Rumo und die Wahrheit der Alchimisten von -Echo ================================================================================ Kapitel 18: Zu spät ------------------- „Krieg?“ Mythenmetz verschränkte ungläubig die Arme vor der Brust. „Das können Sie doch nicht ernst meinen! Was für ein Krieg soll denn das bitte sein, der ganz Buchhaim lahmlegt?“ Das war eine gute Frage, fand Rumo. Zamoniens Einwohner waren zwar nicht gerade für ihre Friedfertigkeit bekannt, doch meist beschränkten sich ihre Aggressionen auf kleinere Reibereien in den Bergen oder tollkühne, schnell entschiedene Eroberungsfeldzüge auf einzelne Städte. Selbige verliefen laut und dreckig und ließen selten einen Stein auf dem anderen, etwas, das ihnen sicherlich aufgefallen wäre, als sie die Katakomben verlassen hatten. Nein, hier war etwas anderes im Gange. Die Straßen waren wie leer gefegt und doch unberührt. Eine angespannte, gespenstische Stille lag über der Stadt, kein Kriegsgetümmel weit und breit, aber auch sonst war nicht der kleinste Laut zu hören gewesen. Und dann war da ja noch diese Sache, die der alte Wildschweinling erwähnt hatte. ‚Ganz Zamonien….‘ „Wir werden alle sterben“, winselte Löwenzahn rein prophylaktisch. „Ihr wisst es also tatsächlich nicht, wie?“ Der Wildschweinling schüttelte resignierend den Kopf. „Unfassbar. Wie konnte das passieren?“ „Wir waren die letzten Tage in den Katakomben“, erklärte Blaubär. „Wir haben dort… etwas erledigt.“ Das wütende Funkeln in Mythenmetz‘ Augen brachte ihn schneller zum Schweigen als eine ganze Horde Bolloggs, doch die Sorgen des Schriftstellers, ihre kleine geheime Mission könnte auffliegen, schien vollkommen unbegründet, denn der Buchhändler war ganz mit sich selbst beschäftigt. „Also haben sie die Katakomben noch nicht erreicht. Oder noch nicht gefunden. Beides gut. Gut für uns.“ „Ähm, wer sind denn „sie“?“, mischte sich nun auch Echo ein, der das ganze bis jetzt stillschweigend beobachtet hatte. Der Wildschweinling wirbelte zu ihm herum und riss dramatisch die Augen auf. „Die, gegen die wir Krieg führen, natürlich!“, rief er und warf dabei die Arme in die Luft. „So weit war ich“, entgegnete Echo trocken. „Und gegen wen genau führen „wir“ Krieg?“ Es war ihm anzusehen, dass er sich nur schwer eine Macht ausmalen konnte, die gegen einen ganzen Kontinent voller tödlicher Kreaturen länger als drei Minuten bestand, und Rumo konnte es ihm nachfühlen. Doch der Wildschweinling war von seiner Sache überzeugt. „Gegen eine Übermacht! Sie sind überall. Sie waren überall! Ganz plötzlich!“ „Komm zum Punkt, Alter!“ Mythenmetz‘ Geduld hatte offenbar ihre Grenzen. Was, genau genommen, hinreichend bekannt war. „Menschen!“ Rumo brauchte einige Sekunden, bis diese Information in seinem Gehirn angekommen war. Und dem allgemeinen Schweigen nach zu urteilen, ging es seinen Gefährten da nicht anders. Als die Bedeutung hinter diesem einen Wort dann schließlich zu ihm durchgesickert war, erschien sie ihm so lächerlich, dass er am liebsten auf der Stelle laut los gelacht hätte, doch Mythenmetz kam ihm zuvor. Der Lindwurm prustete los, wie man es wohl selten von ihm erlebt hatte, musste sich sogar an einen der Bucherstapel klammern, um nicht umzufallen. „Menschen“, japste er. „Haha… Menschen! Diese kleinen, dürren, talentlosen Irren, von denen drei oder vier wie Tiere in den Bergen hausen, meinst du die, alter Mann? Das ich nicht lache!“ Dann wurde er schlagartig ernst. „Auf den Arm nehmen kann ich mich alleine, verstanden?! Also raus damit! Was geht hier wirklich vor?“ Der Buchhändler hatte sich ängstlich vor dem ausladenden Lachanfall der Echse geduckt und lugte nun vorsichtig zwischen seinen Armen hervor. „Es ist, wie ich es Ihnen sage“, stammelte er. „Sie kamen über Nacht. Haben alle strategisch wichtigen Punkte besetzt. Hatten innerhalb weniger Stunden sogar Atlantis unter ihrer Kontrolle.“ „Atlantis?“ Rumo rutschte das Herz in die Hose. „Völlig unmöglich! Niemand kann Atlantis einnehmen!“ „Das dachte ich auch“, gab der Wildschweinling zu. „Das dachten wir alle. Aber es ist passiert. Sie waren auf einmal so viele, so furchtbar viele! Und sie fallen in die Städte ein! Sledwaya und Nebelheim gehören schon ihnen, etliche andere auch. Und wir, die wir in den Städten leben, die noch nicht erobert sind, können nichts weiter tun als uns zu verstecken und zu hoffen, dass es bald vorbei ist.“ „Nun aber mal langsam!