und kleine Kampfarenen. Zwielichtige Hütchenspieler begeisterten ihr Publikum mit ihren Tricks und Pantomimen erschreckten alle zu Tode, die sich zu sehr in Sicherheit wiegten. Von weit her klangen Kirchenglocken - wo Menschen waren, war die Religion nicht weit - und Kinderlachen hallte von überall zu den Neuankömmlingen herüber. Mythenmetz machte ein anerkennendes Geräusch. "Hier geht ja richtig was. Dafür, dass man noch bis vor wenigen Jahren in jedem Reiseführer davon abgeraten bekam, diese Stadt zu besuchen, ist jetzt aber einiges los in diesem Kaff. Und ich dachte immer, hier würde man schon allein vom Existieren krank werden." Ein junger Mann hatte im Vorbeitanzen den letzen Satz aufgeschnappt. "Das war einmal, mein Herr. Diese Zeiten sind vorbei und wir danken den Göttern dafür. Heute ist man glücklich in Sledwaya. Sehr glücklich sogar. Den Bösen sind wir los und dieses Mal sind die Bösen mit ihm gegangen." Dann begann er mit einem Mal mir erhobener Faust zu skandieren: "Hass, Leid und Folterei Diese Zeiten sind vorbei! Auf! Kommt zusammen! Tod dem Tyrannen!" "Nicht gerade ein Meisterwerk, zumal das Wort „Folterei“ nicht einmal existiert", raunte Mythenmetz Rumo zu, der neben ihn getreten war, um den seltsamen Menschenmann zu beäugen. "Aber was will man anderes erwarten? Diese Kreaturen sind einfach nicht zum Dichten geschaffen." Ohne die Drei noch eines weiteren Blickes zu würden sprang der Mann weiter, während er munter seinen kurzen Reim in die Welt hinaus posaunte. Dann und wann fiel einer der anderen Feiernden in sein rebellisches Rufen ein - offenbar war das kurze Gedicht ein stadtbekannter Vers - und schon bald hatte sich ein kleiner Chor gebildet, der ihn gleich einem Mantra immer und immer wieder herunterbetete. Blaubär zog eine Augenbraue hoch. "Okay, die Typen hier sind nicht ganz dicht, so viel ist sicher." Während Rumo noch damit beschäftigt war dem feierwütigen Zamonier hinterher zu gaffen, war Mythenmetz bereits einige Meter die gerade Hauptstraße hinunter geschlendert. Die Bewohner der Stadt beachteten ihn kaum, nur hier und da stellte sich ihm ein Zwerg mit einem Bauchladen in den Weg und pries seine Wahren an oder ein Kartenleger offerierte einen Gratis-Blick in die Zukunft, wenn man das Super-Schrecksen-Paket, bestehend aus einem Schrumpfkopf, mehreren Ledermausflügeln und einem Wassersalamander, erwarb. Der Schriftsteller zeigte jedoch nur wenig Interesse und so ließen bald alle fliegenden Händler von ihm ab. Rumo hatte dieses Glück nicht - offenbar fehlte es ihm im Auftreten an entsprechender Autorität, denn die kleinen Krämer klebten an ihm wie Fliegen an einer Zuckerstange. Sogar ein Stollentroll war dabei, der ihm eine kleine Phiole mit einer klaren Flüssigkeit feilbot, die er als beste Waffenpolitur des Kontinents anpries. Laut Löwenzahn war es allerdings in Wirklichkeit nicht mehr als schnödes Brunnenwasser. Auf die Frage hin, ob der ehemalige Stammeskollege des Händlers ihm dieses Detail auch verraten hätte, wenn es nicht um seine eigene metallene Haut gegangen wäre, schwieg die quirlige Quasselstrippe. Die Drei folgten der Hauptstraße tiefer in die Stadt hinein. Auch hier war alles bunt und heiter, es schien keinen Winkel zu geben, den die Feierlaune nicht erreicht hatte. Blaubär war sichtlich angetan, er hüpfte beim Gehen im Takt der allgegenwärtigen Violinmusik