Rumo und die Wahrheit der Alchimisten von -Echo ================================================================================ Kapitel 1: Willkommen im Rumotron --------------------------------- Sie ist die schönste Stadt der Welt, die viel verspricht und noch mehr hält. So lautete der Werbeslogan von Atlantis. Und es schien tatsächlich mehr zu sein, als ein bloßes Mittel, um Touristen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Atlantis war keine Stadt, nicht einmal eine Metropole, sondern ganz einfach Atlantis. Ohne sie - denn sie war ohne Zweifel eine Sie – gab es kein Zamonien und sie schien das zu wissen. In der Tat schien Atlantis zu leben, zu atmen, sogar zu denken, zu fressen und ganz sicher auszuscheiden. Letzteres allein schon wegen des Gestanks, der über manchen Stadtteilen hing. Gerüchten zufolge hörte man nachts die Gullydeckel rülpsen und die Häuser stöhnen. Das waren allerdings nichts weiter als Mythen, die man sich erzählte, um sich überhaupt etwas zu sagen zu haben. In der schönsten Stadt der Welt gab es Häuser wie Bäume und Bäume wie Häuser, Wolkenkratzer, deren Spitzen den Himmel kitzelten und Keller, die so tief waren, dass manch einer ihnen ähnliche Legenden andichtete, wie den Katakomben von Buchhaim. Das zeigte jedoch nur, wie wenig die Atlanter den Kontinent kannten, auf dem sie lebten. Denn natürlich hatte kaum einer von ihnen Buchhaim je gesehen. Wer in Atlantis geboren wurde, blieb in Atlantis und starb in Atlantis. Manchmal schneller als geplant, falls man bei so etwas wie dem Tod von planen sprechen konnte. Interessieren tat das keinen, hier lebte und liebte man Anonymität, wie es in einer großen Stadt üblich war. Laut den Zeitungen sah jeder alles, in Wahrheit sah niemand irgendetwas. Man war gemeinsam einsam und genoss diesen Zustand, bis man daran zerbrach. Inmitten dieses Meeres der unterschiedlichsten Häuser – eins wunderlicher, schöner und zugleich hässlicher als das andere – stand es. Das Rumotron. Riesenhaft, grell, bunt und laut. Vierundzwanzig Stunden lang, sieben Tage die Woche. Die größte Spielhölle Zamoniens. Das 257-stöckige Gebäude ragte bis an den Rand der Atmosphäre, verschlang die Energie, die ganz Wolperting in einem Jahr kaum brauchte, in weniger als einem Monat, und sicherte rund neuntausend zamonischen Kreaturen ein geregeltes Einkommen. Es war ein Koloss, ein Gigant und eine Festung. Es kam nur hinein, wer Geld hatte und nur hinaus, wer keins mehr hatte, dafür sorgten die zahlreichen blutschinkischen Türsteher und Sicherheitsbeauftragten, die auch gerne einmal grundlos zuschlugen, wenn ihnen die Visage eines Gastes nicht passte. Doch daran hatte man sich in dem seelenlosen Riesen bereits gewöhnt. Wer starb, wurde in die Kanalisation geschmissen, die Karkatratten erledigten den Rest. Der Eigentümer dieser unersättlichen Bestie war natürlich niemand geringeres als Volzotan Smeik. Wer sonst als der größte Spieler des Kontinents konnte das größte aller Kasinos besitzen? Das Gebäude hatte er einem Industriemagnaten aus Eisenstadt bei einer Partie Schrecksenschach abgeluchst, die so offensichtlich manipuliert gewesen war, dass selbst sein stumpfsinniger Leibwächter von Zeit zu Zeit nervös gehüstelt hatte, worauf hin Smeik ihn prompt entließ. Ein Pokerface war das Permanent-Make-up eines jeden Meisters der Glücksspiele in und außerhalb Zamoniens, da spielte es keine Rolle, dass das Gegenüber sich vor lauter Angst vor der massigen Haifischmade beinahe in die Hose machte und nebenbei bemerkt nicht viel intelligenter schien, als der Stuhl auf dem er saß. Geschäft war Geschäft und wer verlor, war verloren. Wenn es ans Fressen und Gefressen-werden ging, war Smeik definitiv lieber derjenige, der fraß. Sowohl im übertragenden als auch im wörtlichen Sinne, was man im deutlich ansah. ‚Spiele nicht gegen den Spieler’, hieß es in einschlägigen Kreisen und selbst die abgebrühtesten Zocker mieden den BlackJack-Tisch des Kartenkönigs in weiser Voraussicht. Zunächst hatte Smeik überlegt, den stinkenden Riesen zu verkaufen – man bot ihm durchaus gute Preise und die Lügenduelle warfen bei weitem genug Geld ab, um ihm ein schönes leben zu finanzieren – doch dann überkam ihn seine Spielernatur und irgendetwas sagte ihm, dass ein Kasino eine witzige Angelegenheit werden konnte, wenn man es richtig anpackte. Vier Monate später eröffnete das Rumotron. Die Atlanter schienen geradezu versessen aufs Spielen, tagtäglich strömten Tausende von ihnen die Kartentische und Arenen, in denen die verschiedensten legalen und illegalen Wettbewerbe ausgetragen wurden – Smeik überwachte all dies mit zufriedenem Haifischgrinsen, wieder ein Spiel, bei dem er kontinuierlich gewann. Er war einfach gut. Es gab jedoch jemanden, der von der ganzen Kasino-Idee eher weniger begeistert war: Rumo von Zamonien. Rumo war Smeiks persönlicher Leibwächter und Vertrauter, zusätzlich noch Sicherheitschef und oberster Rausschmeißer im Rumotron und somit einer der bestbezahlten Wolpertinger in ganz Atlantis. Dennoch konnte er sich mit dem Leben als Berufsschläger nicht wirklich anfreunden. Natürlich lag ihm nichts ferner als ein Leben ohne jegliche körperliche Auseinandersetzung. Nein, dazu war er viel zu sehr Kämpfer, durch seine Adern floss das Blut einen großen Abenteurers, des Bezwingers von Hel, von ganz Untenwelt, wenn man so wollte. Außerdem war er ein Wolpertinger, und Wolpertinger waren nun einmal Raubtiere. Der Grund für Rumos Unmut war ein anderer. Atlantis war groß, zu groß für seinen Geschmack. Er kannte das Leben auf einer Farm, in der Wildnis und in Wolperting und das hier war ganz sicher nicht damit vergleichbar. Rund um die Uhr herrschte ohrenbetäubender Lärm, es stank nach Chemie, Tod und Verwesung, manchmal sogar nach Exkrementen der unterschiedlichsten Art und Dingen, die Rumo noch nie in seinem Leben gerochen hatte und eigentlich auch nicht hatte riechen wollen. Schweiß hing ebenso in der Luft, wie der metallische Geruch von frischen oder bereits getrockneten Blut, dazu kamen hunderte der verschiedensten Speisen und Getränke, von Tee bis hin zu Vielhornpüree, einer unappetitlichen Pampe, von der Rumo nur wusste, dass Fußnägel eine der Grundzutaten waren. Das hatte ihm an Information gereicht. Tag und Nacht herrschte unruhiges Treiben in den Straßen, ein jeder wirkte gehetzt und abgekämpft, es wurde geschrieen und geflucht, bei Zeiten auch verflucht und sowieso grundsätzlich nur geschimpft. Man war nicht sonderlich freundlich zueinander, zumindest Tagsüber nicht. Nachts ging man besser gleich bewaffnet aus dem Haus, wenn man denn musste. Das steigerte die Chancen auf Überleben ungemein. Für Rumos empfindliche Raubtier-Sinne war das zu viel. Er mied die überfüllten Straßen so gut er konnte, dennoch hatte sich, seit er mit Smeik in die Stadt gekommen war, ein pochender Kopfschmerz über seiner rechten Schläfe festgesetzt, der ihm immer wieder den Schlaf raubte. Früher hatte er, wenn er die Augen schloss, neben dem unverkennbaren silbernen Faden, der ihn zu Rala geführt hatte, viele andere, klare Farbstränge gesehen, die alle zusammen ein nahezu gestochen scharfes Bild seiner Umgebung lieferten. Heute war das anders. Zwar gab es immer noch den silbernen Faden – obwohl er Rala in Wolperting zurück gelassen hatte, war er stark wie eh und je – doch alles andere war nur noch grau. Keine Farben, keine Muster, alles grau in grau, eine hässliche, stinkende Masse, die zur Orientierung so viel taugte, wie die Wegbeschreibung eines Nattifftoffen. Und für alle, die mit diesem Vergleich nichts anfangen können: Das ist nicht viel. Rumo wusste, dass es nicht an seiner Nase liegen konnte. Manchmal, wenn er sich anstrengte, gelang es ihm, einzelne Duftspuren aufzugreifen und sogar eine Weile zu verfolgen, bevor sie sich im Matsch der andren Ausdünstungen verlor. Es war die Stadt. Es war Atlantis selbst, die es ihm unmöglich machte, sich auf das zu verlassen, was er war, auf das, was ihn ausmachte. Hier konnte er nur mit den Augen sehen. Wirklich reichen würde ihm das nie, soviel war sicher. Auch hier, auf der VIP-Empore einer der Automaten-Etagen des Rumotrons, wo Rumo sich, augenscheinlich sehr gelassen, gegen das Geländer gelehnt hatte, brachte ihm seine Nase nichts. Der Wolpertinger bemühte sich, nicht von all dem Stress und der Anspannung um ihn herum mitgerissen zu werden, und seine ganze Aufmerksamkeit der kleinen Gruppe Rikschadämonen zu widmen, die sich verstohlen in einer der Ecken unterhielt. Er ignorierte seinen pochenden Kopfschmerz und folgte jeder ihrer Bewegungen mit den Augen, immer darauf gefasst in Sekundenbruchteilen eingreifen zu müssen. Hinter ihm fachsimpelten ein paar Nattifftoffen angeregt über das letzte Lügenduell und Rumo konnte ein ums andere Mal den Namen seines Freundes und Arbeitgebers, Smeik, heraushören. Der Tonfall, in dem die Beamten sprachen, strotzte nicht gerade vor Hochachtung, doch er hielt es für klüger, sich aus der Angelegenheit heraus zu halten. Erstens sahen die Rikschadämonen mit jeder Minute verdächtiger aus, und zweitens legte man sich nicht mit Beamten an, wenn man von atlantischem Recht gerade einmal soviel verstand, wie ein Zwiezwerg vom fliegen. Also starrte Rumo weiterhin verbissen auf die unheimlich anmutenden Gestalten hinter der Statue eines Yetis, der ein Tablett mit Jetons trug. Sie kicherten und schubsten sich gegenseitig in die Menge, was zu kleineren Tumulten führte, die sich aber schnell wieder legten, während sie sich nervös mit den langen Zungen über die schauerlichen Fratzen leckten. Gerade als sich Rumo anschickte in Richtung Treppe und somit einer möglichen Gefahr entgegen zu gehen, deutete einer der Dämonen mit aufgeregt wirkendem Blick auf die gläserne Eingangstür zur Etage, woraufhin die ganze Gruppe aufgeregt mit den Füßen zu scharren begann und dann, eh Rumo es sich versah, davon stob. Der letzte von ihnen stolperte dabei ungeschickt über das Bein eines Kellners und flog, mit diesem zusammen, der Länge nach hin, rappelte sich aber sofort wieder auf und eilte ohne ein Wort der Entschuldigung seinen Artgenossen hinterher. Rumos Augen klebten noch eine Weile verwundert auf der nun wieder verschlossenen Glasschiebetür bevor er sich besann, kurz schüttelte und sich dann seufzend mit der Pranke über das Stummelgeweih fuhr. Das war schon der vierte Fehlalarm seinerseits diese Woche. Die Dämonen hatten nichts weiter getan, als sich auf ihre ganz eigene, skurrile Art zu amüsieren, das war alles. Er begann Gespenster zu sehen. „Wieder eine Niete, was?“, fiepste ihm da eine Stimme ins Ohr. Rumo sah sich nicht um. Das war auch gar nicht nötig, denn genau genommen war diese Stimme nicht an, sondern in seinem Kopf. Sie gehörte zu Ex-Stollentroll-jetzt-besser-bekannt-als-Kurzschwet Löwenzahn, der wieder einmal seine Klappe nicht hatte halten können, obwohl Rumo ihm und Grinzold die Einmischung in seine Arbeit strikt verboten hatte. Es hatte sich als leicht problematisch herausgestellt, mitten in einem überfüllten Raum mit zwei körperlosen Stimmen, die nur er allein hören konnte, zu sprechen. Auch jetzt zog Rumo es vor, der provokanten Frage mit Schweigen zu begegnen. Stattdessen schob er eine Ansammlung hektisch dreinblickender Fernhachen mir sanfter Gewalt und dem Einsatz seines Zeigefingers aus dem Weg und bahnte sich seinen Pfad durch die Menge hin zu der großen Tür, hinter der auch die Rikschadämonen verschwunden waren. Draußen, auf dem lichten Flur, war es etwas ruhiger. Von hier oben konnte man durch die verglaste Außenfront nahezu ganz Atlantis überblicken, doch die Spieler hatten nichts übrig für die erschreckend schöne Aussicht. Als typische Süchtige scheuten sie das Tageslicht wie die sagenhaften Harpyren, allein die Tatsache, dass sie sich bei strahlendem Sonnenschein ins Kasino verkrochen, sprach Bände. Jeder, der sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Gang befand, wirkte entweder gehetzt oder hielt sich nur noch schwankend auf den Beinen, sei es aufgrund häufiger durchzechter Nächte oder übermäßigen Alkoholgenusses. Auch Rumo sah nicht nennenswert besser aus. Er jagte mit gesenktem Blick über den Gang, um sich selbst den Anblick seines übermüdeten Spiegelbildes zu ersparen, und störte sich nicht daran, dass er den einen oder anderen Besucher anrempelte. Die meisten waren zu sehr in ihrer eigenen kleinen Welt gefangen, um sich belästigt zu fühlen. Sein Weg führte den jungen Wolpertinger geradewegs zu einer schmalen und verhältnismäßig unscheinbaren Treppe, die das Ende des Flures mit den darüber liegenden Gebäudeteilen verband und an deren Geländer ein großes Messingschild prangte: Betreten Verboten! Rumo ignorierte das Schild und marschierte mit widerhallendem Schritt die Steinstufen hinauf. Oben angekommen gab es etwas, das dieses 257. der Stockwerke von den andren unterschied. Eine sehr massive Stahltür aus echtem Finsterberg-Stahl mit alchemistischem Akustik-Schloss und den riesenhaften Initialen VS versperrte Rumo die Sicht auf den dahinter liegenden Flur. Er beugte sich zu dem dreieckigen Alchemisten-Siegel herunter. „Rumo von Zamonien, Wolpertinger“, knurrte Rumo routiniert in die Sprechöffnung und nach kurzem Sirren und Summen sprang das Schloss auf. Die schwere Tür glitt überraschend Sanft durch die an Boden und Decke angebrachten Schienen und gab den Blick auf die dahinter befindlichen Räume frei. Und die waren, gelinde gesagt, anders als der Rest. Zunächst einmal gab es in diesem Korridor keine Fenster. Leuchtquallen und Kerzen, die in imposanten Leuchtern an den Wänden angebracht waren, erleuchteten den in rot und gold Tapezierten Flur. Der Boden war mit teuer aussehendem, königsblauem Teppich ausgelegt und alle zehn Meter stand die Skulptur einer Haifischmade in verschiedensten heroischen Posen. Das hier war ganz und gar Smeiks Reich. Rumo übersah all diesen Prunk wie alles andere zuvor auch. Zielstrebig steuerte er die imposante Holztür zwischen zwei besonders großkotzigen Goldabbildern des Kasinobesitzers an und platzte ohne anzuklopfen hinein. „Smeik, wir müssen reden!“ Der angesprochene lehnte sich in seinem extra auf seine Körperform zugeschnittenen Ledersessel zurück und zog grinsend an seiner Phogarre. „Du wirst in deinem Leben auch nicht mehr höflicher, oder, Rumo?“ „Es war nicht gerade Höflichkeit, die dafür gesorgt hat, dass ich Untenwelt überlebt habe, das weißt du.“ Smeik seufzte und deutete auf den im vergleich zum restlichen Büro relativ ernüchternd wirkenden Holzstuhl ihm gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtisches. „Richtig, richtig. Setz dich, Junge. Und dann erzähl mir, warum du hier so einen Wind machst.“ Rumo tat wie ihm geheißen, schloss die Bürotür und ließ sich auf den Stuhl fallen. Auch wenn es vielleicht zunächst den Anschein gehabt haben mochte, er war nicht wütend. Er mochte Smeik auf eine seltsame, fast schon väterliche Art und Weise. Die Haifischmade war für ihn da gewesen als es ihm am schlechtesten ging und hatte ihm alles beigebracht, was er über Zamonien und seine Geschichte wusste. Er hatte ihm das richtige Sprechen beigebracht und ihm den Weg ins Leben gezeigt, indem er den Krieger in ihm weckte. Rumo verdankte ihm viel und Wolpertinger vergaßen nie etwas. Smeik war sein Freund. „Tut mit Leid…“ Rumo zögerte, fasste sich dann aber doch ein Herz, seine Sorgen zu formulieren. Indirekt. „Wie lange gedenkst du noch hier zu bleiben, Smeik? Das ist, wenn man so will, nicht ganz meine Gegend….“ Doch Smeik fiel ihm ins Wort. „Rumo! Sieh dich nur um. Für nichts in der Welt würde ich diesen Ort wieder verlassen. Das hier ist das absolute Paradies für jeden Spieler. Hier gibt es mehr gewinnhungrige Kartenzähler – oder solche, die es versuchen wollen – als in einer Mathematikakademie … falls so etwas in Zamonien existiert, was weiß ich schon. Was ich allerdings weiß, ist, dass wir reich werden können, Rumo. Richtig reich. Wir sind es schon.“ Er stand auf und glitt zu einer seiner Goldbüsten, um sie liebevoll zu streicheln. „Wir – das heißt ich – setzte im Jahr mehr Pyras um als die Bank von Atlantis, und, bei aller Freundschaft, ich biete das bessere Entertainment.“ Smeik lachte. „Und du bist ein Teil dieser unglaublichen Maschinerie. Wir sind ein Team, oder nicht? Bei allem, was wir durchgemacht haben, ist es wohl endlich an der Zeit, dass wir den wohlverdienten Lohn für unsere Taten einstreichen, meinst du nicht?“ Rumo fragte sich, ob Smeik im überhaupt zugehört hatte. „Das ist wirklich großartig“, ereiferte er sich halbherzig. „Aber ich fühle mich nicht wirklich wohl bei der Geschichte. Meine Sinne spielen total verrückt seit ich hier bin. Ich wache nachts auf und weiß nicht mehr, wo oben oder unten ist. Und gerade hätte ich beinahe zu wiederholten Male zahlende Gäste grundlos rausgeschmissen.“ Jetzt hatte er Smeiks volle Aufmerksamkeit. Die Worte „zahlende Gäste“ und „grundlos rausgeschmissen“ in einem Satz hatten genügt, um ihn von seiner Erfolgswolke zurück auf den Flokati der Tatsachen zu holen. Nicht, dass er sich nicht für Rumos Sorgen um seinen Gesundheitszustand interessiert hätte, aber so war nun einmal seine Art. Gewinnen und vor allem Gewinn gingen über alles. Der Wolpertinger wusste das. „Das klingt… beunruhigend, Rumo. Wir sollten dringend etwas dagegen unternehmen! Denkst du, dass ein Urlaub außerhalb von Atlantis gut tun würde?“ Smeik wirkte ernstlich besorgt. Immerhin ging es um seine Einnahmen. Auf Rumos Hundegesicht zeichnete sich ein müdes Lächeln ab. Er nahm seinem Freund sein Verhalten nicht übel, dazu kannte er ihn zu gut. „Vermutlich würde es das, ja. Ich würde außerdem gerne wieder einmal nach Rala sehen, wenn das möglich wäre.“ Smeik lächelte verständnisvoll. Plötzlich schien im klar zu werden, was seinem Schützling wirklich auf dem Herzen lag. „Aber natürlich ist das möglich!“ Er legte Rumo einen seiner vielen Arme um die kräftigen Schultern. „Es tut mir Leid, dass ich dich hier fest gehalten habe. Du gehörst nicht hier her, du bist ein Wolpertinger, ein Kind der freien Natur. Ich hätte es besser wissen müssen. Du kannst gehen, wann immer du willst, bist aber weiterhin jeder Zeit willkommen, mein Partner zu sein.“ Rumo sah Smeik ins Gesicht. „Bist du sicher, dass du ohne mich klarkommst? Es gibt eine Menge fieser Typen da draußen.“ Die Haifischmade lachte herzlich. „Junge, ich bin schon alleine klargekommen, als du noch auf vier Beinen gekrabbelt bist. Diese Welt ist ein Spiel und ich kenne die Regeln. Vielleicht schreibe ich sogar noch ein Paar neue, wer weiß. Hier in Atlantis ist alles möglich und ich gedenke mir ein großes Stück vom Erfolgskuchen abzuschneiden. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“ Rumo wollte gerade erwähnen, dass Smeiks vorheriges Alleine-klarkommen ihm einen Aufenthalt auf den Wandernden Teufelsfelsen und direkt danach eine Gratisreise nach Hel beschert hatte, behielt es dann jedoch lieber für sich. Es gab für ihn keinen Grund, seinen euphorischen Freund zu entmutigen. Er würde sich lediglich hin und wieder davon überzeugen müssen, dass dieser keine Dummheiten machte, wenn er fort war. „Ich kann also gehen?“, zögerte Rumo. „Was ist mit meinem Job im Rumotron?“ Ihm war plötzlich nicht mehr ganz wohl bei dem Gedanken alles stehen und liegen zu lassen und abzuhauen. Irgendetwas sagte ihm, dass er seinen Freund im Strich ließ, wenn er jetzt einfach verschwand. Vermutlich war es sein Gewissen, ein eher seltener Gast. Smeik schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Papperlapapp, dein Job! Mach dir darüber keine Gedanken, ich…“ Weiter kam er nicht. Genau in diesem Moment flog die Tür zu seinem Büro zum zweiten Mal an diesem Tag ohne Vorwarnung auf. Herein stürzte Bron, einer der wenigen Blutschinken, die intelligent genug waren, um von Smeik den Zugang zum Allerheiligsten gewährt zu bekommen. Er schnappte ein paar Mal hektisch nach Luft, dann stieß er hervor: „Smeik, Chef! Das müssen Sie sich ansehen! Es sind… Das glauben Sie mir nie, Chef, das glauben Sie nich’!“ Während er sprach, deutete er mit wilden Gesten in alle Himmelsrichtungen und sah sich um, als ob er von jemandem verfolgt würde, der vorhatte, ihn zu fressen. Smeik und Rumo blickten sich einige Sekunden lang an und stürmten dann gleichzeitig aus dem Zimmer, dicht gefolgt von einem völlig verwirrten Blutschink. Kapitel 2: Die Vorvorletzten ---------------------------- Nachdem sie ein paar Meter gerannt waren, schloss der Blutschink zu ihnen auf. „Unten, Chef“, japste er. „Wir müssen ganz nach unten!“ Smeik, der sich für seine Körperfülle erstaunlich flink bewegte, rief dem alchimistischen Schloss schon von weitem seinen Namen zu, sodass es geräuschlos aufschnappen und der Gruppe den Weg auf die schmale Treppe freimachen konnte. In der obersten Etage des Kasinos gab es keinen Aufzug, das wäre viel zu unsicher gewesen. Jetzt aber begann Smeik diesem Umstand zu verfluchen. Er war notorisch neugierig und Brons Aufregung tat sein Übriges dazu, seinen Puls deutlich in die Höhe schnellen zu lassen. Was um alles in der Welt war hier los? Sobald er und Rumo im Sonnenlicht durchfluteten Flur des 256. Stockwerkes angekommen waren, eilte die Haifischmade zu einem der gläsernen Aufzüge. Sie hatten Glück, soeben erreichte einer der Kästen den Flur und entließ eine Flut von Gästen, die sich wie eine ausgehungerte Meute Werwölfe auf die Automaten stürzten. Smeik und Rumo schoben sich gekonnt durch die Menge – was im Endeffekt bedeutete, dass Rumo schob und Smeik sich in vornehmer Zurückhaltung in seinem Windschatten aufhielt. Bron, der Rumo gerade einmal bis zur Schulter ging, hatte es da nicht so gut. Er war auf sich allein gestellt und wurde zunächst einmal von einer Horde Wildschweinlingen überrannt. Gerade, als sich die Aufzugtüren zu schließen drohten, schlüpfte der Blutschink durch einen Spalt in den Besuchermassen und kam taumelnd in der Kabine zum Stehen. Rumo drückte auf einen dreieckigen Knopf, unter dem „Erdgeschoss“ in das Metall graviert stand, und der geräumige Aufzug setzte sich nahezu geräuschlos in Bewegung. Die Mechanik arbeitete mit beachtlicher Geschwindigkeit, und sie wären auch sicherlich äußerst schnell unten gewesen, wenn sie nicht an gefühlt jedem der über zweihundert Stockwerke hätten anhalten müssen, um Gäste hinein und wieder hinaus zu lassen. Smeik trommelte im hinteren Teil der Kabine ungeduldig mit den Fingern seiner zahlreichen Hände gegen die Wand und auch Rumo war alles andere als ruhig. Was auch immer im Rumotron vor sich ging, er hatte ein ungutes Gefühl dabei. Nach etwa fünf quälend langen Minuten erreichten die drei endlich das Erdgeschoss. Die Tür des Aufzuges öffnete sich und ergoss Gäste sowie Chefetage des Kasinos in die riesenhafte, in Rot und Gold funkelnde Eingangshalle. Hier war wahrlich an nichts gespart worden. Es gab Brunnen und Fontänen, Teiche, in denen die exotischsten Fische schwammen und überdimensionale Banner aus purpurnem Samt, auf denen das Motto des Hauses prangte: Wer nicht spielt, der nicht gewinnt! Von der Decke hingen Kronleuchter, die den Durchmesser eines durchschnittlichen Wohnzimmers aufwiesen, und an den Wänden standen vergoldete Statuen der Prominenz, die dieses Spielkasino frequentierte. Es waren die unterschiedlichsten zamonischen Gattungen, vom Yeti bis hin zum Nattifftoffen, sogar eine Berghutze und ein Lindwurm waren dabei. Rumo kannte keinen einzigen von ihnen. Und sie waren ihm in diesem Moment auch herzlich egal, denn um ihn herum hatte sich eine seltsame Stimmung unter den Gästen ausgebreitet. Das sonst so geschäftige Treiben und Schwatzen war einen verhaltenen, erstaunten Getuschel gewichen, alle waren stehen geblieben und schauten in Richtung Eingang. Einige kleinere Arten hatten sich auf die Zehenspitzen und die Schultern größerer Freunde gestellt, um ja nichts zu verpassen und viele deuteten unverhohlen auf das, was auch immer es dort zu sehen gab, scheinbar von allen guten Manieren verlassen. Rumo wühlte sich durch die Staunenden, um ebenfalls einen Blick auf die Ursache der allgemeinen Aufregung erhaschen zu können. Smeik und Bron waren dicht hinter ihm, das wusste er auch ohne sich umgesehen zu haben. Nachdem er zwei blöde starrende Yetis aus seinem Sichtfeld geschoben hatte, zeigte sich ihm endlich die gläserne Eingangstür in ihrer ganzen, mit Goldfäden durchzogenen Pracht. Sie war geöffnet und enthüllte den Schattenriss von mehreren, in lange Gewänder gehüllten Gestalten, die seelenruhig in die sie angaffende Menge blickten. Rumo erstarrte. Hinter ihm fror auch Smeiks Bewegung vom einen auf den anderen Moment ein und Bron flüstere: „Sehen Sie, Chef? Ich sach doch, das glauben Sie mir nich’, wenn ich’s Ihnen nur mit meinen Wörtern erzählen tu.“ Rumo konnte nicht anders. Völlig sprachlos starrte er die vermummten Gestalten im Türrahmen an. Er kannte diese Spezies, allerdings nur aus einem der Lehrbücher seiner Schule in Wolperting. Sie hatten einst ganz Zamonien bevölkert, doch dann wurde der Kontinent für sie zu gefährlich und die meisten von ihnen sahen sich gezwungen auszuwandern. Nur wenige, sehr mutige Exemplare waren geblieben der Gefahr zu trotzen. Sie waren nahezu alle dem Tod geweiht. Heute wurde ihre Zahl innerhalb Zamoniens auf etwas mehr als 100 Individuen geschätzt – davon etwa achtzig Prozent Männchen – die sich hauptsächlich in den Bergen von Midgard aufhielten, wo sie den besten Schutz vor der rauen zamonischen Natur fanden. Dennoch ging man davon aus, dass sie sich nur noch, plus minus, drei Generationen – und das waren bei diesen Kreaturen nur knapp neunzig Jahre – auf dem Kontinent halten konnten, bevor sie endgültig ausstarben. „Menschen!“, platzte es aus Smeik heraus. „Menschen in meinem Kasino!“ „Was ist euer Anliegen?“, bellte Rumo, der ebenfalls seine Sprache wieder gefunden und sich sogleich auf seine Erziehung in gewählter Ausdrucksweise gegenüber Unbekannten besonnen hatte. „Was treibt euch nach Atlantis, Fremde?“ Menschen waren in Zamonien nicht unbedingt gern gesehen Gäste. Sie benahmen sich, ganz im Gegensatz zu ihrer körperlichen Ausstattung, häufig über alle Maßen großkotzig und abfällig, hatten nichts übrig für andere Kulturen und begegneten ihrem gesamten Umfeld mit bemerkenswert penetranter Ignoranz. Keine zamonische Kreatur wäre je auf den Gedanken gekommen, einem Menschen zu sagen, er solle sich wie zu hause fühlen – die Gefahr war groß, dass dieser eine solche Aufforderung nur allzu Wörtlich nahm. Menschen fielen ein, plünderten, schändeten und ließen auch sonst kein gutes Haar an ihren Nächsten. So zumindest waren die Legenden. Rumo selber hatte so etwas natürlich noch nie erlebt, immerhin waren diese Exemplare, die jetzt – und übrigens immer noch – regungslos im Eingang des Rumotrons standen, die ersten Menschen, die er in seinem Leben zu Gesicht bekommen hatte. Aber Vorsicht war bekanntermaßen besser als Nachsicht. Der Größte der auffälligen Gruppe, ein älteres, hageres Männchen mit Glatze und einem durchdringen, strengen Blick, wandte sich Rumo zu. Drei breite Narben zogen sich über seine linke Gesichtshälfte, ganz so als hätte er sich einmal mit einem für seine Verhältnisse etwas zu großen Gegner angelegt. „Spar dir deinen Atem, Hund, und bring uns zu jemandem, der hier verantwortlich ist.“ Rumo spürte, wie er sich verkrampfte. Seine Pranke wanderte wie von selbst an Löwenzahns mittlerweile schon deutlich abgenutzten Griff. „Wen nennst du hier Hund, Menschenwesen?!“, knurrte er einige Tonlagen unter seiner normalen Stimmfarbe und entblößte dabei beides, Zähne und ein Stück der silbrigen Klinge seines Schwertes. „Huuuiiii“, machte Löwenzahn, der wie durch ein Wunder bis jetzt die Klappe gehalten hatte, und Grinzold lachte dreckig. Wie durch eine plötzliche Eingebung erwachte Smeik aus seiner Gaffstarre und schob sich durch eine einzige Bewegung zwischen Rumo und die Menschen. Dabei hob er beschwichtigend seine vierzehn Arme. „Na, na, meine Herren, wir wollen uns doch hier nicht aufregen.“ Und an die anderen Besucher gewandt: „Es ist alles in Ordnung, werte Gäste. Bitte lassen Sie sich nicht von Ihrem Spielvergnügen abbringen und machen Sie einfach wie gewohnt weiter. Der Service im Rumotron steht ihnen bei allen Wünschen und Fragen jeder Zeit zur Verfügung.“ Die Zamonier wandten sich enttäusch ab. Sie hatten auf eine Auseinandersetzung gehofft, vielleicht sogar auf einen richtigen Kampf mit blutigem Ausgang, doch jetzt, da Smeik vorgetreten war, war nichts Weiteres zu erwarten. Wenn der König der Spiele nicht wollte, dass gekämpft wurde, dann wurde nicht gekämpft. Und sein Haustier, dieser Rumo, war wohl der letzte, der sich gegen das ungeschriebene Gesetz erheben würde. Einige reckten noch einmal hoffnungsvoll die Hälse, dann lichtete sich die Menge und fast alle verzogen sich in die angrenzenden Spielhallen. Die Spielsucht war, jetzt, da sich die Ereignisse aufklärten, plötzlich wieder mehr als spürbar… Zurück blieben Rumo, Smeik, die Menschen und Bron, der nicht feinfühlig genug war, um mitzubekommen, wann es an der Zeit war, sich aus dem Staub zu machen. Er baute sich vor den Menschen auf und tänzelte umher wie ein auf den Gong wartender Boxer, in der festen Überzeugung, er hätte sich soeben eine Beförderung verdient. „Iiihr…“, setzte er übermütig an, wurde aber sogleich von Rumo im Nacken gepackt und von Flieh- und Schwerkraft einige Meter weiter hinten unsanft wieder abgesetzt. „Halt dich da raus und verzieh dich auf deinen Posten“, zischte der Wolpertinger durch das zusammengebissene Raubtiergebiss und warf ihm einen mahnenden Blick zu. Diesen Wink mit dem Zaunpfahl verstand sogar der stumpfsinnige Blutschink. Er trollte sich leise winselnd. Smeik war mittlerweile vor den offensichtlichen Anführer der Menschengruppe getreten, sodass Rumo nun nichts weiter übrig blieb, als sich hinter seinem Freund und Arbeitgeber aufzubauen und bedrohlich dreinzublicken. Er zählte fünft dieser seltsamen Gattung, vier Männchen und ein Weibchen, die sich alle in weite, dunkelgrüne Gewänder gehüllt hatten. Sie trugen Waffen an diversen Gürteln und Riemen, sowie allerlei anderes Zeug, Fernrohre, Karten, Federn und Tinte, Pergament und Brillen. Von ihren Armen und Hälsen baumelten Ketten aus Knochen und Zähnen – alles in allem sahen sie nicht sehr zivilisiert aus, doch Rumo wusste es besser. Diese Menschen verfügten über mehr naturwissenschaftliches Wissen als so mancher zamonischer Alchimist, sie studierten Mechanik und Musik ebenso wie die Wirtschaft und das Wetter. Was ihnen an körperlicher Kraft fehlte, machten sie durch reinen Erfindergeist wieder wett, doch sie behielten ihre Erkenntnisse für sich, was sie äußerst verdächtig und unbeliebt machte. Rumo war sich ziemlich sicher, dass Smeik mindestens ebenso viel über Menschen wusste wie er, wenn nicht sogar sehr viel mehr, doch der war inzwischen wieder ganz der Alte. Er grinste dem Anführer sein Haifischgrinsen entgegen. „Meine Damen, meine Herren, verzeihen Sie die Unruhen. Meine Gäste waren wohl etwas… überrascht von ihrem plötzlichen Auftauchen. Mein Name ist Volzotan Smeik, ich bin der Besitzer dieses Kasinos und stehe Ihnen, ebenso wie meine sämtlichen Angestellten zur vollsten Verfügung.“ Er deutete, ganz der zuvorkommende Gastgeber, eine Verbeugung an. „Also: Was kann ich für Sie tun?“ Der kahlköpfige Mann warf einen kurzen Blick über die Schulter. Seine Gefährten nickten ihm zu. „Wir wollen spielen, Volzotan“, sagte er dann mit einer Stimme, rau wie Sandpapier. Es war eine Unart der Menschenwesen, alles und jeden mit dem Vornamen anzusprechen. Doch Smeik blieb höflich. „Mit Verlaub, dafür haben Sie sich den eindeutig richtigen Ort ausgesucht. Das Rumotron ist Zamoniens größtes und nebenbei auch umsatzstärkstes Kasino. Hier finden Sie…“ „Das interessiert uns nicht“, fiel ihm der Mann schroff ins Wort. „Wir wollen nur spielen, das ist alles.“ Smeiks Lächeln wurde merklich breiter, als er verstand. „So, die werten Herren sind also hier für ein Spiel? Nun, wenn das so ist, dann will ich Sie nicht davon abhalten. Wenn ich bitten dürfte…?“ Er wies mit knapp einem Dutzend seiner Arme auf eine unscheinbarere Treppe am anderen Ende der Eingangshalle, über der „Privat“ an der marmornen Wand zu lesen war. Rumo knurrte. Das ungute Gefühl nagte an ihm wie Mäuse an einem Käse. Obwohl… inzwischen waren es eher Ratten. Völlig ungerührt von den drohenden Blicken des riesigen Wolpertingers setzten sich die Menschen in Bewegung und folgten Smeik, der, selbstsicher grinsend, auf die nach unten führenden Stufen zuging. Rumo bildete das Schlusslicht, einerseits, weil er so alles im Blick behalten konnte, andererseits weil ihm das ganze Unterfangen mächtiges Unbehagen bereitete. Er wusste, was als nächstes passieren würde, denn es war immer dasselbe. Eine Gruppe zwielichtiger Gestalten tauchte ohne Vorankündigung im Rumotron auf und fragte nach dem Spiel. Dann wurden sie von Smeik in diesen kleinen Raum geführt, zu dem sie auch jetzt unterwegs waren. Und von da an war alles Glückssache. Die Treppe führte hinunter in einen der Kellerkorridore des Gebäudes. An ihrem Fuß standen mehrere Behälter mit Leuchtquallen bereit, von denen sich Smeik und Rumo je eine griffen, um den kurzen Weg zum Spielzimmer, wie Smeik diesen Ort liebevoll nannte, zu leuchten. Es waren nur ein paar Schritte, kaum der Rede wert, doch Rumo nutze die Zeit, um sich zu sammeln. Was auch immer hier unten gleich passieren würde, er war, wenn es denn passierte, vielleicht das einzige, was zwischen Smeik und diesen dubiosen Fremden stand. Im alles entscheidenden Moment musste er bereit sein. Bereit und konzentriert. Den Göttern sei dank schienen Löwenzahn und Grinzold gerade anderweitig beschäftigt oder einfach nicht in der Stimmung ihn zu nerven. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, zwei idiotische Streithähne, die seinen Kopfschmerz durch sinnlose Kommentare unterstützten. Wie erwartet hielt Smeik die Gruppe nach wenigen Schritten an. Sie standen vor einer einfachen Holztür ohne aufwändiges Schloss oder dergleichen. Der Kasinobesitzer drückte die Klinke hinunter, die leise quietschte und die Tür als unverschlossen offenbarte. Sie abzuschließen wäre auch kaum notwendig gewesen, der dunkle, feuchte Kellergang war abschreckend genug, hier hätte sich kein Besucher freiwillig hinunter gewagt, außer er war auf der verzweifelten Suche nach den Toiletten. „Bitte, meine Damen, meine Herren, treten Sie ein“, offerierte Smeik höflich und geleitete unterwürfig in ein spartanisch eingerichtetes Zimmer, dessen gesamtes Mobiliar aus einem Tisch, zwei Stühlen und – als purer Luxus – einer Leuchtquallen-Deckenleuchte bestand. Auf der Tischplatte lag ein einsames Deck Rumo-Karten. Die Menschen gingen nach der Reihe in die kleine Kammer und stellten sich an der hinteren Wand auf, nur der Gruppensprecher nahm auf einem der Stühle platz. Er wartete, bis auch Smeik sich gesetzt hatte. Rumo schloss die Tür. Ebenso wie die restlichen vier Menschenwesen schwieg auch er zu den Ereignissen. Es lag nicht in seiner Befugnis, in das Geschehen einzugreifen, auch wenn ihn und Smeik bei weitem kein typisches, strenges Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis verband. Doch er wusste, dass sein Freund sein Verständnis für seinen Platz in diesem Machtspielchen sehr schätzte, seinen Platz hinter der rechten Schulter der Haifischmade, wo er sich auch jetzt positionierte. Smeik griff nach den Karten und begann zu mischen. „Wir spielen Rumo, nehme ich an? Gestatten Sie Sich und mir eine Runde zum Aufwärmen. Standardreglement? Siebenundzwanzig Drittel über fünf?