“, unterbrach Echo und sprang auf den Verkaufstresen, um besser auf sich aufmerksam machen zu können. „Wie schaffen es Menschen – und seien es noch so viele – ein Land wie dieses zu unterwerfen? Sie sind klein! Und ihre Körper sind schwach! Ihre Rasse ist nicht gemacht für den Kampf!“ Der alte Buchhändler sah ihn lange an, bevor er schließlich mit zitternder Stimme antwortete: „Man sagt, sie töten Bolloggs. In Dreier-Teams. Zwei bringen ihn zu Fall und der Dritte reißt ihm bei lebendigem Leib das Herz raus.“ Echo blieb völlig ungerührt. „Schwachsinn“, erklärte er gerade heraus. „Märchen, Geschichten, die sich in bester Flaschenpost-Manier hochschaukeln. So etwas ist völlig unmöglich. Denk doch mal nach, Alter Mann! Ein einziges Bollogg-Herz ist wahrscheinlich gut zehn Mal so schwer wie ein Mensch!“ Doch der Wildschweinling schüttelte nur energisch den Kopf. „Sagt, was ihr wollt! Glaubt, was ihr wollt. Aber ich weiß, dass es stimmt. Und ich weiß auch, dass ich nicht besonders scharf darauf bin, diesen Monstern von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen. Der da“ - er deutete mit einer dürren Klaue auf Mythenmetz –„steht auf ihrer Liste. Ihrer Todesliste. Das heißt, sie werden bald kommen und ihn holen. Genau wie sie Nachtigaller und all die anderen geholt haben. Und wenn das passiert, will ich nichts mit euch zu tun haben. Also geht bitte!“ „Schön!“, fauchte der Schriftsteller und richtete sich zu seiner vollen, imposanten Größe auf. „Das hatten wir ohnehin gerade vor. Nichts könnte uns auch nur eine Sekunde länger im Laden eines solchen Spinners halten!“ Mit einer theatralisch ausladenden Geste schlug er sich seinen Reiseumhang um den Körper und wandte sich zur Tür. „Ich hoffe nur, dass hier keines von meinen Werken auf sein staubiges, sinnentleertes Ende wartet! Dieser sogenannte Buchhandel ist das Leder nicht wert, in das es gebunden wurde!“ Damit und mit dem Klingeln der silbernen Türglocke war er verschwunden. Echo hüpfte elegant vom Verkaufstresen herab und stolzierte ihm mit hoch erhobenem Schweif nach, gefolgt von Rumo, der der kleinen Kreatur geistesabwesend die Tür aufhielt. In seinem Kopf tanzten die Gedanken einen wilden Tanz, während er versuchte, das soeben gehörte zu sortieren. Die Menschen hatten Atlantis übernommen? Nein, das war unmöglich! Er kannte Atlantis und seine Bewohner zu genüge, um das zu wissen. Allein durch seine schiere Größe, seine Unübersichtlichkeit und seine Struktur glich es einer einzigen gigantischen Festung, dazu kamen Greife als Stadtwachen, endlose Tunnelsysteme, in denen angeblich sogar Drachen hausten und eine ganze Armee von finsteren Gestalten, Mördern und Halsabschneidern, mit denen nicht mal er, ein Wolpertinger, sich freiwillig angelegt hätte. Noch dazu fielen Menschen in der großen Stadt, obgleich sie das Ballungszentrum aller Arten war, doch noch immer auf wie bunte Bären. Sie waren erst seit wenigen Jahren überhaupt in der Stadt zugelassen – schlicht aus dem Grund, dass man die Hand voll, die noch von ihnen übrig war, keines Gesetztes würdigen wollte - und galten daher noch immer als selten und nicht gerade gern gesehene Gäste. „Glaubst du, an der Sache ist was dran?“, fragte Löwenzahn zaghaft in sein Gedankengewusel herein. „Wenn da was dran ist, dann sollten wir abhauen. Irgendwo hin, wo sie uns nicht finden! Ich will nicht, dass sie mir bei lebendigem Leib das Herz raus reißen!“ Grinzold stöhnte genervt. „Du HAST kein Herz und du bist auch nicht lebendig, Vollidiot! Du bist ein verdammtes Gehirn in einem Schwert. Aber offenbar kein sehr großes!“ „Auf jeden Fall größer als dein Gewalt verherrlichendes Schrumpfhirn, du Grobian! Nicht wahr, Rumo? Sag’s ihm!“ ‚Lass ihn in Ruhe, Grinzold‘, dachte Rumo beschwichtigend. „‘Du weißt, er ist nicht wie du. Und du weißt auch – ihr wisst es beide! – dass ich euch für den Rest des Tages in einen Sack stecke, wenn ihr euch weiterhin streitet! Das hält man ja nicht aus!‘ „Is‘ ja gut, Kumpel.“ Grinzold gab nach, wenn auch nur ungern, das wusste Rumo. „Also, was glaubst du? Ist an der ganzen Geschichte was Wahres dran? Gehen wir jetzt `n paar Menschen den Hintern aufreißen? Könnten wir ohnehin machen – immerhin sind die Schuld dran, dass wir seit Wochen durch die halbe Weltgeschichte gurken.