und pfiff fröhlich vor sich hin, betrachtete hier und da die Auslagen eines Souvenirstands und kaufte sich an einer kleinen Holztheke eine Tüte voll gebratener Mäuseblasen. Rumo tat es ihm gleich, während Mythenmetz sich auf der anderen Straßenseite einen Stand mit Regenwurmcurry suchte. Kauenderweise zogen sie weiter. Sledwaya war weder sonderlich groß noch sonderlich klein, es hatte angenehm überschaubare Ausmaße ohne seine Bewohner dazu zu zwingen, auf irgendwelche Annehmlichkeiten zu verzichten. Es gab ganze Straßenzüge voller Apotheken und Schrecksenhäuser - die Stadt war schließlich bekannt für ihre hervorragenden Heilmethoden - eine kleine Kapelle und einen niedlichen Marktplatz mit hübschen, alten Fachwerkhäusern. Ein hell erleuchtetes, weiß getünchtes Krankenhaus erhob sich über die Reihen niedriger Wohnhäuser und ganz in der Ferne konnte man den Turm eines Rathauses erkennen, in dem eine große, gusseiserne Glocke schlug. Zwar waren alle Häuser etwas krumm und schief geraten, ganz so als hätte der Architekt unter leichten Gleichgewichtsstörungen gelitten, während er sie erbaute, doch das machte den Anblick nur noch sympathischer und einladender. Hier sah es ein wenig aus wie in einem Märchen, fand Rumo, wie in einem illustren Bauerndorf, das ein friedliches Fest feierte, ohne dabei maßlos und überschwänglich zu werden. Niemand war auffallend angetrunken, keiner pöbelte, keiner schrie oder prügelte sich. Ein Lächeln ergriff Besitz von seinen Zügen. Es war schön hier, in Sledwaya, ein durchweg harmonisches Bild, das ein angenehmes, geruhsames Leben versprach. Wenn er eines Tages seiner Heimat Wolperting überdrüssig werden sollte, konnte er sich durchaus vorstellen, in dieser Stadt sein Glück zu versuchen. Nachdem sie so eine Weile durch die Gegend geschlendert waren und sich an dem bunten Treiben erfreut hatten, fand Rumo, dass es langsam Zeit wurde, dass sie sich wieder den wirklich wichtigen Dingen zuwandten. Geradezu beiläufig ließ er sich in seinem Laufen zurück fallen, sodass er neben Mythenmetz geriet, der schräg hinter ihm lief. "Sag mal", begann er, "wo sollen wir denn nun mit der Suche beginnen? Haben wir irgendeinen Anhaltspunkt, wo in der Stadt sich dieser ominöse Spiegel aufhalten soll?" Der Schriftsteller verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Nicht direkt. Ich sagte doch bereits, dass alles, was ich weiß, ist, dass er vor einigen Jahren mal hier gelebt haben muss. Mehr kann ich dir bis jetzt auch nicht sagen." "Das heißt also, dass wir uns durchfragen müssen", folgerte Blaubär, der sich zu ihnen gesellt hatte. "Dann würde ich sagen, dass wir keine Zeit verlieren und sofort anfangen." Er schickte sich an auf einen der Passanten zuzugehen, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne und kam noch einmal zurück gelaufen. "Ähm, Mythenmetz?" "Was ist?" Blaubär kratzte sich am Kopf. "Welcher Daseinsform gehört dieser Spiegel eigentlich an? Das wäre vielleicht hilfreich zu wissen." Rumo hob neugierig den Kopf, während er sich seine letzte Mäuseblase in de Mund schob und die Tüte in einer Hand zerknüllte. Das war in der Tat interessant. Mythenmetz, der sein Curry schon vor einer halben Ewigkeit verspeist hatte, legte nachdenklich den Kopf schief. "Soweit ich weiß, ist er eine Kratze." Rumo hätte um ein Haar den gesamten Inhalt seines Mauls auf das