“ Auf das Nicken seines Gegenübers hin teilte er aus. Beide Spieler nahmen die Karten auf und bildeten einen Fächer in der linken Hand – oder in Smeiks fall in einer der linken Hände. Dann wählten sie eine Karte aus und legten sie verdeckt auf den Tisch vor sich. Der Mensch begann. „Rumo“, sagte er ruhig und drehte seine Karte um. Sein Gegner tat es ihm nach. Damit war das Spiel eröffnet. Rumo – der Wolpertinger – wusste, dass Smeik Karten zählte. Er selber konnte es zwar nicht, aber sein Freund hatte ihn schon ein uns andere Mal in diese mathematische Kunst eingeweiht, bei der es darauf ankam, sich die Karten zu merken, die bereits gespielt wurden, um die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der verbleibenden Karten zu ermitteln und, je nach Ergebnis, zu setzten. Beim Rumo zu zählen bedeutete etwas anderes, als beim BlackJack zu zählen, es war komplizierter und mit einem weit höheren Maß an Konzentration verbunden, bedachte man die Tatsache, dass ein zamonisches Grundkartendeck aus vierundsechzig einzelnen Karten bestand. Es gab nicht nur Herz, Kreuz, Pik und Karo, sondern auch Trom, Ril, Quirtaton und natürlich Rumo, welches dem Spiel seinen Namen gegeben hatte, da es die meisten Punkte brachte. All dies waren urzamonische Mathemagier-Formen, die heute längst keine Verwendung mehr fanden, da sie nahezu unmöglich zu berechnen waren, wenn man weniger als drei Gehirne hatte. Dem aufmerksamen Leser wird es aufgefallen sein: Ja, die Berufsgruppe der Mathemagier – übrigens im Zamonien der Gegenwart ähnlich belächelt wie mittelalterliche Alchimisten in der uns vertrauten Welt – setzte sich aus einer kleinen, eingeschworen Gemeinschaft von Eydeeten zusammen, denen allen ein wirkliches Steckenpferd fehlte, weshalb sie sich der experimentellen Mathematik verschrieben. Rumo schloss für einige Sekunden die Augen. Sein Kopf pochte wie verrückt und die Tatsache, dass Smeik – wieder einmal, musste man dazu sagen – nicht fair spielen konnte oder wollte, trug nicht gerade zu seinem Wohlbefinden bei. Wann hörten diese endlosen Betrügereien endlich auf? Nun, wahrscheinlich spätestens, wenn es Smeik den Kopf gekostet hatte. Rumo hatte so eine Vermutung, dass das nicht mehr allzu lange dauern konnte… Er holte tief Luft, um sich abermals zu beruhigen, und öffnete die Augen wieder. Das Spiel war vorbei. Einen Atemzug lang herrschte Totenstille in dem kleinen Zimmer. Dann fing Smeik an zu lachen. „Tut mir Leid, mein Freund, das war wohl nichts. Aber noch ist nichts verloren, wir haben ja noch nicht mal richtig angefangen, nicht war?“ Er zwinkerte dem Menschen zu. „Wahrscheinlich drehen sie nächste Runde richtig auf, was, mein Lieber?“ Man konnte in seinem Gesicht lesen, dass er selbst nicht glaube, was er da von sich gab. Warum auch? Sein Zählprinzip war perfekt. Der Menschenmann war ungerührt. „Vielleicht.“ Smeik lehnte sich zurück und begann abermals die Karten zu mischen. „Also gut, reden wir über den Einsatz. Woran hatten Sie gedacht? Eine Millionen? Zwei Millionen Pyras? Hier gibt es keine Limit, nur das Vergnügen.“ Jetzt veränderte sich der Ausdruck auf dem hageren Gesicht des Menschen und er beugte sich vor. „Wie wäre es mit etwas… sagen wir… Größerem?“ Smeik hörte auf zu mischen und beäugte sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen. „Woran genau… haben Sie dabei gedacht, wenn man fragen darf?“ Das permanente Lächeln war nicht von seinem Gesicht gewichen, doch es hatte sich mit etwas gemischt, das Rumo als Verwirrung, aber auch Neugierde erkannte. Er legte seinem Arbeitgeber eine Pranke auf die Schulter, die dieser glucksend beiseite wischte. „Beruhige dich, Rumo. Hier geht es doch nur um ein harmloses Spielchen.“ Der Wolpertinger seufzte, verkniff sich aber jede weitere Einmischung. Er konnte Smeik nicht daran hindern zu spielen, nicht, wenn dieser wirklich wollte. „Also, woran denken Sie?“, wiederholte dieser mit nun unverhohlenem Interesse und beugte sich ebenfalls über den Tisch, während er die Karten verteilte. Der Mensch ließ sie achtlos liegen. „Wollen Sie wissen, warum wir hergekommen sind, Volzotan?“ „Zum Spielen, nehme ich an?“, witzelte der Angesprochene, verstummte aber sogleich wieder, als sich den Blick des Fremden in seine Haut bohrte. Er sprach leise und mit schneidender Stimme, die Rumo das Blut in den Adern gefrieren ließ. „In letzter Zeit haben die Menschen in Zamonien etwas an Ansehen einbüßen müssen, Volzotan. Man hält uns für körperlich schwach, arrogant und falsch. Doch das ist es nicht einmal, was uns stört. Viel schlimmer ist: Irgendwer verbreitet das Gerücht, dass wir uns hier nicht mehr lange halten werden, dass wir zum Aussterben verdammt seien. Wissen Sie, wie man uns nennt? Die Vorvorletzten. So nennen sie uns. Weil sie davon ausgehen, dass uns nur noch maximal drei Generationen bleiben, bevor wir endgültig untergehen. Selbstverständlich können wir das nicht einfach auf uns sitzen lassen, wir sind ein stolzes und ehrbares Volk. Also werden wir ein Exempel statuieren. Wir werden etwas in Besitz nehmen, genau genommen, gewinnen. Ich rede vom Rumotron. Spielen wir um Ihr Kasino, Smeik.“ Smeik hatte bis jetzt nur dagesessen und den Menschen leicht irritiert angeguckt, und brauchte jetzt ein paar Sekunden, um die Worte zu ihrer in seinem Hirn gespeicherten Bedeutung durchsickern zu lassen. Dann jedoch schüttelte er sich und wich entgeistert zurück. Zum ersten Mal, seit er die Menschen getroffen hatte, lächelte er nicht mehr. „Um das Rumotron spielen? Ich soll mein Kasino einsetzten?“ „Wir wären bereit, fünfhundert Millionen Pyras als Gegenwert zu setzten, wenn das recht ist.“ Smeik hustete, wühlte in seinem Jackett nach einer Phogarre, zündete sie an und zog gierig daran, um sich zu beruhigen. „Fünf…. Fünfhundert Millionen Pyras? Gegen mein Kasino? Hui!“ „Also, wie sieht es aus?“, hakte der Anführer der Vorvorletzten nach. „Wenn Ihnen der Einsatz zu hoch ist, dann soll es uns recht sein. Wir haben unsere Mittel und Wege das zu bekommen, was wir haben wollen. Wir wollten Ihnen lediglich eine faire Chance bieten, Ihr Kasino mit dem zu verteidigen, was Sie bekanntermaßen am besten können.“ Smeik winkte ab. „Schon gut, schon gut. Ich war nur einen kurzen Augenblick lang überrascht, einen solches Angebot bekommt man nicht alle Tage, wie Sie sicher wissen…“ Er inhalierte den blauen Dunst seiner Phogarre als wäre es die rettende Atemluft eines Ertrinkenden, doch die beruhigende Wirkung schien dieses Mal auszubleiben. „Aber gut. Ich willige ein. Wir spielen.“ Rumo schnappte nach Luft. „Nein! Smeik, hör auf.“ Er langte wieder nach der Schulter, wurde jedoch schroff zurückgestoßen. Ihm wurde plötzlich schrecklich bewusst, dass das spaßige Spiel schon vor mehreren Minuten gefährlichem Ernst gewichen war. Und er hatte diesen Moment verpasst. Smeik warf ihm einen drohenden Blick zu, in dem kaum mehr etwas von ihrer Freundschaft zu lesen war. „Halt dich da raus, Rumo. Das hier geht dich nichts an.“ Es war keinesfalls böse gemeint – der Wolpertinger war sich dessen sehr wohl bewusst. Der Besitzer des Rumotron stand unter großem Druck, ab jetzt hing seine Zukunft nur noch von den Karten ab, oder viel mehr von seinem Talent, die Karten zu zählen. Nein zu sagen kam für seine Spielerehre nicht infrage. Rumo sah sich unauffällig um. Sollte er die Menschen töten? Die Möglichkeit hatte er, sie hätten zu hunderten hier unten sein können, er hätte sie erledigt. Doch das war natürlich Mord und käme in seiner Folgenschwere einem Verlust des Rumotrons nahezu gleich. Die Menschen hatten sich geschickt einen unumstößlichen Posten gesichert, indem sie an das appellierten, was Smeik selber seit Jahren bei seinen Gästen auszunutzen wusste: Seine Spielsucht. Jetzt griff der Mensch seine Karten auf und fächerte sie, schob eine Karte vor sich auf den Tisch und drehte sie um. „Rumo“, sagte er ruhig, ganz so, als sei nichts gewesen, und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Sie sind dran, Volzotan.“ Smeiks Hand zitterte, als er den Eröffnungszug ausführte und sein Lebwächter hielt die Luft an. Noch war nichts verloren, kein Grund nervös zu ein. Der König der Spiele – dieser Titel kam nicht von ungefähr. Er hatte noch nie verloren, warum also sollte es jetzt anders sein. Und da war ja immer noch das erste Spiel, welches ganz klar für ihn ausgegangen war. Das Spiel begann und somit auch das Zählen. Rumo bemühte sich keinen Laut von sich zu geben, um die um Raum beinahe greifbaren Konzentrationsfäden nicht zu zerreißen. Sogar seinen Gedanken befahl er zu schweigen, er hatte das unbestimmte Gefühl, dass Löwenzahn ein dummer Kommentar auf der Zungenspitze gelegen hatte, den er jetzt beim besten Willen nicht gebrauchen konnte. Ein paar Runden vergingen, ohne dass einer der Spieler ein Wort von sich gab. Dass etwas nicht stimmte, bemerkte Rumo erst, als feine Schweißperlen auf Smeik Stirn traten und die Haifischmade leise zu keuchen begann. Seine Blicke wanderten hektisch über die ausgespielten Karten, ganz so als suchten sie an irgendeinem Punkt verzweifelten Halt. Alle Augen waren jetzt auf den Tisch gerichtet, sogar die bis zu diesem Zeitpunkt so reservierten Vorvorletzten rutschten nervös an der Wand herum. „Er hat sich verzählt.“ Rumo hätte um ein Haar einen kleinen Luftsprung vollführt, so unerwartet erklang die Stimme in seinem Kopf. Stattdessen fasste er sich an die Stirn. ‚Löwenzahn, verdammt! Ich habe euch gesagt, ihr sollt die Klappe… Moment, du weißt… du kannst Karten zählen?’ Löwenzahn machte ein beleidigtes Geräusch. „Hallo? Stollentroll! Betrügen ist… war mein täglich Brot. So ein bisschen Karten zählen ist da nichts. Na ja, und unser Freund hier hat sich vor ein paar Runden verzählt. Ein Rumo-König zählt zwölf Punkte nicht zehn. Wahrscheinlich hat er die Karte in seiner Nervosität für ein Pik gehalten.“ Rumo starrte ungläubig auf den Tisch, auf dem Smeiks Untergang scheinbar unaufhaltsam seinen Lauf nahm. „Übrigens: Der andere da, der zählt auch. Und er ist besser.“ Löwenzahn pfiff anerkennend. „Da, siehst du? Er schafft es irgendwie, mehrere Karten in so was wie Kategorien zusammenzufassen. Das ist sogar mir neu.“ ‚Und was bedeutet das jetzt genau für das Spiel?’ Der Wolpertinger wagte kaum zu fragen, die Antwort blinkte schon viel zu plakativ vor seinem inneren Auge auf. Smeik zitterte nun stärker, sodass die Karten in seiner Hand schon beinahe den Zweck eines Fächers erfüllten, und tupfte sich dann und wann mit einem großen, karmesinroten Taschentuch den inzwischen beachtlichen Schweißfilm von der Stirn. Er war lange genug Spieler, um zu wissen, wann es für ihn vorbei war. Und das war jetzt eindeutig der Fall. Die erste Runde war ein einziger großer Bluff gewesen und Smeik war darauf hereingefallen, auf diesen ältesten aller Spielertricks der Welt. Löwenzahn seufzte – etwas zu theatralisch um realistisch zu wirken – in gespielter Resignation. In Wahrheit bereitete ihm die aussichtslose Situation größtes Vergnügen, sodass das unterdrückte Kichern in seiner Stimme deutlich zu vernehmen war. „Für das Spiel bedeutet das… na ja…“ Die Antwort wurde ihm von Smeik abgenommen, der mit einem lauten Krachen vom Stuhl gefallen war. Um ihn herum regneten die Karten wie Konfetti zu Boden und auf seinem sonst so selbstsicheren Haifischgesicht zeigte sich stummes Entsetzten. Die Phogarre war ihm aus der Hand gerutscht und qualmte nun unter dem Tisch leise vor sich hin. „Ich... ich habe… verloren?“ Rumo schlug mit der Faust gegen die grob verputzte Wand. Kapitel 3: Abgezockt -------------------- Für eine ganze Weile geschah gar nichts. Smeik saß regungslos auf dem Boden und starrte ins Nichts, Rumo hatte die Stirn gegen die Wand gelegt und die Augen geschlossen und der Mensch verharrte ungerührt auf seinem Stuhl. Dann, nach einer schieren Ewigkeit bewegte sich die Haifischmade. Er griff nach der Stuhllehne seines Stuhls und zog sich langsam und schwerfällig daran hoch. „Ich habe verloren“, hauchte er, immer noch völlig überfordert mit der neuen Situation. „Ich habe verloren. Einfach so. Verloren.“ Rumo wagte es nicht sich umzudrehen und seinem Freund ins Gesicht zu sehen. Er hatte sich das letzte Mal so elend gefühlt, als sie beide in Hel festsaßen, so völlig ohne Halt und Zukunft. Smeik war das passiert, was jedem Spielsüchtigen früher oder später passierte: Er hatte sich um Haus und Hof gespielt. Natürlich, es gab noch die Lügenduelle, von denen sie auch vor der Zeit des Rumotron gut hatten leben können, aber auch hier zeichnete sich jetzt ein Problem ab. Wenn heraus kam, dass der Betreiber sämtlicher Lügen-Wettbüros sein eigenes Kasino verzockt hatte – nun, harmlos ausgedrückt war das nicht gerade die beste Methode der Werbung. Langsam aber sicher wurde Rumo die wirkliche Tragweite der Konsequenzen bewusst und das besserte seine Laune nicht gerade. Smeiks Ruf in Atlantis war ruiniert. Sein Kopf sank noch ein paar Zentimeter tiefer. Hinter ihm rang der Besiegte immer noch um Fassung. Inzwischen hatte er es geschafft sich auf dem Holzstuhl nieder zu lassen, sein Jackett zu richten und nach einer neunen Phogarre zu wühlen, an der er nun zog wie ein Kind an einem Strohalm in einem leeren Glas. Der Mensch beobachtete jede seiner Bewegungen, sagte aber nichts und blieb auch sonst völlig bewegungslos, ganz so als wolle er seinem Gegenüber als Geste der Gnade Zeit zur Beruhigung einräumen. Smeik ließ den Kopf hängen, holte einige Züge lang tief Luft – ohne Phogarre – und richtete sich dann wieder auf. Etwas auf seinem Gesicht, in seiner Haltung, dem Ausdruck in seinen Augen hatte sich verändert. Die pure Verzweiflung war stählerner Härte gewichen, vergleichbar mit einem verletzten Tier, das sich noch einmal mit doppelter Kraft und unbändigem Siegeswillen zum Kampf aufrichtet. „Rumo“, sagte er ruhig und versammelt, „heb die Karten auf.“ Rumo tat, wie ihm geheißen und kroch zwischen Tisch und Stühlen umher, um die verstreuten Spielkarten aufzulesen. Er hatte keine Ahnung was Smeik vorhatte und ehrlich gesagt wollte er es auch gar nicht wissen. Nach seiner Einschätzung konnte es nicht viel besser werden – wahrscheinlich aber auch nicht mehr viel schlimmer. Nachdem er das letzte unter dem Tisch hervor geklaubt hatte, zählte Rumo kurz die etwas ramponierten Blätter in seiner Hand. Sie waren vollzählig, also reichte er sie seinem Arbeitgeber, der sie ihm grimmig aus der Hand zog. „Und nun stell dich wieder da hinten auf“, wies Smeik seinen Leibwächter an. „Noch haben wir nicht alles verloren, ich hole uns da wieder raus.“ Er drehte sich zu dem Menschen um, der immer noch schwieg, jetzt aber bedrohlich schmunzelte. Offenbar hatte Smeiks Ankündigung ihn belustigt. „Nun, Volzotan, sprechen Sie aus, was Ihnen auf der Seele liegt. Wir sind bereit, uns Ihr Angebot anzuhören.“ Der nunmehr ehemalige Kasinobesitzer atmete noch einmal tief durch, dann kehrte das Grinsen zurück. „Nun, wie wäre es, wenn ich Ihnen etwas als Einsatz biete, das Wertvoller ist als alles, was Sie sich in ihren wildesten Träumen vorstellen können? Wenn ich etwas habe, wonach sich jeder Mensch, jedes zamonische Wesen die Finger leckt, was jeder verzweifelt sucht aber kaum einer, sagen wir nahezu keiner, je findet.“ Der Vorvorletzte lehnte sich zurück, Skepsis zeigte sich auf seinen eingefallenen Zügen. „Was bitte sollte das sein?“ Smeiks Grinsen nahm ungekannte Ausmaße an, sodass man nahezu jeden Zahn seines eindrucksvollen Gebisses in voller Pracht blitzen sah. Er beugte sich weit über den Tisch, als ginge es um eine brisante Verschwörung. „Ich, mein Lieber, rede von nichts geringerem als dem Geheimnis des ewigen Lebens.“ „Das besitzen Sie nicht. Das besitzt niemand.“ „Wie ich bereits sagte“, erläuterte Smeik eifrig, „dieses Geheimnis ist so geheim, dass es eigentlich niemand je in die Finger bekommen hat. Ich aber hatte das Glück einst von einem Eydeeten mit Wissen infiziert zu werden, wie Ihnen mein Sicherheitschef ohne Zweifel gerne bestätigen wird. Neben allerlei anderem, eher nebensächlichem Zeug habe ich damals auch diese uralte alchemistische Formel erfahren dürfen, die mir von diesem Zeitpunkt an wie ein Kochrezept im Kopf herum spukt. Für Sie, werter Herr, wäre ich bereit, diese Formel aufzuschreiben.“ Nun beugte sich der der Mensch ebenfalls vor und taxierte Smeik mit seinen Blicken wie ein Boxer seinen Gegner vor einem wichtigen Kampf. „Und wieso, frage ich Sie haben sie bis jetzt noch keinen Profit aus der Formel geschlagen? Das Geheimnis für sich zu behalten und letztendlich ungenutzt mit ins Grab zu nehmen, nur weil es vielleicht die richtige Sache ist – das passt nicht zu Ihnen, Volzotan. Also nennen Sie mir einen Grund, warum ich Ihnen glauben sollte.“ Rumo hatte so eine Ahnung, worauf das ganze hinauslaufen würde. „Sagt Ihnen der Name ‚subkutane Todesschwadron’ etwas, Menschenwesen?“, fragte er deshalb von seiner etwas abseits gelegenen Position aus. Smeik und der Mensch sahen ihn abschätzend an, wobei wohl beiden sehr unterschiedliche Gedanken im Kopf herumgingen. Während der Mensch offensichtlich einzuschätzen versuchte, ob der massige Wolpertinger ein vertrauenswürdiger Gesprächspartner war, schien es Smeik eher um die Frage zu gehen, ob Rumo ihn mit seinem Einmischen unterstützte oder eine Gefahr für seinen Plan darstellte. Doch bevor er etwas dagegen tun konnte, hatte sein Spielpartner zu sprechen begonnen. „Ja, Wolpertinger, ich kenne die subkutane Todesschwadron. Doch jetzt drängt sich mir die Frage auf, woher dir dieses Virus bekannt ist. Ich schätze du verstehst, dass ich mich bei all den kursierenden Legenden wohl kaum auf ein in den Raum geworfenes Wort verlassen kann.“ Rumos Blick wurde hart und ernst. Hier ging es um seine Vergangenheit, genau genommen um den Teil, an den er sich nicht wirklich gern erinnerte. „Ich war in Hel als die Krankheit dort ausbrach. Meine Verlobte ist daran gestorben.“ „Hel … eine Tote, ja das klingt durchaus plausibel“, sagte der Anführer der Vorvorletzten anerkennend. „Nun war ich selber auch bereits ein ums andere Mal in Hel und weiß einiges über die Stadt. Unter anderem auch, dass kaum ein Obenweltbewohner, der sich dorthin verirrt hat, je zurück gekehrt ist, was deine Geschichte wiederum recht unglaubwürdig macht. Wie wäre es, wenn du mir ein Detail über Hel verrätst, das hier in Obenwelt nicht zum Mythos geworden ist.“ Rumo hatte keine Zweifel daran, dass der Mensch in engem Kontakt zu der Hauptstadt von Untenwelt stand, zwielichtig genug dafür wirkte er allemal. Er überlegte kurz und erwiderte dann: „Es ist zwar keine direkte Information über Hel, aber vielleicht sagt es Ihnen trotzdem etwas: Ich habe General Ticktack getötet.“ Diese Worte hatten in der Tat ihre Wirkung. Rumos Vermutung, der Mensch könne etwas über den General der Kupfernen Kerle wissen, hatte sich augenscheinlich als richtig erwiesen, denn dieser war abrupt zurückgewichen, die Hand an der großen Narbe auf seiner Wange. Das erklärte dann auch deren Herkunft. „General Ticktack… ja, das sagt mir etwas…“ Täuschte sich Rumo oder lag tatsächlich so etwas wie Furcht in der Stimme des stoischen Menschen? „Nun gut, ich glaube dir, dass du in Hel warst und somit auch, dass dir die subkutane Todesschwadron bekannt ist. Aber jetzt erkläre mir bitte, was das ganze mit dem Geheimnis des ewigen Leben zu tun hat.“ Der Wolpertinger warf einen Seitenblick auf Smeik, der ihn mit großen Augen anstarrte. ‚Mach jetzt keine Fehler’ schien er ihm sagen zu wollen, ‚mach keine Fehler, oder wir sind weg vom Fenster’. Rumo atmete ein und hielt für einen Moment die Luft an, dann setzte er zu seinem Trumpf an. „Ich habe Ihnen gesagt, dass meine Verlobte damals an dem Virus verstorben ist…“ Er griff in seine Lederjacke, zog ein kleines Pergament aus der Innentasche, auf dem ein einfaches Bleistift-Portrait zu sehen war und hielt es dem Vorvorletzten hin. „Das ist sie. Sehen Sie auf das Datum, das der Künstler darunter gesetzt hat. Dazu sollten Sie wissen, dass ich vor etwa drei Jahren in Hel war.“ Das Datum auf dem Foto war das von vor drei Monaten. „Sie lebt“, fügte Rumo an. „Sie lebt und Smeik hat sie ins Leben zurückgeholt, obwohl die subkutane Todesschwadron erwiesenermaßen unheilbar ist.“ Sekundenlang betrachtete der Mensch das Bild ohne sich in irgendeiner Weise dazu zu äußern. Dann gab er es seinem Besitzer zurück. „Du weißt, dass ich jetzt infrage stellen könnte, ob es sich bei diesem Bild wirklich um deine dir Versprochene handelt, oder?“ Rumo öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch der alte Mann winkte ab. „Lass nur, Wolpertinger. Das ganze führt zu nichts. Ich werde euch glauben und euch euer Geheimnis setzten lassen.“ Smeik drehte sich überrascht zu seinem Gegenspieler um. „Wie bitte?“ „Vorausgesetzt, natürlich, Sie sind weiterhin bereit darum zu spielen.“ „Na…na…natürlich“, stammelte die Haifischmade und begann mit zittrigen Fingern die Karten auszuteilen. „Also setzte ich mein Geheimnis gegen das Rumotron?“ Der Mensch nickte nur und nahm seine Karten auf. Rumo zog sich wieder zurück. Die Gefahr war noch keinesfalls abgewendet, aber immerhin hatten sie so einen Aufschub bekommen, wenngleich er auch nicht wirklich wusste, wieso. Und wenn es Smeik dieses Mal gelang richtig zu zählen, dann hatten sie eine reelle Chance das Rumotron zurück zu gewinnen. ‚Löwenzahn? Zähl bitte mit okay?’, fragte Rumo in Gedanken. ‚Ich halte diese Spannung sonst nicht aus, dieser ganze Mathe-Kram ist mir viel zu kompliziert.’ „Klar Chef, kein Problem“, antwortete Löwenzahn fröhlich und verstummte dann, um zusammen mit seinem Besitzer dem Spielverlauf zu folgen. Grinzold hatte sich schon lange ausgeklinkt, das bloße Erwähnen von Zahlen hatte ihm Kopfschmerzen bereitet, was recht erstaunlich war, denn faktisch gesehen hatte er keinen Kopf mehr. Sämtliche Anwesende im Raum verfielen in konzentriertes oder nervöses Schweigen, das einzige, was noch zu hören war, war Smeiks schnaufender Atem, der gegen die Karten vor seinem Gesicht schlug. Er war jetzt konzentrierter, das war deutlich zu erkennen, dennoch bebte sein ganzer Körper unter der Anspannung, die ihn in festem Würgegriff hatte und ihm die Luft abschnürte. Rumo konnte nichts weiter tun als auf die Kommentare von Löwenzahn zu warten, die dieser dann und wann geradezu beiläufig von sich gab und von denen der Wolpertinger neunundneunzig Prozent nicht verstand. „Gut, gut… siebenunddreißig und zwei … bleiben noch achtzehn Drittel wenn der Rumo auf das Pik fällt und das Herz günstig kommt … ich verstehe, ich verstehe.“ ‚Ich nicht’, merkte Rumo an, doch er wurde ignoriert. „Och nein, was soll denn jetzt das Ril? Wir hätten ein Quirtaton oder ein Kreuz gebraucht. Hähä, das macht es interessant, wirklich interessant.“ ‚Das ist ja schön und gut, Löwenzahn, aber könntest du mir bitte sagen, wie es steht?’ Nervös, wie er war, konnte Rumo beim besten willen keinen Quälgeist, gebrauchten der mit seinen Kartenkenntnissen angab. „Nun“, begann Löwenzahn nachdem er einmal theatralisch geseufzt hatte, um sein Missfallen über die Degradierung seiner Fertigkeiten auszudrücken, „die Sache ist ziemlich eindeutig.“ Rumo knurrte leise. ,Komm zum Punkt!’ „Smeik verliert.“ „WAS?“ Dieses Mal hatte er es laut gesagt. Alle Blicke im Raum richteten sich auf ihn und der Wolpertinger wäre am liebsten im Boden versunken. „Tut mir Lied“, murmelte er kleinlaut. „Weiß auch nicht, was das sollte…“ Dem Menschen schien das zu genügen, er wandte sich wieder seinen Karten zu. Smeik jedoch musterte Rumo eindringlich. „Was ist los, Junge? Stimmt irgendetwas nicht? Wenn dich etwas beunruhigt, kannst du es ruhig aussprechen.“ Rumo trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Was sollte er tun? Sollte er Smeik sagen, dass er grade auch seinen letzten Trumpf verloren hatte? Dass das Spiel für ihn bereits aussichtslos war und er im Grunde sofort aufgeben könnte? Sicher nicht. Außerdem gab es immer noch die Möglichkeit, dass Löwenzahn sich irrte. Oder? „Nichts, Smeik. Es ist alles in Ordnung, ich… ich bin nur etwas nervös.“ Smeik lächelte. „Verständlich. Aber jetzt versuche dich bitte zusammen zu reißen, immerhin steht wortwörtlich einiges auf dem Spiel.“ Der Leibwächter nickte und lehnte sich gegen die Wand, um etwas Gewicht von seinen Beinen zu nehmen, die sich aus irgendeinem Grund nicht mehr wirklich standfest anfühlten. Er beschloss vorsichtshalber nicht mehr mit Löwenzahn zu reden solange er sich mit den Menschen und Smeik in einem Raum befand. Es war besser auf Nummer sicher zu gehen, auch wenn sich sein Wegbegleiter kurz über das Übergehen seiner Person beklagte. Wie sich herausstellte, hatte Löwenzahn sich nicht geirrt. Das Spiel dauerte noch genau drei Runden bevor Smeik erneut die Karten aus der Hand glitten und er den Kopf auf den Tisch fallen ließ. Er schlug vier seiner Arme über seinem Scheitel mit der Haifischflosse zusammen und begann leise zu schluchzen. „Nein… nein, das darf doch nicht wahr sein. Wie konnte das passieren, was habe ich nur…nein, nein, nein!“ Rumo wandte sich wieder ab. Das war einer der schlimmsten Tage seines Lebens, sein bester Freund hatte nicht nur sein Kasino und damit seinen Ruf in Atlantis sondern jetzt auch sein größtes Geheimnis verspielt und jetzt waren sie drauf und dran wirklich vor dem Nichts zu stehen. Niemand konnte sagen, wie genau die Konsequenzen Aussehen würden, wenn sie das Rumotron verloren, wahrscheinlich mussten sie sogar die Stadt verlassen. Für Rumo selber gab es natürlich noch die Möglichkeit nach Wolperting zu gehen – dort würde er sogar ein relativ schönes Leben führen können – doch Smeik war dort nicht willkommen und seinen Freund im Stich zu lassen kam für ihn nicht mehr infrage. Vielleicht sollte er die Menschen doch umbringen. Immerhin hatten sie im Gefängnis ein Dach über dem Kopf. Da das Spiel offensichtlich vorbei war, erhob sich der Anführer der Vorvorletzten von seinem Stuhl und strich sich sein Gewand glatt. „Also gut, ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie uns unseren Gewinn übergeben, Volzotan.“ Er streckte seine Knochige Hand aus. „Wenn ich bitten dürfte? Die Besitzurkunde und die Formel, wie es abgesprochen war.“ Smeik sprang auf und taumelte zurück. Er war auf einmal noch blasser gefunden als sowieso schon und keuchte wie nach einem Marathon. „Mo…Moment! So…so schnell geht das nicht! Ich muss mich erst an alle Details erinnern und sie aufschreiben und… und…“ Smeik rang nach Worten, versagte aber offenbar kläglich und verstummte. Der Mensch ging auf ihn zu und baute sich vor ihm auf, trotz seiner geringen Körpergröße und der hageren Gestalt eine imposante, geradezu bedrohliche Erscheinung. „Ihrem Stammeln entnehme ich, dass Sie die Formel nicht wie angegeben besitzen?“ Das letzte Bisschen Farbe war aus Smeiks Gesicht gewichen, er sah aus wie ein wandelndes Gespenst. „Doch, doch, natürlich besitze ich die Formel“, stammelte er ängstlich. „Ich muss nur….“ Das narbenverzerrte Antlitz des Vorvorletzten war jetzt nur noch Zentimeter von dem der Haifischmade entfernt, eine unverhohlene Drohung lag in der Luft und Rumo konnte nichts dagegen tun, er war wie gelähmt von den unbeschreiblichen Ereignissen. „Hören Sie zu, Volzotan“, begann der Menschenmann und betonte jede Silbe extra deutlich, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, „ich mache Ihnen ein Angebot. Mir ist es im Grunde völlig egal, ob sie die Formel besitzen oder nicht, ich habe, was ich wollte. Aber ich möchte auch keinen Hehl daraus machen, dass mich die ganze Unsterblichkeitsgeschichte interessiert. Und wenn Sie es schaffen, mir innerhalb von – sagen wir – drei Wochen dieses von Ihnen so hochgelobte, große Geheimnis des ewigen Lebens zu beschaffen, wäre ich bereit Ihnen im Austausch Ihr Rumotron und Ihre Würde zurück zu geben. Wir betrachten die erste Runde als null und nichtig und ich halte mich von dem Zeitpunkt an aus Ihren Geschäften heraus. Nun, was sagen Sie?“ Smeik konnte nichts weiter tun als zu nicken und geschockt vor sich hin zu starren, angesichts ihrer derzeitigen Lage schien es sich doch um ein faires Angebot zu handeln, das ihnen immerhin so etwas wie Gnadenfrist gewährte. Rumo teilte diese Ansicht und trat auf die Menschen zu. „So sei es also“, brachte er mühevoll hervor. „Wünschen Sie einen Vertrag?“ Der Vorvorletzte schüttelte den Kopf. „Nicht nötig. Ich erwähnte ja bereits, dass wir unsere Mittel und Wege haben zu bekommen, was man uns versprach.“ Rumo war sich ziemlich sicher, dass der Mensch in diesem Punkt die Wahrheit sagte, also beschränkte er sich auf ein „Ich verstehe“ und öffnete dann die Tür des kleinen Zimmers. „Darf ich Sie hinaus geleiten?“ Wieder verneinte der Mensch. „Ich denke, wir werden den Weg hinaus schon selber finden.“ Er griff nach einer der Gefäße mit den Leuchtquallen, die Rumo und Smeik benutzt hatten, um den Weg her zu leuchten. „Sorgen Sie lieber dafür, dass Ihr Vorgesetzter – oder sagen wir Ex-Vorgesetzter – seine Fassung wieder findet, bevor sein letzter Rest Würde auch noch den Bach hinunter geht.“ Mit einem letzten, amüsierten Blick auf die am Boden zerstörte Haifischmade verschwanden die Vorvorletzten in den Kellergang, wo ihre Schritte sich langsam mit dem schwach hinunter klingenden Lärm der Eingangshalle mischten. Als er sich sicher sein konnte, dass die seltsamen Besucher im Getümmel der anderen Gäste verschwunden waren, ließ Rumo sich mit dem Rücken an der Wand zu Boden gleiten. „Da haben wir aber verdammt noch mal Glück gehabt“, seufzte er und fuhr sich mit der Pranke über den Schädel. Smeik warf ihm von der Seite einen viel sagenden Blick zu. „Wenn du mit ‚Glück’ meinst, dass uns noch drei Wochen bleiben, bis wir endgültig ruiniert sind, ja dann haben wir Glück gehabt.“ Der Wolpertinger war verdutzt. „Wieso das? Sie haben uns doch angeboten uns das Rumotron zurück zu geben, wenn wir ihnen die Formel geben. Und selbst wenn du dich nicht mehr einhundert Prozent erinnerst, werden drei Wochen doch sicher locker ausreichen, um alles Nötige zusammen zu kratzen und aufzuschreiben, oder?“ „Was?“ Smeik sah Rumo ungläubig an und begann dann aufgebracht im Raum auf und ab zu laufen. „Verstehst du denn nicht, Rumo? Ich habe die Formel nicht, ich kenne das Geheimnis des ewigen Lebens eben so wenig, wie du! Das alles war nichts weiter als ein einziger großer Bluff.“ Jetzt war es an Rumo verblüfft zu sein. Er sprang auf und stellte sich seinem umherlaufenden Freund in den Weg. „Wie…? Aber ich dachte… Du hast doch auch Rala zurück ins Leben geholt. Natürlich weißt du, wie das Funktioniert, erzähl keine Lügen! Ich habe mich auf dich verlassen, jedes Wort von mir war ernst gemeint!“ „Selbiges gilt leider nicht für das, was ich gesagt habe“, gab Smeik resignierend zu und ließ sich wieder auf den Holzstuhl fallen, der unter dem plötzlichen Gewicht bedrohlich knackte. „Ich war es im Grunde gar nicht, der deine Freundin wieder belebt hat. Das waren die unvorhandenen Winzlinge, sie wissen, wie es funktioniert, zumindest auf mechanischem Wege. Hast du das vergessen?“ Hatte er. Aber noch war Rumo nicht bereit aufzugeben. „Dann fragen wir sie eben, diese unvorhandenen Winzlinge. Sie kennen dich, sie werden dir verraten, wie es geht, wenn du ihnen erzählst, was auf dem Spiel steht, da bin ich mir sicher.“ „Wenn ich dich kurz in deinem Enthusiasmus bremsen darf, mein Freund“, sagte Smeik, der das müde Lächeln der Verzweifelten lächelte, „aber diese Kreaturen heißen sicher nicht ‚unvorhandene Winzlinge’, weil sie so groß und leicht zu finden sind. Ich weiß nicht einmal, wie sie aussehen, geschweige denn, wo sie sich im Moment aufhalten, falls sie überhaupt noch existieren. Glaub mir, wenn du mich fragen würdest, wonach ich lieber suchen würde, nun, ich würde mich eher zehn Mal für die Nadel im Heuhafen entscheiden. Immerhin besteht da eine realistische Chance, diese innerhalb eines Lebens zu entdecken.“ Rumo stolperte und sank wieder in seine Position auf dem Boden mit dem Rücken zur Wand zurück. Und genau so fühlte er sich im Moment auch. Offenbar gab es keine Möglichkeit dem Unvermeidlichen zu entrinnen. In drei Wochen würden die Vorvorletzten mit wer-weiß-welcher Verstärkung in Atlantis aufkreuzen und sich das Rumotron und somit Smeiks komplette Existenz unter den Nagel reißen. Sein Ruf war damit ein für alle Mal ruiniert, alles, was er dann noch machen konnte, war Zeitungen und Flugblätter austragen. Und um ehrlich zu sein: Mit seiner jetzigen Körperfülle war Smeik nicht gerade prädestiniert für diese Art der Arbeit. „Gibt es denn gar nichts, was wir tun könnten?“, fragte der Wolpertinger, der bereit war, sich an jeden, noch so kleinen Strohhalm zu klammern. „Was ist mit Kolibril? Kann er die Winzlinge nicht finden?“ Die Haifischmade schüttelte den Kopf. „Völlig unmöglich. Er wusste zwar von ihrer Existenz, aber soweit ich weiß bin ich der einzige, der ihnen je begegnet ist. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er auch nichts über ein irgendwie geartetes Geheimnis wusste, das das ewige Leben betrifft.“ „Dann ist es also aussichtslos?“ Smeik antwortete nicht. Er starrte gedankenverloren vor sich hin, ganz so als suche sein Hirn verzweifelt nach einer Lösung für ihr das Problem, dass sich mit jeder Sekunde bedrohlich auf sie zuschob. Das hier war Zamonien, der Kontinent auf dem nichts unmöglich war. Da sollte so etwas wie die Unsterblichkeit keine große Sache sein, oder? Es musste doch irgendwo jemanden geben, der sich mit einer solchen Formel auseinander gesetzt hatte! Erfolgreich, wenn möglich. Smeik überschlug alles, was er über Alchemie wusste, im Kopf – es war wesentlich weniger als er gedacht hatte, jetzt, da er dieses Wissen tatsächlich einmal zu brauchen schien. Da gab es Formeln zur Heilung der verschiedensten Krankheiten, Rezepte zum Kochen von Gespenstern – wozu brauchte man bitte ein gekochtes Gespenst? – und Anleitungen zum erstellen der unterschiedlichsten Tinkturen, die das Leben zwar verlängern, aber es nicht endlos machen konnten. Alles in allem war kaum etwas Brauchbares dabei und auch sein Wissen über die bekanntesten lebenden und legendären – also bereits toten – Alchemisten half ihm nicht wirklich. Klar, viele hatten es immer wieder versucht, aber soweit er von Kolibril informiert worden war, hatte es keiner je geschafft, etwas Verwendbares hervor zu bringen. Smeik vergrub den Kopf in den Händen. War da wirklich gar nichts? Irgendetwas regte sich in seinem Unterbewusstsein und versuchte sich an die Oberfläche seines Denkens zu kämpfen, etwas wichtiges, etwas von Bedeutung. Es war nicht Kolibril, aber es hatte mit ihm zu tun… nein … nicht direkt, aber doch genug, um die Erinnerung in ihm wachzurufen. Smeik sprang auf als die Erkenntnis ihn erwischte wie ein Blitz einen metallenen Fahnenmast. „Natürlich! Wenn es jemanden gibt, der etwas darüber weiß, dann ist er es!“ Rumo fuhr hoch. „Wer? Sag’s mir, ich werde ihn finden!“ Die Haifischmade wirkte nun wieder gewohnt siegessicher. „Kennst du diesen Typen, der das Lexikon geschrieben hat?“ „Nachtigaller?“ Smeik nickte aufgeregt. „Genau der!