“ ‚Ich weiß nicht, ob…‘ Rumo hielt inmitten des Gedanken inne, was tatsächlich erstaunlich einfach war. Ihm dämmerte plötzlich etwas. Der Wolpertinger hatte keine Ahnung, was genau es war, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass es etwas Bedeutendes sein könnte, etwas Großes. Noch konnte er es nicht fassen, es war wie ein Nebel, der ihm durch die Pfotenspitzen glitt, als er danach griff, wie ein Buch, zu weit oben im Regal um erreichbar zu sein. Er durfte diese Ahnung nicht aus den Augen verlieren, das wusste er in der Sekunde, als sie ihn ereilte. Doch noch war es zu früh, sie mit den anderen zu teilen, wusste er doch selbst noch nicht so genau, um was es eigentlich ging. Ohne seinen beiden Schwert-Gefährten weitere Aufmerksamkeit zu schenken, sah er sich nach seinen physisch präsenteren Kameraden um. „Wir müssen so schnell wie möglich nach Atlantis!“, verkündete er. „Ich muss wissen, ob der alte Mann die Wahrheit gesagt hat!“ ‚Und ob es Smeik gut geht‘, dachte er weiter, doch das behielt er für sich. Mythenmetz massierte sich in der Stille der verlassenen Straße die Schläfen. „Sag nicht, du glaubst diesem Spinner, Hund! Ich wusste ja, dass du nicht allzu helle bist, aber für so leichtgläubig hätte ich selbst dich nicht gehalten!“ Blaubär war als letzter aus der Ladentür getreten und schien etwas bleich um die königsblaue Nase. „Rumo hat recht“, verteidigte er seinen pelzigen Kollegen. „Ich glaube zwar auch nicht, dass Menschen zu so etwas imstande sind, aber wir können wohl kaum leugnen, dass hier irgendetwas Seltsames vor sich geht. Bevor sich unsere Wege trennen, sollten wir sicher gehen, dass niemand von uns in Gefahr ist. Außerdem…“, er hielt einen Moment inne, bevor er schließlich weiter sprach, „… außerdem geht mir nicht aus dem Kopf, was der Typ über Nachtigaller gesagt hat. Dass sie ihn geholt hätten, was auch immer das bedeuten mag. Und dass sie nun auch Mythenmetz holen wollen. Wenn auch nur irgendetwas davon stimmt, könnten wir bald einen Haufen Probleme bekommen.“ Echo zuckte unruhig mit dem Schweif. „Da ist was dran. Zusammen zu bleiben ist wohl im Moment tatsächlich nicht die schlechteste Idee. Auch wenn es nur dazu dient, auf Nummer Sicher zu gehen.“ „Ja seid ihr denn alle bescheuert?“, rief Mythenmetz aufgebracht und ließ seine Worte einige Sekunden wirkungsvoll in der leeren Gasse wiederhallen. „Ein dahergelaufener Irrer erzählt euch, dass Menschen – Menschen! – Zamonien in ihrer Gewalt hätten und ihr verliert sofort den Kopf?! Wenn ihr nichts Besseres zu tun habt, als zusammen nach Atlantis zu reisen – schön, so sei es! Aber ohne mich! Ich werde zu Lindwurmfeste zurückkehren und du“ – er deutete auf Echo –„wirst mich begleiten und mir Rede und Antwort stehen, wie es mir versprochen wurde!“ Doch Echo machte keine Anstalten sich zu bewegen. „Sei nicht unvernünftig, Mythenmetz“, bat er eindringlich und sah dem Lindwurm geradewegs in die Augen. „Du hast ja recht, wir alle haben, was wir wollten: Rumo und Blaubär ihre Formel für Nachtigaller und du und ich unsere Wahrheit – auf die eine oder andere Art. Und eigentlich sollte es hier uns jetzt vorbei sein. Aber irgendetwas ist hier nicht ganz richtig, das kannst du doch nicht einfach so leugnen! Willst du wirklich aus reiner Starrsinnigkeit Kopf und Kragen riskieren?“ „Ich riskiere hier gar nichts“, gab der Schriftsteller unwirsch zurück und wandte sich mit hoch erhobenem Haupt zum Gehen. „Gut, wenn du nicht mit mir gehen willst, dann werde ich dich nicht zwingen! Aber unsere Abmachung steht – eine Abmachung, die du, wenn ich das mal anmerken darf, ebenso sehr wolltest wie ich! Tu was du willst und folge diesen schlichten Geistern – ich werde im Warmen sitzen und auf dein Erscheinen warten!“ Er raffte seinen Umhang zusammen, schnaubte ein letztes Mal verächtlich und stapfte davon, jedoch nicht ohne für die alle deutlich vernehmbar zu erwähnen, wie lästig es doch war, die ganze Strecke zur Lindwurmfeste zurück laufen zu müssen und dass daran natürlich nur die anderen schuld sein konnten. Rumo hob eine Augenbraue in Blaubärs Richtung, die eindeutig „Hätte er das nicht ohnehin gemusst?“ fragte, doch der Buntbär schüttelte nur den Kopf. „Denk einfach nicht drüber nach.“ Echo lief von widersprüchlichen Gedanken getrieben auf der Straße auf und ab. „Können wir das wirklich zulassen?“, fragte er seine zweibeinigen Gefährten, als er sah, wie Mythenmetz hinter der nächsten Ecke verschwand. „Was ist, wenn ihm wirklich etwas zustößt? Sind wir nicht ein Stück weit für ihn verantwortlich?