Kopfsteinpflaster vor ihm verteilt. Im letzten Moment würgte er den Bissen mit aller Macht hinunter, dann packte er den Lindwurm an den Oberarmen - so hoch, wie er eben kam - und schüttelte ihn unsanft. "Was?", herrschte er die verwirrte Echse an und besprühte sein Gegenüber dabei mit einer gehörigen Ladung Spucke. "Sag mir, dass das nicht war ist, Schreiberling! Du hast mir einen waschechten Alchimisten versprochen, der mir die Essenz des ewigen Lebens brauen kann. Und jetzt sagst du mir, wir seien auf der Suche nach einem Haustier?" "Genau genommen sind Kratzen..." Rumo stieß Mythemetz von sich weg und drehte sich um. "Es ist mir egal, was Kratzen genau genommen sind!", knurrte er aufgebracht. Wieder einmal hatte er das Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht nach Plan verlief und das machte ihn wütend. "Alles, was ich will ist ein vernünftiger Alchimist und kein Accessoire für alte Damen mit sozialen Problemen." Kratzen waren in Zamonien lange Zeit eine beliebte Maßnahme alternder Hausfrauen gegen die gefürchtete Einsamkeit gewesen. In diesen Tieren fanden sie nicht nur Freunde, sie ersparten sich auch die Schmach, mangels Gesprächspartnern mit sich selber reden zu müssen. Doch seit dem drastischen Rückgang der Kratzenpopulation konnte es sich fast niemand mehr leisten, ein solches Haustier zu besitzen, daher tendierte man heutzutage eher zum alt bewährten Papagei. Der war zwar nicht ganz so redselig, aber immerhin schön anzusehen. Rumo war jedoch weder alt noch einsam und das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war ein sprechendes Kuscheltier. Er fuhr sich mit den Pfoten über den Kopf und trat frustriert gegen einen kleinen Stein, der aufflog und an einer Hauswand anprallte. Plötzlich wünschte er sich, die feierwütigen Sledwayaner würden für ein paar Sekunden die Luft anhalten, alles um ihn herum war mit einem Mal nur noch grell und laut. Mythenmetz griff ihn am Arm. "Jetzt hör mir doch erst mal zu, du dummes Tier!" Rumo sah ihm mit verkrampftem Kiefer trotzig ins Gesicht, in seinen Augen spiegelte sich deutliche Skepsis. Blaubär stand nur da und blickte vom einen zum anderen wie bei einem Tennismatch, verspeiste dabei gebannt die Reste seiner eigenen Tüte Mäuseblasen. "Es hilft manchmal, wenn man Leute ausreden lässt, Wolpertinger", belehrte ihn der Lindwurm von oben herab und ließ seinen Arm nicht ohne eine gewisse Härte wieder los. "Diese Kratze ist sehr wohl genau das, was du suchst. Wenn die Geschichten stimmen, dann beinhaltet das Hirn dieses Haustieres, wie du es nanntest, mehr alchimistisches Wissen als so manche gute Bibliothek. Aber von jemandem wie dir, der in seinem Leben maximal eine Speisekarte gelesen hat, kann man wohl kaum erwarten, dass er weiß, wovon ich spreche." Rumo entlockte seiner Kehle ein tiefes, bedrohliches Grollen. "Dann erkläre es mir endlich, anstatt ständig nur oberschlau daher zu reden." "Grob gesagt war Spiegel laut der Fabel von Gofid Letterkerl ursprünglich einmal Schüler einer der besten Alchimisten ganz Zamoniens und das genau hier, in der Stadt Sledwaya - oder Seldwyla, wie er es in seiner Novelle nennt. Alles Weitere ist im Moment für uns unwichtig." Jetzt mischte sich Blaubär zum ersten Mal in die Auseinandersetzung ein. "Aber können wir denn wirklich sicher sein, dass das alles auch genau so passiert ist, wie es in dem