“, sagte er und packte Rumo an den Oberarmen. „Falls es in Zamonien überhaupt jemanden gibt, der etwas über das ewige Leben weiß, dann ist es dieser alte Exzentriker, da bin ich mir sicher. Nach allem, was ich über ihn gehört habe, soll er über sieben Gehirne verfügen. Kolibril hielt ihn zwar für einen Quacksalber, aber wenn man unsere Situation bedenkt, ist es vielleicht genau das, was wir jetzt brauchen.“ So mitgerissen begann Rumo allmählich ebenfalls Blut zu lecken, an der Idee schien tatsächlich etwas dran zu sein. Auch er hatte bereits von Nachtigaller gehört – wer in Zamonien hatte das nicht – und war relativ überzeugt davon, dass er eine Kompetenz in Sachen ungeklärte Geheimnisse darstellte. Smeik war bereits wieder voll in seinem Element. Jetzt ging es um Strategie, um eben jene Strategie, die sie brauchen würden, um den eremitischen Eydeeten zu erreichen und ihn gleichzeitig davon zu überzeugen, ihnen sein Wissen anzuvertrauen. Und das ganze innerhalb von drei Wochen. Die Haifischmade angelte nach der dritten Phogarre dieses Tages und streckte sie sich an, während er nach dem verbliebenen Glas mit der Leuchtqualle griff und sich anschickte, das Spielzimmer zu verlassen. „Folge mir, Rumo, ich spüre, wie in meinem Hirn ein Plan Gestalt annimmt.“ Wie von einer unsichtbaren Macht gezogen eilte Smeik aus dem Zimmer und den Kellergang entlang, dicht gefolgt von seinem Leibwächter. Es ging die Treppe hinauf, quer durch die Eingangshalle zu einem der Fahrstühle und dann zurück ins Obergeschoss, aus dem sie gekommen waren. In der luxuriösen Chefetage des Rumotrons angekommen machte sich der Noch-Besitzer des Kasinos an einer der Haifischmaden-Büsten zu schaffen, er untersuchte sie kurz, fand dann einen in den Rücken der Goldfigur eingelassenen Schalter und legte ihn um. „Eines meiner kleinen Geheimverstecke“, sagte er und zwinkerte Rumo zu, der etwas verwirrt in der Tür des Büros stehen geblieben war. „Für meine etwas anderen Schätzchen.“ Die Statue glitt samt Sockel beiseite und eine in den Boden eingelassene Mechanik hob einen kleinen gläsernen Kubus aus der Versenkung, in dem eine Phiole mit roséfarbener Flüssigkeit auf einem schwarzen Kissen lag. Das Gefäß war verkorkt und zusätzlich mit einem Draht zugebunden, wohl um den Korken am Platz zu halten. Die ganze Konstruktion wirkte sehr elegant und gepflegt, daher vermutete Rumo, dass es sich bei dem Inhalt des Fläschchens um etwas Wertvolles handeln musste, auch wenn es eher aussah wie ordinärer Wein. Andererseits konnte Wein selber bei Zeiten auch sehr teuer sein… Doch es war kein Rebensaft, der dort munter vor sich hinschwappte, wie Smeik ihn sogleich aufklärte. „Das, mein Freund, ist die Essenz der Goldrose, eines Gewächses, das vor etwa zehn Jahren in Zamonien ausgestorben ist. Ich habe das Glück eines der letzten Exemplare dieses auf die Flasche gezogenen Wunders zu besitzen.“ Er winkte Rumo zu sich heran, damit dieser die Flüssigkeit näher beäugen konnte. „Mit diesem unscheinbaren Säftchen kann man so ziemlich alles brauen, was sich ein kreativer Geist ausdenken kann, es ist der ultimative Katalysator, wenn du so willst.“ Rumo spürte, wie sich ihm eine Frage aufdrängte. „Und warum hast du nicht dieses Zeug gesetzt, als es drauf ankam? Offenbar ist es ja auch etwas ziemlich Besonderes.“ „Das kann ich dir erklären.“, sagte Smeik. „Dieses Mittel ist, so wie es ist, völlig wertlos.“ „Aber du hast doch gerade…“ „Bitte unterbrich mich nicht“, wurde der Wolpertinger von seinem Freund zurechtgewiesen, „ich wollte mich dir gerade erklären.“ Die Haifischmade holte Luft, um erneut anzusetzen. „Also: Dieses Mittel ist, so wie ich es hier besitze völlig wertlos, da es sich hierbei lediglich um einen Teil der Essenz handelt. Um ihre Einnahmen zu verdoppeln kamen einige findige Alchimisten vor vielen Jahren auf den Gedanken die Wirkstoffe der Goldrose zu trennen und paarweise zu verkaufen. Hatte man nur eine der Flüssigkeiten, sah man sich gezwungen die andere ebenfalls zu erwerben, um etwas damit anfangen zu können. Heute ist dieses Essenz jedoch, wie bereits erwähnt, sehr selten und jeder Alchimist leckt sich die Finger danach Beide zu besitzen. Und jetzt kommt das Beste!“ Smeik griff nach der Phiole und hielt sie gegen das Licht, sodass sich die Sonnenstrahlen, die durch das große Fenster hinter seinem Schreibtisch hineinfielen, im semitransparenten Liquid brachen. „Nachtigaller erwähnt in seinem Lexikon, dass er ebenfalls im Besitz einer Goldrosenessenz ist. Und nach dem, was er darüber berichtet, zu urteilen, handelt es sich um das notwendige Gegenstück zu eben dieser hier.“ Er schwenkte das Glasgefäß beinahe zärtlich und Rumo beobachtete, wie Sonnenflecken über die Wände des Büros tanzten. „Und ich soll dieses Gegenstück für dich besorgen?“ „Nicht ganz, mein Lieber“, grinste Smeik. „nicht ganz. Ich selber kann mit den Essenzen wenig anfangen, die hier war lediglich als Geldanlage gedacht. Nein, was ich von dir möchte ist, dass du Nachtigaller aufsuchst und ihm ein Geschäft vorschlägst.“ Mit einer einzelnen geschickten Bewegung ließ er die Phiole in die Brusttasche von Rumos Jacke gleiten. „Dieses Wundermittelchen“ – er klopfte sanft auf das Fläschchen – „gegen all seine Informationen über das ewige Leben. Das sollte genügen, um den alten Kauz davon zu überzeugen mit der Sprache rauszurücken.“ Rumo blickte hinab auf seine Brust, wo sich seine wertvolle und scheinbar doch wertlose Fracht befand. „Und wo finde ich Nachtigaller?“ Smeik glitt hinter seinen Schreibtisch und in den maßgefertigten Stuhl. „Das ist nicht wirklich einfach, aber für dich, der du in Hel warst, sicherlich kein Problem. Er lebt zurückgezogen in seiner Nachtschule inmitten der Finsterberge. Scheinbar verfolgt er irgend so eine seltsame Theorie, nach der die Finsternis den IQ steigert, oder so etwas, aber was weiß ich. Viel wichtiger ist, dass er sich eigentlich ständig dort aufhält, du kannst ihn also kaum verpassen.“ Rumo seufzte. Die Finsterberge, das wohl gefährlichste Gebirge Zamoniens. Aber warum nicht? Er hatte schon so ziemlich alles überlebt, was es zu überleben gab, da sollte das, wie sein Freund sehr richtig angemerkt hatte, ja wohl kein Problem sein. Wohl wissend, dass ihm ohnehin kaum eine bis gar keine Alternative blieb, nickte der Wolpertinger und zog unwillkürlich seine Lederjacke enger um den Oberkörper. „Okay, Smeik, ich werde es tun. Ich wollte ja ohnehin mal wieder aus Atlantis heraus und etwas frische Luft schnappen. Wie es scheint bekomme ich jetzt meine Gelegenheit dazu.“ Er schwieg kurz und fügte dann an: „Ich nehme nicht an, dass du mitkommen wirst, oder?“ Wie erwartet schüttelte die Haifischmade den Kopf. „Seien wir ehrlich, Rumo, ich würde dich aufhalten. Geh du dich ruhig austoben, ich werde derweil hier die Stellung halten.“ Bei seinen letzten Worten hatte er theatralisch einen Handrücken an die Stirn gelegt und Rumo neckisch zugegrinst, sodass dieser nicht anders konnte als ebenfalls zu lächeln. „Und jetzt raus mit dir, Junge, und rette mein Kasino.“ Als der Wolpertinger den Raum verließ fühlte er sich ein klein wenig wie Ritter Hempel, der zu einem seiner großen Abenteuer aufbrach. Kapitel 4: Finstere Aussichten ------------------------------ Rumo hatte seine Sachen gepackt – hauptsächlich bestehend aus Löwenzahn beziehungsweise Grinzold, seiner Lederjacke, der Goldrosenessenz und ein paar Lebensmitteln sowie etwas zu trinken – und die Stadtgrenze von Atlantis möglichst schnell hinter sich gelassen. Er war froh endlich wieder einmal etwas Grün zu sehen, in der Millionenstadt gab es nicht einmal Zimmerpflanzen, geschweige denn Bäume und Sträucher. Hier, in den Feldern vor der Stadt, die den Blick auf die Riesenberge und die so genannte kalte Wand ermöglichten, war das ganz anders. Trotz des immer noch präsenten Smogs der nahen Industrie blühten die Wiesen geradezu malerisch und die Bäume zeigen ihre imposanten Kronen der vormittäglichen Sonne. Der Tag war noch jung, Rumo hatte sich die Freiheit genommen, eine Nacht über das anstehende Vorhaben zu schlafen, obwohl sie diese Zeit eigentlich nicht hatten. Doch er wusste, dass er die Reise wesentlich effizienter gestalten konnte, wenn er ausgeruht war, und mit Smeiks durchdachtem Zeitplan, den Rumo morgens mit einer kurzen Einweisung auf seinem Wohnzimmertisch gefunden hatte, erschien die Unternehmung als durchaus machbar. Vorgesehen waren fünf Tage Hinweg, drei Tage Überzeugungsarbeit und fünf, eventuell sechs Tage Rückweg, damit ihnen genug Zeit blieb, um Vorkehrungen für die Ankunft der Menschen zu treffen. Rumo blickte gen Himmel, während er über einen breiten, gut begehbaren Feldweg schlenderte. Fünf Tage waren viel Zeit, Zamonien war – gemessen an anderen Kontinenten – ziemlich klein und der Wolpertinger von Natur aus ein guter, ausdauernder Läufer, sodass er keinen Grund sah, schon jetzt zu hetzten. Lieber wollte er zunächst einmal die unberührte Wildnis genießen, endlich wurden die Gerüche um ihn herum klarer und feiner, die Geräusche leiser und die Wolken wieder weiß und flaumig. Rumo ertappte sich dabei, wie er wie ein Welpe einem Schmetterling hinterher jagte, aus der puren Euphorie heraus endlich nicht mehr in ein enges Apartment in einer völlig überfüllten Stadt gesperrt zu sein. Vergessen konnte er den Grund für seinen Ausflug ins Grüne zwar nicht, aber es würde auch nicht schaden aus der Not eine Tugend zu machen. Gegen Nachmittag erreichte Rumo den Fuß der kalten Wand. Er verfiel in einen leichten Trab, um etwas Zeit für eine oder zwei Stunden Schlaf in der Nacht hereinzuholen, die er sich gönnen wollte, sobald er den Pass in Richtung Vielwasser überquert hatte. Der Weg quer durch die Süße Wüste wäre zwar um einiges kürzer gewesen, aber aufgrund der dort lauernden Gefahren, gegen die selbst ein gut trainierter Wolpertinger wenig ausrichten konnte, hatte Smeik ihm die etwas längere Route durch die Riesenberge empfohlen. Er würde Vielwasser und Quelltal durchwandern – wenn auch nur am Rande – und dann ein kurzes Stück durch den großen Wald laufen, der direkt an die Finsterberge anschloss. Von dort an war er auf sich allein gestellt, niemand, nicht einmal Smeik, wusste, wie genau man die Nachtschule im Herzen der Berge erreichte. Dass ihm unterwegs nicht langweilig wurde, dafür wussten Löwenzahn und Grinzold zu sorgen. Den ersten Tag verbrachten die seltsamen Freunde damit, neue Strophen für das Blut-Lied zu dichten, wobei Rumos persönlicher Favorit eindeutig „Darm, Darm, Darm muss spritzen meterweit…“ lautete. Erst langsam wurde ihm bewusst, dass Grinzolds fragwürdiger Humor auf ihn abzufärben schien und er schämte sich ein bisschen. Löwenzahn sang zwar aus voller Kehle krächzend mit, hielt sich aber beim Dichten neuer Verse zurück, Innereien und ihr Flugverhalten war nicht unbedingt sein Thema. Rumo fragte nicht weiter nach, der sensible Part seines beseelten Kurzschwertes hatte immer noch leichte Probleme damit bei Bewusstsein zu bleiben, wenn es zum Kampf kam. Je weiter der Wolpertinger die kalte Wand hinaufstieg, desto frischer wurde die Luft um ihn herum und er erschauderte. Wo die heiße Wand mit Vulkanen aufwartete, zeigte das Gebirge vor ihm imposante Gletscher und Eisflächen, die Namen kamen also nicht von ungefähr, dennoch war er recht froh, diese Richtung gewählt zu haben. Er holte sich alles in allem doch lieber eine leichte Erkältung, als sich den Schwanz an kochender Lava zu versengen. Es erscheint an dieser Stelle relativ sinnlos seine weitere Reise bis hin zu den Finsterbergen im Detail zu beschreiben, sie war schlicht und ergreifend ereignislos und völlig uninteressant für jeden, der sich nicht über alle Maßen für die geografischen Zusammenhänge zwischen Vielwasser und Quelltal begeistern kann. Zu letzterem nur so viel: Zamonische Geologen gehen seit längerem davon aus, dass es sich bei Quelltal um eine Art Filteranlage für das bekanntermaßen fast schon überirdisch reine Wasser in Vielwasser handelt. Wie genau das vonstatten geht – nun, allein die aktuelle Debatte darüber würde hier den Rahmen sprengen, von den vielen Erklärungen mal ganz abgesehen. Machen wir also an dieser Stelle einen Sprung und richten unseren Blick auf die Ereignisse etwa drei Tage später. Dass es Abend wurde, merkte Rumo an der kühler werdenden Luft. Sehen konnte er den Himmel auch hier, so nahe an den Finsterbergen, nicht, dazu war das Blätterdach der riesenhaften Bäume des großen Waldes noch immer viel zu dicht. Dementsprechend konnte es hier auch nicht viel dunkler werden, es war viel mehr so, dass sich um ihn herum die Lichtverhältnisse anderweitig verändern, wenn es Nacht wurde. Das leicht gelbliche Zwielicht, der Mittagssonne verschmolz in den Abendstunden mit dem bläulichen Dämmern des Mondes, der stetig zunahm und nahezu seine volle Rundung erreicht hatte. Die kühlere Luft war angenehm, irgendwie beruhigend und erfrischend. Rumo atmete tief ein. Noch immer steckte der Smog der Stadt tief in seiner Luge, das konnte er spüren, doch es wurde mit jedem Atemzug besser. Er war jetzt schon eine ganze Weile durch den Wald gestreift, hatte sich Bäume und Pilze angesehen und dem fernen Gesang der Buntbären gelauscht, aber nicht das Bedürfnis verspürt, Bauming oder eine der anderen Siedlungen zu besuchen. Diese Harmonie, diese Freundlichkeit, dieser penetrante Optimismus – es machte ihn irgendwie krank. Er war einmal dort gewesen – Rala hatte sich einen Ausflug in dieses einzigartige Naturschutzgebiet gewünscht – und sich auf den Rückweg sogleich geschworen, nie wieder auch nur einen Fuß in das Hoheitsgebiet der Bären zu setzten. So oder so führte ihn sein Weg durch eben jenen Teil des Forstes, den die friedfertigen Buntpelze um jeden Preis zu meiden wussten, aus Gründen, die Rumo gut nachvollziehen konnte, nachdem er einem Laubwolf nur knapp und mit einigen Schrammen entronnen war. Rumo war beinahe froh, als sich der Wald vor ihm zu lichten begann und er sich vor einer hohen, pechschwarzen Felswand wieder fand, die sich vor ihm aufbaute wie ein einziger, aus rußfarbenem Marmor gehauener Block postmoderner zamonischer Kunst. Im fahlen Licht des Mondes konnte der Wolpertinger zwar mit bloßem Auge keine Einzelheiten erkennen, doch als er eine Pranke an den kalten Stein legte, spürte er unter seiner Pfote eine nahezu vollkommen glatte Oberfläche. Hier gab es im Umkreis von mehreren hundert Metern nichts, woran er sich hätte festhalten können, geschweige denn Vorsprünge zum darauf springen und abstützen. „Verdammt“, murmelte Rumo. „Was zum Teufel ist das?“ „Finsterberggestein der allerfeinsten Sorte, würde ich sagen“, bemerkte Grinzold beinahe schon anerkennend. „Es ist das härteste und zugleich ebenste Gestein direkt nach den Felsen der Dämonenklamm. Da kommst du nicht hoch.“ „Na vielen Dank fürs Mutmachen.“ Rumo war sich ziemlich sicher, dass Grinzold mit den Schultern gezuckt hätte, hätte er welche gehabt. „Das war kein Mutmachen, sondern lediglich eine objektive Betrachtung der Sachlage.“ „Das war es“, pflichtete ihm Löwenzahn bei, wohl eher aus Angst vor seinem unfreiwilligen Lebenspartner als aus wirklich Überzeugung heraus, aber das war dem Dämonenkrieger offenbar egal. Sowieso beschlich Rumo das unbestimmte Gefühl, dass Grinzold sich nicht wirklich viel aus der amüsant-nervigen Frohnatur machte, was im Grunde Schade war, denn Löwenzahn war, wenn man sich erst mal an ihn gewöhnt hatte, ein unersetzlicher Freund und Weggefährte. Der Wolpertinger ließ sich auf den Boden fallen und strich sich erschöpft über die Hörnchen auf seiner Stirn. „Und was mache ich jetzt? Irgendeine intelligente Idee?“ „Nö.“ „Nein.“ „Na klasse.“, knurrte Rumo und sprang wieder auf die Beine. Einfach nur herum zu sitzen würde seine Situation auch nicht besser machen. Er blickt nach links und rechts, doch soweit er bei diesem Licht blicken konnte machten die Felsen keine Anstalten ihre Oberflächenstruktur zu verändern. Trotzdem beschloss er – nur um sicher zu gehen – einige Meter die Felswand entlang zu laufen und nach eventuellen Unebenheiten, Höhlen und Vorsprüngen zu suchen. Eine halbe Stunde verbrachte er damit, im Eilschritt am Gebirgssaum entlang zu hetzten, den Blick stets nach oben gerichtet, auf der Suche nach jeder noch so kleinen Unebenheit. Dann und wann hielt er an, um mit der Pfote über das Gestein zu fahren, jedoch ohne Erfolg. Der Fels war spiegelglatt, völlig uneinnehmbar. Ratlos und frustriert trat Rumo gegen einen herumliegenden Stein, sodass dieser aufflog und gegen die pechschwarze Wand vor ihm prallte. Er hinterließ nicht einmal einen Kratzer. Blinde Wut überkam den Wolpertinger, er packte sein Schwert, riss es unsanft aus der Scheide und rammte es mit voller Wucht ähnlich einem Kletterhaken in den Fels. Das zumindest war sein Plan, doch die Klinge rutschte mit einem grauenvoll schrillen Geräusch von der glatten Oberfläche ab. Ein kleines Stück Metall splitterte ab, blinkte kurz im Mondlicht auf und verschwand dann im hohen Gras. „Au!“, quietschte Löwenzahn. „Spinnst du?“ Rumo hörte nicht auf ihn. Wie ein Berserker hieb er auf das Finsterberggestein ein, mal mit den Klauen, mal mit dem Schwert, das unter der ungewohnten Resistenz des Gegners Fels bedrohlich knackte. All die aufgestauten Aggressionen der vergangenen Tage brachen nun aus ihm heraus, ihm wurde bewusst, wie verdammt viel von dem Gelingen seiner Mission abhing und wie kurz er schon jetzt davor war zu scheitern. Angst überfiel ihn und packte ihn wie ein Greifvogel im Nacken, er zog die Lefzen hoch und steigerte noch einmal die Intensität seiner Schläge. Löwenzahn schrie entsetzt auf. „Hör auf, du dummes Tier! Du machst uns noch kaputt mit deinem Herumgewüte!“ Grinzold lachte nur dümmlich. Sinnlose Gewalt, das war genau sein Ding. Und wenn dabei etwas in die Brüche ging – nun, um so besser. Gerade als Löwenzahn wie am Spieß zu kreischen begann, hielt Rumo urplötzlich inne, ganz so als sein in seinem Inneren ein Uhrwerk zum stehen gekommen. Sekundenlang rührte er sich nicht, hielt die Arme in genau der Schlagposition, in der er jäh verharrt war, blinzelte nicht, atmete nicht einmal, sondern lauschte lediglich in die Stille des Waldes hinein. Da war etwas. Etwas, das eindeutig beweglicher war als die Bäume und Pilze um ihn herum. Rumo spürte, wie die Luft in seinen Lungen rebellierte und er ausatmen musste. Er öffnete den Mund, um den Molekülen so wenig Widerstand wie nur irgend möglich zu bieten, dennoch war das gedämpfte „haahh“, das seiner Kehle entwich, nicht ganz so leise, wie er es sich gewünscht hatte. „Was ist denn, was ist denn?“, flüsterte Löwenzahn, der offenbar vergessen hatte, dass ihn eh niemand außer seinem Besitzer hören konnte, aufgeregt. ‚Ruhe’, herrschte Rumo ihn in Gedanken an und drehte sich langsam zum Wald um. ‚Hier ist etwas.’ Dann schloss er die Augen, die bei der Dunkelheit um sie herum eh so gut wie nutzlos waren, und witterte. Seine komplette Umgebung erschien ihm wie ein exotisches Traumland in den unterschiedlichsten Farben, jeder Geruch hatte seine ganz eigene Nuance, seinen eigenen Ton von hellem Gelb bis hin zu dunklem Blau. Die Bäume zum Beispiel, sie waren nicht grün oder braun, sondern hell orange, der Boden weinrot und der Himmel zitronenfarben. Das erscheint im ersten Moment etwas verwirrend, für Rumo jedoch war es besser als alles, was er mit seinem Sehsinn hätte erreichen können. Die Farben waren wesentlich kontrastreicher und die Formen klarer, mal ganz abgesehen davon, dass es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht gab. Zunächst brachte ihn diese tierische Fähigkeit jedoch nicht wirklich weiter, der Forst lag ruhig, ja geradezu unberührt vor ihm und schien ihn beinahe fragend anzublicken. Hatte er sich verhört? Möglich war es, es stand zugegebenermaßen etwas unter Spannung. Doch da war es wieder, dieses leise Rascheln, das ihn aus seiner Raserei geweckt hatte. Offenbar hatte sein Wüten nicht nur Staub und Erde, sondern auch einige Bewohner des Waldes aufgewirbelt, die es nicht einsahen, dass ein wild gewordener Wolpertinger ihnen den Schlaf rauben wollte. Aber wie konnte es sein, dass er nichts sah? Nichts roch? Nach wie vor erstreckte sich vor ihm das bunte Farbenmeer der endlosen Baumreihen, ohne die kleinste Abweichung in der Coloration. Alles schien völlig normal und unschuldig, trotz des inzwischen deutlich hörbaren Blättergeraschels. In der Sekunde, in der Rumo begriff, womit er es hier zu tun hatte, griff ihn ein Stück des Waldes an. Der Laubwolf hatte seinen Gegner frontal angesprungen und zu Boden gesteckt, bevor dieser überhaupt eine Chance hatte, seine Arme zur Abwehr zu heben. Es war das gleiche Exemplar, das ihm auch schon am frühen Nachmittag desselben Tages das Leben schwer gemacht hatte, das erkannte er an den drei symmetrisch angeordneten roten Ahornblättern in seiner imposant abstehenden Halskrause. Es war ein großes, kräftiges Männchen in seinen besten Jahren, gebaut wie Rumo selbst und sicher um nichts schwächer. Dazu kam, dass er das Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte, denn anders als am Tage, wo der Wolpertinger ihn schon von weitem hatte sehen können, war er bei Nacht für ein Wesen, das sich über den Geruchssinn orientierte, beinahe unsichtbar. Er war aus den Materialien des Waldes selbst geschaffen, sein Skelett war aus Holz, sein Fell aus Blättern und seine Zähne und Klauen aus Rinde, hart wie Stein. Rumo fiel auf, dass er den Kampf von vorher tatsächlich mit keinem bestimmten Geruch verband. Das war im Moment aber bei weitem sein geringstes Problem. Harz tropfte ihm in langen, klebrigen Fäden aus den Lefzen des Wolfes auf Schultern und Gesicht und in seine Oberarme hatten sich spitze Krallen geschlagen. Das Tier hielt ihn mit seinem gesamten Körpergewicht auf den Waldboden gedrückt und schickte sich an, ein großen Stück aus seinem rechten Ohr zu beißen, so zumindest erschien es Rumo, der sich unter ihm wand wie eine übergroße Schlange. Seine Arme waren gerade so weit von seinem Körper abgespreizt, dass er keine Möglichkeit hatte, sein Schwert zu greifen und aus seinem Gürtel zu ziehen, frustrierenderweise konnte er spüren, wie seine Klauen über das glatte Leder am Griff kratzten, es aber nicht zu fassen bekamen. Grinzolds Stimme hallte in seinem Kopf in abertausenden Echos wieder. „Stich ihn ab, stich in schon ab“, brüllte er verzückt, beinahe schon ekstatisch. „Blut! Wir wollen endlich wieder Blut sehen!“ „Wollen wir nicht!“, quiekte Löwenzahn ängstlich. „Himmel, diese Bestie wird uns zerquetschen wie eine Tomate!“ Rumo mobilisierte seine gesamten Kräfte, stemmte Vorder- und Hinterpfoten in den Boden und drückte den Oberkörper samt Laubwolf nach oben, bis er einen Winkel von etwa fünfundvierzig Grad erreicht hatte. Das wütende Tier schnappte nach ihm, biss jedoch zweimal ins Leere, nah genug allerdings, um Rumo das Sirren der Luft neben seinem Kopf hören zu lassen. Die aufrechte Haltung war zwar eine Veränderung, jedoch keinesfalls eine Verbesserung seiner Lage. Seine Arme waren nach wie vor wie am Boden festgenagelt, jetzt allerdings an den Unterarmen und Handgelenken, was im Endeffekt noch wesentlich schmerzhafter war, als seine Ausgangsposition. Dazu kam, dass er dem triefenden Gebiss des Wolfes jetzt noch um einiges näher zu sein schien, ihm war, als könne er die Mordlust in den tiefbraunen Augen, die vor seinem Gesicht tanzten, geradezu sehen. Rumo spürte, wie seine Instinkte in seinem Bewusstsein die Oberhand gewannen. Seine Augen verengten sich zu gefährlichen Schlitzen, er zog die Mundwinkel zurück und entblößte sein Hundegebiss, das dem der Bestie vor ihm in nichts nachstand. Dann warf er sich nach vorne und schlug seine Reißzähne so kraftvoll wie er konnte in die laubüberzogene Schulter seines Gegners. Der Wolf jaulte schrill auf und taumelte zurück, wobei ihm ein guter Fetzen Gewebe aus der Stelle etwas unterhalb seines Halses gerissen wurde. Rumo schmeckte Harz, Holz und etwas, das an Salat denken ließ, wohl aber eher Laub war. Von viel größerer Wichtigkeit war allerdings die Tatsache, dass seine Pranken nun wieder frei einsetzbar waren „Jetzt bekommst du dein Blut, Grinzold“, knurrte der Wolpertinger, zog blitzschnell seine Klinge aus dem Gürtel, überhörte Löwenzahns „Ach du meine Güte“ und rammte sie dem verwundeten Laubwolf tief in die Rippen. Sofort quollen zähes Harz und ein undefinierbarer grüner Schleim aus der Wunde und benetzten den Waldboden. „Tut mir Leid, Kumpel“, murmelte Rumo, „aber ich habe einen Auftrag und du warst ihm irgendwie im Weg.“ „Na ja, Blut ist das nicht gerade…“, beschwerte sich Grinzold. Sein Besitzer verdrehte die Augen und wischte sein Schwert notdürftig am hohen Gras ab. „Ach halt die Klappe, Dämon. Ich möchte darauf Wetten, dass ich diesem armen Geschöpf nur aufgrund deines schlechten Einflusses ein Loch in den Körper gestanzt habe.“ „Hör doch auf“, winkte Grinzold ab. „Du hast schon früher am laufenden Band gemordet, niemand anderes als Smeik hat es dir beigebracht. Wie alt warst du noch mal, als du die Teufelsfelszyklopen auseinander genommen hast?“ Rumo zog es vor zu schweigen. Stattdessen wandte er sich wieder seinem eigentlichen Problem, der unüberwindbaren Mauer aus Finsterberggestein, zu. Leider hatte die sich nicht urplötzlich auf wundersame Weise aus dem Staub gemacht, wie Rumo im Stillen gehofft hatte, sondern ragte dort wenige Meter vor ihm standhaft und uneinnehmbar wie eh und je aus dem Boden. „Gut, wo waren wir…?“, begann der Wolpertinger, verstummte jedoch von der einen auf die andere Sekunde und riss Augen und Maul auf. Ein höllischer Schmerz durchfuhr ihn von den Pfoten bis in die Ohrenspitzen und zwang ihn unwillkürlich in die Knie. Er wusste, was passiert war, als ihm der stinkende Atem eines ausgehungerten Tieres um die Nase schlug. Der Laubwolf hatte ihn mit der letzten Kraft eines Sterbenden im Nacken gepackt und zerrte mit schwächer werdendem Körper an allem, was er zwischen den Zähnen hatte. Zu Rumos großem Unglück handelte es sich dabei nicht nur um Fell und Muskelgewebe, sondern auch um Atlas und Axis sowie einige der oberen Halswirbel. Er klappte zusammen wie ein Kartenhaus als sich die rasiermesserscharfen Holzzähne in die Nervenstränge seiner Wirbelsäule bohrten wie tausend glühende Nadeln. Verbindungen zwischen Körper und Hirn wurden gekappt, unzählige Synapsen zerbarsten eine nach der anderen in einem schmerzvollen Feuerwerk aus Neurotransmittern und Natriumionen, Axone wurden aus Neuronen gerissen und Myelinscheiden bröckelten wie poröses Gestein. Vor seinen Augen explodierten die Farben zu bunten Regenbögen und liefen an seinem Sichtfeld hinab, bis sie sich zu einem schmutzigen Grau gemischt hatten, ähnlich dem, das er in Atlantis gesehen hatte. Von Fern klang Löwenzahns fipsige Stimme zu ihm durch, begleitet von grellen Gelbtönen. „Rumo! Rumo! Was ist los? Was passiert hier?“ Dann schlug er mit dem Kopf auf dem trotz des Grases erstaunlich harten Boden auf und ihm wurde schwarz vor den Augen. Hinter ihm starb zuckend der Laubwolf ohne seinen Biss auch nur im Geringsten zu lockern. Es überraschte Rumo ein wenig, dass er überhaupt wieder zu sich kam. Eigentlich hatte er damit gerechnet, an Ort und Stelle zu Grunde zu gehen, heldenhaft verendet auf der einsamen Mission seinen einzigen Freund zu retten. Aber so wurde wohl vorerst nichts aus seinem geplanten Heldentod, vielmehr fühlte er sich in dieser Sekunde sofort wieder ehlend, weil er in Gedanken Smeik als seinen einzigen Freund betitelt hatte. Das war schlicht und ergreifend nicht wahr, er erfreute sich einer ganzen Handvoll guter Freunde, die er jedoch soeben degradiert hatte. Dies schien jedoch nicht gerade der richtige Augenblick, um sich über so etwas Gedanken zu machen. Sein Nacken schmerzte bestialisch und stank nach geronnenem Blut, das wohl sein eigenes war. Außerdem war ihm kalt und auch sonst nicht sehr behaglich zumute. Zeit, die bleischweren Lieder aufzuschlagen und herauszufinden, wo er war. Rumo sah sich um soweit er es von seiner liegenden Position aus konnte, ohne den Hals zu drehen. Er lag in einem kleinen, fensterlosen Raum, der wohl irgendwann einmal notdürftig aus dem Fels gehauen worden war. Eine einsame Kerze erleuchtete die Umgebung und ließ ihn vermuten, dass er sich auf einer Art Pritsche befand, die, neben einem schmucklosen Tisch, das einzige Möbelstück in der höhlenhaften Kammer darstellte. Plötzlich schoss ihm ein seltsam erfreulicher Gedanke durch den pochenden Kopf. ‚Ich bin drin. Ich bin in den Finsterbergen. Keine Ahnung, wer mich hier her gebracht hat, aber ich bin in den Finsterbergen.’ Seine Umgebung schwieg ihn an, nicht einmal das kleinste Lüftchen regte sich, es scharrten keine Insekten, noch nicht einmal die Kerzenflamme knisterte. Es war ganz so als wüssten die Materialien um ihn herum, dass er sich fühlte wie nach einer durchzechten Nacht, oder, besser gesagt, wie nach mindestens drei durchzechten Nächten mit einer ordentlichen Prügelei als besonderen Bonus. Rumo krümmte probeweise zwei Finger seiner rechten und linken Pranke. Es funktionierte überraschend flüssig und auch seine Zehen folgten wie eh und je ihren Befehlen vom Zentralnervensystem. Ob auch seine Reflexbögen weiterhin ihren Dienst taten, konnte er im Moment noch nicht sagen, doch angesichts der positiven Ergebnisse von vorher war er da recht optimistisch. Noch während der Wolpertinger überlegte, ob er es riskieren sollte, den Obenkörper anzuheben und seinen Nacken abzutasten, vernahm er von fern ein schwaches Geräusch. Es waren Schritte, die sich langsam aber sicher der kleinen Holztür gegenüber seiner Pritsche näherten, direkt davor verstummten und dem Quietschen des Türknaufes wichen, der sich kratzend in seiner Aufhängung drehte. Das und das Klicken des Schlosses bohrten sich in Rumos angeschlagenes Hirn wie ein Presslufthammer und streckten ihn einmal mehr zu Boden, raubten ihm beinahe wieder die Sinne. Er hörte, wie die das alte Holz über den Steinfußboden schabte und die Schritte auf ihn zu trippelten – es musste sich bei seinem Gast über eine sehr leichte, vielleicht kleine Daseinsform handeln, soviel konnte er ausmachen. An Wand und Decke begann ein unförmiger Schatten zu tänzeln und Rumo ließ seine Augenlieder wieder zufallen. Die Geräusche, die Bewegung, der aufkommende Luftzug, das alles war noch zu viel für ihn. Etwas – oder jemand – stand nun neben ihm, nicht unweit seines Kopfes, das konnte er spüren. Kalte Finger umfassten sein Handgelenk und fühlten seinen Puls. „Regelmäßig. Gut…“, murmelte die Kreatur mit dünner Stimme und Rumo hörte eine Feder über Pergament kratzen. „Weißt du, du hast da unten mächtig Glück gehabt.“ „Wo…“, brachte er mühsam über die trockenen Lippen. Mehr war im Augenblick nicht drin, also musste das als Frage genügen. Die Antwort kam prompt, wenn auch leicht abwesend. „In den Finsterbergen, wo sonst. Genau genommen in einem der Studentenzimmer. Mit persönlich ist es hier zu hell, aber das spielt wohl keine Rolle. Du kannst wirklich von Glück reden, dass ich noch ein paar Nervendrähte herumfliegen hatte, sonst hättest du deinen letzten Atemzug bereits getan, Junge.“ Rumos Gehirn verstaute diese Information sorgsam, konnte aber in seinem jetzigen Zustand nicht viel damit anfangen. Er öffnete die Augen wieder. Über ihn gebeugt stand ein gebrechliches Männlein mit großen, leuchtenden Glubschaugen, einem ausgefransten Oberlippenbart und vier seltsamen Auswüchsen an dem dürren, kahlen Schädel. Auf jedem der Gewächse ruhte ein Doktorenhut, deren herabhängende Quasten bei jeder Bewegung vor seinem Gesicht umher baumelten. In der einen Hand hielt er ein Klemmbrett mit eingearbeitetem Tintenfass, in der anderen eine zerfledderte Feder, die Barthaare um seinen schmalen Lippen zitterten leicht, als er leise mit sich selber sprach und sich dann und wann die eine oder andere Notiz machte, während er Rumo von oben bis unten begutachtete. „Du solltest dich bei Hektor bedanken“, säuselte die hagere Gestalt unbeirrt weiter. „Er hat dich unten aufgelesen und nach hier oben geschleppt, was bei deinem Gewicht wohl nicht allzu leicht gewesen sein dürfte.“ ‚Hektor danken’ programmierte sich automatisch in Rumos Großhirnrinde und er fing an, sich etwas besser zu fühlen. Nach und nach begannen sich die Informationselemente in seinem Kopf zu einem großen Ganzen zusammen zu setzten und zu einem Gesamtbild zusammen zu wachsen, das für den Wolpertinger nur einen Schluss zuließ. „Sie sind Nachtigaller“, keuchte er und sah den alten Kauz mit zusammengekniffenen Augen an. „Nach Ihnen habe ich gesucht.“ Nachtigaller hielt für einen Moment in seiner Untersuchung inne und sah seinen Patienten fragend an. „So? Hast du das?“ Dann schüttelte er kurz aber heftig den Kopf, was die viereckigen Hüte bedrohlich ins Schwanken brachte. „Natürlich hast du das. Sonst wärst du jetzt wohl kaum hier. Weißt du, so was wie den Zufall gibt es nämlich eigentlich gar nicht. Alles um uns herum hat einen tieferen Sinn, es ist eine Kausalfolge nach der anderen, der ewig währende Schmetterlingseffekt, wenn du so willst. Natürlich kannst du nicht ohne Grund hier sein, niemand findet ohne Grund den Weg in meine Nachtschule. Wenn wir also davon ausgehen, dass deine Ankunft hier einen universalen Zusammenhang mit den Ereignissen der vorangehenden Tage darstellt, dann…“ Rumo hob schwerfällig eine Pfote. „Bitte“, röchelte er, „mein Kopf…“ Nachtigaller wirkte einige Sekunden lang verwirrt, dann hellte sich seine Miene auf. „Oh, ach ja, natürlich, dein Gehirn ist noch ein weinig überfordert. Keine Angst, mein Junge, das gibt sich. In ein paar Tagen bist du wieder fit.“ Das war der Moment, in dem sich die Wolken in Rumos Kopf lichteten und er wieder etwas klarer denken und sehen konnte. Seine Augen fokussierten sich automatisch auf den klapprigen Eydeeten und fixierten seine Bewegungen, als dieser in seinem Hemd nach etwas wühlte und dann ein kleines Fläschchen mit einer grünlich schimmernden Flüssigkeit zutage beförderte. „Die Zeit habe ich nicht, ich…“ Er sah auf seine Brunst hinunter und erschrak. „Wo sind meine Sachen?“ „Hm?“, machte Nachtigaller und zog die Flüssigkeit auf eine für Rumos Geschmack etwas zu große Spritze. „Ach du meinst deine Jacke und deinen Dolch?“ „Schwert“, entfuhr es dem Wolpertinger automatisch, dann wurde ihm bewusst, warum es in den letzten Minuten so ungewohnt still in seinem Kopf gewesen war. Löwenzahns und Grinzolds Stimme waren verschwunden. „Ja, genau diese Sachen. Wo sind sie?“ Nachtigaller überlegte einige Sekunden, wobei er sich mit der Spritze der Feder am Kinn kratzte. „Also deine Jacke liegt im Pausenraum, denke ich. Deinen Dolch hat Hektor zum Einschmelzen gegeben, der war nun wirklich nicht mehr schön.“ Rumo fuhr hoch. Ein glühender Schmerz jagte durch seinen ganzen Körper und ließ ihn Sterne sehen, doch das war ihm egal. „Was?“, bellte er. „Dieser Kerl hat WAS mit meinem Schwert gemacht?“ „Beruhige dich, Aufregung schadet deinen neuen Nervenbahnen. Man wird dir ein neues, schöneres Schwert schmieden, einer meiner Schüler ist ein ganz hervorragender Künstler mit Hammer und Amboss, sehr versiert, sehr geschickt.“ Vor Rumos Augen begann sich die Welt erneut zu drehen. „Nein, nein, darum geht es nicht! Ich brauche genau dieses Schwert, verstehen Sie? Genau dieses!“ Er schickte sich an aufzustehen, doch Nachtigaller hielt ihn mit aller Macht zurück. „Himmel, Junge, was liegt dir an diesem alten Eisen? Ein Kämpfer sollte sich nicht nostalgisch an eine Waffe klammern wie an einen Freund. Er muss mit der Zeit gehen. Und dieses rostige Dinge war, mit Verlaub, wirklich aus der Mode.