“ Rumo folgte seinem Blick und musste zugeben, dass ihm dieser Gedanke auch für einen kurzen Moment gekommen war. Sicher, sie waren keine Freunde, bei weitem nicht, doch ein Wolpertinger ließ seine Gefährten für Gewöhnlich nicht im Stich, egal was kam. Auf der anderen Seite fügte sich für ihn alles gerade so perfekt. Anstatt Blaubär länger in dem Glauben lassen zu müssen, er würde mit der Formel in den Pfoten zu seiner todkranken Verlobten nach Wolperting zurück kehren, konnte er nun guten Gewissens direkt und ohne Umwege nach Atlantis reisen, ja wurde sogar noch von ihm begleitet. Die Situation war einfach zu ideal, um sie verstreichen zu lassen. Glücklicherweise schien Blaubär in gewisser Hinsicht seiner Meinung. „Pff“, machte er. „Verantwortlich für den? Da übernehme ich ja lieber die Verantwortung für eine Waldspinnenhexe mitten im Einkaufsviertel von Atlantis! Mit der kann man zumindest versuchen logisch zu diskutieren!“ Dann wurde er ernst. „Aber Spaß beiseite. Ich habe, wie gesagt, keine Ahnung, was an der Geschichte dieses Buchhändlers dran sein könnte, aber solange auch nur eine kleine Chance besteht, dass es die Wahrheit ist, sehe ich es als meine, als unsere Pflicht an, das heraus zu finden und im Zweifel zu Helfen. Rumo hat recht, wir müssen nach Atlantis!“ Natürlich konnte er der Frage nicht ausweichen, was denn nun aus Rala werden würde, da er sich schnurstracks auf den Weg in die Hauptstadt machte. Doch Rumo hatte damit gerechnet und war vorbereitet. „Sie ist in guten Händen“, erklärte er, während sie am Rande des Dämonengebirges entlang in Richtung Osten wanderten. „Unsere besten Ärzte behandeln sie. Und sollte wirklich Krieg herrschen, hat sie eine ganze Stadt voll Wolpertinger, die sie schützen. Die Rasse, die uns bezwingt, möchte ich erst einmal sehen! Ich werde zu ihr zurückkehren, sobald ich sicher bin, dass uns von Seiten Atlantis keine Gefahr droht.“ Die Argumentation hakte etwas, das wusste er selbst, doch Rumo hoffte inständig, dass sie ausreichen würde. Solange diese gespenstische Stille über Zamonien lag, war es besser, sie hielten zusammen. Zu viel Wahrheit war manchmal fehl am Platz. Tatsächlich waren sie auf ihrer gesamten Reise bis zu diesem Zeitpunkt nicht einem einzigen denkenden Wesen begegnet, was, rein gefühlsmäßig, doch etwas seltsam anmutete. Sicher, Zamonien war ein weitläufiger Kontinent, doch im Normalfall traf man etliche Reisende auf den langen Straßen, die das Land durchzogen, ganz zu schweigen von Postkutschen, berittenen Boten oder fahrenden Händlern. Doch nun lagen die Wege wie ausgestorben, ganz genau so, wie es auch schon in Buchhaim der Fall gewesen war. Niemand trieb sein Pferd in wildem Galopp an ihnen vorbei oder hob die Hand zum mürrischen Gruß, während er seinen Karren durch den unausweichlichen Matsch zog. Noch nicht einmal Wegelagerer gab es, von denen es normalerweise in den Höhlen der Dämonenklamm nur so wimmelte. Rumo redete sich ein, dass es am Regen lag. Seit Tagen schüttete es nun schon wie aus Eimern, dazu kam ein eisiger Wind und immer wieder aufwallende Gewitter, die den Himmel mit ihren Blitzen für Bruchteile von Sekunden strahlend weiß färbten. Die drei Reisenden waren nass bis auf die Knochen, froren und hätten sich am liebsten in einer Höhle zusammen gekauert und auf besseres Wetter gewartet, doch die Ungewissheit und das stechende Gefühl, dass vielleicht doch etwas nicht stimmte, trieb sie weiter die rutschigen Berghänge entlang. Echo, der schon lange nicht mehr hatte Schritt halten können, kauerte auf Rumos Schulter und zuckte unter jedem Donnerschlag zusammen. „Sogar der Himmel ist unruhig“, sagte er mit einem Blick nach oben über das Heulen des Windes hinweg. „Wenn wir Atlantis nicht innerhalb der nächsten paar Tage erreichen, werden wir noch ernsthaft krank. Zumindest, wenn es weiterhin so gießt.“ „Der Kleine hat recht“, stimmte Blaubär zu und betrachtete ebenfalls die Wolken, die schwarz und unheilvoll über die hinweg peitschten. „Ich hätte nichts dagegen, wenn wir einen Zahn zulegen, was meinst du, Rumo?“ Rumo nickte. „Nichts dagegen einzuwenden. Je schneller wir da sind, desto besser.“ Er ging hinab auf alle Viere und sah, wir Blaubär es ihm gleich tat. Dann setzten sie von ihrem zuvor gemächlichen Laufschritt in einen schnellen Dauerlauf über. Der Wolpertinger dachte an nicht viel, während sie so liefen, überließ seinen Instinkten das Halt finden auf dem durchweichten Untergrund und seinem inneren Kompass die Richtung. Alles, was für ihn zählte, war, dass er die Formel brachte, endlich, nach zwei langen Wochen Verspätung, die Smeik hoffentlich nicht allzu teuer zu stehen gekommen waren. Smeik… wenn es nun wirklich stimmte… ging es der Haifischmade gut? Um Rala machte Rumo sich tatsächlich nicht allzu viele Sorgen – sie konnte kämpfen, wenn es darauf ankam, das hatte sie mehr als einmal bewiesen. Und