Buch von Letterkerl geschrieben wurde?" "Das können wir sicherlich nicht", sagte Mythenmetz ehrlich. "Es deuten sogar mehrere Faktoren ganz eindeutig darauf hin, dass sich das Ende der wahren Geschichte doch deutlich von dem des Buches unterscheidet. Daher wird es uns auch wohl wenig bringen, nach dem Meister des Krätzchens zu suchen, aber diese ganzen Details lasst mal meine Sorge sein. Vertraut mir, der, den wir suchen, ist Spiegel. Er wird uns weiterhelfen können." Rumo schnaubte. "Dir vertrauen? Klar, nichts lieber als das. Wie könnte man auch je an dir zweifeln?" Mythenmetz warf ihm einen bitteren Blick zu, doch noch bevor der Wolpertinger etwas entgegnen konnte, beendete Blaubär das Gezanke auf seine ganz eigene Art. "So", sagte er mehr als vernehmlich. "Ich werde mich dann mal nach jemandem umsehen, den wir in Sachen Spiegel befragen können, in Ordnung?" Ohne eine Reaktion abzuwarten stapfte er auf den nächstbesten Passanten zu und klopfte diesem leicht auf die Schulter. Rumo eilte ihm hinterher. Er war es langsam Leid alle möglichen Details seiner eigenen Reise zu verpassen. "Entschuldigen Sie bitte", begann Blaubär höflich und deutete eine leichte Verbeugung an. Nicht üblich, aber grundsätzlich ein Zeichen von Respekt. Sicher war sicher. Der Sledwayaner, ein untersetzter Rübenzähler mit einem Becher Himbersahne in der Hand, musterte den Buntbär von oben bis unten. "Ja bitte? Wie kann ich Ihnen helfen?" "Wir sind auf der Suche nach jemandem. Sagt ihnen der Name Spiegel etwas? Er ist eine Kratze, falls es hilft." Der Rübenzähler überlegte kurz. "Wir haben ein paar Kratzen hier in Sledwaya, sie leben weiter unten in der Stadt bei der Ruine. Ob eine von ihnen Spiegel heißt, weiß ich nicht. Möglich ist es aber. Die haben alle so komische Namen. Ich hab mal eine getroffen, die hieß Halbton. Kann man sich das vorstellen? Was ist denn das bitte für ein Name?" Rumo, der befürchtete, der redselige Herr könnte ins Schwafeln geraten, unterbrach das Gespräch vorsorglich an dieser Stelle. "Okay, danke sehr, wir werden uns weiter umsehen." Damit schob er seine beiden Weggefährten so unauffällig wie möglich weiter. Blaubär drehte sich noch einmal um und sah dem Rübenzähler nach. "Also, was machen wir jetzt? Weiterfragen?" "Nein", entschied Rumo. "Wir werden zu dieser Ruine gehen, von dem der Mann gesprochen hat und nach den anderen Kratzen suchen. Es bringt wenig, wenn wir hier kopflos durch die halbe Stadt rennen, wir finden so ja eh nichts." "Da könnte er tatsächlich Recht haben", gab Mythenmetz zu und sah sich um. "Jetzt müssen wir nur noch Ausschau nach dieser Ruine halten." Blaubär war wieder in seinem Element. Schon hatte er sich den nächsten Passanten gekrallt, eine hübsche Menschenfrau im sommerlichen Blumenkleid. "Entschuldigen Sie, Fräulein." Rumo war erstaunt, die Stimme seines neuen Freundes war die pure Freundlichkeit. Nicht nur seine Worte, sein gesamter Tonfall hatte sich verändert. "Uns ist zu Ohren gekommen, dass es hier in Sledwaya eine Ruine geben soll. Wären Sie wohl so freundlich uns den Weg dorthin zu weisen?" Die junge Frau war sichtlich nervös. Wie hätte sie es auch nicht sein können, vor ihr standen ein Bär, ein Hund und eine Urzeitechse, alle aufrecht gehend und mindestens einen Kopf größer als sie selber. "Uh… ähm… die Ruine… Was wollen die Herren denn an einem solch