“ Rumo heulte auf wie ein verwundetes Tier – was er ja genau genommen auch war. „Sie begreifen das nicht! Dieses Schwert IST mein Freund.“ Nachtigaller bedachte ihn mit einem Blick, den man einem armen Irren schenkt, wenn man ihn um sein Schicksal bemitleidet. Dann rammte er ihm ohne Vorwarnung die Spritze in den Oberarm. Rumo widerstand dem Impuls, dem hageren Männlein einen Schlag mit seiner Pranke zu versetzten und konzentrierte sich satt dessen auf einen pochenden Punkt zwischen seinen Augen. „Schon gut, mein Lieber, schon gut“, sagte Nachtigaller in einem Tonfall, der wohl aufmunternd gemeint war, aber genau das Gegenteil bewirkte. „Du bist noch ein wenig benommen. Sobald diese Medizin wirkt – übrigens ein Heilserum aus gralsunder Knotenknöterich und Midgardlilie, hilft auch gegen den einen oder anderen Furunkel an den Füßen – wirst du dich sofort besser fühlen. Dann kannst du gleich anfangen, mit deinem neuen, verbesserten Freund zu trainieren.“ Rumo ließ sich zurück auf die Pritsche fallen. Wie viel schlimmer konnte seine Situation jetzt noch werden? Einer seiner Freunde verlor gerade seine Existenz, zwei andere ihr Leben – oder das, was davon noch übrig war. Er fühlte sich müde und kraftlos, ausgezehrt und verbraucht. In Hel war es etwas anderes gewesen, da hatte er eingreifen können, hatte kämpfen können. Jetzt lag er hier und konnte noch nicht einmal gerade stehen, während um ihn herum seine Welt in die Brüche ging. Was würde passieren, wenn es ihm nicht gelang, die Frist einzuhalten? Hoffnungslosigkeit machte sich in ihm breit. Dann begann das ekelig-grüne Mittel in seiner Blutbahn zu wirken und er verfiel in einen unruhigen Schlaf. Kapitel 5: Immernacht --------------------- Rumo torkelte durch die endlosen finsteren Gänge der Nachtschule wie ein Betrunkener auf der Suche nach der nächsten Bar. Er hatte unerträgliche schmerzen, ihm war schlecht vor Hunger und vor seinem inneren Auge herrschte immer noch ein heilloses Farb-Durcheinander. Doch was am allerschlimmsten war, war der Durst. Seine Kehle brannte wie Feuer und seine Zunge hatte längst das Stadium Sandpapier erreicht, in ihm drin schienen schlimmere hydrogene Zustände zu herrschen, als in der Süßen Wüste nach der elfmonatigen Trockenzeit. Er wusste nicht, wie lange er nun schon so herumirrte – es mochten Stunden gewesen sein oder auch nur Minuten – doch bis jetzt war er noch keiner einzigen lebendigen Seele begegnet, abgesehen von ein paar Käfern, die ihm nicht weiter halfen. Das gesamte Tunnelsystem schien völlig ausgestorben, ganz so, als sei alles, was er vor wenigen Stunden erlebt hatte, nichts weiter als Einbildung gewesen. Rumo hoffte, dass es tatsächlich nur einige Stunden waren, die seit seiner Begegnung mit dem Laubwolf vergangen waren, nicht auszudenken, was passieren würde, wenn es Tage oder sogar Wochen waren. Die Ungewissheit war fast ebenso quälend wie der Durst und gleichermaßen unabänderlich, wenn er nicht bald einem Wesen mit Sprachbegabung begegnete. Und dann war da noch die Sache mit Löwenzahn und Grinzold, die ihm wie ein Stein in Findlingsgröße auf dem Herzen lag. Schon wieder völlig erschöpft ließ Rumo sich auf den Boden hinab gleiten, schlug die Hände gegeneinander, um den Schmutz abzuschütteln und tastete sich dann vorsichtig über den Nacken. Sein Fell war blutverklebt, ließ sich jedoch weit genug auseinander scheiteln um den Wolpertinger die drei kurzen Metalldrähte ertasten zu lassen, die aus seiner Haut herausragten. Das mussten dann wohl die Nervendrähte sein, von denen Nachtigaller gesprochen hatte, mutmaßte er und zog versuchsweise an einem der Stummel. Fehler. Schmerzen, die er so in seinem Leben sicher noch nie gespürte hatte, schossen seine Wirbelsäule hinab bis in die Spitzen seiner Zehen, er heulte auf wie ein gepeinigter Straßenköter und rutschte seitlich die Wand hinab bis er zuckend am Boden liegen blieb, das Gesicht eine gepeinigte Fratze. So entging ihm, wie neben ihm eine Tür im Fels erschien, sich lautlos öffnete und ein jugendlicher weißer Werwolf in den Tunnelgang trat. Das erschreckende und doch zugleich atemberaubend schöne Wesen blieb verwundert neben dem sich auf dem rauen Stein krümmenden Wolpertinger stehen, sah auf ihn hinab und kaute dabei an einer Ölsardine, die er aus einer kleinen Dose gefischt hatte. „Was tust du hier?“, fragte er, nachdem er seine zweckmäßige Nahrung herunter geschluckt hatte. „Der Professor hat gesagt du sollst auf deinem Zimmer bleiben.“ Rumo sah mit schmerzverzerrtem Blick auf, schaffte es jedoch nicht, sich zu erheben. „Das ist mir völlig egal“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich habe Schmerzen, Hunger und Durst. Und außerdem will ich endlich meine Sachen wieder haben.“ Der Werwolf verstaute seine Sardinenbüchse in einer Umhängetasche und beugte sich zu dem Wolpertinger herunter, um ihm aufzuhelfen. „Oh man“, schnaufte er, „du bist wohl einer von der Kopf-duch-die-Wand-Sorte, wie? Das habe ich mir schon gedacht, als ich dich da unten mit dem Laubwolf im Nacken aufgelesen habe.“ Rumo ließ zu, dass der Weiße sich seinen Arm um den Hals legte und ihn unter einiger Anstrengung nach oben hievte, wie man normalerweise einen angeheiterten Freund stützt. „Du bist Hektor“, nuschelte er und dann, wie mechanisch: „Danke.“ „Falls du damit meinst, dass ich dich hier her gebracht habe – schon okay, das ist selbstverständlich. Weißt du, du hast wirklich Glück gehabt.“ Rumo nickte kraftlos, während Hektor ihn durch den Gang schleifte. „Das sagte man mir bereits.“ Der Werwolf lachte freundlich. „Das kann man dir gar nicht oft genug sagen. Weißt du, ich bin nämlich der Einzige bis heute bekannte Zamonier, der an den Außenwänden der Finsterberge hinauf und hinab laufen kann, wie auf einer Leiter, nicht mal Insekten können das. Frag mich nicht, warum das so ist. Ich habe es selbst nur durch Zufall festgestellt, als ich vor einiger Zeit aus einem der Labyrinthschächte gespült wurde. Ich habe mich einfach am Felsen festgekrallt und es hat funktioniert. Nachtigaller fand das dermaßen faszinierend, dass er mich seit dem studiert. Deswegen bin ich hier.“ „Aha“, machte Rumo, den das nicht wirklich interessierte. Er lebte, alles Weitere war ihm egal. Nach wenigen Minuten stellte der Wolpertinger verwundert fest, dass sie sich wieder in dem kleinen Raum befanden, in dem er aufgewacht war. Dabei waren sie seines Wissens nach nicht ein einziges Mal abgebogen. Wie konnte das sein? Er selbst war doch um so endlos viele Ecken und Abzweigungen gestrichen, dass er sie nicht hatte zählen können. „Es dauert eine Weile, bis man sich hier auskennt“, erklärte Hektor, als erahne er bereits, was Rumo auf den Lippen lag, und bugsierte seine lebendige Fracht behutsam auf die Pritsche. „Bei Kerzenschein sieht ein Tunnel aus wie der andere.“ Er zog die Sardinenbüchse wieder hervor und hielt sie Rumo hin. „Hier, willst du?“ Rumo langte, ausgehungert wie er war, gierig zu, bereute es aber sofort wieder, da der ölige Fisch seinen Durst nur noch verschlimmerte, ihn von absolut unerträglich hin zur Todesqual steigerte. „Wasser!“, stöhnte er. „Ich brauche dringend Wasser!“ Hektor ließ seinerseits einen Fisch seinen Schlund hinunter gleiten. „Kein Problem. Leck einfach die Wände ab, das ist frischen Quellwasser, was da hinunter läuft. Vollkommen sauber und nebenbei angereichert mit allen wichtigen Mineralien.“ Rumo machte sich nicht die Mühe irgendetwas von dem Gesagten infrage zu stellen, sondern stürzte sich ohne Umwege auf die nächstbeste Höhlenwand, um gierig jeden Tropfen Flüssigkeit aus den kleinen natürlichen Spalten und Rillen zu saugen. Es schmeckte wunderbar, geradezu fantastisch, frisch und kühl als käme es direkt aus einem der unzähligen Seen in Vielwasser. Jeder Schluck war wie ein Segen, wie Regen auf ausgedörrtem Feld, wie ein Monsun nach Monaten der Entbehrung, und rann seine Kehle hinunter wie flüssiges Leben. Nachdem Rumo sich wieder einigermaßen hydriert fühlte ließ er sich auf sein karges Lager fallen, froh darüber, dass die Schmerzen mittlerweile etwas nachgelassen hatten. Nachdem er eine Weile vor sich hin gestarrt hatte, traute er sich schließlich die Frage zu stellen, mit der alles zu stehen und fallen schien. „Hör mal. Ich muss wissen, wie lange ich schon hier bin, kannst du mir das sagen?“ Hektor brauchte nicht zu überlegen. „Etwa zwanzig Stunden, würde ich sagen. Es war Abend als ich dich aufgelesen habe, jetzt haben wir Nachmittag.“ Unendliche Erleichterung breitete sich in Rumo aus, er atmete einmal tief durch und lehnte sich zurück. „Den Göttern sei Dank dafür. Jetzt muss ich nur noch mit Nachtigaller sprechen. Und ich brauche meine Sachen wieder.“ Mit der Erinnerung an sein Hab und Gut kamen die Erinnerungen an Löwenzahn und Grinzold. Rumos gute Laune verschwand so schnell wie sie gekommen war, wich der ernüchternden Realität, versetzte ihm einen schmerzhaften Schlag vor die Brust. Er ließ den Kopf hängen. Hektor bekam von der Stimmungsachterbahn seines Gegenübers wenig mit. „Ach ja, deine Sachen.“ Er wühlte in seiner großen Tasche und zog Rumos vertraute Lederjacke hervor. Sie war offenbar gewaschen worden, der Kunstpelzkragen im Nackenbereich war unversehrt und ungewohnt weich, die ganze Jacke glänzte und roch angenehm frisch. Der Wolpertinger fing sie beinahe automatisch, als sie ihm zugeworfen wurde, und schlüpfte hinein. Es schmerzte, als er seinen Schultergürtel überdehnte, ein seltsam ziehendes Gefühl, dass sich bis in die Fingerspitzen ausbreitete und auch nach einigen Sekunden nicht weichen wollte. Einer plötzlichen Eingebung folgend fasst sich Rumo an die Brusttasche, fingerte am Verschluss herum und langte hinein. Sie war, wie er befürchtet hatte, leer. „Suchst du hiernach?“ Er sah auf und erblickte Hektor, der ihm sein für ihn so kostbares Fläschchen mit der Goldrosenessenz entgegen hielt. „Ich hatte Angst, dass es kaputt geht, also habe ich es heraus genommen“, sagte der Werwolf vergnügt und legte die Phiole in Rumos zitternde Pfote. „Ist es wertvoll?“ Der Wolpertinger sah der Flüssigkeit einige Zeit beim Herumschwappen in ihrem Glasgefängnis zu, dann verstaute er sie wieder in seiner Tasche. „Vielleicht. Für mich auf jeden Fall. Aber normalerweise eher nicht. Nicht so.“ Hektor legte den Kopf schief. „Ist wohl etwas kompliziert, was?“ „Ja.“ „Dann will ich’s gar nicht näher wissen“, lachte der Weiße und hob abwehrend die Hände. „Der Unterricht hier ist bei weitem kompliziert genug, da bin ich froh, wenn ich in meiner Freizeit nicht auch noch nachdenken muss.“ Bevor Rumo etwas erwidern konnte, klopfte es an der Tür und Hektor wirbelte herum. Herein trat ein winziger Wicht, nicht größer als ein durchschnittliches Taschenbuch und dürr wie ein Bündel Reisig. Seine Haut war aschfahl und ledrig und auch sonst sah das kleine Etwas nicht sonderlich gesund aus, wobei Rumo nicht hätte sagen können, ob es sich dabei um ein gattungsspezifisches Merkmal oder einfach nur um eine Grippe handelte, er hatte eine solche Kreatur noch nie zuvor gesehen. „Er kann nun zum Professor“, quiekte der Zwerg und tänzelte nervös von einem Bein aufs andere. Der Werwolf war mehr als zehnmal so groß wie er und nicht nur für kleine Lebewesen eine imposante Erscheinung, mit seinem schneeweißen Fell und den schwarzen Knopfaugen hatte er gewisse Ähnlichkeiten mit einem aufrecht gehenden Eisbären. „Danke, Sim, er macht sich sofort auf den Weg.“ Hektor nickte seinem kleinwüchsigen Mitschüler zu und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, doch Sim entspannte sich nicht im Geringsten. Hektisch verließ er das gefährliche Zimmer mit den zwei riesenhaften Hundeartigen und verschwand im dunklen Tunnel. Der Werwolf seufzte. „Ich kann ihn einfach nicht dazu bringen mich zu mögen, so sehr ich mich auch anstrenge. Dabei bin ich – entgegen meiner grauen Verwandten, wie ich zu meiner Schande eingestehen muss – völlig harmlos.“ Er zuckte mit den Schultern. „Naja, du hast ihn gehört. Nachtigaller wartet auf dich. Du wolltest ihn doch so unbedingt sprechen. Komm, ich bring dich hin.“ Hektor führte Rumo durch ein schier endloses Gewirr von finsteren, nur spärlich durch Kerzen ausgeleuchteten Tunneln, die sich glichen wie ein Ei dem anderen, sodass der Wolpertinger schon nach wenigen Metern jegliche Orientierung verloren hatte. Zwar klappte das selbstständige Gehen inzwischen wieder etwas besser und auch die Schmerzen waren mittlerweile das, was man erträglich nennen würde, dennoch fühlte er sich ein wenig an seine Welpenzeit erinnert, in der er ungeschickt und ahnungslos durch die Speisekammer auf den Teufelsfelsen getorkelt war. Hier herrschten ungefähr die gleichen klimatischen Bedingungen, nur dass das Wasser, das von den Wänden lief, süß, nicht salzig war. Nach einer Weile blieben sie vor einer unscheinbaren Tür stehen, an die jemand ein Schild mit der krakeligen Aufschrift „Raus!“ gepinnt hatte. „Sehr einladend“, bemerkte Rumo sarkastisch und fixierte die schmale Tür mit argwöhnischem Blick. „Da drin ist Nachtigaller?“ „Ist er“, bestätigte Hektor mit einem Nicken. „Du darfst ihm das mit dem Schild nicht übel nehmen, er ist nicht gerade ein Meister des Taktgefühls aber er meint es nicht so. Na los, geh rein.“ Rumo tat wie ihm geheißen, wenn auch zögerlich. Er drückte die Messingklinge hinunter und öffnete die Tür einen Spalt breit, um hineinspähen zu können und dann festzustellen, dass er rein gar nichts sah. In dem Zimmer herrschte eine vollkommene Dunkelheit, wie er sie noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte, eine Dunkelheit, die alles um sich herum zu verschlingen schien, einzusaugen, wie ein Strudel, um jedes Quäntchen Licht im unmittelbaren Umkreis ein für alle Mal auszulöschen. Rumo erschauderte. Dies war keine freundliche Dunkelheit, sie schien zu atmen und zu flüstern, ihn auszulachen und anzugaffen, doch er traute sich auch nicht, die Tür wieder zu schließen. Wie eine Statue seiner selbst stand er regungslos zwischen Türrahmen und Gang, von der Dunkelheit abgestoßen und angezogen zugleich und mit dem Wissen im Hinterkopf, unbedingt mit Nachtigaller sprechen zu müssen, der sich angeblich irgendwo in dieser Finsternis verbarg. „Professor?“, fragte Rumo vorsichtig und meinte sogleich ein leichtes Knacken gehört zu haben, dass ihm von schräg rechts antwortete. Er wandte unwillkürlich seinen Kopf in diese Richtung, doch natürlich war auch dort nichts zu erkennen. „Professor, sind Sie hier drin?“ Etwas packte ihn am Handgelenk, zog ihn in die Kammer und schlug die Tür hinter ihm zu, sodass die Dunkelheit sich vervollkommnen konnte. Rumo widerstand dem Drang laut aufzuschreien, es hätte albern und kindisch gewirkt, immerhin war er ein ausgewachsener Wolpertinger, der sich eigentlich nicht in der Dunkelheit fürchten sollte. Die Hand führte ihn ein Stück durch den Raum und dann auf etwas zu, das wohl ein Stuhl sein musste, sich aber auf jeden Fall zum sitzen eignete, wofür er recht dankbar war. Rumo hatte festgestellt, dass es keinen Unterschied machte, ob er die Augen geöffnet oder geschlossen hielt, diese Finsternis roch sogar schwarz, und nach einer Weile begann er sich tatsächlich zu fragen, ob er auch wirklich, wie er annahm, mit offenen Augen herumsaß. Er blinzelte ein paar Mal, was ein komisches Gefühl war, weil es absolut nichts am optischen Eindruck des Raumes änderte. „Darf ich vorstellen“, erklang da mit einem Mal Nachtigallers Stimme aus etwa zwei bis drei Metern Entfernung, „meine Immernacht. Ist sie nicht schön?“ Rumo hatte ‚schön’ bislang immer mit irgendeiner Art Sinneseindruck verbunden – Farben konnten schön sein, Musik oder Gerüche – aber hier schienen ihm all seine Sinne wenig, geradezu überhaupt nichts zu nützen, daher wusste er nicht so recht, was er auf diese Frage erwidern sollte. Also beschloss er sie einfach zu übergehen. „Ich brauche Ihre Hilfe, Professor“, platzte es aus ihm heraus, ohne dass er weiter darüber nachgedacht hatte. „Nur deshalb bin ich hier.“ „Du bist ein ziemlich unhöfliches wildes Tier“, stellte Nachtigaller seelenruhig fest. „Ich hatte dir eine Frage gestellt.“ Rumo verdrehte die Augen, plötzlich recht froh über die Dunkelheit. „Hören Sie, ich habe nicht viel Zeit. Und zu Ihrer Kammer kann ich wenig sagen. Ich sehe nichts.“ „FALSCH!“, donnerte Nachtigaller und der Wolpertinger zuckte überrascht zusammen. Die Tonintensität, die dieser kleine, hagere Klangkörper erzeugen konnte, wenn er denn wollte, war enorm. Der Professor hatte bis jetzt in seine Gegenwart nur mit leiser, dünner Stimme gesprochen – dass das nicht die Regel war, hatte er damit eindrucksvoll bewiesen. „Du siehst nicht einfach ‚nichts’“, fuhr ihn Nachtigaller an. „Nichts ist nichts, gar nichts, wie es der Name ja schon sagt. Ein fehlen von allem, komplette Abwesenheit jeglicher Materie. Nichts eben. Hier drin, in der wunderschönen Immernacht, ist so viel mehr als nichts. Man könnte sogar sagen, dass hier alles ist.“ Rumo stöhnte. „Okay, gut, dann ist hier drin also alles. Meinetwegen. Schönes Alles, wirklich, aber können wir jetzt bitte zum Punkt kommen? Ich habe immer noch Kopfschmerzen.“ „Können wir nicht!“, blaffte der Eydeet. „Wie können wir zum Punkt kommen, wenn du nicht einmal zu wissen scheinst, was genau ein Punkt überhaupt ist!“ „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß…“ „RUHE! Ich rede jetzt!“ Seine Stimme wurde schlagartig wieder leise. „Du bist hier, weil du von mir wissen willst, ob ich dir etwas über die Prima Zateria, die Unsterblichkeit, den Schlüssel zum Ewigen Leben sagen kann, nicht war? Dein Freund, Volzotan Smeik, ist in großen Schwierigkeiten und du willst ihn um jeden Preis helfen, das ist sehr lobenswert. Du hast dich nicht verändert.“ Rumo sah ihn fragend an, dann fiel ihm auf, dass Nachtigaller ihn ja nicht sehen konnte und er formulierte seine Verwunderung. „Verändert?“ Wenige Sekunden später begriff er. „Der Jahrmarkt. Das Schubladenorakel. Sie waren der Typ von damals, Sie haben mir Ralas Tod gezeigt.“ Er stutzte. „Aber in dem dunklen Zelt haben Ihre Augen geleuchtet.“ „Ich trage eine Spezialbrille, aber das tut nichts zur Sache. Ja, ich bin der Eydeet, dem du damals auf dem Jahrmarkt vor Wolperting begegnet bist. Leider wurde mein Schubladenorakel nicht zu dem Renner, den ich mir erhofft hatte, aber was soll man machen. Wichtiger ist: Ich war schon damals beeindruckt von deiner Zielstrebigkeit. Du bist zwar etwas beschränkt, aber dann wiederum sehr mutig und ein guter Kämpfer. Zamonien braucht Leute wie dich.“ Rumo überlegte kurz, ob er beleidigt sein sollte, entschied sich dann aber für zurückhaltenden Stolz. „Danke“, erwiderte er höflich, wenn auch nicht ganz ehrlich. „Aber was ist jetzt mit meiner Frage? Wenn Sie meine Gedanken so deutlich lesen können, dann wissen Sie ja sicherlich auch, wie es um meinen Zeitplan steht.“ Nachtigaller machte ein knackendes Geräusch, das ein wenig an einen splitternden Schienbeinknochen erinnerte. „Durchaus, durchaus. Dennoch will ich nicht mit der Tür ins Haus fallen. Du hast dir da ein heikles Thema ausgesucht, Junge.“ Der Wolpertinger griff sofort an seine Brusttasche, doch Nachtigaller lachte nur heiser. „Lass deine Goldrosenessenz stecken. Es stimmt zwar, dass ich das Gegenstück zu deinem Exemplar besitze, aber im Grunde kann ich nichts damit anfangen. Ich bin kein Alchimist. Mein Metier sind eher die … weniger unkonkreten Wissenschaften, wenn du verstehst. Außerdem ist meine Antwort wohl kaum diese kostbare Flüssigkeit wert.“ Rumo hob argwöhnisch eine Augenbraue. Was hatte das zu bedeuten? Ermutigend klang es auf jeden Fall nicht, wenn sogar schon der wohl intelligenteste aller Eydeeten seine Antwort als wertlos bezeichnete. Vielleicht war er bei dem verschrobenen Professor seiner Lösung doch nicht so nahe, wie er gedacht hatte, vielleicht war seine ganze Reise ein einziger, riesiger Reinfall und er würde mit leeren Händen zum Rumotron zurückkehren. „Das heißt…“, fragte er vorsichtig. „Das heißt – fürchte ich“, sagte Nachtigaller, „dass ich dir die Formel auch nicht sagen kann, aus dem einfachen Grund, dass ich sie nicht kenne. Ich erwähnte ja bereits, dass die Alchemie nun so überhaupt nicht mein Gebiet ist.“ Rumos schlimmste Befürchtung schien sich zu bewahrheiten. Er ließ den Kopf in die Pfoten fallen und seufzte, rieb sich dann über das Stummelgeweih und den noch immer schmerzenden Nacken, wobei er sich hütete die kurzen Drahtenden zu berühren, die pieksend aus seinem Fell heraus standen. Nachtigaller legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Kein Grund zu verzweifeln, mein Junge. Ich habe lediglich gesagt, dass ich die Formel nicht kenne, nicht, dass ich dir nicht eventuell doch helfen kann.“ Hoffnung bahnte sich ihren Weg in Rumos resignierendes Bewusstsein und ließ ihn seinen Kopf wieder heben. Nachtigaller fuhr fort, nachdem er sich wieder zurück gelehnt und die Schulter des Wolpertingers losgelassen hatte. „Ich würde dir gerne jemanden empfehlen, jemanden, der sich mit den Mythen und Legenden Zamoniens auskennt wie kein Zweiter. Er ist zwar kein Wissenschaftler und auch kein Alchimist und er wird die Prima Zateria selbst auch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht kennen, dennoch – bei einem so sagenumwobenen Thema ist er ohne Frage eine Kapazität.“ Obgleich dieses Angebot, verglichen mit allem, was Rumo sich sonst hätte ausmalen können, vergleichsweise gut klang, blieb er skeptisch. Noch war es zu früh, um sich über eine fadenscheinige Offerierung eines etwas verwirrten Professors, der die Dunkelheit wie ein Haustier hielt, zu freuen. Also fragte er die einzige für ihn entscheidende Frage. „Und wie lange wird es dauern, diese ominöse Koryphäe zu erreichen? Meine Zeit ist, nach wie vor, knapp bemessen.“ „Von hier aus?“ Der Professor überlegte einige Sekunden und wieder war das grauenhafte Knochenknacken zu hören. „Etwa vierundzwanzig, maximal dreißig Stunden, wenn du dich etwas beeilst, würde ich sagen. Wolpertinger sind gute Läufer, das zumindest sagt man sich…“ „Sind wir“, bestätigte Rumo. „Vierundzwanzig Stunden? Das wäre sogar machbar.“ „Nicht wahr?“, gluckste Nachtigaller, offenbar sehr zufrieden mit seiner eigenen Idee, und setzte dann seine Erklärungen fort „Der Mann zu dem ich dich schicken möchte ist ein Lindwurm namens Hildegunst von Mythenmetz. Du hast sicher bereits von ihm gehört.“ Der Wolpertinger schüttelte den Kopf und verneinte, er wusste zwar aus Smeiks Erzählungen auf den Teufelsfelsen, was ein Lindwurm war, aber von diesem speziellen Exemplar hatte sein Ziehvater nichts erwähnt. Und da er sich nie wirklich für Literatur interessiert hatte, verwunderte ihn seine Unkenntnis auch nicht sonderlich. Bei Nachtigaller war das anders, das wusste Rumo ohne ihn gesehen zu haben. „Du…“, begann er. „Du hast nicht…äh…“ Der Eydeet hustete trocken, dann hatte er sich wieder im Griff. „Wie auch immer. Du wirst Mythenmetz aufsuchen und mit ihm sprechen, ihn bitten, dir zu helfen, auch wenn das nicht einfach werden wird. Lindwürmer sind nicht gerade bekannt für ihre Hilfsbereitschaft, glaub mir. Folglich musst du ihn wohl überreden.“ Rumo sprang auf und warf dabei im Überschwang sein dem Klang nach hölzernes Sitzmöbel um. „Kein Problem, das kriege ich hin. Ich mache mich sofort auf den Weg!“ Wie auch schon zu Anfang packte ihn Nachtigallers kalte, knochige Hand am Arm. „Nicht so hastig, junger Freund. Ich war noch nicht fertig. Es gibt da etwas, das du unbedingt bedenken musst, wenn du mit Mythenmetz sprichst.“ „Was?“, drängelte Rumo. „Sagen Sie es mir!“ „Du darfst auf keinen Fall erwähnen, dass du im Auftrag Volzotan Smeiks unterwegs bist. Wenn er das erfahren sollte, hast du keine Chance, das ist so sicher wie die Lüge eines Stollentrolls. Hast du das verstanden?“ Der Wolpertinger wandte sich wieder der Stimme des Professors zu. Der Grund für diese seltsame Einschränkung interessierte ihn herzlich wenig, vielmehr erschien etwas anderes von Bedeutung. „Aber was soll ich ihm sonst sagen, warum ich die Formel brauche?“ Nachtigaller schnipste mit den Fingern. „Genau da liegt dein Problem. Dennoch denke ich, dass ich dir auch hier weiterhelfen kann.“ „Wie?“ „Ich gebe dir einen meiner besten Schüler mit auf den Weg, er soll für dich mit Mythenmetz sprechen und ihm sagen, er käme in meinem Auftrag. Mein Name sollte dem alten Lindwurm durchaus ein Begriff sein, vielleicht haben wir sogar Glück und er respektiert mich. Darauf wetten würde ich allerdings nicht, bei diesen arroganten Echsen…“ Rumo verschränkte die Arme vor der Brust und trommelte ungeduldig mit den Fingern. „Meinetwegen. Wen soll ich mitschleppen? Hektor?“ Der Eydeet lachte. „Nein, nein, Hektor ist zwar ein netter Bursche, aber, ebenso wie du, etwas denkfaul. Nein, ich dachte viel mehr an einen ehemaligen Schüler meiner Wenigkeit. Er ist ein Buntbär.“ „Oh nein, bitte nicht einer dieser schrecklichen Optimisten“, stöhnte Rumo und massierte sich die Stirn. „Das halte ich nicht aus.“ „Keine Angst, er ist keiner von dieser Sorte“, beschwichtigte ihn Nachtigaller und begann an einer Apparatur in einer Ecke des Zimmers herumzufuhrwerken, die daraufhin seltsame, zischende Geräusche von sich gab, das zumindest wagte der Wolpertinger zu vermuten. „Er ist viel herumgekommen und lebt jetzt etwas abseits der anderen Siedlungen an der Bärenbucht. Ich werde ihm sofort nach deinem Aufbrechen eine Nachricht zukommen lassen, dass er dich am Rande der Süßen Wüste treffen soll. Er wird über alles informiert sein, wenn du ihm begegnest, also brauchst du dir keine Gedanken über mögliche Erklärungsversuche zu machen.“ Rumo bemerkte, dass es um ihn herum langsam aber sicher heller wurde, nach einer Weile konnte er sogar die Umrisse des umgeworfenen Stuhls und die Silhouette Nachtigallers erkennen. Der Raum hatte durch die absolute Dunkelheit endlos gewirkt, jetzt entpuppte er sich als kleines Kämmerchen mit zwei hölzernen Schemeln und einer abstrakt anmutenden Maschine in einer der Ecken, die die Finsternis aufzusaugen schien, wie ein schwarzes Loch. Der Professor zog sich eine Augenbinde von den Augen und tauchte sein Gegenüber in das diffuse Licht seiner fluoreszierenden Lederhaut, sodass dieser geblendet die Hand vors Gesicht hob. „Ich fürchte, mehr kann ich nicht für dich tun, Junge.“ Rumo blinzelte. „Kein Problem, Sie haben mir bereits sehr geholfen“, betonte er gesittet. „Immerhin haben Sie mir unter anderem das Leben gerettet.“ Er wandte sich um und legte eine Pranke auf den Türknauf, der sich fremdartig und kalt anfühlte. „Dann mache ich mich jetzt auf den Weg, wenn Sie erlauben. Die Zeit sitzt mir doch etwas sehr im Nacken. Und der ist, wie Sie ja wissen, noch nicht wieder ganz schmerzfrei.“ Es war ein platter Scherz und Rumo und der Professor lachten einander das milde Lachen der Höflichkeit entgegen bevor der Wolpertinger die kleine Holztür öffnete und auf den Gang hinaus trat. „Lass dich nicht aufhalten“, ermunterte ihn Nachtigaller und schickte sich an ebenfalls den Raum zu verlassen. Dann jedoch verharrte er inmitten eines Schrittes und machte nach kurzem Überlegen auf dem Absatz kehrt. „Jetzt hätte ich doch fast etwas vergessen“, murmelte er dabei wie zu sich selbst und begann hinter seiner kuriosen Apparatur herumzuwühlen. „Das ist übrigens ein Nachtigallator, falls es dich interessiert. Er generiert Dunkelheit, wenn du so willst. Meine Erfindung, natürlich.“ „Natürlich“, echote Rumo. Es rumpelte und krachte kurz, dann zog Nachtigaller eine Umhängetasche ähnlich der, die Hektor bei sich getragen hatte, scheinbar aus dem Nichts hervor und warf sie Rumo schwungvoll zu. Sie klapperte und klimperte als der Wolpertinger sie geschickt und mühelos aus der Luft pflückte. „Ein paar Dosen Ölsardinen und etwas Wasser, zweckmäßig, nahrhaft und – was am wichtigsten ist – platz sparend“, erklärte Nachtigaller. „Du wirst es brauchen, wenn du auf deiner Reise keine Zeit in Gasthäusern verplempern willst. Und dann habe ich noch das hier…“ Es sirrte und Rumo griff reflexartig zu als das im Kerzenlicht metallisch Schimmernde Objekt auf ihn zuflog. Er wusste, was es war, als sich seine Hand um das vertraute, leicht abgegriffene Leder eines Schwertgriffes legte. Kein Zweifel. Löwenzahn und Grinzold. Sein Schwert. Seine Freunde. Zwar mit neuem, imposanten Schliff, aber unverkennbar immer noch die gleichen, das gleiche. „Rumo, Rumo, Rumo, Rumo“, kreischte Löwenzahn mit weinerlicher Stimme, als er die Hirnströme seines Besitzers spürte. „Wir hatten schon befürchtet du seiest tot! Ehrlich! Nachdem der Laubwolf dich so mies erwischt hat. Das war echt schlimm, war das. Nicht war? Sag doch auch mal was, Dämon!“ Grinzold ließ sich zu einem „Tach Kumpel“, herab, was für seine Verhältnisse schon ein wahrer Gefühlausbruch war. Rumo starrte erst sein Schwert und dann Nachtigaller an. „ Mein… Ein neuer Schliff…? Aber Sie haben doch gesagt…?“ Der Professor lächelte. „Dass wir es einschmelzen? Ja, das hatten wir auch vor. Aber mal ehrlich: Wie soll man bitte ein Schwert einschmelzen, das bei jeder Berührung wie am Spieß schreit?“ Kapitel 6: Blaubär ------------------ Rumo fühlte sich ein bisschen wie der Held einer altzamoischen Abenteuer-Saga, einer handfesten Tragöde mit eindeutig archaischem Odyssee-Charakter, der durch die Weltgeschichte geschickt wurde, nur um festzustellen, dass er am Ende seiner Reise nicht viel weiter war als zu Beginn. Irgendeine absurde Laune des Schicksals schien sich daran zu amüsieren, ihn wie einen Narren über die Landkarte hetzten zu sehen, wobei es sich wahlweise um Obenwelt oder auch um Untenwelt zu handeln schien, Hauptsache war, dass er konstant und ohne Pause einem möglichst aberwitzigem Ziel hinterher jagte. Er hatte inzwischen genug Abenteuer erlebt, um eine ganze Generation junger, vorwitziger Zamonier mit einer aufregenden Lebensgeschichte auszustatten, die dieses ihren Angebeteten am Lagerfeuer mit einer Gruselkerze unter dem Kopf erzählten, um sich dann bewundern zu lassen. Für seinen Geschmack hätten es allerdings ruhig ein paar Eskapaden weniger sein dürfen. Zum einen brauchte er die Frau seiner Träume nicht mehr mit Wagemut zu beeindrucken – das hatte er hinter sich – und zum anderen war er langsam aber sicher die ständigen Verletzungen und Schmerzen Leid. Ihnen verdankte er, dass ihm nun kupferfarbene Drahtstummel aus dem Nacken ragten, die ein wenig an alchimistische Anschlüsse erinnerten, ganz so als sei er ein entflohenes Experiment. Während er von Hektor durch das Stollenlabyrinth, die eigentlich letzte Prüfung der Nachtschule geführt wurde, fuhr sich Rumo zum wiederholten Male vorsichtig über die metallenen Fremdkörper. „Vielleicht sollte ich mich bei den Kupfernen Kerlen bewerben“, witzelte er in allerbester Galgenhumor-Manier. „Ich habe gehört, die suchen noch einen Anführer.“ Hektor sah ihn fragend von der Seite an. „Kupferne Kerle? Wer soll das denn sein?“ „Ach, nicht so wichtig“, antwortete Rumo, der keine Lust hatte in große Erklärungen zu verfallen. Er war kein guter Redner und verspürte auch nicht das geringste Bedürfnis einer zu werden. „Sag mir lieber, wie lange wir noch in diesen Gängen herumrennen müssen. Diese bescheuerten Tunnel sehen alle gleich aus, ich werde noch irre im Kopf.“ Sein Begleiter lachte und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulte. „Sei froh, dass wir noch keinem Stollentroll begegnet sind. Die können dich wirklich irre machen.“ Der Wolpertinger musste gegen seinen Willen grinsen. „Das kommt mit bekannt vor.“ „Was?“, protestierte Löwenzahn in seinen Gedanken. „Willst du damit irgendetwas sagen?“ Rumo hatte keine Zeit sich um seinen nörgelnden Freund zu kümmern. Stattdessen blieb er irritiert stehen und hob die Schnauze, um Witterung aufzunehmen. Soeben hatte er – zum ersten Mal seit vielen Stunden – wieder einen Luftzug in seinem Fell spüren können und merkte, wie Euphorie in ihm hochstieg. Vielleicht war unterwegs sein alles in allem doch gar kein so schlimmer Zustand. „Hey, Werwolf“, sagte er, plötzlich wieder voller Abenteuerlust, „hast du das gefühlt? Diesen Luftzug meine ich! Wir müssen nahe am Ausgang sein! Lass uns einen Zahn zulegen, ja?“ Er packte Hektor am Arm und wollte ihn zu einer schnelleren Gangart bewegen, doch dieser zog seine Pfote mit sanfter Gewalt zurück. „Immer langsam mit den jungen Wolpertingern, Rumo – das war doch dein Name, oder? Dass du hier einen Lufthauch spürst, bedeutet noch lange nicht, dass ein Tunnelende in der Nähe ist. Der Wind weht hier auch innerhalb der Stollen, er ist sozusagen gefangen. Wenn er einmal drin ist, findet auch er nur selten wieder heraus.“ Rumo beschlich ein unguter Verdacht. „Sag mal“, fragte er seinen Begleiter misstrauisch von der Seite, „du weißt aber schon, wie wir hier herauskommen, oder?“ Hektor lachte. „Wie hätte ich dich sonst unten im Wald auflesen können?“ Das war ein gutes Argument und es beruhigte ihn ein wenig, wenn auch nicht vollständig, das würde erst der Fall sein, wenn er endlich wieder den Himmel über sich sah und der – echte – Wind um seine Nase wehte. „Können wir uns trotzdem etwas beeilen?“, bat er. „Ich bin etwas nervös.“ Hektor musterte ihn kritisch. „Kannst du denn schon wieder so schnell laufen? Ich will dich nicht wieder zurück in die Nachtschule schleppen müssen, weil du auf halber Strecke schlappgemacht hast.“ Rumo hüpfte ein paar Mal auf der Stelle, schüttelte Arme und Beine und dehnte seinen Nacken. Es knackte kurz und zog etwas, tat allerdings nicht mehr wirklich weh. „Sollte funktionieren. Mach dir um mich keine Sorgen.“ „Ich mache mir eher Sorgen um mein Rückgrad“, neckte Hektor. „Wenn ich dich die ganze Zeit tragen muss, kann ich mir bald einen Chiropraktiker suchen.“ Die beiden Hundewesen grinsten einander an und verfielen in einen leichten Trab, liefen dann einige Minuten schweigend nebeneinander her. Rumo genoss es sich endlich wieder seiner Natur entsprechend bewegen zu können ohne bei jedem Schritt vor Schmerzen zusammen zu zucken. Er merkte, wie er sich mehr und mehr entspannte, mit jedem Meter weiter zu seinem alten Selbst zurückkehrte und freier und gelöster wurde. Seine Schritte wurden raumgreifender und seine Arme schwangen locker neben seinem Oberkörper, eine Veränderung, die auch Hektor auffiel. Mühelos passte er sich Rumos zügigem Tempo an. „Übernimm dich nicht, Windhund. Du bist noch nicht ganz gesund, vergiss das nicht.“ Rumo lachte laut auf und steigerte ein weiteres Mal seine Geschwindigkeit. „Das sagst du nur, weil du Angst hast, dass du nicht mit mir mithalten kannst!“ Er streckte sich stromlinienförmig, setzte die Vorderpfoten auf den Boden und preschte los, dass die Steine hinter ihm aufflogen. Hektor tat es ihm gleich und jagte neben ihm den Gang hinunter, zwei Hunde, die sich gegenseitig in wildem Spiel durch die spärlich beleuchteten Stollen hetzten, dabei wie toll bellten, heulten und lachten. Beide schienen froh endlich einmal einen Vertreter einer ähnlichen Gattung zu treffen, mit dem sie Instinkte und körperliche Voraussetzungen teilten und sich einmal richtig austoben konnten. Sie standen einander in nichts nach, weder in Kraft noch in Geschwindigkeit und auch ihre Ausdauer ließ nicht zuwünschen übrig, beinahe eine halbe Stunden schossen sie durch die mal engeren, mal weiteren Gänge. Dann geschah mit einem Mal etwas, womit Rumo schon beinahe nicht mehr gerechnet hatte. Er sah Licht. Nicht etwa das fahle, schummrige Licht der am Fels angebrachten Ewigkerzen, sondern helles, freundliches Tageslicht, das ihm entgegen schien wie das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels. Hektor hatte also Wort gehalten, er wusste, wie man dem Labyrinth der Finsterberge entkam, noch dazu hatten sie kaum mehr als zwei Stunden gebraucht, sodass er wohl sogar noch vor Sonnenuntergang des fünften Tages wieder Erdboden unter seinen Pfoten spüren würde. Bleib nur noch eine letzte Frage. „Wie kommen wir da runter?