Smeik… Kein Grund sich Gedanken zu machen, ermahnte sich Rumo und hielt seinen Blick starr geradeaus. Der bekennende Spieler hatte seine Leibwachen, die ihm den Rücken frei halten würden, auch wenn er selbst gerade einmal nicht in der Stadt war. Ihm ging es sicherlich gut, egal wie es zu diesem Zeitpunkt um Atlantis stand. Und wie sollte es schon um die größte Stadt der Welt stehen? Schweigend und mit ernstem Gesicht sprinteten die beiden Gefährten nebeneinander her, Echo auf Rumos rücken und die alles entscheidende Formel sicher in seiner Tasche. Der Wolpertinger biss sich im Laufen auf die Unterlippe. Er wusste, warum ihn diese ganze Geschichte mit dem vermeintlichen Angriff der Menschen so viel mehr beschäftigte, als die anderen. Es war ihm aufgegangen kurz nachdem sie Buchhaim verlassen hatten und es ließ ihn seit dem nicht mehr los. Doch er konnte es nicht sagen, noch nicht, nicht ohne alles kaputt zu machen, sein ganzes verdammtes Lügenkonstrukt. Blaubär würde sofort aussteigen, wenn er hörte, dass es um Smeik ging, egal, wie nachvollziehbar seine Beweggründe ihm selbst auch erscheinen mochten. Und Rumo hatte so ein Gefühl, dass er in der nächsten Zeit jeden Verbündeten gebrauchen konnte, den er kriegen konnte. „Es sind die Menschen, nicht wahr?“ Löwenzahn klang zum ersten Mal seit langem ruhig und ernst zugleich. „Es ergibt alles einen Sinn.“ Rumo nickte, erinnerte sich dann daran, dass seine beiden Freunde das ja nicht sehen konnten und dachte einen Gedanken der Zustimmung. ‚Erst die ganze Sache im Rumotron und jetzt das. Was, wenn es zusammen hängt? Was, wenn das alles von Anfang an geplant war? Was wenn…‘ „… sie dich loswerden wollten“, brachte Löwenzahn den Satz zu ende, den Rumo sich nicht zu denken getraut hatte. „Und nicht nur dich. Auch Blaubär. Und Mythenmetz. Und vielleicht sogar den Kleinen auf deinem Rücken?“ ‚Das glaube ich nicht‘, entgegnete der Wolpertinger, klang dabei aber weit weniger überzeugt, als er es sich gewünscht hätte. ‚Soweit können sie nicht gedacht haben. Woher sollten sie wissen, dass Smeik blufft und die Formel setzt? Und dass er mich schickt, um sie zu holen? Nein, das ist zu weit hergeholt.‘ „Aber überleg doch mal!“, beharrte Löwenzahn. „Du bist der Held von Zamonien, du hast Untenwelt bezwungen und jeder weiß das! Dieser Blaubär ist Nachtigallers Schützling und hat daher bestimmt auch so einiges drauf, wovon wir nichts wissen. Mythenmetz… nicht mal die Tageszeitungen können Nachrichten so schnell verbreiten wie seine Bücher! Jeder in Zamonien liest sie! Jeder! Mit Ausnahme von dir vielleicht. Und nur die Götter wissen, was diese Katze drauf hat. Er kann sprechen – das ist schon mal nicht normal! Mit uns allen aus dem Weg, hätten ein möglicher Feind auf jeden Fall schon mal bessere Karten Zamonien zu überrumpeln. Und da ist noch etwas….“ „Nämlich die strategisch wichtigen Punkte des Landes“, mischte sich Grinzold ein. „Denk doch mal nach, Großer: Wo liegen die?“ Rumo rief sich die Karte Zamoniens vor das geistige Auge. ‚Atlantis‘, dachte er. ‚Das ist das wichtigste. Dann... die Finsterberge, um die Nordostküste einzurahmen. Danach sicher die Lindwurmfeste. Und dann noch irgendetwas im Süden…. So wie zum Beispiel… Oh Götter!‘ „Wolperting“, vollendete Grinzold. „Und jetzt sag mir, wo ihr drei herkommt!“ Rumo wurde mit einem Mal ziemlich schlecht. Wenn das alles so stimmte, dann war Zamonien vielleicht tatsächlich in großer Gefahr! Natürlich erklärte es immer noch nicht, wie es die Menschen geschafft haben sollten, jene Orte an sich zu bringen, aber Gesetzt dem Falle sie hätten es wieder jeglicher Logik irgendwie bewerkstelligt… „Könnte sein, dass wir ziemlich am Arsch sind, was Großer?!“ ‚Nein!‘ Rumo rammte seine Pfoten energisch in den weichen Boden. ‚Nein, das ist völlig unmöglich! Völlig undurchführbar! Ihr denkt viel zu weit!‘ „Dein Wort in den Ohren der Götter, Junge!“ Der Wolpertinger warf einen Seitenblick auf Blaubär, um sicher zu gehen, dass der von den hitzigen Verschwörungstheorien in seinem Kopf nichts mitbekommen hatte, und war relativ erleichtert, ihn stoisch vor sich hin laufen zu sehen. „Wie lang in etwa noch bis wir Atlantis erreichen?“, wollte Echo von irgendwo hinter seinem Kopf wissen. „Es wird mir jeder Sekunde ungemütlicher hier oben!“ Rumo dachte nach, doch Blaubär kam ihm zuvor. „Etwa drei bis vier Tagesmärsche, wenn wir dieses Tempo halten können. Vielleicht weniger, je nachdem wie viele Pausen wir einlegen müssen. Leider haben wir ja einen Halb-Invaliden dabei!