schrecklichen Ort?" Rumo trat auf das zitternde Persönchen zu, bemüht sich etwas kleiner zu machen ohne dabei lächerlich zu wirken. "Schrecklicher Ort? Davon wissen wir nichts. Wir sind lediglich auf der Suche nach den Kratzen, die dort leben sollen." Sein Gegenüber sah ängstlich auf den Boden und trat von einem Fuß auf den anderen. "Achso… na wenn das so ist… Bitte folgen Sie immer dieser Straße." Sie deutete die Straße hinab, auf der sie sich gerade befanden. "Sie sollten sehr bald das Stadtzentrum erreichen, dann halten Sie sich ganz einfach links. Das Schloss… die Ruine ist nicht zu übersehen." Rumo verneigte sich und bemühte sich um ein freundliches Lächeln. "Vielen Dank, wertes Fräulein." Doch die Frau schien nicht eiligeres im Sinn zu haben als das seltsame Trio hinter sich zu lassen. Fluchtartig hastete sie an dem überraschten Wolpertinger vorbei und war schon nach wenigen Sekunden hinter der nächsten Straßenecke verschwunden. "Etwas ängstlich, die Gute", grinste Blaubär und stemmte die Pfoten in die Hüften. "Aber immerhin wissen wir jetzt, wo wir hin müssen, das ist schon mal viel wert." Mythenmetz ließ das unkommentiert, setzte sich stattdessen schnellen Schrittes in die angegebene Richtung in Bewegung. Rumo spurtete ihm nach, dicht gefolgt von Blaubär. "He, wozu die plötzliche Eile, alter Mann?" Der Autor sah ihn nicht an "Ganz einfach: Je eher wir diesen Spiegel finden, desto eher bekommst du deine Formel und ich alle Informationen, die ich für mein Buch brauche. Und umso schneller können wir diese ganze Farce hier beenden und jeder von uns wieder seine eigenen Wege gehen. Folglich die beste Lösung für alle Beteiligten." Rumo verzog das Gesicht. Ein richtig sympathischer Kerl, dieser Mythenmetz. Je weiter die Drei in den östlichen Teil der Stadt gelangten, desto karger wurde die Umgebung. Zwar war auch hier reichlich geschmückt worden, doch die Abstände zwischen den einzelnen Häusern wurden größer und auch die Häuser an sich verloren merklich an Prunk und Glanz. Hier schien die Unterschicht der Stadt zu leben, offenbar in Eintracht mit einigen wild aussehenden Straßenhunden und gewöhnlichen Katzen, die große Ratten über die nunmehr leeren Straßen hetzten. Die gute Stimmung war mit einem Mal wie verflogen, es wurde frisch, beinahe kalt um sie herum. Rumo fröstelte. Er konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen, was genau diese Veränderung der Stimmung hervorgerufen haben könnte, doch er fühlte sich auf einmal wieder krank. Und dann traten sie ins Blickfeld der Reisenden. Der Berg. Die Ruine. Rumo fielen auf Anhieb etliche Worte ein, mit denen man den Anblick recht treffend hätte beschreiben können, hässlich, abstoßend und kohlrabenschwarz waren nur einige davon. Sicher war, dass die Bezeichnung "Ruine" hier nicht von ungefähr kam, das einzige, was von dem ehemaligen Schloss - so etwas in der Art musste es zumindest mal gewesen sein - noch stand, war die schmiedeeiserne Umzäunung mit der gewaltigen, bedrohlich aussehenden Pforte, verziert durch dutzende Formen und Symbole aus Magie und Alchimie. Dahinter folgten etwa zehn Meter gepflasterter Weg, die sich eine Anhöhe hinauf schlängelten, und dann - ja, dann war da im Grunde nichts mehr. Wobei, "nichts" war natürlich nicht ganz der richtige Ausdruck. Es handelte sich vielmehr um ein riesiges Loch, gefüllt mit tausenden Tonnen