“, rief er Hektor, der neben ihm sprintete, zu, denn nach seiner Einschätzung befanden sie sich in mindestens einhundert Metern Höhe. „Nimmst du mich wieder huckepack?“ Hektor lachte und schüttelte den Kopf. „Wie dann?“ Der Werwolf grinste schelmisch. „Wir springen.“ Rumo verlor für den Bruchteil einer Sekunde an Geschwindigkeit. „Wir springen? Bist du verrückt?“ „Nicht im Geringsten“, antwortete Hektor freudestrahlend. „Das ist das absolut Größte, das musst du ausprobiert haben!“ Er legte die Ohren zurück, zog den Kopf zwischen die Schultern und raste wie ein Berserker auf den Ausgang zu. Dann stieß er sich von dem Felsvorsprung ab und verschmolz mit dem hellblauen, wolkenlosen Himmel. Rumo hatte keine Zeit sich zu fragen, ob er wahnsinnig genug war dem weißen Wolf zu folgen, das Ende des Stollens schien sich von ganz alleine auf ihn zu zu bewegen, ohne dass er irgendetwas dagegen tun konnte. Und dann verließen seine Pfoten den Steinboden. Er hatte sich kraftvoll vom Fels gelöst und schien nun zu schweben, völlig schwerelos zu sein, in der Luft zu hängen wie eine Feder, die von der Thermik immer höher gewirbelt wurde. Für einen Moment geschah gar nichts, die Welt um ihn herum stand still und nicht einmal das kleinste Geräusch war zu hören, als setze das gesamte Uhrwerk der Zeit für einen Schlag aus. Dann ging es abwärts und an die Stelle des Gefühls des völligen Stillstands trat die pure Geschwindigkeit. Wind rauschte und pfiff in Rumos Ohren wie ein Orkan, sein Fell wurde eng an seine Haut gedrückt und er musste die Augen schließen. Sein buschiger Wolfsschwanz wehte unkontrolliert hinter ihm und er musste sich anstrengen keinen Überschlag zu vollführen, so kraftvoll rissen die Elemente an ihm. Es war ein schlicht unglaubliches Gefühl von nie gekannter Freiheit, ein einziger Endorphinrausch, der sein Bewusstsein überflutete und seinen Magen zum kribbeln brachte. Um seinen lädierten Schultergürtel nicht über zu strapazieren, verschränkte Rumo die Arme vor der Brust und klemmte dabei gleichzeitig seine neue Umhängetasche mit dem Ellenbogen ein. Seine Brusttasche ließ sich glücklicherweise mit einem Knopf verschließen, sonst hätte er bei einer gefühlten Fallgeschwindigkeit von etwa einhundert Stundenkilometern doch etwas um deren Inhalt gefürchtet. So atemberaubend der freie Fall auch war, die Landung war es definitiv nicht. Rumo kam bei seinem Aufprall unwillkürlich das Bild eines Zaunpfahls in den Kopf, der unangespitzt in den Boden gerammt wurde, so hart schlugen seine Hinterläufe auf dem Boden auf. Eine Schockwelle jagte seine Wirbelsäule hinauf und versetzte die Drahtenden in Schwingung bis es schmerzte und er gepeinigt aufschrie. Sein gesamter Körper schien auf die Größe eines Fhernhachen zusammengestaucht zu werden und Rumo betete inständig, dass seine Gelenke und Knochen diesem plötzlichen Druck standhalten würden. Unter ihm platzte die trockene Erde auf und zerbarst zu feinem Staub, sodass er einige Zentimeter in den Waldboden einsank und eine beachtliche Wolke aus Sand und Grashalmen aufwirbelte. Gerade als der Wolpertinger das Gefühl hatte, endgültig zerquetscht zu werden, wurde es um ihn herum still, der Druck auf seinen Schultern ließ nach, seine Muskeln entspannten sich und er konnte sich zitternd aufrichten. „Wow“, hauchte er. „Das… das war unglaublich. Schmerzhaft, aber unglaublich.“ Er steckte Arme und Beine und fuhr sich mit der Pranke über den gehörnten Schädel, tastete dann seinen Oberkörper ab und drehte sich einmal um die eigene Achse. „Na, alles noch dran?“ Hektor kam aus einem nahe gelegenen Gebüsch auf ihn zugesprungen und legte ihm seinen weißen Arm um die Schultern. „Du sahst echt Hammer aus da oben. Wie ein Wilder.“ Mit einem wilden, auf vier Beinen gehenden Wolpertinger verglichen zu werden, war, wenn man zivilisiert war und aufrecht ging, zwar meist eher kein Kompliment, doch dieses mal fühlte sich Rumo geschmeichelt. Es schien ihm durchaus positiv zu sein, wenn man die körperlichen Eigenschaften eines Raubtieres mit den geistigen Fähigkeiten eines höher entwickelten Zamoniers in sich verband. „Das war absolut KRASS!“, rief Löwenzahn und gab ein triumphierendes Heulen von sich. „Wir sind wieder da, Baby, wir sind wieder da!“ „Hätte echt von mir sein können“, fügte Grinzold anerkennend hinzu. „Zu Lebzeiten war das meine Standartmethode von Bergen herunter zu kommen.“ Rumo grinste und verdrehte die Augen. ‚Aber klar doch.’ Dann sah er sich um. Sie waren nur ein paar Meter entfernt von der Stelle gelandet, an dem er von dem Laubwolf niedergestreckt worden war, noch immer waren Harz und Blut deutlich zu riechen. Er wandte sich zu seinem Wegbegleiter auf Zeit um, der den leicht desorientieren Wolpertinger mit sichtlichem Amüsement beäugte. „Sag mal, Hektor, was ist eigentlich aus dem Vieh geworden, das mich angefallen hat?“ Der Werwolf kratzte sich am Kopf. „Ähm, ich glaube, den hat der Professor zum Ausstopfen gegeben. So etwas sieht man ja nicht alle Tage, so ein Tier. Wieso? Wolltest du ihn als Andenken?“ Lachend schubste Rumo sein Anhängsel von sich weg, sodass dieser rückwärts taumelte uns sich unfreiwillig ins Gras setzte. „Ganz sicher nicht, du Straßenköter.“ Hektor hustete kurz, richtete sich wieder auf und schlug sich den Staub aus dem schneeweißen Fell, dann stemmte er die Hände in die Hüften und sah Rumo mit schief gelegtem Kopf an. „Und? Was hast du jetzt vor, du Kamikaze-Held?“ Der Wolpertinger blickte in den großen Wald, der sich vor ihm ausbreitete wie ein Dschungel, wild und unberechenbar und mit einem Haufen ziemlich gefährlicher Biester, die er so schnell nicht wieder unterschätzen würde. „Ich schätze, ich sollte tun, was Nachtigaller gesagt hat. Vielleicht kann mir dieser Mythenmetz ja wirklich weiterhelfen.“ „Davon kann man ausgehen“, sagte Hektor gut gelaunt wie eh und je und trat neben seinen neuen Freund. „Du kennst ihn?“ „Rumo, so ziemlich jeder außer dir kennt Mythenmetz“, seufzte der Weiße theatralisch, konnte sich jedoch ein Grinsen kaum verkeifen. „Na was soll’s“ – er schlug dem Wolpertinger kraftvoll auf den Rücken, sodass dieser zusammenzuckte –„du wirst ihn ja bald kennen lernen. Dafür wüsche ich dir übrigens viel Glück.“ Rumo begann sich langsam zu fragen, warum ihm jeder, der von seinem nahenden Treffen mit dem Schriftsteller wusste, Glück für sein Vorhaben wünschte. Wie schwer konnte es denn schon sein, eine verweichlichte Urechse davon zu überzeugen ihm ein wenig über alte zamonische Legenden zu erzählen? Und außerdem hatte der Professor ja gesagt, dass dieser andere Typ, der Buntbär, ihm die Arbeit abnehmen sollte, warum auch immer. Es gab also im Grunde keinen Anlass sich Sorgen zu machen, alles schien perfekt – soweit man seine derzeitige Lage perfekt nennen konnte – und dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass an der ganzen Geschichte irgendetwas schrecklich faul war. „Äh, wie auch immer“, antwortete er und strich sich über den Hinterkopf. „Danke für deine Hilfe, schätze ich.“ Er streckte Hektor unbeholfen seine Pranke entgegen und der schlug strahlend ein. „Kein Problem, Kumpel. Du bist echt in Ordnung.“ Der Wolpertinger zog seine Hand zurück und trat nervös von einem Fuß auf den anderen, während er seinen Blick betreten zu Boden richtete. Abschiede lagen ihm so gar nicht, man brauchte ein gewisses Geschick mit Worten dazu und das war etwas, was er mit Sicherheit nicht besaß. „Na… gut, dann mache ich mich jetzt mal auf den Weg…“ Er lachte unsicher und wandte sich zum Gehen, drehte sich dann jedoch eine plötzlichen Eingebung folgend noch einmal um. „Und… äh….“ Er gab sich einen Ruck. „Du bist auch in Ordnung, Hektor. Lass von dir hören, wenn du mal nach Atlantis kommst, abgemacht?“ Hektor grinste von einem seiner weißen Ohren zum anderen. „Abgemacht!“ „Mann, was war das denn?“, fragte Grinzold angewidert, als sie einige Meter in den Wald hinein gelaufen waren. „Das war ja die reinste Schmierenkomödie! Du bist ein Krieger und Krieger machen so etwas nicht, verstanden?“ „Machen was nicht?“, erkundigte sich Rumo in gespielter Ahnungslosigkeit. Grinzold machte ein Geräusch, das wohl ein Würgen sein sollte aber eher wie ein Knurren klang, der einzige Laut zu dem er abgesehen vom Sprechen fähig war. „Na dieses Herumgesülze! Was soll das? Du hättest ihm aufschlitzen und sein Fell verkaufen sollen, so weiß wie das war, hätten wir bestimmt eine Menge Schotter dafür bekommen.“ Löwenzahn quiekte. „Grinzold! Der Kerl war doch nett!“ „Ja, ein netter Bettvorleger.“ „Grinzold!!“ Rumo holte aus und versetzte dem Griff seines Schwertes einen Schlag mit der Pranke. „Jetzt haltet die Klappe, ihr Nervensägen! Hier wird keiner Hektors Fell als Bettvorleger verkaufen.“ „Dann halt nicht“, murrte der Dämonenkrieger. „Aber motz mich nicht an, wenn du pleite bist, klar.“ „Ich werde es mir merken“, seufzte Rumo während er sich in seinen Weg durch das Dickicht schlug und sich dann und wann unter einem zurückschnellenden Ast wegdruckte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den schwachen süßlichen Hauch, der ihm aus südlicher Richtung entgegenwehte, wo nach einigen Kilometern die Süße Wüste, die größte und tödlichste aller zamonischen Landschaften, begann. Dort würde, laut Nachtigaller, sein neuer Begleiter auf ihn warten, ein Buntbär mit offenbar zweifelhafter Vergangenheit, so zumindest hatte es in seinem Gespräch mit dem Professor geklungen. Alles in Allem rosige Aussichten… Die untergehende Sonne färbte den Himmel über Rumo erst rot, dann nachtschwarz, Baumschemen wurden zu riesenhaften Schatten, normale Waldgeräusche zu bedrohlichem Flüstern und hinter jedem Felsen schien ein neues Untier zu lauern. Er hätte nicht gerade behauptet Angst zu haben, wohl war im allerdings auch nicht bei seiner einsamen Reise durch diesen finsteren Höllenwald, der der Legende nach einst eine Waldspinnenhexe beherbergt hatte, eines der mörderischsten Daseinsformen des Kontinents. Zwar galt dieses Wesen schon seit Jahren als ausgestorben – angeblich hatte man ihre Überreste sogar zeremoniell auf einer Waldlichtung verbrannt – dennoch schien es Rumo angebracht, den Forst so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Es musste etwa Mitternacht sein, als der Wolpertinger durch die letzten, dünner werdenden Baumreihen brach und aus dem Unterholz stolperte, wie ein Welpe bei seinen ersten Gehversuchen. Vor ihm erstreckten sich in schier endlosen Weitern die ewig wandernden Dünen der Süßen Wüste, die durch ein seltenes Wetterphänomen, einer Art wolkenfreier Zone entstanden war, in deren ewigem Sonnenschein die Zuckerrohrfelder der fhernhachischen Bauern, die dort eins gesiedelt hatten, restlos ausgetrocknet und deren süße Frucht zu Staub zerfallen war. Der pulverisierte, dehydrierte Zucker hatte sich mit dem sandigen Boden gemischt und war zu dem geworden, was man in der alten Sprache die Deserta Dulcis nannte. Nirgendwo sonst als in Zamonien konnten Leben und Sterben so nahe nebeneinander existieren, ohne sich gegenseitig in die Quere zu kommen und sich den Rang streitig zu machen. Großer Wald und Süße Wuste gingen nahtlos ineinander über und büßten dabei nichts von ihren jeweiligen Eigenschaften ein, waren bis zu ihrem äußersten Rand ihrer ganz eigenen Schönheit verhaftet, die vor allem das Ödland so einzigartig machte. Der Wind hatte skulpturartige Formen in den erstarrten Zuckersand geschliffen, die sich gegen den Nachthimmel abzeichneten wie lebendige Wesen und auf Rumo hinabzustarren schienen. Der Boden hatte eine ebenso prächtige wie außergewöhnliche Maserung, die wie gemeißelt schien und doch völlig natürlich gewachsen war. Der Wolpertinger fühlte sich ein wenig erschlagen von der plötzlich aufwallenden Hitze, die von der süßen Einöde ausging und ebenso präsent war, wir ihr einmaliger, durchdringender Geruch. Er starrte wie gebannt auf die faszinierende Todesfalle vor ihm, denn obwohl er ohne Frage weit herumgekommen war, hatte er diesen Teil des Kontinents noch nie gesehen. Der Boden unter seinen Pfoten fühlte sich beinahe weich an, der Sand gab angenehm nach und lud ihn geradezu ein, einen kleinen Rundgang über die nahe gelegenen Dünen zu machen. Er würde sich nur kurz umsehen, würde den Wald stets im Blick behalten und nur einen winzigen Blick auf das wunderbare Naturschauspiel werfen, dann sofort wieder umkehren und zum Saum zurückkehren. Mit diesem Plan fest im Kopf trat er einen Schritt vor. „Hey, willst du etwa ohne mich gehen?“ Rumo erstarrten inmitten seiner Bewegung und fragte sich einen Moment lang, wer ihn da aus der Schwärze der Nacht heraus ansprach. Dann dämmerte ihm langsam, dass er ja nicht aus Vergnügen und für die schöne Landschaft hier war, sondern einen konkreten, sogar ziemlich wichtigen Plan verfolgte, dessen nächster Abschnitt ihn hier, am Rande dieses unfreundlichen und doch so magischen Landstiches erwartete. Er wirbelte herum, konnte jedoch nichts weiter als einen Schattenriss etwa zehn Meter von ihm entfernt erkennen. „Bist du Nachtigallers Schüler?“, fragte er argwöhnisch in die Dunkelheit hinein und legte vorsichtshalber eine Pranke an Löwenzahns Griff. „Der bin ich“, kam die prompte Antwort aus dem Dunkel und ließ Rumo unwillkürlich den Kopf schief legen. Er kannte diese Stimme, obwohl er sie lange nicht mehr gehört hatte und sie zu diesem Zeitpunkt auch noch keiner Person zuordnen konnte. Vorsichtig trat er einen Schritt näher und sah, wie sein Gegenüber ebenfalls das Haupt zur Seite neigte, um ihn zu mustern. Dann änderte der Buntbär mit einem Mal seine Körperhaltung, schien geradezu in Verteidigungshaltung zu gehen, als erkenne er in dem Abenteurer einen alten Erzfeind. „Rumo? Rumo der Wolpertinger?“ Rumo kniff die Augen zusammen und versuchte, die Gesichtszüge des Bären auszumachen, der ihn aus irgendeinem Grund irgendwo her zu kennen schien, ebenso wie ihm zuvor die Stimme bekannt vorgekommen war. Dann tauchte mit einem Mal der Mond die Szenerie in sein weißes, kaltes Licht und er konnte für den Bruchteil einer Sekunde die Konturen eines Raubtier-Antlitzes erkennen, einen Bruchteil, der ausreichte, um seinen Erinnerungen auf die Sprünge zu helfen. „Du meine Güte“, entfuhr es ihm, ohne dass er wirklichen Einfluss darauf nehmen konnte. „Du bist dieser Lügengladiator, das größte Talent von Atlantis. Dein Name ist Blaubär!“ Der Buntbär hatte die Arme in Boxerhaltung vor seiner Brust erhoben und wich einige Meter zurück. „Und du bist der Schlägertyp von Volzotan Smeik. Der Wolpertinger mit dem roten Fleck über dem Auge, den wir damals in Fhernhachingen aufgegabelt haben. Ich bin dir sehr dankbar dafür, dass du mich damals vor der Moloch bewahrt hast – na ja, oder eher für den Versuch. Aber ich frage mich, was du jetzt von mir willst. Nachtigaller hat irgendetwas davon geschrieben, dass ich für dich mit Mythenmetz reden soll. Ist da etwas dran oder ist das nur ein abgekarteter Plan von Smeik mich doch noch dranzukriegen? Hat er einen neuen Weg gefunden, aus mir Profit zu schlagen? Oder sinnt er einfach immer noch auf Rache?“ Rumo hob abwehrend die Hände. „Nein, nein, das verstehst du falsch. Ich brauche tatsächlich deine Hilfe – ein weiteres Mal.“ Blaubär ließ die Arme einige Zentimeter sinken, verlor jedoch nichts von seiner Wachsamkeit. „Wobei? Ich meine, ich weiß, wobei, ich soll für dich bei Mythenmetz vorsprechen. Aber warum? Wenn das alles keine Lüge ist, dann erzähl mir, worum es bei der ganzen Geschichte geht. Nachtigaller erwähnte das Geheimnis des ewigen Lebens und das du danach suchen würdest… Klingt ein wenig sehr weit hergeholt, wenn du mich fragst.“ Der Wolpertinger holte Luft und setzte zu einer Erklärung an, wollte einfach die Wahrheit erzählen, die ihn in diese missliche Lage gebracht hatte, und darauf hoffen, dass sein Gegenüber ihm glaubte. Viel mehr hatte er ja im Grunde nicht vorzuweisen. Dann jedoch hielt er inne. War es wirklich so klug dem Buntbären zu erzählen, dass Volzotan Smeik die Ursache für diese Misere war? Offenbar hatte Nachtigaller ihm lediglich mitgeteilt, dass er auf der Suche nach der Formel war, nicht aber warum. So viel zu „Rechtfertigungen werden nicht nötig sein“, der Professor schien eine ziemlich verquere Sicht darauf zu haben, mit wie viel Information sich Wesen mit weniger als sieben Gehirnen zufrieden gaben… Doch wie es auch sein mochte, sicher war, dass Blaubär sicher nicht die besten Erinnerungen an Smeik hatte, immerhin hatte dieser eigenhändig veranlasst, dass er entsorgt wurde, wie er es genannt hätte. Rumo hatte ihn zwar vor dem Schlimmsten bewahren können, das war im Endeffekt jedoch nicht viel mehr als das Revanchieren für die Rettung seines eigenen Lebens als Welpe, der ehemalige Lügengladiator blieb ihm also nichts schuldig. Vielmehr hatte er allen Grund Smeik zu hassen, immerhin war es mehr oder weniger seine Schuld gewesen, dass er seine Stellung als Lügenkönig von Zamonien hatte aufgeben und Atlantis fluchtartig hatte verlassen müssen. Rumo entschied sich zu lügen. „Es geht um meine Verlobte“, stammelte er in nicht einmal gespielter Verzweiflung und zupfte das Foto von Rala aus seiner Jackentasche. „Sie liegt im Sterben, fürchte ich. Irgend so eine Krankheit, von der noch kein Arzt in Zamonien gehört hat. Ich war bei sämtlichen Schrecksen und Alchimisten in Atlantis und Umgebung, aber keiner wusste Rat. Das Mittel ist vielleicht ihre einzige Chance.“ Es behagte ihm nicht wirklich Rala für eine so schamlose Lüge zu missbrauchen, aber er sah sich eindeutig in einer Notsituation, was die Lüge wohl zu einer Notlüge machte. „Bitte“, flehte er, „du musst mir helfen! Ich würde ja selber zu diesem Mythenmetz gehen, aber ersten weiß ich nicht, wer das ist, und zweiten wollte Nachtigaller aus irgendeinem Grund nicht, dass ich das tue.“ Blaubär ließ nun endgültig seine Hände sinken und entspannte sich ein wenig. „Du weiß nicht, wer…“ „Nein.“ „Oh, okay….“ Er kratzte sich am Kopf. „Der Professor hat schon recht damit, dass er dich nicht persönlich bei dem alten Dinosaurier vorsprechen lässt. Dieser verschrobene Eigenbrödler ist diesbezüglich etwas… exzentrisch, wenn du so willst. Wenn du ihn nicht mindestens an die Wand argumentieren kannst, erreichst du bei dem gar nichts, Auftreten und Ausdrucksweise sind bei ihm das A und O.“ Ein Seitenblick auf Rumo. „Der Professor schrieb, dass das nicht gerade deine Stärke sei…“ Der Wolpertinger schob die Hände in die Jackentasche und betrachtete etwas pikiert einen Punkt irgendwo schräg über ihnen in der Luft. „Kann schon sein“, murrte er, gar nicht erst bemüht seine Kränkung zu verbergen. „Bringt einen in der Schlacht nicht viel weiter. Anderes Thema: Heißt das, du hilfst mir?“ Blaubär überlegte einige Sekunden und nickte dann mit einem entschlossenen Lächeln, das Rumo erstaunte. „Ich finde es bewundernswert, dass du so hart um das Leben deiner Verlobten kämpfst. Viele würden sie einfach sterben lassen. Ich schätze, du bist etwas Besonderes.“ Schuldgefühle bohrten sich wie Pfeile in Rumos Magengegend und ließen ihn kurz wanken. Dieser Bär schien ihn für so vertrauenswürdig zu halten, dass er für ein Ziel, das nicht im Entferntesten sein eigenes war seine tief sitzende Feindschaft mit Smeik überwand. „Da hast du dir ja ganz schön was eingebrockt“, flüsterte Löwenzahn scheinbar alles andere als begeistert in seinen Gedanken. ‚Halt die Klappe, glaubst du nicht, dass ich schon genug mit mir kämpfe?’ Der Stollentroll schnaubte. „Du wirst sehen, was du davon hast. Ich sag’s ja nur. Das ist meine Pflicht als dein Freund.“ ‚Danke dafür’, dachte Rumo in sarkastischem Ton zurück. ‚Und jetzt sei endlich still!’ Blaubär streckte ihm eine Pranke entgegen. „Also? Ziehen wir das durch?“ Rumos Zweifel schienen kurzzeitig überhand zu nehmen, ließen ihn zögern und betreten zu Boden sehen. Dann schluckte er sie eisern hinunter, ging auf seinen neuen Partner – der ihm lediglich bist knapp zu den Schultern reichte – zu und schlug ein. „Ich muss zugeben“, grinste der Buntbär, „dass ich nicht aus reiner, selbstloser Nächstenliebe mitgehe. Ein wenig Eigennutz ist auch dabei.“ Misstrauisch musterte der Wolpertinger sein Gegenüber und ließ die dargebotene Hand los. Da kam er also, der Haken. Doch dann sah er das neckische Aufblitzen in Blaubärs Augen und entspannte sich sogleich wieder. „Ich hänge schon viel zu lange in der Bärenbucht herum“, lachte der Buntbär. „Wenn ich nicht endlich einmal Urlaub von diesen grauenhaften Optimisten, die sich meine Artgenossen nennen, bekomme, werde ich noch wahnsinnig.“ Rumo schob letzte Skrupel beiseite, trat neben ihm und legte dem verglichen mit ihm klein und schmächtig aussehenden Bären einen Arm um die blauen Schultern. Er lachte. „Ich glaube, mein Freund, wir verstehen uns.“ Kapitel 7: Die einhundertdreiundsiebzigste Belagerung ----------------------------------------------------- Rumo trottete mit gesenktem Kopf neben Blaubär durch den weichen Wüstensand. Schuldgefühle nagten an ihm wie ausgehungerte Straßenköter an einem alten Knochen und er fühlte sich, gelinde gesagt elend. Lügen waren etwas grausames, das wusste er, doch bis jetzt war er immer davon ausgegangen, dass die Begründung dafür hauptsächlich im Sozialen zu suchen war. Jetzt wurde ihm klar, dass viel egoistischere Motive dahinter steckten. Das schlechte Gewissen war eine grausame Erfindung der Natur, ein hinterhältiges kleines Biest, das einem im Nacken saß und den Hinterkopf mit spitzen Nadeln perforierte während es nebenbei dreckig Lachte. Richtig sympathisch. Zu Rumos Erleichterung hatten sie den Plan gefasst, die Süße Wüste noch in dieser Nacht zu durchqueren, auch wenn das bedeutete, dass sie die meiste Zeit würden joggen müssen. Wäre es erst Tag geworden, hätten sie mehr als zwölf Stunden pausieren und noch dazu von ihrer eigentlichen Route abweichen müssen, um einen Unterschlupf zu suchen, denn die Temperaturen in diesem trostlosen Landstrich konnten gut und gerne um die neunzig Grad erreichen – in der Sonne, versteht sich, was aber relativ Irrelevant ist, bedenkt man die Tatsache, dass es in Wüsten tendenziell immer sonnig ist. Nun aber war es beinahe Mitternacht und die Luft war bis knapp über den Gefrierpunkt heruntergekühlt, was tatsächlich um einiges angenehmer war als die Hitze des Tages, wenn man ein dichtes, schützendes Fell besaß und einem einzig die Zunge als Transpirationsfläche blieb. Für die nötige Körperwärme sorgte zudem der zügige Laufschritt, den die beiden Weggefährten mühelos an den Tag legten, wobei sie von eher unterschiedlichen Gefühlsregungen angetrieben zu werden schienen. Während sich bei Rumo ein penetranter Fluchtgedanke breit machte, wirkte Blaubär abenteuerlustig und vergnügt, ganz so als sei er ein alter Hase im Abenteuer-Geschäft, den man soeben wieder auf die Wildnis losgelassen hatte. Rumo fühlte sich mit jedem Schritt schlechter. Gerade als er das Gefühl hatte sich innerhalb der nächsten Sekunden auf den ekelhaft süßen Wüstenboden übergeben zu müssen, durchbrach der Buntbär die unangenehme Stille, die sich vor geraumer Zeit über ihnen ausgebreitet hatte. „Sag mal, wie kann es sein, dass du noch in Zamonien bist?“ Rumo war verwirrt. „Wo sollte ich denn sonst sein?“ „Naja…“, begann Blaubär und kratzte sich im Laufen nachdenklich am Kopf. „Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, sagtest du mir, dass etwas im Gange sei. Zamonien würde untergehen oder so was. Dann bin ich aus der Stadt und nur Minuten später sehe ich Atlantis wie ein überdimensionales Ufo in den Weltraum verschwinden. Und jetzt stehst du plötzlich vor mir. Erklärung, bitte.“ Froh darüber seine Gedanken auf etwas anderes als seine Schuldgefühle konzentrieren zu können, holte Rumo tief Luft und begann zu erzählen. Was sonst nicht gerade sein Fall war, wurde nun zu einer willkommenen Ablenkung von der erdrückenden Stimmung, die sich in seinen Gedanken ausgebreitet hatte. „Du wirst lachen“, grinste er. „Das alles war ein mittelschwerer Reinfall. Aber von vorne: Wissenschaftler haben wohl vor nicht allzu langer Zeit festgestellt, dass es in wenigen hundert Jahren so etwas wie eine Naturkatastrophe geben wird, bei der ganz Zamonien von der Erdoberfläche verschwindet.“ Blaubär schnappte hörbar nach Luft. „Was? Aber wie…“ „Keine Ahnung“ Rumo zuckte ahnungslos mit den Schultern. „Das ist alles, was ich darüber weiß, ehrlich gesagt hat es mich auch nie weiter gestört, Wolpertingern werden nicht so alt, weißt du!?“ Der Buntbär starrte ihn fassungslos an und ihn beschlich der leise Verdacht, dass er vielleicht doch etwas zu arglos an diese Sache herangegangen war. „Äh, äh, wie auch immer. Wir, also, das heißt, einige fähige Atlanter haben dann einen Plan entworfen, um die ganze Stadt in den Weltraum zu katapultieren. Das hat dann auch recht gut funktioniert, wie du weißt. Nur womit keiner gerechnet hatte, war das große Dimensionsloch direkt über der Stadt. Was dann kam: Wir sind direkt hinein geflogen und kamen genau da wieder heraus, wo wir gestartet sind. Eben da, wo Atlantis normalerweise liegt. Für einen zweiten Start hatten wir dann keinen Treibstoff mehr. Und das ist die ganze Geschichte.“ Blaubär blieb abrupt stehen und schien sich nicht ganz entscheiden zu können, ob er lachen oder einfach auf der stelle geschockt umfallen sollte. Nachdem seine Gesichtszüge einige Sekunden mit den widersprüchlichen Emotionen gekämpft hatten, ließ er jedoch lediglich resignierend die Schultern hängen, seufzte und setzte wieder zu einem flüssigen Trab an. „Tja, ich schätze in Zamonien ist nichts unmöglich.“ „Du glaubst das? Einfach so?“ „Wieso nicht?“, summte Blaubär nun wieder fröhlich. „Du bist doch hier, oder? Und außerdem scheinst du mir ein ehrlicher Zeitgenosse zu sein. Echt, Rumo, ich glaube nicht, dass du lügst.“ Rumo spürte, wie er zu schwitzen begann und mühte sich um Fassung. „N…natürlich nicht, öh, ich meine nur, dass die Meisten, denen man diese Geschichte erzählt, einem einfach nicht glauben wollen, obwohl es leider nur zu wahr ist. Hähä, Zamonier – chronisch misstrauisch, wohin man auch schaut, nicht wahr?“ Er lachte unsicher und fuhr sich mit der Pfote über den gehörnten Schädel, während er die Augen seines Gegenübers um jeden Preis zu meiden versuchte. Blaubär starrte ihn einige Zeit von der Seite an, ganz so als versuche er ihn einzuschätzen, herauszufinden, woran er bei ihm war und warum um alles in der Welt sich dieser Wolpertinger so seltsam verhielt. Der Blick brannte unangenehm auf seiner Haut, doch Rumo ertrug ihn schweigend, wohl wissend, dass er sich all das selbst eingebrockt hatte. Dann war der seltsame Moment plötzlich vorüber und Blaubär setzte sich wortlos wieder in Bewegung, scheinbar völlig vertieft in seine eigenen Gedanken, die das eben Erfahrene für ihn verarbeiteten und abspeicherten. Rumo konnte das nur recht sein, der Buntbär war offenbar niemand von der sonderlich kritischen Sorte. Vielleicht hatte es mit seiner eigenen Lügen-Vergangenheit zu tun, er musste gewohnt sein, dass ihm die Leute nicht glaubten… Eine ganze Weile herrschte nachdenkliches Schweigen auf beiden Seiten, Blaubär starrte gedankenverloren vor sich in den Wüstensand während der Wolpertinger mit jedem Atemzug einen Teil seiner Nervosität auszuatmen versuchte, was nach einigen Minuten auch ganz gut funktionierte. Seine innere Anspannung löste sich langsam und ihm wurde mehr und mehr bewusst, dass es keinen Unterschied machen durfte, ob er diese Lüge nun ausgesprochen hatte oder nicht. Er hatte ein Ziel und das musste er um jeden Preis erreichten, viel zu viel hing von seinem Erfolg bei dieser Reise ab, um sich von Kleinigkeiten aufhalten zu lassen. Rumo atmete tief durch und beschleunigte seinen Schritt. Sie hatten eine Feste zu erreichen. Wolpertinger haben kein wirklich guten Verhältnis zum Wasser, was hauptsächlich darin begründet liegt, dass die meisten von ihnen in dem Glauben aufgewachsen sind nicht schwimmen zu können. Doch bei rund 48 Grad Celsius Außentemperatur (ein ungefähres Umrechnungsergebnis ausgehend von der zamonischen Einheit „Karyll“, die die Temperatur in Abhängigkeit von der Umgebung angibt) ignoriert selbst der konservativste Wolpertinger sein tierisches Erbe. Rumo machte sich nicht die Mühe eines sonderlich eleganten Sprungs, als er am Vormittag des nächsten Tages mit einem lauten Platschen in die angenehme Kühle des Loch Lochs eintauchte. Blaubär folgte ihm auf dem Fuße, ließ es sich dabei nicht nehmen freudig zu schreien, als er zum Sprung vom felsigen Ufer des großen Bergsees ansetzte. Die Nacht durch zu laufen war nicht weiter schwer gewesen, doch als die Sonne am Horizont erschienen war, hatte sich das angenehme Traben von einer Sekunde auf die andere in einen Höllentripp verwandelt. Temperaturen in der Süßen Wüste besaßen nicht die Güte, mögliche Passanten schonend durch langsames hinauf Klettern an der Skala auf die bevorstehende Hitze vorzubereiten. Nein, wenn man davon sprach, dass es in dieser Wüste entweder sehr kalt oder sehr warm war, dann meinte man das durchaus wörtlich, denn etwas zwischen „absolut viel zu heiß“ und „absolut viel zu kalt“ gab es hier schlichtweg nicht. Rumo und Blaubär hatten eigentlich damit gerechnet noch vor Sonnenaufgang den Bergsee zu erreichen, an dem am westlichen Ufer die riesenhafte Lindwurmfeste aufragte, doch ein leichter Sandsturm – keiner von der gefährlichen Sorte, eher so ein unangenehmes hin und her Rieseln – hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, sodass sie eindrucksvoll hatten miterleben dürfen, was es hieß, bei lebendigem Leibe gegrillt zu werden. Zumindest war es Rumo so vorgekommen, denn, ganz im Gegensatz zu ihm, der er sich fühlte wie gar gekocht, schien dem blauen Buntbär die sengende Hitze herzlich wenig auszumachen, vergnügt wie schon die ganzen Stunden zuvor war er über den weichen Sand gehoppelt und hatte den schnaufenden Wolpertinger schon bald weit hinter sich gelassen. Inzwischen war es fast Mittag und sie waren am See angekommen. Rumo entschied für sich, dass sich das Umhertreiben im lauwarmen Wasser doch um einiges besser anfühlte als das Rennen durch die stechende Vormittagssonne. Das bedeutete, überlegte er, dass er alles in allem doch lieber ein Suppenhuhn wäre als ein Grillhähnchen, wenn es drauf ankam. Er hatte ganz offensichtlich einen Sonnenstich. Das Wasser des Loch Lochs war fast klar, wirkte aber durch die Felsen am Grund an einigen Stellen beinahe grünlich. Kleine und größere Fische huschten furchtlos zwischen Rumos Beinen hindurch als er lange Wellen hinter sich herziehend durch die sonst glatte Wasseroberfläche paddelte. Fast das ganze Ufer entlang ragten hohe Berge in den wolkenlosen Himmel, eine von ihnen im unteren Teil bewachsen, die meisten jedoch völlig kahl und grau. Nur an der Stelle, an der die Süße Wüste an den See anschloss, hatte sich eine schmale Schlucht durch den Fels gegraben und ermöglichte so einen relativ unkomplizierten Zugang von dieser Seite. Besonders imposant und geradezu elegant erhob sich am Westufer die uneinnehmbare Lindwurmfeste, Rumos Ziel. Im Grunde war sie lediglich ein spitzer Berg, doch wenn man genau hinsah, konnte man bereits vom See aus die unglaubliche Architektur dieser Festung erkennen. Unzählige Türmchen und Zinnen, Kanonenschlote und Schießscharten, alle mit reiner Muskelkraft und etwas Sprengstoff aus dem rohen Fels gehauen, zeichneten die Außenwand der riesigen Stadt, die, ebenso wie Wolperting, einzig und allein einer zamonischen Gattung als Behausung diente: Den Lindwürmern.. Wer immer noch glaubte, bei jenen Echsen handle es sich um verweichlichte Kreaturen ohne wirklichen Kampfgeist, der lag damit ziemlich falsch. Einige der großen Reptilien hatten einen ganz beachtlichen Kampfgeist entwickelt, sogar eine eigene Kampfkunstschule gab es, in der die Nachfahren der Dinosaurier lernen sollten, wie sie ihr Erbe besonders effizient nutzen konnten. Zugegeben, gut besucht war diese Schule nicht gerade. Rumo hielt kurz inne, paddelte auf der Stelle und blickte an diesem Höchsten der umliegenden Berge empor. Da sollte er also leben, der Typ, der ihm von der Formel erzählen würde. Wobei, genau genommen ja nicht ihm, sondern diesem Blaubär, denn offenbar erreichte man bei diesem Mythenmetz nur etwas, wenn man ihm gehörig einen vom Pferd erzählte. Nun gut, wenn dem so war, dann sollte es ihm recht sein. Im Grunde brauchte er sich also nur am Ufer des Loch Lochs in den grobkörnigen Sand zu legen, sich die Sonne auf den Pelz scheinen zu lassen und zu warten auf die Dinge, die da kamen. Klang ja einfach. Das ganze musste einen Haken haben. Mit einigen ausladenden Zügen kam Blaubär neben ihn geschwommen. "Ganz schön hoch, das Ding, nicht wahr? Keiner weiß es so genau, aber einige behaupten, er wohne ganz oben, an der Spitze, weit ab von den anderen Lindwürmern." Rumo, überrumpelt von Blaubärs plötzlichem Auftauchen in seinem Blickfeld, stand auf dem Schlauch. "Wer?" "Na Mythenmetz, wer sonst", antwortete der Buntbär leicht irritiert. "Schon vergessen, warum wir hier sind?" "Nein, nein", murmelte Rumo verlegen. Er starrte noch ein paar Sekunden wortlos auf die vor ihnen empor ragende Feste, drehte sich dann so elegant wie möglich im Wasser um und schwamm auf das Ufer zu, von dem aus sie in den See gesprungen waren. "Komm!", rief er seinem Gefährten zu. "Lass uns weitergehen. Es ist schon fast Mittag." "Warte auf mich!" Blaubär kraulte ihm mit gekonnten Bewegungen hinterher, sodass er den Wolpertiger schon bald eingeholt hatte. "Von hier aus sind es nur noch ein paar Meter, die schaffe ich auch alleine. Am besten wäre es" - er spuckte einen Mund voll Wasser aus - "am besten wäre es, du wartest einfach hier auf mich und ich komme zurück, sobald ich alle nötigen Infos von Mythenmetz habe." Der See begann flacher zu werden und schon bald konnte Rumo die Pfoten auf den felsigen Grund setzten. Er stammte sich über eine kleine Steinkante hinweg an Land und schüttelte sich das Wasser aus seinem nun wieder schneeweißen Fell. Es tat gut, den feinen Wüstensand los zu sein, endlich juckte es nicht mehr in seinen Ohren. Zwar tropfte er jetzt wie ein nasses Handtuch, doch so kraftvoll, wie die Sonne nun wieder auf ihn hinunter brannte, sollte es nur eine Frage der Zeit sein, bis er wieder völlig trocken war. Unweit von ihm lagen seine Lederjacke und Löwenzahn unter einem Felsvorsprung. Loch Loch war eine gottverlassene Gegend, doch man konnte niemals vorsichtig genug sein, wenn es um den eigenen Besitz ging, soviel hatte Rumo von Smeik gelernt. Er legte sich seine Jacke über den Arm - Leder war sehr empfindlich gegenüber Nässe und sein Lieblingskleidungsstück, das einzige, das er besaß, um genau zu sein, war schon ramponiert genug - und band sich den Waffengürtel um die Schulter. Lange Zeit hatte er sein Schwert in einem normalen Gürtel um die Hüfte getragen, doch das hatte sich im Kampf als eher unpraktisch heraus gestellt. Jetzt hingen Löwenzahn und Grinzold in ihrer Scheide schräg auf seinem Rücken, sodass er sie bequem mit einem Griff über seine linke Schulter erreichen konnte. In dem speziell für Hieb- und Stichwaffen ausgelegten Gürtel hätten auch noch weitere Schwerter oder Lanzen Platz gefunden, doch Rumo bevorzugte den Kampf allein mit seinen beiden Freunden. Mit ihnen fühlte er sich immer noch am sichersten. "Wenn du meinst", sagte er zu Blaubär gewandt, während er den silbernen Verschluss des Gürtels aufgrund der fehlenden Jacke zwei Löcher enger schnallte. "Aber wenn es Probleme gibt, dann ruf mich, klar?" Der Buntbär hob nun ebenfalls seine Sachen auf, war dabei was seine Bekleidung anging aber offenbar nicht so empfindlich wie Rumo, weshalb er sich seinen roten Pullover auch trotz seines nassen Fells sofort überstreifte. "Was sollte es schon für Probleme geben? Ich bin ein wahrer Meister im Lügen, wenn einer diesen kauzigen Schriftsteller um den Finger wickeln kann, dann bin da ja wohl ich. Du wirst sehen, in weniger als zwei Stunden bin ich mit all deinen Informationen zurück und du kannst beruhigt wieder nach Atlantis gehen." "Na wollen wir es hoffen." Rumo dachte an Nachtigallers Worte. Der Alte hatte ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er von Mythenmetz nicht erwarten könne, die Formel zu bekommen, lediglich ein kleiner Tipp, ein Schubs in die richtige Richtung sollte es hier geben. Doch Blaubär gegenüber ließ er das lieber unerwähnt. Wer weiß, ob der sein Möglichstes versuchen würde, wenn ihm von vornherein bewusst wäre, dass er damit wenig würde erreichen können. "Also dann…" Blaubär hüpfte einmal kurz auf der Stelle und grinste den stillen Wolpertinger an. "Ich mache mich dann mal auf den Weg. Es ist nur einmal um den See herum, hinter diesen Berg da liegt schon das Tor. Mach keine Dummheiten während ich weg bin!" Er trabte los und winkte, während er sich langsam entfernte. Rumo sah ihm nach, hob einmal kurz halbherzig die Pranke, ließ sie aber nach einmaligem Winken sofort wieder fallen. Die ganze Sache war so was von vage… Wieso traute er diesem Buntbär überhaupt? Er kannte ihn gerade einmal einen guten halben Tag. Klar, sie hatten sich, nachdem er es endlich geschafft hatte, seine Lüge für den Moment zu vergessen, recht nett unterhalten, doch was hieß das schon? Er ließ sich auf den steinigen Boden fallen, legte sich der Länge nach hin und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Was tat er hier eigentlich? Er suchte nach der Formel für das Elixier des ewigen Lebens. Ging es noch ein wenig pathetischer? Er konnte von Glück reden, dass ihn noch keiner, den er bis jetzt um Hilfe gebeten hatte, in eine Psychiatrie verwiesen hatte. Rumo wusste, dass man Zamonien auch den Kontinent der Wunder nannte, was das allerdings genau hieß, war ihm schleierhaft. Er war hier aufgewachsen und wusste nicht, was genau seine Heimat von all den anderen Teilen der Welt unterschied, doch er zweifelte daran, dass er sich in Punkto möglich machen des Unmöglichen sonderlich von anderen Kontinenten abhob. Vielleicht gab es hier einige Dinge, die es anderswo nicht gab, aber die Formel des ewigen Lebens? Also bitte! Smeik hatte sie doch nicht mehr alle. Was, wenn es die Formel überhaupt nicht gab? Was, wenn er einem Phantom hinterher jagte? Plötzlich erschien Rumo seine eigene Geschichte etwas sehr weit hergeholt. 