“ Er grinste und zunächst tat Rumo es im gleich. Dann fiel ihm auf, dass er gemeint war. „Hey“, entrüstete er sich. „Meinem Rücken geht es super! Ich spür ihn gar nicht!“ „Na da würde ich mir aber ernsthafte Gedanken machen!“ Der Wolpertinger machte einen Schlenker zur Seite und rammte Blaubär spielerisch an der Schulter. Er war froh, dass die Stimmung sich etwas gelöst hatte und ihn endlich etwas von seinen düsteren Ahnungen ablenkte, auch wenn das bedeutete, dass er einige Witze auf seine Kosten über sich ergehen lassen musste. Ein geringer Preis für jemanden, der über sich selber lachen konnte. Die folgenden Stunden verliefen ereignislos. Wirklich ereignislos, denn bis auf gelegentliche Richtungsdiskussionen sprach keiner von ihnen ein Wort, nicht einmal Löwenzahn meldete sich. Und natürlich bleiben auch die Wege leer, wie sie es schon all die Stunden zuvor gewesen waren. Zumindest bis Blaubär auf einmal abrupt abbremste und schlitternd wenige Meter neben Rumo zum Stehen kam, der verdutzt an seinem Gefährten vorbei joggte. „Was ist los? Komm, wir müssen weiter!“ Doch der Buntbär machte keine Anstalten weiter zu laufen und so legte Rumo eine mehr oder weniger galante Schlamm-Kehrtwende ein und trottete gemächlichen Schrittes zurück. „Ist was?“ „Warte kurz…“ Blaubär hatte die Schnauze in den Wind gehoben und nahm mit geschlossenen Augen Witterung auf. Dann drehte er sich einmal um die eigene Achse und sah sich um. „Seltsam…“ „Was ist seltsam?“ „Ich werde seit einiger Zeit das Gefühl nicht los, dass wir verfolgt werden.“ Rumo blinzelte überrascht. „Verfolgt? Von wem?“ Er hatte nichts dergleichen wahrgenommen und es schien ihm auch äußerst zweifelhaft, dass irgendjemand sonst unter diesen Wetterbedingungen so etwas wie eine Fährte erkennen konnte. Geschweige denn den vorauseilenden Geruch eines Verfolgers. „Keine Ahnung, wer das sein könnte“, gab Blaubär zu. „Es ist auch nur ein grober Verdacht. Aber vielleicht sollten wir die Augen offen halten. Nur zur Sicherheit.“ Echo stellte sich auf Rumos Schulter auf die Hinterpfoten und reckte das Köpfchen. „Das übernehme ich. Ich habe von hier oben eine gute Rundumsicht – ihr könnt euch ganz auf den Weg konzentrieren.“ „Gut, aber fall nicht runter!“ Sie verfielen wieder in ihren schnellen Laufschritt, legten dabei sogar noch etwas an Tempo zu, wobei wohl keiner von ihnen so recht hätte sagen können, ob bewusst oder unterbewusst. Rumo fürchtete sich zwar nicht vor eventuellen Verfolgern jedweder Art, aber auch er blieb nicht von dem unangenehmen Kribbeln des eingebildeten beobachtet Werdens verschont. Falls das überhaupt irgendwie möglich war, so hatte der Regen in den letzten Minuten noch an Intensität zugelegt. Die Welt vor ihnen verschwand hinter einem undurchdringlichen Vorhang aus Wasserfäden und Nebel, bis die Sicht schließlich keine fünfzig Meter mehr betrug und das Laufen zunehmend gefährlicher zu werden begann. Sie befanden sich an einem Berghang, was bedeutet, dass der Boden zu ihrer Rechten teils nahezu senkrecht abfiel – ein ebenso schneller wie tödlicher Weg ins darunter liegende Tal, den Rumo nicht unbedingt vor hatte zu gehen. Er erhob sich wieder auf die Hinterpfoten und bedeutete Blaubär, selbiges zu tun, damit sie langsamer wurden. So sehr sie auch wollten, mehr als vorsichtiges Gehen war bei diesen Witterungsbedingungen in einem unübersichtlichen Gelände einfach nicht drin. Der Wolpertinger wollte seinem Gefährten etwas zurufen, doch der Regen schluckte jedes seiner Worte noch bevor sie sein Maul verließen und zwang ihn so zu schweigen. Nur am Rande bemerkte er, dass Echo sich mit aller Gewalt in sein Fell krallte, um nicht herunter geweht zu werden oder in den Schrecksekunden der viel zu nahe einschlagenden Blitze einfach loszulassen. ‚Das ist die Apokalypse‘, schoss es dem Wolpertinger düster durch den Kopf. ‚Und wir sind mitten drin.‘ Er sah nach oben, den Berghang hinauf, um so vielleicht einen Blick auf die nachtschwarzen Wolken zu erhaschen, in der Hoffnung ein paar weiße dazwischen zu entdecken, doch was er dort sah, raubte ihm beinahe den Atem. Wie selbst von Blitz getroffen, blieb er stehen und rieb sich den Regen aus den angestrengten Augen, so als könne er das Bild, das sich ihm dort oben bot, einfach wegwischen, doch so sehr er auch rieb, es wollte nicht verschwinden. „Sag mir, dass du das auch siehst, Echo.