nachtschwarzem Bauschutt. Rumo erkannte selbst aus der Ferne zerfallene Mauern und Decken, Holzbalken und Kupferrohre, Drähte und Eisenstangen, die sich über den gesamten Hügel verteilt hatten. An manchen Stellen waren die Überreste des ehemaligen Mobiliars auszumachen, hier ein Tisch, dort ein Sofa und drüben ein Regal. Auch Bücher und deren Einzelteile fanden sich zwischen den Trümmern, schwere Folianten überzogen mit einer unansehnlichen Schicht aus Staub und Schimmel, gekrönt wie alles andere auch von abertausenden Dachschindeln und kleinen Kaminschloten, die die Überreste des früher sicher einmal majestätischen Anwesens bedeckten wie Krokantsplitter einen Eisbecher. Komischer Vergleich, fand Rumo, doch ihm wollte partout nichts anders einfallen. Das alles zusammen wirkte allein schon grotesk genug in diesem sonst so sauberen und fröhlichen Städtchen. Doch was die gesamte Szenerie auf die Spitze des Makaberen trieb, war die große Holztafel, die man vor dem Tor errichtet hatte. Auf ihr war in krakeligen, blutroten Lettern zu lesen: "Du hast uns die Hölle auf Erden beschert. Wir wünschen Dir die Ewigkeit in eben dieser! Auf dass der Höllenhund dich zerreiße und der Fürst der Finsternis dich für alle Zeit im Fegefeuer brate! Dein Grab soll uns für immer ein Mahnmal sein!" Rumo schüttelte sich. "Nicht gerade nett. So etwas hätte ich in dieser Stadt nun wirklich nicht erwartet, alles sah vorhin noch so freundlich aus." Dann sah er sich noch einmal um und entdeckte eine weitere Aufschrift, dieses Mal auf einem Banner, der quer über die Straße gespannt war. "Fünftes Jubiläum des Todestagsfestes" Mythenmetz und Blaubär traten neben Rumo und lasen ebenfalls, was in blauen Buchstaben auf dem gelben Transparent geschrieben stand. Dabei fielen ihre Reaktionen recht unterschiedlich aus, denn während Mythenmetz nur leicht die Augen zusammenkniff und sich seinen Teil zu den blutrünstigen Schriften zu denken schien, zeigte der Buntbär offenes Entsetzten. Entgeistert blickte er Rumo an. "Was ist nur los in dieser Stadt? Da denkt man sich nichts Böses und erfreut sich eines schönen Festes und dann stellt sich heraus, dass man hier mit fröhlicher Musik und heiterem Gelächter einem Todestag gedenkt. Das ist doch nicht richtig!" Der Wolpertinger kaute auf seiner Unterlippe herum. "Na ja, vielleicht handelt es sich bei dem Verstorbenen um eine wirklich grausame Person, das können wir ja nicht wissen. Die Bürger von Sledwaya scheinen jedenfalls einen ziemlichen Hass auf ihn zu haben, wenn man sich das hier so anschaut." Er musste plötzlich an das heraus gebrochene Wappen am Stadttor denken. "Vielleicht können sie wirklich froh sein, dass er oder sie tot ist." Blaubär schien nicht überzeugt, "Trotzdem, ich finde das nicht richtig. Stell dir vor, jemand würde aus deinem Todestag ein rauschendes Fest machen." Das wollte sich Rumo lieber nicht vorstellen. Stattdessen wandte er sich Mythenmetz zu. "Und was sagt unser weiser Herr Schriftsteller dazu? Gerade du müsstest doch eine Meinung zu deisem Thema haben." Die Miene des Lindwurms blieb völlig ausdruckslos. "Die habe ich auch, da kannst du dir sicher sein. Allerdings spielt das jetzt wohl kaum eine Rolle. Was viel wichtiger ist: Ich bin mir jetzt sicher. Wir sind auf der richtigen Fährte.“ Hosted by Animexx e.V. 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