'Vielleicht', überlegte er in bester Galgenhumor-Stimmung grinsend, 'vielleicht verkaufe ich sie eines Tages an irgendeinen heruntergekommenen Schriftsteller.' "Hähä, dann wirst du sicher berühmt." "Ja, gut möglich…" Löwenzahn konnte Recht haben, wer wusste das schon. Wahrscheinlich war es jedoch nicht. Er war schlechtweg nicht der Typ dazu im Rampenlicht zu stehen, das überließ er lieber anderen. Smeik zum Beispiel. Rumo beobachtete gedankenverloren, wie eine einzelne, wattige Wolke über den ansonsten strahlend blauen Himmel zuckelte. Wie viele Tage waren inzwischen vergangen? Sechs? Oder waren es mittlerweile acht oder neun? Er hatte den Überblick verloren und das schon nach so kurzer Zeit. "Oh bitte. Dass du mir bloß nicht berühmt wirst", stöhnte Grinzold. "Berühmte Typen sind alle seltsam. Bestes Beispiel: Dieser Lindwurm da oben. Welcher anständige Kerl, der noch dazu in einem Berg lebt, schreibt Bücher? Bei dem muss doch etwas schief gelaufen sein." "Ich glaube, die korrekte Reihenfolge wäre: Er hat erst angefangen Bücher zu schreiben und ist dann damit berühmt geworden, Grinzold." Der Dämonenkrieger machte ein schnaubendes Geräusch, dass in Rumos Gedanken nachhallte. "Mach ruhig einen auf Klugscheißer, Kleiner. Mich beeindruckst du damit nicht. Ich bleibe bei meiner Meinung." "Sei nicht immer so ein verdammter Dickkopf!", meckerte Löwenzahn drauflos. "Das ist so gar nicht angenehm, weißt du das?" "Ach ja? Ich zeig dir gleich, was angenehm ist, du Weichei!" Die beiden redeten sich nun richtig in Rage, doch Rumo versuchte einfach nicht hinzuhören - was gar nicht so einfach ist, wenn sich die Stimmen direkt im eigenen Kopf befinden. Er ließ die warme Mittagssonne sein Fell trocknen und schloss die Augen, um sich etwas Entspannung zu gönnen. Seit mehr als vierundzwanzig Stunden hatte er nun schon nicht mehr geschlafen und jetzt, wo er etwas Ruhe fand, spürte er auch wieder ein leichtes Ziehen im Nacken. Zeit, um sich ein wenig auszuruhen. Während sich Grinzold und Löwenzahn munter weiter zankten, war Rumo nur wenige Minuten später fest eingeschlafen. Dass er wieder wach wurde, lag vor allem daran, dass ihm ziemlich kalt geworden war. An seinem nassen Fell konnte es nicht liegen - er fühlte sich eher ausgetrocknet als zu feucht - viel mehr schien die Außentemperatur um einige Grad gefallen zu sein, was wiederum nur eins bedeuten konnte. Rumo öffnete die Augen. Um ihn herum war alles in ein oranges, warmes Dämmerlicht getaucht, die Berge warfen lange, nachtschwarze Schatten über den See und zwischen zwei Gipfeln konnte er die Sonne blutrot hinter den Felsen verschwinden sehen. Es war Abend geworden. Noch etwas dösig im Kopf setzte Rumo sich auf und rieb sich den schmerzenden Rücken - es war keine gute Idee gewesen, sein Schwert während des Schlafes umgebunden zu lassen. Nachdem er kurz mit den Schultern gekreist und sich die Steifheit aus den Armen geschüttelt hatte, sah er sich um. Entlang des Seeufers regte sich nicht nicht das Geringste, eine fast gespenstische Stille hatte sich über die gesamte Landschaft gelegt und nicht einmal ein Vogel kreischte. Plötzlich fiel Rumo etwas auf und er sprang mit einem Satz auf die Füße. Seine Beine fühlten sich wackelig und verkrampft an, doch er ignorierte es soweit er konnte. "Blaubär?" Rumo drehte sich um die eigene Achse, lief ein paar Schritte auf und ab und stellte sich auf eine nahgelegene Anhöhe. Doch es war lediglich die Stille, die ihm antwortete. Kein tintenfarbenes Fell zu sehen, kein motiviertes Lachen, kein Blaubär. Er war allein. "Verdammt!" Seinen Schätzungen zufolge waren mindestens acht Stunden vergangen, seit er am See eingeschlafen war, vier Mal so viel Zeit, wie der Buntbär zu brauchen angedacht hatte. Zwar hatte Rumo durchaus damit gerechnet, dass es möglicherweise etwas länger dauern würde - so genau konnte schließlich niemand sagen, wie viel Überredungskunst für diesen Mythenmetz notwendig war - aber fast ein halber Tag? "Vielleicht ist er abgehauen?", mutmaßte Löwenzahn. "Ich habe mir ja schon gedacht, dass wir diesem Typen nicht trauen können. Er sah schon von Anfang an so seltsam aus." Rumo schüttelte den Kopf. "Das würde keinen Sinn ergeben. Wieso sollte er erst mit mir durch die Wüste rennen, nur um dann zu verschwinden? Ich habe nicht einmal etwas dabei, was man stehlen…" Er erschrak und sprintete zu seiner Jacke. "Ach du meine Güte! Die Goldrosenessenz!" Hektisch wühlte er sich durch das in Mitleidenschaft gezogene Leder und langte, ohne vorher den Knopf zu öffnen, mit der Kralle in die Brusttasche. Im ersten Moment fasste er ins Leere, dann legten sich seine Finger um das kalte, dünne Glas einer kleinen Phiole. Die Essenz war noch da. Rumo ließ sich zurücksinken und setzte sich wieder auf den Steinstrand. "Damit wäre zumindest diese Option ausgeschlossen…", murmelte er wie zu sich selbst. "Aber wo…" "Vielleicht hat er einfach Schiss bekommen", mischte sich jetzt auch Grinzold ein, doch der Wolpertinger ging nicht darauf ein. Wie wahrscheinlich war das schon. Nach allem, was er bis jetzt sagen konnte, schien der Buntbär eher einer von dieser Sorte Charakter zu sein, die grundsätzlich erst einmal vor gar nichts Angst hatte, bis man ihm das Gegenteil bewies. Rumo seufzte und ließ den Kopf hängen. Es gab tausende von Erklärungen, warum Blaubär bis jetzt noch nicht zu ihm zurückgekehrt war, und mindestens die Hälfte davon klang beim drüber Nachdenken erstaunlich plausibel. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als hier sitzen zu bleiben und zu warten. Natürlich hätte er auch selbst versuchen können, in de Lindwurmfeste hinein zu kommen, aber die hieß nicht ohne Grund Feste, und wenn Blaubär tatsächlich aus eine rein banalen Grund etwas länger Brauchte, um die Informationen zu beschaffen, war eine solche Aktion mehr als überflüssig und würde höchsten dazu führen, dass sie sich aus den Augen verloren, was wiederum einen erneuten Zeitverlust bedeuten würde. Minuten verstrichen in denen keiner der drei Freunde ein Wort sprach. Langsam wurde es dunkler und in der Behausung der großen Urzeitechsen flackerte hier und da ein Licht auf. Nach wie vor zeichnete sich der imposante Berg gut erkennbar vor dem dunkelgrauen Himmel ab und verwandelte sich mit dem Verschwinden des letzten Rest Lichts in ein vieläugiges Untier, das seien Gast argwöhnisch aus dem Schatten heraus musterte. Rumo fühlte sich wie einer der Soldaten aus Smeiks zahlreichen Geschichten, wie jemand, der sich auf die Jagt nach dem legendären Lindwurmfestediamanten begeben hatte und nun sein Ziel zum Greifen nahe fand. 'Ich bin ein Belagerer', dachte er mit einem schiefen Grinsen im Gesicht und ließ seine Gedanken kurz zu all den Legenden aus seiner Zeit auf den Teufelsfelsen abschweifen. 'Dies ist die einhundertdreiundsiebzigste Belagerung durch den legendären Rumo von Zamonien. Nehmt euch in Acht, ihr Lindwürmer, ich werde mir euren wohl gehüteten Diamanten schon holen.' Als wohnten seinen Worten neuerdings magische Kräfte inne, wurde es in genau diesem Augenblick für den Bruchteil einer Sekunde taghell. Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Stille über dem gesamten See so urplötzlich, dass Rumo aufsprang, zurück stolperte und unsanft auf dem Rücken landete. Irgendetwas war explodiert. Und dieses Etwas befand sich in der Lindwurmfeste. Kapitel 8: Sturm auf die Lindwurmfeste -------------------------------------- Rumo sprang mit einem gekonnten Satz auf die Hinterpfoten, zog sich seine Jacke über - dieses Mal über Schwert und Tasche, für alles andere war jetzt keine Zeit - und spurtete los in Richtung Lindwurmfeste. Was auch immer dort passiert war, er hatte das ungute Gefühl, dass es etwas mit Blaubärs Versuch zu tun hatte, zu Mythenmetz zu gelangen. Wer wusste schon, wozu diese exzentrischen Echsen fähig waren, vielleicht hatten sie ihn gefangen genommen und brachten ihn jetzt irgendeiner wütenden Feuergottheit als Opfer dar. Die wildesten Geschichten zuckten durch Rumos Gedanken und auch wenn die meisten von ihnen sicherlich der größte Schwachsinn waren, die Explosion war real und ebenso war es der Rauch, der von einer der obersten Zinnen der Festung aufstieg. Sand und kleine Steine flogen hinter ihm auf, als er auf allen Vieren das Seeufer entlang hetzte, die Augen starr auf sein Ziel gerichtet. Sein Wolpertinger-Instinkt war geweckt, hier ging es nicht mehr um strategisches Vorgehen oder dezente Überredungskunst, hier ging es - davon war zumindest auszugehen - um eine Rettungsaktion. Eindringen, draufhauen, abhauen. Das war schließlich seine Spezialität. Rumo konnte trotz vorherrschender Dunkelheit bereits von Weitem die Wachen erkennen, die am mächtigen, mit eisernen Drachen verzierten Eingangstor zur Lindwurmfeste postiert waren, große, aufrecht gehende Echsen mit Lederpanzer, Helmen und spitzen Lanzen. Sie sahen nicht unbedingt so aus, wie er sich die verweichlichten Dinosaurier aus Smeiks Geschichten vorgestellt hatte, doch aufhalten konnte ihn diese Erkenntnis kaum. Ob Seidenrobe oder Lederkluft, er würde, wenn nötig, sowohl das Eine als auch das Andere in Stücke reißen. Die Lindwürmer schienen Rumo erst zu bemerken, als dieser schlitternd vor ihnen zum Stehen kam. Sie senkten augenblicklich ihre Waffen in Abwehrstellung und beäugten den hastigen Neuankömmling mit dem wilden Blick misstrauisch. "Was willst du, Wolpertinger?", fragte der eine von ihnen, offenbar ein Nachfahre eines Triceratops, abfällig. "Das hier ist eine Schrifstellerhochburg und ihr Typen seid, mit Verlaub, nicht gerade dafür bekannt, dass ihr viel lest." Rumo hatte keine Lust auf lange Diskussionen über sein Leseverhalten, zumal er hätte zugeben müssen, dass er tatsächlich nicht der Belesenste war. Stattdessen baute er sich in voller Lebensgröße vor den Wachposten auf, was jedoch gerade reichte, um ihnen auf die gepanzerte Brust gucken zu können. Eine leicht ernüchternde Feststellung für jemanden, der es gewohnt war, der Größte im Raum zu sein. "Sagt mal, fällt euch denn gar nichts auf?" Die Lindwürmer blickten erst einander, dann den aufgeregten Hund vor ihnen an, zuckten dann mit den Achseln. "Nein, wieso?" "Vielleicht weil euer Berg brennt?!" "Wissen wir", entgegnete der Triceratops kühl. "Aber das liegt nicht in unserem Aufgabenbereich, wir überwachen nur das Tor. Und das ganz offensichtlich zu Recht." "Außerdem", mischte sich jetzt auch der zweite Wächter ein, "ist das Feuer meilenweit entfernt von allen normalen Höhlen. Da oben wohnt nur dieser schräge Mythenmetz und der zündet alle Nase langt etwas an. Wenn man sich jedes Mal darum kümmern würde, was dieser Verrückte anstellt, käme man zu nichts anderem mehr." Rumo wurde es langsam zu bunt. Blaubär, seine einzige Hoffnung auf eine erfolgreiche Reise, war dort oben, in dieser absurden Trutzburg, und ganz offensichtlich in der Gesellschaft eines pyromanischen Schriftstellers mit akutem Größenwahn. Er würde da jetzt hinein gehen, koste es was es wolle. "Lasst mich durch!", fuhr er die beiden Wachposten an und fletschte sein Raubtiergebiss. "Wenn ihr euch schon nicht darum kümmern wollt, ich werde es tun!" Doch die Lindwürmer traten lediglich einen Schritt zurück und kreuzten die auf dem Boden abgestellten Lanzen vor dem Tor. "Tut mir Leid, Wolpertinger, aber das können wir nicht zulassen. Seit der Schmach, die wir durch de Huldige erfahren mussten, lassen wir keine Fremden mehr in unsere Feste." Rumo trat unruhig von einer Pfote auf die andere, während er immer wieder hektische Blicke nach oben warf. Flammen schlugen aus einem der Höchsten Punkte des Berges und tauchten den See in oranges Flackerlicht, wie von Tausenden von Fackeln. "Keine Fremden? Was soll das heißen? Ihr habt den Buntbär hinein gelassen, zählt das nicht?" "Hier war kein Buntbär." Zum ersten Mal seit beginn des Gesprächs hatten die beiden Echsen Rumos ungeteilte Aufmerksamkeit. "Ihr macht Witze!" Der Kleinere von beiden, der ein wenig an einen Feuersalamander erinnerte, verdrehte genervt die Augen. "Ja. Und hier habe ich noch einen guten für dich: Zieh Leine, Hund." Er lachte blöde, verstummte aber, als er sah, dass ihn sein Kumpel missbilligend von der Seite anfunkelte. Das war der Moment, in dem Rumo endgültig der Kragen platzte. Er packte den Triceratops an den Riemen, die auf der Brustseite seines Lederharnischs herunter hingen, und zog dessen Kopf zu sich herunter, sodass er ihm in die kleinen Augen sehen konnte. "Sag mir jetzt sofort", brüllte er sein in diesem Moment durchaus bemitleidenswertes Gegenüber an, "ob hier ein Buntbär durchgekommen ist, oder nicht! Oder willst du, dass ich dich einen Kopf kürzer mache?" Das wollte der Lindwurm natürlich nicht, doch offenbar wollte er ebenso wenig von einem wild gewordenen Fremden vorgeschrieben bekommen, was er zu tun oder zu lassen hatte. Er packte den verdutzten Wolpertinger seinerseits am Fellkragen der Lederjacke und hob ihn mühelos von den Hinterläufen, bis dieser knapp einen halben Meter über dem Boden baumelte. "Ich sag dir jetzt mal etwas, Straßenköter. Du bist keiner von uns also kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Kram, verstanden?" Rumos Pfoten versuchten wie automatisiert die Klauen abzuschütteln, die sich unangenehm in seinen Hals gruben und ihm langsam aber sicher die Luft abschnürten. "Das versuche ich ja gerade", japste er. "Aber zwei idiotische Urzeitmonster haben ja nichts besseres zu tun, als mich daran zu hindern." Dann hob er sein rechtes Bein und kratzte dem Wachposten so kraftvoll wie er konnte über den Oberschenkel. Es gab ein hässliches Geräusch, das an eine Küchenreibe erinnerte, und eine warme Flüssigkeit sickerte durch das Fell an seinem Fußknöchel. Der Lindwurm jaulte auf und sprang einen schritt zurück, wobei er seine Lanze, die er sich in die Armbeuge geklemmt hatte, und den zappelnden Wolpertinger fallen ließ. Rumo landete auf allen Vieren auf dem Boden und schnellte sogleich wieder hoch, um dem winselnden Triceratops seine Schulter in den Magen zu rammen. Dieser strauchelte, stolperte über seine in einer Felsspalte steckende Waffe und stürzte dann ungeschickt auf den Rücken. Sein Partner eilte zu ihm und versuchte ihm aufzuhelfen, scheiterte aber daran, dass der andere Lindwurm mehr als einen Kopf größer und augenscheinlich um ein Vielfaches schwerer war als er selbst. Das war die Gelegenheit, auf die Rumo gewartet hatte. Er tat einen gewaltigen Satz, zog im Sprung Löwenzahn unter seiner Jacke hervor und rammte ihn in das hölzerne Eingangstor, direkt über den Kopf eines grimmig aussehenden Drachen. Das würde dem neuen Schliff nicht gerade gut bekommen, doch er hatte jetzt keine Zeit sich auch noch darum zu kümmern. Leichtfüßig landete er auf dem hervorstehenden Griff, packte die eisenbeschlagene Oberseite der Pforte und schwang sich hinauf. Dann ließ er sich wie ein Kind an einer Turnstange über Kopf zurück fallen und zog sein Kurzschwert aus dem splitternden Holz, wobei er sich nicht darum scherte, dass sich nun ein tiefer Spalt durch die kunstvolle Tür zog. Unter ihm blickten sich die beiden Wachposten verwirrt um. Keiner von ihnen schien mitbekommen zu haben, wohin der seltsame Hund verschwunden war, so sehr waren sie damit beschäftigt gewesen, einander wieder zu entwirren und zu sortieren. "Nächstes Mal bitte etwas sanfter", murrte Löwenzahn, während Rumo sich mit dem Schwert in der Hand aufgerichtet hatte und nun auf der Oberkante der etwa dreißig Zentimeter dicken Pforte balancierte. Er gab seinem körperlosen Freund das halbherzige Versprechen, in dem besten Wissen, dass er sich ohnehin nicht daran halten würde, und schloss die Augen, um besser Witterung aufnehmen zu können. Vor ihm schlängelte sich eine mit grobem Kopfsteinpflaster ausgelegte Straße zwischen Felsen und liebevoll gebauten Steinhäusern hindurch den Berg hinauf. Viel mehr konnte er jedoch nicht erkennen, denn der schwere Geruch des dichten Rauches hatte sich wie ein Tuch über die Behausungen und kleinen Lärchen der Lindwürmer gelegt und vernebelte ihm als hässlich grauer Dunstschleier die Sicht. Ein paar Echsen waren verwundert aus ihren Behausungen und Höhlen getreten und blickten nun fragend in die Richtung, aus der der orange-rote Schein lodernder Flammen zu sehen war. Die meisten Schreiberlinge hatten sich jedoch ganz offensichtlich nicht in ihrer abendlichen Ruhe stören lassen, sodass sich der allgemeine Tumult in überschaubaren Grenzen hielt. Niemand schien den fremden Wolpertinger zu bemerken, der sich als unheimlicher Schatten vor dem nachtschwarzen Himmel abzeichnete, die Schnauzen der Quelle des flackernden Lichtes zugewandt. Rumo selber konnte das nur Recht sein. Die meisten Lindwürmer waren um einiges größer und wesentlich kräftiger gebaut als er selbst, zwei dieser Exemplare, die ihm im Wege gestanden hatten, waren mehr als genug gewesen. Nachdem er sich einen ausreichenden Überblick über die nähere Umgebung verschafft hatte, ließ er sich mit einer geschmeidigen Bewegung von dem hohen Tor hinab gleiten und landete sanft in einem nahen Gebüsch. Dort klemmte er sich Löwenzahn zwischen die Zähne, sank hinab auf alle vier Pfoten und schloss erneut die schwarzen Augen. Sofort verschwand die finstere Nacht um ihn herum und wich dem bekannten bunten Farbenmeer. Zeit für ein wenig Action. So schnell wie ihn seine kräftigen Läufe trugen, schoss Rumo aus seinem Versteck, vorbei an den in die Luft starrenden Lindwürmern, über rote und schwarze Dachschindeln - Farben, die für ihn keinen Unterschied machten - durch liebevoll angelegte Steingärten und Gemüsebeete und über diverse Mauern hinweg, die allerdings kaum höher waren als ein durchschnittlicher Tisch. Er wusste nicht, was die Urzeitechsen mit unliebsamen Eindringlingen machten, doch die Zeit, dies Auszuprobieren, konnte und wollte er nicht erübrigen. Je weniger die schwerfälligen Gestalten von seinem Besucht mitbekamen, desto besser. Etwa zweihundert Meter weit führte die gepflasterte Straße an der Außenwand der Lindwurmfeste entlang, dann gabelte sie sich und eine Abzweigung verschwand im inneren des Berges, während der andere Teil sich offenbar ein paar Schritte weiter auf einem größeren Platz verlor. Rumo beschloss, sich ein weiteres Mal umzusehen, und kam schlitternd vor einem kleineren Holzschuppen in einem der sorgsam angelegten Gärten zum stehen. Kleine Steine begannen unter seinen Halt suchenden Pfoten zu rollen und ließen ihn kurz taumeln, bis er schließlich ein hervorstehendes Brett fand und sich daran hoch zog. Erneut kontrollierte er seine Umgebung. Noch immer war er unbemerkt, alles um ihn herum war still und regungslos, sah man von den Vögeln ab, die, irritiert von den Flammen, wild schreiend durch die Gegend flogen. 'Diese Lindwürmer haben ein ernstliches Sicherheitsproblem', dachte Rumo und drehte sich milde lächelnd um, um sich den Eingang in das Innere der Feste näher anzusehen. Womit er nicht gerechnet hatte, war der kleine, schlaftrunkene Junge in purpurfarbener Nachtrobe, der soeben auf der suche nach etwas Trinkbarem aus der Hintertür des kleinen Hauses seiner Eltern getapst war und nun mit großen Kinderaugen den seltsamen Gast anstarrte, der sich verdächtigerweise an ausgerechnet jenen kleinen Holzschuppen klammerte, in dem er sein Spielzeug aufbewahrte. Das Lindwurm-Junges war eine groteske Mischung aus Flugsaurier und etwas, was Rumo beim besten Willen nicht zuordnen konnte, definitiv zu schwer für sein Alter und trug mehr Schmuck an seinem unförmigen Körper, als gut für ihn gewesen wäre. Von seinem reich verzierten Kragen baumelte ein Monokel wie von anderen Kinderpyjamas ein Schnuller und aus seiner Tasche lugten Pergament und Feder. Das Perfekte Klischee. Sekundenlang geschah gar nichts. Der Junge starrte Rumo an und Rumo starrte zurück. Gerade als er eine Pfote zum Maul heben und dem Kind Ruhe bedeuten wollte, änderte sich die Situation jedch schlagartig. Der Kleine stolperte einige Schritte zurück, drehte sich dann um und watschelte ungeschickt und ohne Rücksicht auf Verluste in der Gartendekoration zurück ins schützende Haus. Dabei begann er wie am Spieß zu schreien. "Eindringling!", brüllte er mit schrecklich schriller Stimme. "Eindringling! Er will mich auffressen!" Das fand Rumo nun doch etwas unfair. Er hatte noch nie etwas gefressen, was nicht schon mindestens zehn Minuten tot war und hatte es auch in naher Zukunft nicht vor… vorausgesetzt das Kind hielt bald die Klappe. Doch das Schicksal schien andere Pläne mit ihm zu haben. Gemeinere Pläne. Nur Sekunden nachdem die Schreie des kleinen Lindwurms hinter den Mauern seines Hauses verklungen waren, brach in der gesamten Umgebung die Hölle los. Was das ferne Feuer nicht hatte bewirken können, schaffte das hysterische Gebrüll eines Kindes in wenigen Sekunden. Um Rumo herum wurden Türen aufgerissen und Fackeln angezündet, Schwerter gezückt und die obligatorischen Mistgabeln erhoben. Lindwürmer in seidenen Nachtgewändern und schwerer Abendkleidung stoben aus ihren Häusern, die Brillen und Monokel schief auf den Echsennasen und nicht selten noch mit Buch oder Feder in der Hand. Rumo wich zurück soweit er konnte, bis er mit dem Rücken gegen die Holzwand des Schuppens stieß. Zu spät fiel ihm auf, dass er Löwenzahn noch immer zwischen den spitzen Zähnen trug. Dass er damit auf die nahende Lindwurm-Meute keinen wirklich guten Eindruck machte, verstand sich eigentlich von selbst, und er bereute es sogleich zutiefst, denn einige der größeren Männchen mit ihren Reptilienzügen und Klauen bewährten Pranken sahen verdammt wütend aus. 'Smeik', rief er in Gedanken. 'Du hast mir gesagt, diese Echsen seien alle weichgespülte Dichter-Snobs! Die sehen aber bei näherer Betrachtung gar nicht so harmlos aus!' Grinzold lachte. Natürlich. "Weicheier oder nicht, wir machen sie platt." "Hast du gesehen, wie viele das sind?", kreischte Löwenzahn. "Das müssen mindestens hundert sein, wenn nicht sogar mehr." Der Stollentroll übertrieb maßlos, so viel war sicher. Nach Rumos Schätzung waren es höchstens vierzig Lindwürmer, die ihm nun unangenehm dicht auf den Pelz rückten, doch auch das war mehr als genug. Ein tiefes Grollen ging von der aufgebrachten Gruppe aus, die angeführt wurde von eben jenem kleinen Jungen, der ihn vor wenigen Sekunden verraten hatte. Rumo hasste ihn. Er hatte zwar immer noch keinen Schimmer, was die Schriftsteller schlimmstenfalls mit ihm anstellen würden, doch nach den hoch erhobenen Waffen jeglicher Art zu urteilen - ein Weibchen in knallig roter Schürze hatte allen Ernstes ein Nudelholz auf den potentiellen Feind gerichtet - waren sie tendenziell eher unfreundlich eingestellt. Keine wirklich gute Basis für eine zivilisierte Diskussion, selbst wenn das Rumos stärke gewesen wäre. Doch das bekanntermaßen nicht der Fall. "Ähm… hört mal…", begann er dennoch probeweise, nachdem er sein Schwert ausgespuckt hatte, und strich sich verlegen über den Hinterkopf. Leider hätte er wohl ebenso gut mit einem Stein reden können, denn die Lindwürmer zeigten sich völlig unbeeindruckt. Diese waren inzwischen auf etwa zehn Meter herangerückt, sodass Rumo trotz des diffus flackernden Fackelscheins einzelne Rassen erkennen konnte. Er wusste sie nicht alle zu benenn, doch dass sie gefährlich aussahen erschien ihm in diesem Moment so oder so die wesentlichere Information zu sein. Ganz an der Spitze des Trupps drängten sich zwei Männchen mit Langschwertern, die ein wenig an die beiden Wachposten erinnerten, wenngleich sie keine Rüstung, sonder lange Roben aus lila Samt trugen, die ihre massige Körper wie Togen umhüllten. Die Schwerter funkelten und reflektierten das unheimliche Licht, sodass sie beinahe lebendig wirkten und das tiefe, kehlige Knurren ihrer Besitzer tat sein übriges dazu, den sonst so kampfeslustigen Wolpertinger hörbar schlucken zu lassen. "Komm schon, knickst du etwa ein?", provozierte Grinzold unverhohlen und lachte böse. "Löwenzahn hat sich übrigens mal wieder verabschiedet. Jetzt sag mir bitte nicht, dass du es dieser Memme gleich tun willst. Wir werden doch kämpfen, oder?" Rumo sah sich um. Kämpfen oder nicht kämpfen, das war hier die Frage, und auch wenn das auf den ersten Blick nicht gerade hochphilosophisch erschien, war es in dieser Situation doch ein erschreckend essentielles Problem. Vor ihm bauten sich etwas über vierzig Lindwürmer auf, die alle durchschnittlich einen Kopf größer und um einiges breiter waren als er. Noch dazu waren sie besser bewaffnet und hatten sicherlich nicht vor wenigen Tagen eine Operation an der Wirbelsäule hinter sich gebracht. Die Antwort ergab sich aus diesen Fakten also quasi von selbst, zwar hätte er sicherlich ein Paar von ihnen ausschalten können, doch ein Paar reichten eben nicht, wenn man sich einer ganzen Meute gegenüber sah. Ihm blieb also nur noch die Flucht. Leider fiel Rumo erst jetzt auf, dass es wohl oder übel eine Flucht nach vorne werden würde, da sich hinter ihm der Schuppen und wiederum dahinter die raue Felswand auftürmte. Rechts von ihm lag der Höhleneingang, doch der war unerreichbar, da von einer Legion rasender Urechsen blockiert, und auch zu seiner Linken gruppierten sich die Schriftsteller. Der Wolpertinger hatte so eine Ahnung, dass Reden nun nicht mehr wirklich angebracht war. Stattdessen verlagerte er sein Gewicht unmerklich auf den hinteren Fuß und hob sein halb bewusstloses Schwert. Dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Zum einen stieß sich Rumo mit aller Kraft vom Boden ab und schnellte auf die Horde Gegner zu, so schnell, dass diese davon eigentlich nichts hätten mitbekommen dürfen. Zum anderen brüllte unglücklicherweise genau in dieser Sekunde eines der führenden Männchen der Gruppe: "Tötet ihn!" (Aha, das machte man hier also mit Eindringlingen. Nicht gerade zimperlich, diese Viecher!), woraufhin etwa vier Dutzend Dinosaurier ihre Schwerter, Klauen und Nudelhölzer in die Luft rissen und auf den unglücklichen Wolpertinger losgingen, wie ein Rudel Wölfe auf ein Stück Fleisch. Rumo spürte den Luftzug, als die erste Lanze über ihm durch die Luft sirrte, und sah den Stahl der zweiten auf sich zu rasen, sodass ihm gerade noch die Zeit blieb, sich zur Seite zu neigen. Schwerter zuckten an ihm vorbei wie kleine, silberne Kolibris, Äxte zerteilten die Luft über seinem Kopf und einmal sah er sogar das Nudelholz an seinem linken Auge vorbei rauschen. Er duckte sich, wand und bog sich, um den wild umher schlagenden Waffen und Klauen auszuweichen, Grinzold parierte nach Leibeskräften, doch in all dem Tumult verlor er schon bald den Überblick. Das einzige, was er wusste, war, dass er weg wollte, weg musste, sich einen Pfad durch die Menge schlagen würde und dann… Ja, und dann? Wo würde er sich verstecken? Das hier war die Lindwurmfeste, gab es hier überhaupt irgendeinen sicheren Ort? Rumo zögerte eine Sekunde lang und das war sein Fehler. Eine Keule sauste auf ihn hernieder wie ein Henkersbeil, zielte genau auf den empfindlichen Punkt zwischen seinen Augen. Aus irgendeiner seltsamen Laune der Natur heraus konnte er in den letzten Zehntelsekunden vor dem niederschmetternden Aufprall fast irreal deutlich die kunstvolle Verzierung der Waffe erkennen, die sich vom Kopf in langen, geschwungenen Linien den Schaft hinunter zog und hier und dort mit einigen spitzen Dornen gespickt war. Das würde wehtun, vermutete Rumo, und ein hysterisches Kichern entfuhr ihm. Nicht sehr männlich. Doch seltsamerweise tat es nicht weh, ganz und gar nicht. Es war vielmehr so, als hätte jemand urplötzlich alle Lichter um ihn herum ausgelöscht, nur dass ihm diese Mal auch seine Nase nicht weiterhelfen konnte. Rumo sank zum wiederholten Male innerhalb weniger Tage zu Boden, nur noch imstande einen einzigen klaren Gedanken formulieren. Und der war nicht gerade optimistisch. 'Ich werde sterben', dachte er seltsam emotionslos. 'Dieses Mal habe ich es zu weit getrieben. Ich werde sterben.' Dann verschwand die Welt um ihn herum. Das erste, was Rumo sah, als er wieder zu sich kam und einem ersten Reflex folgend die Augenlieder hob, waren große, reptilienartige Kinderaugen. Es reichte, um ihn sofort wieder Schutz in allumfassender Dunkelheit suchen zu lassen. 'Schade', sinnierte noch halb umnachtet. 'Hat wohl doch nicht für den Himmel gereicht. Was soll's. Hölle kann auch ganz nett sein.' Dann setzte der Kopfschmerz ein. Rumo schrie auf und begann wild um sich zu schlagen, so jäh und unerträglich zuckten die Schmerzen durch seinen gesamten Körper, schienen ihm den Schädel zu spalten und jegliche Sinne zu rauben, bis er blind und taub war, leider aber nicht ohne Gefühl. Er wollte losrennen, wollte einfach nur weg, doch irgendetwas hielt ihn zurück, irgendetwas hatte seine Handgelenke gepackt und ließ ihn nicht gehen. Ihm wurde schlecht und er erbrach sich auf den Fußboden. "Iiieehh", klang eine Kinderstimme von fern an sein Ohr. Rumo spürte, wie sich sein Herzschlag langsam beruhigte, ein schwacher Trost, bedachte man die Tatsache, dass er sich nicht bewegen konnte. Sobald er seine Hinterpfoten auch nur um einen Schritt versetzen wollte, war da sogleich wieder dieser unangenehme Druck an seinen Armen. Und etwas rasselte. 'Ketten', dachte Rumo. 