“ Die Kratze antwortete nicht, sondern starrte nur mit vor Angst verzerrtem Gesicht über seine Schulter, offenbar unfähig sich zu bewegen oder sonst wie zu reagieren. Ganz offensichtlich war das, was Rumo dort oben, etwa zehn Meter oberhalb ihrer Köpfe gesehen hatte, keine Einbildung, so sehr er es sich auch gewünscht hätte. Es war eine Gestalt, groß wie er selbst, vielleicht sogar etwas größer, mit langem, vom Regen zerzaustem Fell und stechend roten Augen, die sich durch das Zwielicht auf sie hernieder bohrten, als könnten sie allein die drei Reisenden an ihrem Platz halten. Sie stand auf zwei Beinen, doch nicht das wie, sondern das wo war es, das dem Wolpertinger eine eisigen Schauer über den Rücke jagte. Denn dort, wo die Kreatur stand, war nichts als Fels. Vollkommen glatter, ausgewaschener Fels, ohne jeglichen Halt, ohne Kerbe, ohne Vorsprung. Und dort stand sie, die Kreatur. Auf den Hinterbeinen. Und sah zu ihnen herunter. „Scheiße, was ist das?“, brülle Blaubär durch den tosenden Regen hindurch, als auch er den Blick gehoben hatte. „Also ein Mensch ist das schon mal nicht!“ Nun kam die Kreatur auf sie zu, Schritt für Schritt und irgendwie unischer, ganz so als fiele es ihr schwer, auf den Beinen zu bleiben. Etwas Dunkles tropfte ihr aus dem hundeartigen Maul auf das Brustfell, während sie ohne Zuhilfenahme der Vorderpfoten den fast senkrecht abfallenden Hang hinunter wankte, geradewegs auf sie zu. Rumo ging in die Knie und zog Löwenzahn aus seiner Scheide, wohl wissend, dass dies ein denkbar ungünstiger Ort für einen Kampf war, noch dazu gegen ein Wesen, das offenbar recht wenig von der Schwerkraft hielt. Trotzdem würde er es im Zweifel auf einen Versuch ankommen lassen müssen. Die Gestalt war inzwischen bis auf wenige Meter heran gekommen, langsam, ja beinahe mit Bedacht, und nach und nach konnte der Wolpertinger deutlichere Formen ausmachen. Sie sah aus wie ein wilder Wolpertinger, nur dass ihr Hörner und die charakteristischen braunen Augen fehlten und ihr Fell statt der verbreiteten Dreifarbigkeit schneeweiß war… Moment mal… In dieser Sekunde taumelte die Kreatur, tat einen letzten Schritt, brach dann zusammen und schlitterte ungebremst den Abhang hinab, direkt auf den hunderte Meter tiefen Abgrund zu. Rumo dachte nicht nach. Im Bruchteil eines Augenblicks sprang er zur Seite, packte die Gestalt im Nacken, bremste so ihren Sturz und zog sie sicher auf den schmalen Pfad, auf dem die drei Reisenden wanderten. Dann hob er ihren Kopf, um in das ihm plötzlich bekannt vorkommende Gesicht zu sehen. Es war Hektor. Der weiße Werwolf Hektor, den er vor einigen Wochen bei Nachtigaller kenne gelernt hatte. Und er war verletzt. Rumo sah entsetzt an dem am Boden liegenden Wolf herab. Sein einst fast schon unnatürlich weißes Fell war über und über mit Blut bedeckt, das ihm unaufhörlich aus Mund und Nase rann und sich mit dem Schlamm zu einer hässlichen Brühe mischte. Er schien seine letzte Kraft verbracht zu haben, denn er machte nicht einmal den versucht, sich aus eigener Kraft wieder aufzurichten, sondern blieb nahezu reglos liegen, wo Rumo ihn zuvor hin gezerrt hatte. Den Wolpertinger überkam die nackte Angst. „Schnell“, rief er hinter sich, wo Blaubär und Echo die beiden Hunde aus sicherer Entfernung beäugten. „Wir müssen etwas tun! Er verblutet!“ Echo, der begriffen zu haben schien, dass das nicht die Zeit war, um Fragen zu stellen, kam mit zwei langen Sätzen zu dem Verletzten hinüber gesprungen und legte beide Pfoten auf seine unter flachen Atemzügen bebende Brust. „Sein Puls ist viel zu niedrig, Rumo“, erklärte er ernst. „Er hat sehr viel Blut verloren. Ich bin nicht sicher, ob wir hier draußen noch irgendetwas für ihn tun können. Was auch immer das war, das ihn so zugerichtet hat – es hat ganze Arbeit geleistet.“ „Nein, das darf nicht sein!“, rief Rumo. „Er ist vielleicht der letzte seiner Art! Und mein Freund! Ich lasse ihn nicht einfach sterben!“ „Wir sind mitten in den Bergen! Was soll ich deiner Meinung nach tun? Ich hab nicht irgendein Sedativum bei mir, geschweige denn Blutersatz!“ Rumo sah sich hektisch um, so als könne er hinter dem nächsten Felsen etwas finden, das Leben rettete. Tiefe Verzweiflung hatte von einer Sekunde auf die andere von ihm Besitz ergriffen und trübte seinen Blick für das Rationale. „Was ist, wenn ich ihm mein Blut gebe? Das muss doch irgendwie gehen!“ Echo warf ihm einen eindringlichen Blick zu. „Hör zu“, sagte er ruhig. „Ich werde mir die Erklärung jetzt sparen, aber du musst mir glauben, dass es so einfach nicht geht. Er hat innere Verletzungen, Rumo. Wer weiß, was mit ihm passiert ist.“ „Aber…“ „Schon gut, Rumo, der Kleine hat Recht.“ Der Wolpertinger zuckte zusammen, als Hektor plötzlich zu sprechen begann. Seine Stimme war schwach und von der nahenden Ohnmacht gezeichnet, doch seine Worte waren klar und offenbar sorgfältig gewählt. „Ich bin froh, dich noch eingeholt zu haben, ihr habt ja ein ganz ordentliches Tempo vorgelegt. Da haben mir auch meine Abkürzungen über die Felsen wenig gebracht.“ Er lachte röchelnd und spuckte einen ganzen Schwall Blut, den Rumo schnell mit seinem eigenen Arm wegzuwischen versuchte. Doch der Werwolf schob seine Pfote beiseite. „Nein, bitte, hör mir einfach zu, es ist wichtig!“ Schweren Herzens ließ Rumo seine Klauen sinken und kniete sich neben seinen Freund in den Schlamm. Echo und Blaubär taten es ihm gleich, als sie merkten, dass der Verwundete nichts dagegen zu haben schien. „Keine Ahnung, wer ihr Jungs seid“, grinste er, „aber wenn ihr mir Rumo unterwegs seid, seid ihr wohl in Ordnung. Und ihr seht lustig aus, so alle zusammen.“ „Hektor…“ „Schon gut, ich komme zum Punkt.“ Ein weiteres Lachen, ein weiterer Schwall Blut. Dieses Mal mehr. „Also… ihr müsst zu den Finserbergen reisen! Schnell! Holt euch Verstärkung, wenn ihr könnt, und haltet sie auf. Das Lexikon darf ihnen auf keinen Fall in die Hände fallen, sonst ist es endgültig aus mit uns. Nachtigaller konnte gerade noch an einem geheimen Ort verbergen und mich auf die Suche nach dir schicken, bevor sie ihn hingerichtet haben. Aber sie werden danach suchen. Und sie werden es früher oder später finden. Und dann haben wir verloren. Aber wenn sie einer aufhalten kann, dann bist du es, Rumo. Bitte, du musst uns retten!“ Rumo kam nicht mit. Sein Kopf konnte all das einfach nicht fassen, konnte und wollte nicht begreifen, was er gerade eben gehört hatte, und so sagte er das erste, was ihm in diesem Moment einfiel. „Aber ich muss nach Atlantis…“ „Nein!“, rief Hektor und packte ihn am Arm. „Geh nicht da hin! Die Stadt gehört uns nicht mehr. Sie gehört jetzt denen. Alle dort sind geflohen oder tot! Wir müssen das Lexikon schützen! Solange sie das noch nicht haben, kann noch alles gut werden!“ „Alle in Atlantis sind…?“ Rumo wusste nicht wohin mit seinen Gedanken. Tot… wer war tot? War Smeik tot? War er entkommen? Und was war mit Rala? Und seinen Artgenossen? Und was war hier überhaupt los? Wie hatte so plötzlich das Ende ihrer Welt über ihre Köpfe herein brechen können? Neben ihm richtete sich Blaubär kerzengerade auf und sah mit starrem Blick in die Ferne. „Tut mir Leid, Rumo“, sagte er tonlos, „aber wenn du immer noch nach Atlantis willst, kann ich dir nicht länger folgen. Wenn diese Kreaturen wirklich Nachtiagller auf dem Gewissen haben, dann...“ Er verstummte und ballte seine Klauen zu zitternden Fäusten, die mehr sagten, als Worte es gekonnt hätten. „Ich muss zurück!“, erklärte er schließlich. „Auch um nach meiner Familie zu sehen. Ich kann nicht zulassen, dass ihnen etwas zustößt. Und ich kann nicht zulassen, dass Nachtiagllers Lexikon in die Hände unserer Feinde fällt.“ „Bitte geh mit ihm, Rumo“, bat Hektor flehend. „In Atlantis kannst du keinen mehr retten, aber vielleicht… vielleicht findest du einen Weg, es zurück zu erobern, wenn…wenn…“ Er schloss die Augen und ließ den Kopf zurück sinken. Es war ihm anzusehen, dass er nicht mehr weiter sprechen konnte. Rumo sah sich hilfesuchend um, doch Blaubär schien seine Entscheidung bereits getroffen zu haben und Echo befand sich offenbar in einer Art Schockzustand. Er hatte den Mund geöffnet, so als wolle er etwas sagen, konnte jedoch keinen sinnvollen Gedanken zu Ende führen. Rumo konnte es ihm nachfühlen. Was sollte er tun? Was nur? Er wollte nach Atlantis, doch war dort wirklich noch jemand, der auf ihn wartete? Oder war die Stadt, das Rumotron, war Smeik schon längst verloren? Sollte er zu Rala und bei ihr nach dem Rechten sehen? Oder sollte er Blaubär folgen und dieses ominöse Lexikon verteidigen, von dem offenbar so viel abhing? Und, fragte sich eine Stimme irgendwo ganz tief in seinem Unterbewusstsein, was war mit Mythenmetz? Wenn es wirklich so schlimm um Zamonien stand, wenn alles, was der Buchhändler gesagt hatte, tatsächlich wahr war, dann schwebte auch er in großer Gefahr. Und er wusste es nicht einmal. Vielleicht war er sogar schon tot. Rumo sah auf Hektor herab, in dessen Augen die letzten Funken Leben flackerten. Und während er das tat, wurde ihm mit einem Mal etwas auf schrecklich erdrückende weise Bewusst. Egal, wo er jetzt auch hin ging – für irgendwen anders kam vielleicht jede Hilfe zu spät. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)