'Sie haben mich mit Ketten an beiden Handgelenken gefesselt.' Er war wohl immer noch die Bestie und die anderen die Guten. Aber wo waren die anderen? Und wo war er? Er musste seine Augen wieder öffnen und sich umsehen, soviel war klar, zuvor allerdings sollte er sich einen groben Überblick über seine derzeitige persönliche Lage verschaffen. Er stand, oder befand sich zumindest in einer halbwegs aufrechten Haltung, das wusste Rumo, weil das Übergeben vor wenigen Sekunden sonst um einiges übler ausgegangen wäre. Allerdings war ihm auch klar, dass er sich wohl kaum aus eigener Kraft auf den Beinen hielt, dazu wäre zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht imstande gewesen. Folglich hielt ihn irgendetwas fest, und dieses etwas mussten die Ketten an seinen Handgelenken sein. Der Kopf war ihm auf die Brust gesackt und hinter sich konnte er eine kalte Steinwand spüren, in die aller Wahrscheinlichkeit nach die Enden seiner Eisenfesseln eingelassen waren, das zumindest ließ sich aus der geringen Bewegungsfreiheit schließen. Zusammengefast hing er also in irgendeinem Raum im Inneren der Lindwurmfeste - denn das war anzunehmen - an beiden Armen gefesselt an einer Wand wie ein nasser Sack und hatte sich soeben vollgekotzt. Wundervoll. Rumo widerstand jedem Impuls an Ort und Stelle vor Scham und Kopfschmerz zu sterben und öffnete langsam beide Augen, immer gefasst auf das Schlimmste, was auch immer das sein mochte. Vor ihm stand leider immer noch dieses Kind - es war lediglich ein paar Schritte zurück getreten um dem Schwall Erbrochenem auszuweichen - dahinter erstreckte sich ein karger, teils aus dem Fels gehauener, teils verklinkerter Raum, dessen einzige Beleuchtung ein riesenhafter Kronleuchter mit mindestens fünfzig Kerzen darstellte, der an einer verrosteten Eisenkette von der grob verarbeiteten Decke hing. Alle Kerzen waren entzündet; trotzdem war das Licht nur diffus und warf geisterhafte Schatten an die niedrigen Wände. Rumo sah sich so gut wie möglich um. Es befanden sich noch weitere Lindwürmer im Raum: Zwei große Männchen in der gleichen Kleidung, wie sie auch die Wachposten vor dem Tor getragen hatten, standen zu beiden Seiten eines schmalen Durchgangs, der zu seiner Linken in einen offenbar noch spärlicher beleuchteten Tunnel führte. Ihnen genau gegenüber befand sich eine Art Holztribüne, auf der noch einmal etwa zwanzig Exemplare platzgenommen hatten, und dann war da noch ein kleines Rednerpult am anderen Ende der Kammer, hinter dem eine besonders große und kräftige Echse Stellung bezogen hatte. Der kleine Junge vor ihm kam nun wieder näher und betrachtete ihn misstrauisch von allen Seiten. "Er ist wach", verkündete er schließlich und ließ es sich nicht nehmen hinzuzufügen: "Und er stinkt." Aus dem Schatten einer Ecke trat ein seltsam dürrer Lindwurm, den Rumo zuvor noch nicht bemerkt hatte. Er legte dem Kind eine Pranke auf die Schulter und schob ihn sanft von dem Gefangenen weg. "Vielen Dank, Horatio. Du kannst jetzt gehen." Horatio schien diese Ansicht zwar nicht zu teilen, doch ein kurzer, scharfer Blick des Erwachsenen genügte und der Junge tollte sich schmollend aus der Höhle. Jetzt baute sich der Lindwurm vor Rumo auf. Trotz seiner vergleichsweise geringen Körpergröße war er immer noch um einige Zentimeter größer als der halb ohnmächtige Wolpertinger vor ihm, und die Autorität, die er ausstrahlte, hätte ausgereicht, um eine ganze Horde Wrahoks zu kontrollieren. "So, du bist also der dreiste Kerl, der sich in unsere Feste geschlichen hat, um uns unserer Geheimnisse zu berauben. Dachtest du wirklich, dass du damit durchkommst? Etwas so Dämliches habe ich selten erlebt." Rumo bemühte sich um eine möglichst würdevolle Haltung, was nicht ganz einfach war, wenn einem die Hände über dem Kopf gefesselt waren und man nach Erbrochenem roch. "Bitte", presste er mühsam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Vor seinen Augen begannen die Farben wieder zu verschwimmen und er befürchtete, bald wieder das Bewusstsein zu verlieren. "Hört mich an. Es war nie mein Plan, euch zu bestehlen." Doch der Lindwurm fiel ihm ins Wort. "Das kannst du deiner Großmutter erzählen. Du hattest nicht vor uns zu bestehlen? Was hattest du dann vor, als du mit einem Schwert zwischen den Zähnen unser Junges bedroht hast? Wolltest du einfach nur töten?" Rumo setzte beide Hinterpfoten auf den Boden versuchte etwas Gewicht von seinen schmerzenden Handgelenken zu nehmen, doch er taumelte und sank sogleich zurück in die stützenden Ketten. "Nein! Nein, das wollte ich nicht. Ich…" Es fiel ihm immer schwerer die Konzentration zu wahren, die Ohnmacht tastete mit langen Fingern nach ihm und drohte ihn in ihre schwarze Umarmung zu ziehen. "Ich muss zu… zu diesem Typen..." Er hatte den Namen vergessen. "Oho!", rief sein Gegenüber aus. "Der feine Herr muss zu diesem Typen. Also das tut mir jetzt aber Leid dir das sagen zu müssen, mein Lieber, aber dieser Typ ist gerade an diesem Ort sehr weit weg von hier, und da sollte man ihn bei diesen Dingen, die er dort tut, wirklich nicht stören. Sonst wir dieser Typ nämlich ziemlich sauer, weißt du?" Alle Anwesenden mit Ausnahme von Rumo lachten. Dann schwang die Stimmung von einer Sekunde auf die andere um. Das Gelächter verstummte wie auf ein unsichtbares Zeichen hin und die Züge des Lindwurms wurden eiskalt. "Werft den Eindringlich in das Verließ. Er wird schon sehen, was er davon hat, mich zu belügen." Die beiden Wachposten am Tunneleingang verließen ihren Posten und kamen mit gesenkten Lanzen auf Rumo zu, die Mienen wie aus Stein gemeißelt. Einer von ihnen zog einen Verrosteten Schlüsselbund aus einer Tasche in seinem Untergewand und löste die Ketten, an die man den Wolpertinger gefesselt hatte, aus ihren Verankerungen in der Wand. Rumo fiel hinunter auf alle Viere und erbrach sich erneut. Sein Kopf fühlte sich an, als bearbeite ihn jemand mit einem Vorschlaghammer. Dann wurde unsanft nach seinen Armen gegriffen und er hörte Handschellen hinter seinem Rücken einrasten, bis er sich kaum noch bewegen konnte. Jemand packte den Kragen seiner Lederjacke und zerrte ihn rücksichtslos auf die wackeligen Beine, sodass er wankend wie ein Betrunkener stehen blieb. Wo sind meine Tasche und mein Schwert?, wollte Rumo fragen, doch alles, was herauskam, waren "…sche…" und "…schert…", nicht mehr als sinnloses Gebrabbel. Gerade als ihn jemand an den Schultern fasste und sich anschickte, ihn in den Tunnel hinaus zu stoßen, ertönte aus diesem ein Lauter knall wie von Metall, das gegen Holz schlägt, und wenige Sekunden später stürmten zwei Gestalten wie von bösen Geistern verfolgt in den Raum, wo sie schließlich direkt unter dem Kronleuchter zum Stehen kamen. Rumos Sehfähigkeit hatte sich mittlerweile so weit verschlechtert, dass er nur noch grobe Umrisse und Farben wahrnehmen konnte, dennoch erkannte er in der wesentlich Größeren der beiden Personen einen Lindwurm. Die Kleinere war zierlich und aus irgendeinem seltsamen Grund blau… Es dauerte eine Weile, bis Rumos lädiertes Gehirn Eins und Eins zusammenzählen konnte. Dann endlich fiel der Groschen und er fühlte sich mit einem Mal wieder deutlich besser. Blaubär! Es konnte niemand anderes sein als Blaubär. Es durfte niemand anderes sein! "Hände weg von dem Wolpertinger", donnerte eine Stimme durch den kleinen Raum. Es war ein klangvoller Bass, allerdings nicht ohne eine gewisse Schärfe im Unterton, der die gesamte Kammer von Boden bis zur Decke auszufüllen schien und jeden im Umkreis verstummen ließ. "Der Junge kommt mit mir!" Wieder wurde Rumo am Kragen gepackt, doch dieses Mal hatte er das unbestimmte aber dennoch gute Gefühl, dass er nichts weiter zu befürchten hatte. Ruhe machte sich in ihm breit und er entspannte sich ein wenig, während er aus der Kammer heraus und den dunklen Tunnel hinunter geführt wurde. Zwar schmerzte sein Kopf nach wie vor, doch er hatte nicht mehr das Gefühl, sich jede Sekunde übergeben zu müssen. Das war gut. Jemand nahm ihn huckepack, trug ihn eine lange Wendeltreppe hinauf und mehrere Gänge entlang, um endlose Ecken und durch die unterschiedlichsten kleinen und großen Höhlen und Zimmer. Längst hatte er jegliche Orientierung verloren - wenn er hier jemals wieder aus der Lindwumfeste heraus kommen wollte, wäre er mit einem Freund oder Verbündeten Einwohner gut beraten, so viel war sicher. Plötzlich tauchte Blaubärs Gesicht in Rumos eingeschränktem Blickfeld auf, es schien zu schweben, vor seinen Augen zu tanzen und verwirrte ihn. "Was hast du dir nur dabei gedacht?" Die Stimme kam von weit her und hallte unangenehm in Rumos Gedanken nach, sodass er sich wünschte, sich die Ohren zuhalten zu können. Wieso, um alles in Zamonien, hielt man ihm gerade jetzt eine Strafpredigt? "Ich habe dir doch gesagt, dass ich das alleine mache. Warum rennst du mir dann bitte schön hinterher? Kennst du denn nicht all die Legenden, die man sich erzählt? Keiner hat je die Lindwurmfeste eingenommen. Ganze Armeen sind gescheitert. Wieso also glaubst ausgerechnet du, dass du es schaffen könntest? Du bist verrückt, mein Lieber, soviel kann ich dir verraten." Rumos Gehirn konnte nicht mehr und tat folglich das, was jedes überforderte Gehirn in dieser Situation machen würde: Es quittierte den Dienst. Sein Kopf sank hinab und Blaubärs Gesicht verschwand. Jemand legte ihm einen nassen Lappen auf die Stirn, eine an sich kleine Handlung, doch für Rumo hätte es in diesem Moment nicht Größeres geben können. Das Gefühl des kühlen Stoffs auf seinem schmerzenden Kopf war einfach unglaublich, war wie ein lebensspendendes Getränk nach Stunden des Durstes, war der rettende Sonnenstrahl nach langer Nacht, das Licht am Ende des Tunnels. Er fühlte sich gut. Im Vergleich zu vorher sogar geradezu fantastisch. Ihm war nicht mehr schlecht und auch die Kopfschmerzen waren erträglich geworden, das allein reichte schon, um in Rumo ein selten gekanntes Gefühl der Entspannung hervor zu rufen. Er öffnete die Augen. Blaubär stand über ihn gebeugt und tauchte ein weißes Stofftaschentuch mehrmals in eine Schale mit klarem Wasser, bevor er es auswrang und seine Weggefährten zu dem anderen Tuch auf die gehörnte Stirn legte. Sein Blick war besorgt, die Augen wanderten unruhig über Rumos Gesicht, als suchten sie nach Anzeichen für Schmerz oder sonstige Zustandsveränderungen. Als er sah, dass der Wolpertinger erwacht war, stellte er die Schale auf einen hölzernen Tisch neben dem Bett, auf dem dieser ausgesteckt lag. "Beweg dich nicht", befahl er. "Du hast eine ziemliche Gehirnerschütterung. Und nachdem du bereits den gesamten Verhandlungssaal voll gekotzt hast, möchte ich dich doch bitten, dich hier etwas zusammen zu reißen. Das ist gesünder für uns alle, glaube mir." Er schüttelte sich kurz und verzog das Gesicht. Rumo lächelte müde, verkrampfte sich allerdings sofort wieder, als ein mächtiger Schatten über sein Bett fiel. Der Ursprung dieses Schattens war ein Lindwurm, einer von der riesigen Sorte, mit arrogantem Blick und missmutig nach unten gezogenen Mundwinkeln. Er sah ein wenig aus wie ein aufrecht gehendes Krokodil, nur wesentlich fetter und mit verkümmerten Flügeln auf dem Rücken, die wohl kaum zum fliegen geeignet waren. Als Bekleidung trug er ein lilafarbenes Gewand, dazu eine überdimensionale Halskrause und vor seinem Rechten Auge funkelte ein Monokel im Schein der im Raum verteilten Kerzen. "Rumo", sagte Blaubär beinahe feierlich, "das ist Hildegunst von Mythenmetz, der berühmteste und erfolgreichste Schriftsteller Zamoniens." Rumo war erleichtert, sehr erleichtert sogar. Und er freute sich, auch wenn er das aufgrund des Bewegungsverbotes kaum zum Ausdruck bringen konnte. Dann begann Mythenmetz zu sprechen und Rumo erkannte den gleichen sonoren Bass, den er auch schon im Verhandlungssaal gehört hatte. "Und das ist also einer der legendär dämlichen Wolpertinger?" Zu Blaubär gewandt: "Ist dieser hier zivilisiert oder wild? Ich kann da nie wirklich einen Unterschied erkennen… " Auf einmal freute sich Rumo ganz und gar nicht mehr. Dieser Schrifsteller war ein affektierter Mistkerl! "Äh… der ist zivilisiert…" erklärte Blaubär leicht verwirrt, doch Mythenmetz redete weiter, ohne ihm Beachtung zu schenken. "Ich kann wirklich nicht verstehen, warum Nachtigaller dir ausgerechnet so jemanden als Leibwächter mitschickt… wobei, als stupider Schlägertyp eignet er sich sicher einwandfrei. Wie auch immer…" Er drehte sich um und griff nach einem Kerzenleuchter, der auf einem Regal an der Wand gestanden hatte. "Sieh zu, dass er sich ordentlich ausschläft. Morgen früh ziehen wir los, ich will keine Zeit verlieren." Damit verschwand er. "Sympathisch", brachte Rumo mühsam hervor und schloss die Augen wieder. Er fühlte sich zwar besser, war aber dennoch ziemlich müde. Blaubär setzte sich dem Geräusch nach zu urteilen auf einen Stuhl, den er zuvor aus einer der Ecken des Zimmers gezogen hatte. "Mach dir nichts draus. Er kann uns wirklich helfen, der Professor hatte Recht." "Wie?" "Zunächst einmal solltest du wissen, dass ich ihm gesagt habe, dass ich die Formel für Nachtigaller suche und dieser mir dich als Leibwächter mitgeschickt hat, um mich zu bewachen. Er war zwar am Anfang ziemlich skeptisch, aber ich glaube, ich konnte ihn überzeugen." Rumo nickte vorsichtig. "Okay." "Und dann hat er mir von diesem Buch erzähl, das Gofid Letterkerl vor vier Jahren geschrieben haben soll. Darin geht es angeblich um einen alten Alchemisten und seinen Schüler namens Spiegel. Das ist zwar offiziell ein Märchen, aber Mythenmetz behauptet, es könnte doch etwas dran sein. Auf jeden fall soll dieser Spiegel das Geheimnis kennen. Und wenn wir ihn finden, können wir ihn danach fragen." Wieder ein Nicken von Rumo. Das klang alles recht positiv, bis auf eine Ausnahme: "Wo müssen wir hin?", fragte er leise. "Und vor allem, wie weit ist es? Wie viel Zeit habe ich überhaupt verschlafen?" Blaubär schwieg kurz. "Du warst nicht lange weg, beide Male nur eine Stunde oder zwei, das ist kein Problem." Rumo erlaubte sich noch einmal den Luxus erleichtert zu sein. "Und was unsere weitere Reise betrifft: Das Buch spielt in einer Stadt namens Seldwyla, aber so einen Ort gibt es in Zamonien nicht. Mythenmetz meinte daher, dass es sich eventuell um die Stadt Sledwaya handeln könnte, die an der südlichen Küste liegt. Drei bis vier Tagesmärsche von hier, wenn wir uns beeilen. Mythenmetz hat sich bereit erklärt uns zu begleiten, er erhofft sich irgendeine Sensationsstory oder so etwas, wenn er die Wahrheit hinter Letterkerls Buch erfährt..." Er gähnte. "Also ich denke, es ist auf jeden Fall einen Versuch wert. Was haben wir schon zu verlieren? Mit weniger als nichts können wir nicht zurückkehren." Das war richtig wie man es auch drehte und wendete. Dennoch gab es noch etwas, das Rumo auf dem Herzen lag. "Werde ich überhaupt reisen können?" Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, so erschöpft war er inzwischen. Blaubär lachte. "Du wirst dich morgen so fit fühlen wie schon lange nicht mehr. Was der Alte alles in deine Blutbahn gepumpt hat, war schon nicht mehr feierlich. Der hat eine ganze Apotheke hier in seinen Höhlen versteckt, das gebe ich dir schriftlich. Trotzdem solltest du dich heute Nacht gut ausruhen. Dein Schwer und deine Tasche stehen neben dem Bett, falls du sie suchst." Rumo hörte, wie Holz über rohen Stein schabte, als der Buntbär sich erhob. Mühsam hob er eine Pfote und öffnete die Augen. Sein Weggefährte schickte sich so eben an, die kleine Kammer durch dieselbe Tür zu verlassen, durch die auch Mythenmetz verschwunden war. "Warte", krächzte der Wolpertinger mit letzter Kraft. "Wohin gehst du?" Blaubär lachte "Schlafen, was denkst du denn? Wieso? Ist noch etwas?" Da war in der Tat noch etwas. "Nur kurz", flüsterte Rumo. "Sag mir kurz, was ist aus dem Feuer geworden? Was war da los?" Wieder lachte Blaubär, dieses Mal lauter. "Was das war? Mythenmetz war das. Er hat in einem Wutanfall seine gesamte Bibliothek in Brand gesteckt. Gott sei dank konnten wir nachher zusammen einen Großteil der Bücher retten. Trotzem - da haben Millionen Pyras gebrannt, soviel ist sicher." Darauf fiel Rumo beim besten willen keine Erwiderung ein. Was hätte man dazu auch schon sagen sollen? Stattdessen fragte er: "Und wie bist du hier reingekommen? Die Wachen haben mir gesagt, sie hätten dich nicht gesehen?" Aus dem Lächeln wurde ein verschlagenes Grinsen. "Rumo. Dies ist die Lindwurmfeste. Glaubst du ich bin so blöd und versuche hier einfach durch den Haupteingang zu spazieren? Da bevorzuge ich dann doch die etwas diskretere Variante, wenn du verstehst." Rumo verstand nicht und er holte Luft, um nachzufragen, doch der Buntbär schnitt ihm das Wort ab. "Und jetzt schlaf. Du hast Mythenmetz gehört, morgen in aller Frühe brechen wir auf." Kapitel 9: Das Todestagsfest ---------------------------- Sledwaya war eine der abgelegensten Städte Zamoniens, nur noch übertroffen von der absoluten Einsamkeit Nebelheims und Nordends, wo sich wirklich keine denkende Seele hin verlor. Wer hierher kam, tat dies im vollen Bewusstsein dieser Abgeschiedenheit, denn an Sledwaya kam man nicht zufällig vorbei, es sei denn der Zufall hasste einen zutiefst. Das durfte man allerdings nicht falsch verstehen – das kleine Städtchen war, rein optisch, herzallerliebst und seine Bewohner galten als stets freundlich und offen. Vielmehr war es so, dass Sledwaya schlichtweg sehr ungünstig lag, nördlich eingefasst von den Hutzenbergen, südlich, östlich und westlich vom zamonischen Ozean, dem bekanntlich rausten Ozean der Welt. Dennoch war es unglücklicherweise so, dass durch eine meteorologische Anomalie nicht die geringste Spur salziger Meeresluft die Stadt erreichte und sie somit den Titel „Kurort“ vergessen konnte. Tatsächlich konnte man in Sledwaya das nahe Meer – das einzig Attraktive der sonst kargen Landschaft – weder sehen noch hören, sodass es kaum jemanden hierher verschlug. Eigentlich niemanden, wenn man bei der Wahrheit bleiben wollte. Eine der wenigen Ausnahmen dieser traurigen Realität schob sich soeben durch die weitläufigen Felder vor den Stadtmauern. Und wirklich, „schieben“ schien genau der richtige Ausdruck für die grotesk schleppende Art der Fortbewegung zu sein, die das kleine Wandergrüppchen hier an den Tag legte. Schuld daran war niemand anderes als Hildegunst von Mythenmetz, der vor etwas mehr als sieben Kilometern beschlossen hatte, jegliche Form der aktiven Fortbewegung für die nächste Zeit zu verweigern. Der Lindwurm bestand vehement darauf zu pausieren, bis seine – in ihrer Existenz doch eher fragwürdigen – Fußkrämpfe (welche für einen Vertreter seiner Gattung durchaus tödlich verlaufen konnten, wie er immer wieder versicherte) abgeklungen waren und er sich sicher war, dass auch wirklich keine Lebensgefahr mehr bestand. Seine Forderungen unterstrich er mit einer beiläufigen Erwähnung seiner Saurier-Vorfahren, die offenbar Hunde und Bären regelmäßig zum Frühstück verspeist hatten. Und angesichts des erstaunlichen Maßes an Aggressivität, das die in die Jahre gekommene Echse an den Tag legen konnte, wenn jemand eine seiner zahlreichen Gebrechen anzweifelte, ließen es Rumo und Blaubär vorsichtshalber nicht auf einen Versuch ankommen und fügten sich ihrem Schicksal. So hatten der Wolpertinger und der Buntbär, nach einigen erfolglosen Sekunden des Schieben und Ziehens, Mythenmetz gepackt und sich über die Schultern gehievt, sodass er nun mehr oder minder zwischen ihnen baumelte. Das war noch wesentlich schwieriger, als es sich anhört, denn der schwergewichtige Schriftsteller hatte seiner Leidenschaft für Kulinarisches in den letzten Jahrhunderten nicht nur auf dem Papier gefrönt. Doch eine Verzögerung durch einen patzigen Prominenten konnten sie sich beim besten willen nicht leisten – wenn Rumo richtig gezählt hatte, hatten sie durch ein Gewitter in den Hutzenbergen so oder so bereits einen Tag verloren. Mythenmetz, der die Huckepack-Tragweise strickt verweigerte – sie sei bei weitem unter seiner Würde – war sich hingegen nicht zu schade, sie dann und wann an seine Anwesenheit zu erinnern. „Eure Unkenntnis in spätzamonischer Erlebnislyrik ist geradezu erschreckend!“, betonte der Lindwurm nun schon zum wiederholten Male, als Blaubär sich außerstande sah, das neunundsiebzigste Gedicht der dritten Schaffensphase des Ojahnn Golgo van Fontheweg zu rezitieren. „Die Jugend von heute ist der Untergang der Literatur und niemand tut etwas dagegen!“ „Wenn ich nie wieder ein Buch in die Hand nehme, ist er schuld“, knurrte Rumo mit stur nach vorne gerichtetem Blick, als könne Mythenmetz ihn nicht hören. Er bemühte sich, das leise „Töte mich!“ von Löwenzahn und das „Töte ihn!“ von Grinzold in seinem Kopf zu ignorieren. „Warum noch mal haben wir ihn mitgenommen? Ich hätte genügend Mittel und Wege gekannt, alle nötigen Informationen aus ihm herauszubekommen.“ Blaubär schnaubte verächtlich. „Klar, dafür ist auch nicht sonderlich viel nötig. Lass ihn eine Woche lang nicht zum Arzt gehen und der knickt ein wie Reisig. (Ein empörtes Luftschnappen von Mythenmetz.) Aber im Ernst: Hättest du alleine den Weg nach Sledwaya gefunden? Wohl eher nicht. Ich wusste nicht mal, dass ein solches Kaff überhaupt existiert. Außerdem wissen wir noch gar nicht, ob unsere geheimnisvolle Person überhaupt noch hier lebt. Diese alte Echse ist vielleicht der einzige, der ihn finden kann. So ungern ich das auch sage: Wir brauchen ihn.“ Mythenmetz betrachtete selbstzufrieden seine Klauen. „Ich sehe jetzt einfach mal darüber hinweg, dass du mich als „alt“ betitelt hast, und freue mich, dass endlich einmal jemand von meiner Wichtigkeit für euren wahnwitzigen Plan Notiz nimmt. Und jetzt lasst mich los, ihr ungehobelten Groblinguisten. Wir sind da.“ War man sonst auch gut beraten damit, jede Aussage des exzentrischen Lindwurms mindestens einmal gründlich zu hinterfragen, so schien er dieses Mal doch tatsächlich Recht zu haben. Vor den drei unfreiwilligen Weggefährten ragte majestätisch eine hohe, steinerne Stadtmauer auf, gekrönt von einem prunkvollen Eingangstor aus massiver Eiche, die mit schweren Eisenscharnieren, etlichen Ornamenten und kunstvoll gefertigten Wappen der Stadtgrößen beschlagen war. Beim Durchschreiten der weit geöffneten Pforten über den grob gepflasterten Eingangspfad fiel Rumo auf, dass eins der oberen Wappen offenbar mit ziemlicher Gewalt heraus gebrochen worden war. An der seltsam leer wirkenden Fläche, die um einige Nuancen heller war als das restliche Tor, war das Holz geborsten und eigne Nägel ragten krumm und verlassen daraus hervor. Jemand hatte mit einer Axt oder etwas ähnlichem einen tiefen Spalt in das weiche Material geschlagen und beim näheren Hinsehen schien es geradezu so, als hätten noch weitere Bürger der Stadt ihre Wut mit diversem spitzen Gerät an dem unglücklichen Stück Holz ausgelassen. Dieser Anblick wollte so gar nicht zu dem sonst so sauberen Eingangsbereich des kleinen Städtchens passen - warum man diesen Schandfleck nicht behoben hatte, war Rumo ein Rätsel. Immerhin trug so etwas auch seinen Teil dazu bei, mögliche Urlaubsgäste abzuschrecken. Doch er kam nicht dazu, seine Verwunderung formulieren, denn schon hatte ihn Blaubär aufgeregt am Arm gepackt. "Schau dir das an!", forderte er seinen neuen Freund freudig auf, während er ihn ins Innere der Stadt zerrte. "Scheinbar ist hier gerade Jahrmarkt oder so etwas. Wir haben uns wohl den genau richtigen Zeitpunkt ausgesucht, um vorbeizuschauen." Rumo sah sich um. Der Buntbär schien Recht zu haben, die Straßen und Häuser um ihn herum waren auf das Prächtigste verziert und geschmückt worden. Überall hingen kleine Fähnchen und Wimpel in allen Farben des Regenbogens, Musik klang durch die Gassen, Menschen - ja, hier schien es tatsächlich noch ein paar Exemplare dieser Spezies zu geben - Zwerge, Rübenzähler und sonstige zamonische Daseinsformen tanzten, rannten und sprangen kreuz und quer über die Plätze und freuten sich ihres Lebens. Es gab haufenweise Stände, die Getränke und kleine Malzeiten anboten, Wahrsagerzelte und kleine Kampfarenen. Zwielichtige Hütchenspieler begeisterten ihr Publikum mit ihren Tricks und Pantomimen erschreckten alle zu Tode, die sich zu sehr in Sicherheit wiegten. Von weit her klangen Kirchenglocken - wo Menschen waren, war die Religion nicht weit - und Kinderlachen hallte von überall zu den Neuankömmlingen herüber. Mythenmetz machte ein anerkennendes Geräusch. "Hier geht ja richtig was. Dafür, dass man noch bis vor wenigen Jahren in jedem Reiseführer davon abgeraten bekam, diese Stadt zu besuchen, ist jetzt aber einiges los in diesem Kaff. Und ich dachte immer, hier würde man schon allein vom Existieren krank werden." Ein junger Mann hatte im Vorbeitanzen den letzen Satz aufgeschnappt. "Das war einmal, mein Herr. Diese Zeiten sind vorbei und wir danken den Göttern dafür. Heute ist man glücklich in Sledwaya. Sehr glücklich sogar. Den Bösen sind wir los und dieses Mal sind die Bösen mit ihm gegangen." Dann begann er mit einem Mal mir erhobener Faust zu skandieren: "Hass, Leid und Folterei Diese Zeiten sind vorbei! Auf! Kommt zusammen! Tod dem Tyrannen!" "Nicht gerade ein Meisterwerk, zumal das Wort „Folterei“ nicht einmal existiert", raunte Mythenmetz Rumo zu, der neben ihn getreten war, um den seltsamen Menschenmann zu beäugen. "Aber was will man anderes erwarten? Diese Kreaturen sind einfach nicht zum Dichten geschaffen." Ohne die Drei noch eines weiteren Blickes zu würden sprang der Mann weiter, während er munter seinen kurzen Reim in die Welt hinaus posaunte. Dann und wann fiel einer der anderen Feiernden in sein rebellisches Rufen ein - offenbar war das kurze Gedicht ein stadtbekannter Vers - und schon bald hatte sich ein kleiner Chor gebildet, der ihn gleich einem Mantra immer und immer wieder herunterbetete. Blaubär zog eine Augenbraue hoch. "Okay, die Typen hier sind nicht ganz dicht, so viel ist sicher." Während Rumo noch damit beschäftigt war dem feierwütigen Zamonier hinterher zu gaffen, war Mythenmetz bereits einige Meter die gerade Hauptstraße hinunter geschlendert. Die Bewohner der Stadt beachteten ihn kaum, nur hier und da stellte sich ihm ein Zwerg mit einem Bauchladen in den Weg und pries seine Wahren an oder ein Kartenleger offerierte einen Gratis-Blick in die Zukunft, wenn man das Super-Schrecksen-Paket, bestehend aus einem Schrumpfkopf, mehreren Ledermausflügeln und einem Wassersalamander, erwarb. Der Schriftsteller zeigte jedoch nur wenig Interesse und so ließen bald alle fliegenden Händler von ihm ab. Rumo hatte dieses Glück nicht - offenbar fehlte es ihm im Auftreten an entsprechender Autorität, denn die kleinen Krämer klebten an ihm wie Fliegen an einer Zuckerstange. Sogar ein Stollentroll war dabei, der ihm eine kleine Phiole mit einer klaren Flüssigkeit feilbot, die er als beste Waffenpolitur des Kontinents anpries. Laut Löwenzahn war es allerdings in Wirklichkeit nicht mehr als schnödes Brunnenwasser. Auf die Frage hin, ob der ehemalige Stammeskollege des Händlers ihm dieses Detail auch verraten hätte, wenn es nicht um seine eigene metallene Haut gegangen wäre, schwieg die quirlige Quasselstrippe. Die Drei folgten der Hauptstraße tiefer in die Stadt hinein. Auch hier war alles bunt und heiter, es schien keinen Winkel zu geben, den die Feierlaune nicht erreicht hatte. Blaubär war sichtlich angetan, er hüpfte beim Gehen im Takt der allgegenwärtigen Violinmusik und pfiff fröhlich vor sich hin, betrachtete hier und da die Auslagen eines Souvenirstands und kaufte sich an einer kleinen Holztheke eine Tüte voll gebratener Mäuseblasen. Rumo tat es ihm gleich, während Mythenmetz sich auf der anderen Straßenseite einen Stand mit Regenwurmcurry suchte. Kauenderweise zogen sie weiter. Sledwaya war weder sonderlich groß noch sonderlich klein, es hatte angenehm überschaubare Ausmaße ohne seine Bewohner dazu zu zwingen, auf irgendwelche Annehmlichkeiten zu verzichten. Es gab ganze Straßenzüge voller Apotheken und Schrecksenhäuser - die Stadt war schließlich bekannt für ihre hervorragenden Heilmethoden - eine kleine Kapelle und einen niedlichen Marktplatz mit hübschen, alten Fachwerkhäusern. Ein hell erleuchtetes, weiß getünchtes Krankenhaus erhob sich über die Reihen niedriger Wohnhäuser und ganz in der Ferne konnte man den Turm eines Rathauses erkennen, in dem eine große, gusseiserne Glocke schlug. Zwar waren alle Häuser etwas krumm und schief geraten, ganz so als hätte der Architekt unter leichten Gleichgewichtsstörungen gelitten, während er sie erbaute, doch das machte den Anblick nur noch sympathischer und einladender. Hier sah es ein wenig aus wie in einem Märchen, fand Rumo, wie in einem illustren Bauerndorf, das ein friedliches Fest feierte, ohne dabei maßlos und überschwänglich zu werden. Niemand war auffallend angetrunken, keiner pöbelte, keiner schrie oder prügelte sich. Ein Lächeln ergriff Besitz von seinen Zügen. Es war schön hier, in Sledwaya, ein durchweg harmonisches Bild, das ein angenehmes, geruhsames Leben versprach. Wenn er eines Tages seiner Heimat Wolperting überdrüssig werden sollte, konnte er sich durchaus vorstellen, in dieser Stadt sein Glück zu versuchen. Nachdem sie so eine Weile durch die Gegend geschlendert waren und sich an dem bunten Treiben erfreut hatten, fand Rumo, dass es langsam Zeit wurde, dass sie sich wieder den wirklich wichtigen Dingen zuwandten. Geradezu beiläufig ließ er sich in seinem Laufen zurück fallen, sodass er neben Mythenmetz geriet, der schräg hinter ihm lief. "Sag mal", begann er, "wo sollen wir denn nun mit der Suche beginnen? Haben wir irgendeinen Anhaltspunkt, wo in der Stadt sich dieser ominöse Spiegel aufhalten soll?" Der Schriftsteller verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Nicht direkt. Ich sagte doch bereits, dass alles, was ich weiß, ist, dass er vor einigen Jahren mal hier gelebt haben muss. Mehr kann ich dir bis jetzt auch nicht sagen." "Das heißt also, dass wir uns durchfragen müssen", folgerte Blaubär, der sich zu ihnen gesellt hatte. "Dann würde ich sagen, dass wir keine Zeit verlieren und sofort anfangen." Er schickte sich an auf einen der Passanten zuzugehen, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne und kam noch einmal zurück gelaufen. "Ähm, Mythenmetz?" "Was ist?" Blaubär kratzte sich am Kopf. "Welcher Daseinsform gehört dieser Spiegel eigentlich an? Das wäre vielleicht hilfreich zu wissen." Rumo hob neugierig den Kopf, während er sich seine letzte Mäuseblase in de Mund schob und die Tüte in einer Hand zerknüllte. Das war in der Tat interessant. Mythenmetz, der sein Curry schon vor einer halben Ewigkeit verspeist hatte, legte nachdenklich den Kopf schief. "Soweit ich weiß, ist er eine Kratze." Rumo hätte um ein Haar den gesamten Inhalt seines Mauls auf das Kopfsteinpflaster vor ihm verteilt. Im letzten Moment würgte er den Bissen mit aller Macht hinunter, dann packte er den Lindwurm an den Oberarmen - so hoch, wie er eben kam - und schüttelte ihn unsanft. "Was?", herrschte er die verwirrte Echse an und besprühte sein Gegenüber dabei mit einer gehörigen Ladung Spucke. "Sag mir, dass das nicht war ist, Schreiberling! Du hast mir einen waschechten Alchimisten versprochen, der mir die Essenz des ewigen Lebens brauen kann. Und jetzt sagst du mir, wir seien auf der Suche nach einem Haustier?" "Genau genommen sind Kratzen..." Rumo stieß Mythemetz von sich weg und drehte sich um. "Es ist mir egal, was Kratzen genau genommen sind!", knurrte er aufgebracht. Wieder einmal hatte er das Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht nach Plan verlief und das machte ihn wütend. "Alles, was ich will ist ein vernünftiger Alchimist und kein Accessoire für alte Damen mit sozialen Problemen." Kratzen waren in Zamonien lange Zeit eine beliebte Maßnahme alternder Hausfrauen gegen die gefürchtete Einsamkeit gewesen. In diesen Tieren fanden sie nicht nur Freunde, sie ersparten sich auch die Schmach, mangels Gesprächspartnern mit sich selber reden zu müssen. Doch seit dem drastischen Rückgang der Kratzenpopulation konnte es sich fast niemand mehr leisten, ein solches Haustier zu besitzen, daher tendierte man heutzutage eher zum alt bewährten Papagei. Der war zwar nicht ganz so redselig, aber immerhin schön anzusehen. Rumo war jedoch weder alt noch einsam und das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war ein sprechendes Kuscheltier. Er fuhr sich mit den Pfoten über den Kopf und trat frustriert gegen einen kleinen Stein, der aufflog und an einer Hauswand anprallte. Plötzlich wünschte er sich, die feierwütigen Sledwayaner würden für ein paar Sekunden die Luft anhalten, alles um ihn herum war mit einem Mal nur noch grell und laut. Mythenmetz griff ihn am Arm. "Jetzt hör mir doch erst mal zu, du dummes Tier!" Rumo sah ihm mit verkrampftem Kiefer trotzig ins Gesicht, in seinen Augen spiegelte sich deutliche Skepsis. Blaubär stand nur da und blickte vom einen zum anderen wie bei einem Tennismatch, verspeiste dabei gebannt die Reste seiner eigenen Tüte Mäuseblasen. "Es hilft manchmal, wenn man Leute ausreden lässt, Wolpertinger", belehrte ihn der Lindwurm von oben herab und ließ seinen Arm nicht ohne eine gewisse Härte wieder los. "Diese Kratze ist sehr wohl genau das, was du suchst. Wenn die Geschichten stimmen, dann beinhaltet das Hirn dieses Haustieres, wie du es nanntest, mehr alchimistisches Wissen als so manche gute Bibliothek. Aber von jemandem wie dir, der in seinem Leben maximal eine Speisekarte gelesen hat, kann man wohl kaum erwarten, dass er weiß, wovon ich spreche." Rumo entlockte seiner Kehle ein tiefes, bedrohliches Grollen. "Dann erkläre es mir endlich, anstatt ständig nur oberschlau daher zu reden." "Grob gesagt war Spiegel laut der Fabel von Gofid Letterkerl ursprünglich einmal Schüler einer der besten Alchimisten ganz Zamoniens und das genau hier, in der Stadt Sledwaya - oder Seldwyla, wie er es in seiner Novelle nennt. Alles Weitere ist im Moment für uns unwichtig." Jetzt mischte sich Blaubär zum ersten Mal in die Auseinandersetzung ein. "Aber können wir denn wirklich sicher sein, dass das alles auch genau so passiert ist, wie es in dem Buch von Letterkerl geschrieben wurde?" "Das können wir sicherlich nicht", sagte Mythenmetz ehrlich. "Es deuten sogar mehrere Faktoren ganz eindeutig darauf hin, dass sich das Ende der wahren Geschichte doch deutlich von dem des Buches unterscheidet. Daher wird es uns auch wohl wenig bringen, nach dem Meister des Krätzchens zu suchen, aber diese ganzen Details lasst mal meine Sorge sein. Vertraut mir, der, den wir suchen, ist Spiegel. Er wird uns weiterhelfen können." Rumo schnaubte. "Dir vertrauen? Klar, nichts lieber als das. Wie könnte man auch je an dir zweifeln?" Mythenmetz warf ihm einen bitteren Blick zu, doch noch bevor der Wolpertinger etwas entgegnen konnte, beendete Blaubär das Gezanke auf seine ganz eigene Art. "So", sagte er mehr als vernehmlich. "Ich werde mich dann mal nach jemandem umsehen, den wir in Sachen Spiegel befragen können, in Ordnung?" Ohne eine Reaktion abzuwarten stapfte er auf den nächstbesten Passanten zu und klopfte diesem leicht auf die Schulter. Rumo eilte ihm hinterher. Er war es langsam Leid alle möglichen Details seiner eigenen Reise zu verpassen. "Entschuldigen Sie bitte", begann Blaubär höflich und deutete eine leichte Verbeugung an. Nicht üblich, aber grundsätzlich ein Zeichen von Respekt. Sicher war sicher. Der Sledwayaner, ein untersetzter Rübenzähler mit einem Becher Himbersahne in der Hand, musterte den Buntbär von oben bis unten. "Ja bitte? Wie kann ich Ihnen helfen?" "Wir sind auf der Suche nach jemandem. Sagt ihnen der Name Spiegel etwas? Er ist eine Kratze, falls es hilft." Der Rübenzähler überlegte kurz. "Wir haben ein paar Kratzen hier in Sledwaya, sie leben weiter unten in der Stadt bei der Ruine. Ob eine von ihnen Spiegel heißt, weiß ich nicht. Möglich ist es aber. Die haben alle so komische Namen. Ich hab mal eine getroffen, die hieß Halbton. Kann man sich das vorstellen? Was ist denn das bitte für ein Name?" Rumo, der befürchtete, der redselige Herr könnte ins Schwafeln geraten, unterbrach das Gespräch vorsorglich an dieser Stelle. "Okay, danke sehr, wir werden uns weiter umsehen." Damit schob er seine beiden Weggefährten so unauffällig wie möglich weiter. Blaubär drehte sich noch einmal um und sah dem Rübenzähler nach. "Also, was machen wir jetzt? Weiterfragen?" "Nein", entschied Rumo. "Wir werden zu dieser Ruine gehen, von dem der Mann gesprochen hat und nach den anderen Kratzen suchen. Es bringt wenig, wenn wir hier kopflos durch die halbe Stadt rennen, wir finden so ja eh nichts." "Da könnte er tatsächlich Recht haben", gab Mythenmetz zu und sah sich um. "Jetzt müssen wir nur noch Ausschau nach dieser Ruine halten." Blaubär war wieder in seinem Element. Schon hatte er sich den nächsten Passanten gekrallt, eine hübsche Menschenfrau im sommerlichen Blumenkleid. "Entschuldigen Sie, Fräulein." Rumo war erstaunt, die Stimme seines neuen Freundes war die pure Freundlichkeit. Nicht nur seine Worte, sein gesamter Tonfall hatte sich verändert. "Uns ist zu Ohren gekommen, dass es hier in Sledwaya eine Ruine geben soll. Wären Sie wohl so freundlich uns den Weg dorthin zu weisen?" Die junge Frau war sichtlich nervös. Wie hätte sie es auch nicht sein können, vor ihr standen ein Bär, ein Hund und eine Urzeitechse, alle aufrecht gehend und mindestens einen Kopf größer als sie selber. "Uh… ähm… die Ruine… Was wollen die Herren denn an einem solch schrecklichen Ort?" Rumo trat auf das zitternde Persönchen zu, bemüht sich etwas kleiner zu machen ohne dabei lächerlich zu wirken. "Schrecklicher Ort? Davon wissen wir nichts. Wir sind lediglich auf der Suche nach den Kratzen, die dort leben sollen." Sein Gegenüber sah ängstlich auf den Boden und trat von einem Fuß auf den anderen. "Achso… na wenn das so ist… Bitte folgen Sie immer dieser Straße." Sie deutete die Straße hinab, auf der sie sich gerade befanden. "Sie sollten sehr bald das Stadtzentrum erreichen, dann halten Sie sich ganz einfach links. Das Schloss… die Ruine ist nicht zu übersehen." Rumo verneigte sich und bemühte sich um ein freundliches Lächeln. "Vielen Dank, wertes Fräulein." Doch die Frau schien nicht eiligeres im Sinn zu haben als das seltsame Trio hinter sich zu lassen. Fluchtartig hastete sie an dem überraschten Wolpertinger vorbei und war schon nach wenigen Sekunden hinter der nächsten Straßenecke verschwunden. "Etwas ängstlich, die Gute", grinste Blaubär und stemmte die Pfoten in die Hüften. "Aber immerhin wissen wir jetzt, wo wir hin müssen, das ist schon mal viel wert." Mythenmetz ließ das unkommentiert, setzte sich stattdessen schnellen Schrittes in die angegebene Richtung in Bewegung. Rumo spurtete ihm nach, dicht gefolgt von Blaubär. "He, wozu die plötzliche Eile, alter Mann?" Der Autor sah ihn nicht an "Ganz einfach: Je eher wir diesen Spiegel finden, desto eher bekommst du deine Formel und ich alle Informationen, die ich für mein Buch brauche. Und umso schneller können wir diese ganze Farce hier beenden und jeder von uns wieder seine eigenen Wege gehen. Folglich die beste Lösung für alle Beteiligten." Rumo verzog das Gesicht. Ein richtig sympathischer Kerl, dieser Mythenmetz. Je weiter die Drei in den östlichen Teil der Stadt gelangten, desto karger wurde die Umgebung. Zwar war auch hier reichlich geschmückt worden, doch die Abstände zwischen den einzelnen Häusern wurden größer und auch die Häuser an sich verloren merklich an Prunk und Glanz. Hier schien die Unterschicht der Stadt zu leben, offenbar in Eintracht mit einigen wild aussehenden Straßenhunden und gewöhnlichen Katzen, die große Ratten über die nunmehr leeren Straßen hetzten. Die gute Stimmung war mit einem Mal wie verflogen, es wurde frisch, beinahe kalt um sie herum. Rumo fröstelte. Er konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen, was genau diese Veränderung der Stimmung hervorgerufen haben könnte, doch er fühlte sich auf einmal wieder krank. Und dann traten sie ins Blickfeld der Reisenden. Der Berg. Die Ruine. Rumo fielen auf Anhieb etliche Worte ein, mit denen man den Anblick recht treffend hätte beschreiben können, hässlich, abstoßend und kohlrabenschwarz waren nur einige davon. Sicher war, dass die Bezeichnung "Ruine" hier nicht von ungefähr kam, das einzige, was von dem ehemaligen Schloss - so etwas in der Art musste es zumindest mal gewesen sein - noch stand, war die schmiedeeiserne Umzäunung mit der gewaltigen, bedrohlich aussehenden Pforte, verziert durch dutzende Formen und Symbole aus Magie und Alchimie. Dahinter folgten etwa zehn Meter gepflasterter Weg, die sich eine Anhöhe hinauf schlängelten, und dann - ja, dann war da im Grunde nichts mehr. Wobei, "nichts" war natürlich nicht ganz der richtige Ausdruck. Es handelte sich vielmehr um ein riesiges Loch, gefüllt mit tausenden Tonnen nachtschwarzem Bauschutt. Rumo erkannte selbst aus der Ferne zerfallene Mauern und Decken, Holzbalken und Kupferrohre, Drähte und Eisenstangen, die sich über den gesamten Hügel verteilt hatten. An manchen Stellen waren die Überreste des ehemaligen Mobiliars auszumachen, hier ein Tisch, dort ein Sofa und drüben ein Regal. Auch Bücher und deren Einzelteile fanden sich zwischen den Trümmern, schwere Folianten überzogen mit einer unansehnlichen Schicht aus Staub und Schimmel, gekrönt wie alles andere auch von abertausenden Dachschindeln und kleinen Kaminschloten, die die Überreste des früher sicher einmal majestätischen Anwesens bedeckten wie Krokantsplitter einen Eisbecher. Komischer Vergleich, fand Rumo, doch ihm wollte partout nichts anders einfallen. Das alles zusammen wirkte allein schon grotesk genug in diesem sonst so sauberen und fröhlichen Städtchen. Doch was die gesamte Szenerie auf die Spitze des Makaberen trieb, war die große Holztafel, die man vor dem Tor errichtet hatte. Auf ihr war in krakeligen, blutroten Lettern zu lesen: "Du hast uns die Hölle auf Erden beschert. Wir wünschen Dir die Ewigkeit in eben dieser! Auf dass der Höllenhund dich zerreiße und der Fürst der Finsternis dich für alle Zeit im Fegefeuer brate! Dein Grab soll uns für immer ein Mahnmal sein!" Rumo schüttelte sich. "Nicht gerade nett. So etwas hätte ich in dieser Stadt nun wirklich nicht erwartet, alles sah vorhin noch so freundlich aus." Dann sah er sich noch einmal um und entdeckte eine weitere Aufschrift, dieses Mal auf einem Banner, der quer über die Straße gespannt war. "Fünftes Jubiläum des Todestagsfestes" Mythenmetz und Blaubär traten neben Rumo und lasen ebenfalls, was in blauen Buchstaben auf dem gelben Transparent geschrieben stand. Dabei fielen ihre Reaktionen recht unterschiedlich aus, denn während Mythenmetz nur leicht die Augen zusammenkniff und sich seinen Teil zu den blutrünstigen Schriften zu denken schien, zeigte der Buntbär offenes Entsetzten. Entgeistert blickte er Rumo an. "Was ist nur los in dieser Stadt? Da denkt man sich nichts Böses und erfreut sich eines schönen Festes und dann stellt sich heraus, dass man hier mit fröhlicher Musik und heiterem Gelächter einem Todestag gedenkt. Das ist doch nicht richtig!" Der Wolpertinger kaute auf seiner Unterlippe herum. "Na ja, vielleicht handelt es sich bei dem Verstorbenen um eine wirklich grausame Person, das können wir ja nicht wissen. Die Bürger von Sledwaya scheinen jedenfalls einen ziemlichen Hass auf ihn zu haben, wenn man sich das hier so anschaut." Er musste plötzlich an das heraus gebrochene Wappen am Stadttor denken. "Vielleicht können sie wirklich froh sein, dass er oder sie tot ist." Blaubär schien nicht überzeugt, "Trotzdem, ich finde das nicht richtig. Stell dir vor, jemand würde aus deinem Todestag ein rauschendes Fest machen." Das wollte sich Rumo lieber nicht vorstellen. Stattdessen wandte er sich Mythenmetz zu. "Und was sagt unser weiser Herr Schriftsteller dazu? Gerade du müsstest doch eine Meinung zu deisem Thema haben." Die Miene des Lindwurms blieb völlig ausdruckslos. "Die habe ich auch, da kannst du dir sicher sein. Allerdings spielt das jetzt wohl kaum eine Rolle. Was viel wichtiger ist: Ich bin mir jetzt sicher. Wir sind auf der richtigen Fährte.“ Kapitel 10: Kratzenweisheit --------------------------- Mythenmetz machte sich nicht die Mühe weiterer Erklärungen, doch das war ja nichts Neues. Er hatte begonnen vor den Ruinen des Schlosses auf und ab zu schreiten und den imposanten Eisenzaun, der den Verfall überlebt hatte, aufs Genaueste zu untersuchen. Hier und da klopfte er gegen das verrostete Metall oder strich mit den Klauen über die raue Oberfläche, wobei ihn Rumo und Blaubär interessiert beobachteten. Nach einer Weile gelangte der Schriftsteller so an das kunstvoll geschmiedete Eingangstor und drückte ohne zu zögern die geschwungene Klinke hinunter, die unter der plötzlichen Belastung in einem ohrenbetäubend schrillen Ton zu quietschen begann. "Es ist nicht verschlossen", stellte er fest, nachdem das Tor einige Zentimeter aufgeschwungen war. "Lasst uns hinein gehen, vielleicht finden wir in den Trümmern etwas, das uns weiterhilft." Blaubär zögerte. "Aber stand auf dem Schild nicht geschrieben, dass es sich hier um eine Grabstätte handelt? Also mir ist nicht so ganz wohl dabei, hier einfach so herum zu spazieren." Rumo zuckte mit den Schultern. Ihm war es relativ egal, wer oder was hier begraben liegen sollte. "Was kann schon passieren? Wir werden wohl kaum von irgendwelchen Zombies angegriffen, wenn wir da hineingehen." Blaubär verdrehte die Augen und schob sich an dem Wolpertinger vorbei durch das nun offene Tor. "Ich wollte auch eher auf die Pietätlosigkeit hinaus. Aber so etwas interessiert euch Rohlinge offenbar nicht." "Um Pietät können wir uns Sorgen machen, wenn wir haben, wonach wir suchen", rief Mythenmetz aus einigen Metern Entfernung. Er hatte den leicht geschwungenen Pfad hinter sich gelassen, war die kleine Anhöhe empor gestiegen und an den Rand der eigentlichen Ruine getreten, um sich einen Überblick verschaffen zu können. Rumo und Blaubär folgten ihm zögerlich. Der Weg unter ihren Pfoten war mit Schutt und einer Schicht pechschwarzen Rußes überzogen, sodass sie sich vorsichtig bewegen mussten, um sich nicht an hervorstehenden Metallteilen unter der tarnenden Asche zu verletzten. Rumos Blick wanderte über die zerstörte Umgebung. Hier sah es aus wie auf einem Schlachtfeld, alles war zerstört, kaum ein Stein lag noch auf dem anderen und von dem ohnehin spärlichen Pflanzenbestand waren nur noch ein paar trostlose Gerippe übrig geblieben. Das Gebäude selbst musste vor seiner Zerstörung über einen großen Keller verfügt haben, sodass es nun, eingestürzt wie es war, beinahe ebenerdig lag und sich wie ein riesiges Geröllfeld vor den drei Weggefährten ausbreitete. "Irgendwer oder irgendetwas hat hier ganze Arbeit geleistet", staunte Grinzold. "Sieh dir die Steine an. Das ist oder besser gesagt war Baukunst vom Allerfeinsten. So etwas stürzt nicht einfach so mir-nichts-dir-nichts in sich zusammen. Da müssen gewaltige Kräfte gewirkt haben." "Aber wer macht so etwas?", fragte Rumo gedankenverloren und trat gegen einen kleinen Stein, der aufflog und mit einem leisen "Ping" von einem Stück Kupferplatte abprallte. Blaubär und Mythenmetz drehten sich zu ihm um. "Wer macht was?" Rumo schreckte aus seiner Trance und starrte die Beiden einige Sekunden verwirrt an. "Äh… ich habe nur mit Grinzold geredet", sagte er dann langsam, während er wie zur Erklärung auf sein Schwert deutete. Mythenmetz machte etwas mit seinem Gesicht, was wohl als Augenbrauen-Hochziehen echsenartiger Lebewesen ohne Körperbehaarung gewertet werden konnte. "Du nennst dein Schwert Grinzold?" "Na ja…" Rumo kratzte sich am Kopf. "Eine Hälfte zumindest. Die andere heißt Löwenzahn. Und ich habe sie nicht so genannt, sie hießen schon so, als ich sie bekommen habe." "Also lass mich das noch einmal zusammenfassen: Die beiden Klingen deines Brotmessers heißen wie ein Dämonenkrieger und ein Unkraut. Und du redest mit ihnen." Der Schriftsteller grinste spöttisch. Rumo schien davon wenig mitzubekommen, während er sein Schwert aus der Scheide auf seinem Rücken zog. "Also genau genommen dachte Löwenzahn eher an den Zahn eines Löwen, als er sich benannt hat. Dass das auch eine Blume ist, wusste er wahrscheinlich gar nicht. Er ist ein Stollentroll, weißt du?! Er hat sein Leben komplett untertage verbracht. Und Grinzold - nun, er heißt so, weil er eben ein Dämonenkrieger ist beziehungsweise war, bevor er getötet und sein Gehirn in dieses Schwert geschmiedet wurde." Mythenmetz schlug theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen. "Na wunderbar! Ich reise mit einem Schwachsinnigen, der glaubt, in sein Schwert seien die Gehirne eines Stollentrolls und eines Dämonenkriegers eingeschmiedet. Womit, bei allen zamonischen Göttern, habe ich das verdient?“ "Aber die beiden existieren!", protestierte Rumo und streckte der Echse sein Schwert entgegen, doch der Schriftsteller wich nur angewidert zurück. "Einen Teufel werde ich tun, dieses Ding auch noch anzufassen! Wer weiß, vielleicht ist das ansteckend!" "Aber nur dann..." "Sofort aufhören! Das macht einen ja wahnsinnig!" Blaubär trat mit ausgesteckten Armen zwischen die beiden Streithähne. "Mythenmetz, die ganze Sache geht dich nichts an. Vielleicht ist es so, vielleicht ist es nicht so, was macht das denn für einen Unterschied für dich? Und Rumo - lass es einfach. Du solltest inzwischen wissen, dass diskutieren nichts bringt. Lasst uns lieber endlich herausfinden, ob die Trümmer unser Gewicht tragen und wir uns in der Ruine etwas umsehen können, wie Mythenmetz es vorgeschlagen hat." Lindwurm und Wolpertinger tauschten noch einen letzten giftigen Blick, aus, sagten jedoch nichts mehr, sondern konzentrierten sich wieder auf die vor ihnen liegende Aufgabe. Rumo setzte vorsichtig eine Pfote auf die wackeligen Steine und verlagerte langsam sein Gewicht auf den fragwürdigen Untergrund. Es knackte und knirschte unheilvoll, doch er sank nicht ein, das war gut. Weniger gut war hingegen seine Laune, denn die hatte inzwischen einen nie gekannten Tiefpunkt erreicht. Hoffentlich wusste Smeik, was sein Freund und Leibwächter hier für ihn durchmachte. Himmel, er wäre zweimal innerhalb weniger Tage beinahe umgekommen, nur weil sein Ziehvater seine Gier nicht hatte zügeln können. Und nun musste er sich auch noch beleidigen lassen! Doch er schüttelte die düsteren Gedanken ab und versuchte optimistisch an das heran zu gehen, was aktuell seine Priorität sein sollte. Und das war das Finden von Hinweisen auf die Existenz einer Kratze namens Spiegel. 'Ich wühle für dich im Schutt, Smeik. Dafür schuldest du mir etwas!' Rumo sah sich um, während er sich Schritt für Schritt voran tastete. Auf den ersten Blick war absolut nichts zu sehen, was auch nur ansatzweise hätte nützlich sein können, und wenn er ehrlich war, hatte er auch keine wirkliche Lust, jeden Quadratzentimeter des riesigen Geländes abzusuchen. Doch er zeigte gute Miene zum bösen Spiel und bückte sich nach einem zerfledderten Buch. Es war ein verschimmeltes Notizbuch voller alchimistischer Symbole und Formeln, von denen er keine einzige je auch nur gesehen hatte. Missmutig ließ Rumo das Buch wieder fallen. Wo war das Schild mit der Aufschrift "Spiegel war hier!"? Plötzlich hallte Blaubärs aufgeregte Stimme zu ihm herüber. "He, seht mal, was ich gefunden habe!", rief er und wedelte mit etwas, das von weitem ein wenig aussah wie ein totes Tier, sich aber beim näheren Hinsehen als Hut entpuppte. Es war einer jener pompösen Dreispitze aus schwarzen Rabenfedern, wie sie einige Alchimisten und konservative Adelige trugen, nur dass dieses Exemplar seine besten Zeiten augenscheinlich schon lange hinter sich hatte. Das hielt Blaubär jedoch nicht davon ab, sich die Kopfbedeckung sogleich aufzusetzen und fröhlich damit herumzuhüpfen. Rum ließ sich auf einen größeren, ziemlich stabil aussehenden Stein fallen und senkte den Kopf. "Das bringt doch nichts! Wir können hier noch stundenlang herumsuchen ohne auch nur das Geringste zu finden. Hier wimmelt es von irgendwelchen Geheimschriften und merkwürdigen Aufzeichnungen, die wir ohnehin nicht verstehen. Gehen wir lieber zu den Kratzen, wie wir es von Anfang an vorhatten." Blaubär hörte auf zu tanzen. "Klingt vernünftig, würde ich sagen." "Einverstanden", stimmte Mythenmetz zu und warf die Steintafel, die er bis gerade studiert hatte, achtlos über die Schulter, sodass sie auf dem felsigen Boden zerbarst und Rumo unwillkürlich zusammenzuckte. Die Drei staksten durch die Trümmer zurück in Richtung Tor, durchschritten selbiges und schlossen es sorgfältig wieder hinter sich. "Und was nun?", fragte Blaubär. "Versuchen wir die Kratzen mit Sahne zu locken oder fragen wir ein paar Mäuse um Rat?" Er grinste über seinen eigenen Witz und verschränkte lässig die Arme hinter dem Kopf. "Äh…", begann Rumo, musste dann aber feststellen, dass er keine Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte. Der Rübenzähler hatte gesagt, dass die Tiere das Gebiet rund um die Ruine ihr Zuhause nannten, doch welchen Radius das genau einschloss, darüber hatte er nicht ein Wort verloren. Und keiner von ihnen war zu dem Zeitpunkt auf den Gedanken gekommen, ihn danach zu fragen. "Klopfen wir an einer der Haustüren", schlug Mythenmetz vor, während er mit der Klaue über einen Fleck in seiner Robe kratzte. "Irgendwer hier wird diese Viecher ja wohl schon einmal gesehen haben." Sie suchten sich eines der weniger heruntergekommenen Häuser der näheren Umgebung für ihr Vorhaben aus. Es war klein und wohl eher zweckmäßig als wirklich wohnlich, und doch hatte sich jemand die Mühe gemacht, es liebevoll herzurichten, mit Figuren aus Pappe in den Fenstern und einem Korb voll Blumen vor der kleinen Vordertür. Rumo klopfte, trat dann der Höflichkeit halber einen Schritt zurück und wartete. Nachdem beinahe eine Minute verstrichen war, ohne dass das geringste Lebenszeichen aus dem Häuschen gedrungen war, hob er die Pfote erneut. Doch bevor er sie ein zweites Mal gegen das Holz schlagen konnte, ließ ihn eine sanfte Stimme hinter sich Inne halten. "An der Tür des vollen Gewölbes drängen sich Freunde und Verwandte, aber die kalte Küche ist leer." Rumo wirbelte herum, Blaubär und Mythenmetz taten es ihm gleich. "Wie bitte?" Aber da war niemand. Die Straße lag nach wie vor wie ausgestorben vor ihnen, nichts regte sich. "Hallo?", fragte Blaubär vorsichtig in die Stille hinein. "Ist da jemand?" "In einer kleinen Rolle muss man ein großer Künstler sein, um gesehen zu werden." Plötzlich begann sich etwas am Fuße der kleinen Treppe, die zum Haus hinauf führte, zu regen. Zuerst war es nicht mehr als ein Schatten, begleitete von einem leisen Rascheln, dann schälte sich langsam aber sicher eine kleine Kreatur aus dem Halbdunkel. Sie ging auf allen Vieren, hatte einen elegant gebogenen Rücken, einen langen, s-förmigen Schweif und zwei aufmerksam umher zuckende Ohren. "Eine Kratze!", entfuhr es Rumo und eine Woge der Erleichterung durchfuhr ihn. Dann fügte er vorsichtig hinzu: "Du bist doch eine Kratze, oder?" Der kleine Jäger nickte und wiederholte dann: "An der Tür des vollen Gewölbes drängen sich Freunde und Verwandte, aber die kalte Küche ist leer." Rumo blinzelte verständnislos. "Was sagt er?" Mythenmetz verdrehte überzogen die Augen. "Die Bewohner des Hauses sind nicht zu Hause. Oder nicht auf Gäste vorbereitet, je nach dem, wie du das verstehen möchtest." "Woher weißt du das schon wieder?" Rumo fühlte sich etwas übergangen, ein Gefühl, das ihm ganz und gar nicht gefiel. "Ist das wirklich so schwer?", fragte der Schriftsteller, als hätte er es mit einem bockigen Schüler zu tun. "Die Kratzen dieser Stadt sind wilde Exemplare. Sie sind auf der Straße aufgewachsen und haben nie die Möglichkeit gehabt, richtig sprechen zu lernen. Folglich nutzen sie alles, was sie irgendwann einmal aufgeschnappt haben. Kurz: Sie sprechen in Sprichwörtern und Zitaten. Du musst zuhören und aus dem Zusammenhang erschließen, was sie meinen." Rumo öffnete den Mund, um etwas Intelligentes zu erwidern, schloss ihn allerdings wieder, als ihm auch nach einigen Sekunden des Schweigens nichts einfallen wollte. Trotzig schob er den Unterkiefer vor und beschloss ab jetzt zu schmollen. Blaubär hatte offenbar den Plan gefasst, von nun an nicht mehr auf das Gezanke seiner Mitreisenden einzugehen. Stattdessen wandte er sich der Kratze zu. "Dass die Leute nicht zu Hause sind ist kein Problem", erklärte er. "Wir wollten ohnehin eher zu Deinesgleichen. Die Anwohner sollten uns lediglich verraten, wo man euch finden kann. Das erübrigt sich jetzt allerdings ganz offensichtlich." Er überlegte kurz. "Mal abgesehen von dir - gibt es noch weitere Kratzen in Sledwaya?" Wie auch schon vor wenigen Minuten nickte das zierliche Tier. "Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche." Mythenmetz stieg die wenigen Stufen zu der Kratze hinunter. "Das ist ja schon einmal ideal. Darf ich fragen, wie dein Name lautet?" Der Kleine legt den Kopf schief. "Ich bin schon zweiundvierzig und immer noch solo." Dieses Mal schien sogar der Lindwurm etwas überfordert mit der Entschlüsselung der verquerem Kratzensprechweise. "Ähm… okay, nennen wir dich einfach Solo." Solo war ganz offensichtlich zufrieden mit dieser Lösung. "Nun gut", fuhr Mythenmetz fort. "Vielleicht kannst du alleine uns schon weiterhelfen. Wir sind auf der Suche nach jemandem." "Man tut, was man kann", antwortete Solo fröhlich, setzte sich auf die Hinterläufe und sah die große Echse erwartungsvoll an. "Er ist eine Kratze, daher unsere Vermutung, du könntest ihn eventuell kennen", erklärte dieser. "Sein Name lautet Spiegel, sagt dir das etwas?" Der sprechende Haustiger hob den Kopf und sah gen Himmel, ein Anzeichen dafür, dass er überlegte. "Spieglein, Spieglein an der Wand", summte er dabei, "wer ist die Schönste im ganzen Land?" Dann wurde sein Blick auf einmal wieder völlig klar und er sah seinem Gegenüber so gut er konnte in die dunklen Augen. "Mein Name ist Hase und ich weiß von nichts", erklärte er mit Unschuldsmiene. Rumo ließ die Schultern hängen. Das war ja zu befürchten gewesen. Doch Solo hatte noch mehr zu sagen. "Wo sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere. Je mehr, desto lustiger. Die Party hat gerade erst angefangen", plapperte er vergnügt drauflos. Mythenmetz spielte den Übersetzer. "Du denkst also, dass die anderen Kratzen etwas wissen könnten?" "Fragen kostet nichts." "Wo er recht hat, hat er recht", bemerkte Blaubär und sah die anderen beiden an. "Versuchen können wir es ja mal, immerhin ist es so etwas wie unsere letzte Chance." Rumo verschränkte die Arme hinter dem Kopf und stieg nun ebenfalls die Treppenstufen hinunter, vorbei an der kleinen Frohnatur. "Richtig. Lasst uns keine Zeit verlieren." Solo erhob sich und bedeutete den drei Reisenden mit einer Kopfbewegung ihm zu folgen. Er war flink und bewegte sich sicher zwischen Blumentöpfen und Gartenzäunen hindurch, wobei ihm völlig egal zu sein schien, dass er seine Begleiter ein ums andere Mal durch ein sorgsam angelegtes Blumenbeet oder über eine fremde Veranda scheuchte. Schließlich war er es so gewohnt - er war eine Kratze und Kratzen scherten sich nicht sonderlich um Grundbesitz oder möglichen Hausfriedensbruch. Doch nachdem sie über den dritten Zaun in Folge geklettert waren und bereits einen nicht sonderlich freundlich gesinnten Hund hatten abschütteln müssen, bat Mythenmetz keuchend um Einhalt. "Hätten wir nicht auch einfach die Straße nehmen können?", schnaufte er. "Wie weit ist es denn noch?" Solo schien darauf etwas erwidern zu wollen, fand aber offenbar nicht die richtigen Worte, um auszudrücken, was ihm auf der Zunge lag. Also schüttelte er nur kurz den Kopf und wies mit seiner Pfote auf eine etwa zweieinhalb Meter hohe Mauer aus rotem Backstein. "Das Gras ist stets grüner auf der anderen Seite", erklärte er schließlich und nach einigem Überlegen, und sprang dann mit einem einzigen kraftvollen Satz hinauf und hinüber. Mythenmetz stöhnte angesichts dieser sportlichen Leistung, als hätte man ihm gerade eine Strafe biblischen Ausmaßes auferlegt, überwand sich dann jedoch und zog sich unter größter Anstrengung und lautem Gefluche an den Steinen hoch. Für Rumo war das alles kein Problem, er fühlte sich fit, war noch nicht einmal außer Atem. Die Mauer war kaum höher als er selbst groß war, er zog sich mühelos mit den Armen hinauf und landete sicher auf der anderen Seite. Blaubär ließ sich in Punkto Geschicklichkeit nichts vormachen und kam gleichermaßen elegant neben dem Wolpertinger auf - nur Mythenmetz machte keine wirklich gute Figur, bei der Kletteraktion. Wie ein nasser Sack rollte er von der schmalen Oberkante und plumpse unsanft und auf allen Vieren knapp hinter seinen Weggefährten in den Staub. Das, was ihm in dieser Sekunde über die Lippen kam, wollte wenig zu seinem gesitteten Auftreten passen. Rumo sah sich um. Sie befanden sich in einem der Hinterhöfe des Viertels mit unsauber gepflastertem Boden und den obligatorischen Wäscheleinen, die sich von einer Hauswand zur anderen zogen. Diese waren größtenteils verwaist, nur an einer einzigen hingen ein paar Untergewänder und Hemden. Die umliegenden Häuser waren allesamt zwei- bis dreistöckig, sodass der gesamte Hof die meiste Zeit des Tages im Schatten liegen musste. Es würde dauern, bis die Wäsche trocken war. Solo war in der Mitte des Platzes stehen geblieben und warteten nun, bis die seltsamen Besucher sich wieder einigermaßen sortiert hatten. Dann sah er vom einen zum anderen. "Vorfreude ist die schönste Freunde", zitierte er, wobei er alle drei eindringlich ansah, so als hoffe er, dass sie ihn verstünden. Blaubär legte eine Pfote ans Kinn. "Wir sollen hier warten, richtig?" Solo nickte eifrig und grinste, drehte sich dann auf dem Absatz um und verschwand durch einen Spalt in der Hauswand. Rumo hielt es für fragwürdig, ob die Besitzer des Hauses von ihrem kleinen Gast wussten. Es wurde still im Hinterhof, keiner der Drei schien zu wissen, was er hätte sagen sollen und zumindest in Rumos Fall bestand auch kein sonderlich großes Bedürfnis nach Kommunikation. Schon gar nicht mit gewissen Erfolgsschriftstellern. So hing eine Weile jeder seinen Gedanken nach, bis Blaubär plötzlich etwas auffiel. "Sag mal", fragte er zu Mythenmetz gewandt, "ist es nicht so, dass Kratzen von Geburt an alle Sprachen dieser Welt beherrschen? Warum konnte Solo dann nicht vernünftig sprechen? Das ist doch unlogisch." Mythenmetz setzte sich auf einen offenbar zur Dekoration platzierten Stein. "So, wie du das gerade hingestellt hast, ist das nicht ganz richtig", begann er zu erklären. "Kratzen können zwar, wie du bereits sagtest, alle uns bekannten Sprachen sprechen - sowohl die der Zivilisation als auch die der Tierwelt - aber das verdanken sie lediglich einer Anomalie im Sprachzentrum ihres Gehirns, durch die für sie alle Sprachen wie eine einzige klingen. Wüssten sie also nicht, dass jemand eine fremde Sprache spricht, sie würden es kaum bis gar nicht bemerken." Rumo versuchte, sich diesen Geisteszustand vorzustellen, scheiterte aber kläglich. Der Lindwurm fuhr fort. "Das bedeutet allerdings auch, dass sie sich im Grunde gar nicht so sehr von einem durchschnittlichen sprachbegabten Zamonier unterscheiden. Genau wie bei uns auch, gibt es bei ihnen im frühkindlichen Stadium eine Prägephase, in der die Grundsteine für die spätere Sprachfähigkeit gelegt werden müssen. Spricht in dieser Zeit niemand mit ihnen, geht diese Fähigkeit beinahe vollständig verloren. Und ohne Muttersprache nützt ihnen auch ihre Anomalie wenig." Er lachte trocken. "Diese Kratzen sind aller Wahrscheinlichkeit nach schon sehr früh von skrupellosen, geldgierigen Züchtern von ihren Müttern getrennt und verkauft worden und dann völlig verängstigt und verwirrt von ihren neuen Besitzern weggelaufen. Daraufhin haben sie sich verkrochen und sehr zurückgezogen gelebt, bis sie irgendwo auf Artgenossen gestoßen sind. Da war es natürlich schon zu spät. Es sind sehr schüchterne Tiere, müsst ihr wissen. Dass sie dennoch so viel verstehen und einige Sätze sogar nachsprechen können, haben sie wohl ihrer überdurchschnittlichen Lernfähigkeit zu verdanken." "Aha", machte Rumo und versuchte so zu gucken, als habe er alles verstanden und sei noch dazu wahnsinnig interessiert. Er wusste nicht, ob es ihm gelang, doch das war allem Anschein nach ohnehin unwichtig, da ihm weder Blaubär noch Mythenmetz große Beachtung schenkten. "Ist hier irgendwer, dem das nicht am Allerwertesten vorbei geht?", erkundigte sich Grinzold gelangweilt und sprach seinem Besitzer damit unbewusst aus der Seele. "Wenn nicht, dann könnte dieser Wichtigtuer endlich mal die Klappe halten. Er geht mir gewaltig auf die Nerven." "Grinzold!", mahnte Löwenzahn erschrocken. "So etwas sagt man nicht!" "Als ob er mich hören könnte! Er hat beschlossen, unsere Existenz zu ignorieren, schon vergessen?" Rumo lauschte den Worten seines Freundes und musste unwillkürlich und unfreiwillig grinsen. Irgendwo hatte der Dämonenkrieger ja schon Recht, Mythenmetz war ein Unsympath sondergleichen, der ganz offensichtlich viel zu viel Zeit alleine auf einem Berg verbracht hatte. Um das Thema zu wechseln fragte er Blaubär nach einiger Zeit des Schweigens: "Warum trägst du eigentlich immer noch diesen komischen Hut? Der sieht aus als würde er stinken." Der Buntbär schnüffelte. "Tut er nicht. Und außerdem finde ich ihn lustig. Deshalb." Rumo verzog leicht angewidert das Gesicht, beschloss aber, dass es ihn nicht anging und schloss sich wieder dem kollektiven Schweigen an. Die Minuten vergingen langsam, es gab weder etwas zu sagen noch etwas zu tun und sogar Löwenzahn und Grinzold schwiegen lustlos, sodass sich die Zeit in die Länge zog wie alter Kaugummi. Nach einer halben Ewigkeit - so zumindest erschien es Rumo - tauchte endlich Solos Kopf in dem kleinen Loch auf, durch das er zuvor verschwunden war. Er schob sich mit allen vier Pfoten hindurch, trat hinaus auf den Platz und schüttelte sich, sah dann über die Schulter zurück, um sich zu vergewissern, dass seine Anhängerschaft ihm folgte. Diese bestand aus fünf weiteren Kratzen von unterschiedlicher Größe, Farbe und Fellzeichnung - sie reichten von weiß mit leicht gräulichen Schatten bis hin zu einem Königsblau gemischt mit tiefem Schwarz. Ihnen allen gemein waren ihre neugierig umherblickenden grünen Augen, die interessiert über die Reisenden wanderten und sie voller Erwartung musterten. Mythenmetz fühlte sich wie immer zum Reden berufen und trat gewohnt selbstsicher auf die im wahrsten Sinne des Wortes kleine Gruppe zu. Dabei verbeugte er sich leicht, jedoch nicht zu tief, er wollte sich schließlich nicht entwürdigen. "Ich möchte mich bereits im Voraus bei euch für eure Bereitschaft bedanken, uns helfend zur Seite zu stehen", verkündete er gestelzt, worauf Rumo dem Drang widerstehen musste, sich mit der Pranke vor die Stirn zu schlagen. "Wie euch euer Freund hier vielleicht schon mitgeteilt hat, sind wir auf der Suche nach jemandem. Einer Kratze, um genau zu sein." Eines der größten Tiere - offenbar eine Art Anführer - trat vor und lächelte erwartungsvoll. "Also es verhält sich folgendermaßen", fuhr der Schriftsteller fort, als er sich sicher war, dass ihm allgemeine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. "Die Kratze, die wir suchen, ist aller Wahrscheinlichkeit nach männlich und etwa sechs bis sieben Jahre alt. Sein Name ist meines Wissens Spiegel und er hat einige Zeit hier in Sledwaya gelebt, ist möglicherweise sogar hier aufgewachsen. Das müsste allerdings bereits etwa fünf Jahre her sein. Ist euch eventuell ein solcher Vertreter eurer Gattung bekannt?" Rumo trat unauffällig an Blaubär heran und lehnte sich zu ihm herüber. "Warum rückt Mythenmetz erst jetzt mit den ganzen Detailinformationen heraus? Hätte er damit nicht schon ankommen können, als wir den ersten Typen, diesen Rübenzähler befragt haben?" Er hatte sich zwar bereits damit abgefunden, dass er seit neuestem vieles nicht mehr verstand, doch es konnte ja nicht schaden, noch einmal nachzufragen. "Das hätte nichts gebracht", flüsterte Blaubär durch zusammengebissene Zähne zurück. "Oder kannst du etwa Alter und Geschlecht einer Kratze allein daran erkennen, dass du sie anschaust?" Da war etwas dran, fand Rumo. Die kleine Truppe Mäusejäger hatte sich inzwischen untereinander angeblickt und war näher zusammengerückt. Sie tauschten viel sagende Blicke aus, sprachen jedoch auch untereinander kein Wort, was Mythenmetz' Erklärungen zu unterstreichen schien. Trotzdem verstanden sie sich offenbar einwandfrei, denn schon nach kurzer Zeit traten sie wieder auseinander und stellten sich der Gruppe Reisender. Solo hatte das ganze von außen beobachtet - dass er nicht über den Verbleib Spiegels wusste, hatte er ja bereits deutlich gemacht. Rumo, Blaubär und Mythenmetz sahen die Kratzen erwartungsvoll an. "Und", fragte der Wolpertinger ungeduldig und trat von einer Pfote auf die andere. "Wisst ihr etwas?" Noch einmal tauschten die Tiere Blicke aus, dann schüttelten alle simultan mit dem Kopf. Rumo, der fest damit gerechnet hatte, hier eine Antwort zu finden, traf diese Reaktion wie ein Schlag aus dem Nichts. Er taumelte wie getroffen einen Schritt zurück und blinzelte. "Was?" "Ich weiß, dass ich nichts weiß", erklärte die Kratze, die auch vorher schon als Wortführer fungiert hatte. Im übertragenden Sinne, versteht sich. "Einer für alle." Mythenmetz legte eine Klaue an die Schläfe. "Er will sagen, dass sie alle keine Ahnung haben." "Das hat uns gerade noch gefehlt!", seufzte Rumo, nachdem er sich einigermaßen wieder gefangen hatte. "Was machen wir denn jetzt?" "Ehrlich gesagt habe ich keinen blassen Schimmer", gab der Lindwurm zu. "Alles, was ich weiß, ist, dass wir mit Fragen allein offenbar nicht weiter kommen." Die Kratzen hatten augenscheinlich verstanden, dass ihre Antwort den Suchenden keine allzu große Hilfe gewesen war, sie sogar ein wenig enttäusch hatte, denn plötzlich blickten alle entschuldigend, beinahe traurig drein. "Ich bin untröstlich", sagte eine und senkte das Haupt, die anderen folgten ihrem Beispiel. Rumo taten die kleinen Geschöpfe, die so sehr hatten helfen wollen, auf einmal Leid. "Schon gut, schon gut", lächelte er und versuchte einen aufmunternden Blick, nicht nur für sie sondern auch für sein eigenes Wohlbefinden. "Ihr könnt ja nichts daran ändern, dass ihr diesen Spiegel nicht kennt. Dann müssen wir eben weitersuchen." "Das Glück ist mit den Tüchtigen", sagte Solo voller Überzeugung und trat zu seinen Artgenossen, unter denen sich Aufbruchsstimmung breit gemacht hatte. "Abends werden die Faulen fleißig. Man kann das Fell des Bären nicht verkaufen, ehe man ihn erlegt hat." Die drei Weggefährten verstanden. Während ihre Suche vorangeschritten war - oder auch nicht, je nach dem, wie man das sehen wollte - war die Dämmerung über die Stadt hinein gebrochen und das bedeutete den Beginn der Jagdzeit für die wendigen Räuber. Sie mussten sich beeilen, denn viele ihrer Beutetiere verkrochen sich bei Dunkelheit in ihren Löchern und Bauten und würden schon bald unerreichbar für jede Kralle sein. "Danke noch einmal", rief Blaubär den Kratzen nach, als diese sich in alle Himmelsrichtungen zu zerstreuen begannen, allerdings nicht ohne den Reisenden noch einmal freundlich zuzunicken. Solo war der Letzte, der sich auf den Weg machte und drehte sich auf den letzten Metern vor dem Loch in der Hauswand noch einmal um. Er grinste. "Auf Wiedersehen." "Auf Wiedersehen", antworteten Rumo und Blaubär unisono, dann war auch diese Kratze im Schatten der Häuser verschwunden. Eine Weile sahen die Drei ihm schweigend nach, dann sprach Blaubär jenen Gedanken aus, der sich ihnen allen wohl bereits aufgedrängt hatte. "Wir stehen also so wie es aussieht wieder ganz am Anfang." Es war eine ernüchternde Feststellung. Inzwischen war es um sie herum dunkel geworden. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages schafften es schon lange nicht mehr über die niedrigen Dächer der umstehenden Häuser, sodass man Einander nur noch schemenhaft erkennen konnte. Rumo fühlte sich erschöpft. "Wir sollten ein Gasthaus suchen, in dem wir etwas essen und die Nacht verbringen können", schlug er daher vor und steckte seine müden Glieder. Da diese Idee auf keinerlei Gegenwehr stieß, wurde sie zur beschlossenen Sache, und mit einem Abendessen und einem weichen Bett in Aussicht, stieg die Stimmung merklich. "Stellt sich mir nur noch eine Frage", sagte Mythenmetz und drehte sich einmal um die eigene Achse. "Wie kommen wir hier wieder weg?" Blaubär grinste, was zwar nicht zu sehen, an seinem Tonfall aber deutlich zu hören war. "Na genau so, wie wir hergekommen sind, würde ich sagen." Aus der Richtung des Schriftstellers kam ein kellertiefer Seufzer. "So etwas in der Art hatte ich befürchtet." Rumo schaufelte das Essen in sein weit geöffnetes Raubtier-Maul als hätte er seit Wochen nichts Anständiges mehr zu sich genommen. Und genau genommen stimmte das ja auch, es sei denn eine Handvoll Mäuseblasen und ein paar Ölsardinen galten neuerdings als vollwertige Malzeit. Umso gieriger versenkte er daher jetzt seine Fangzähne in das zarte Fleisch des Sumpfschwein-Bratens, der auf einem überladenen Teller vor ihm vor sich hin dampfte und ein appetitliches Aroma verströmte. "Oh Götter", schmatzte der Wolpertinger und die bräunliche Sauce tropfte ihm aus den Mundwinkeln, doch das war ihm egal. "Wie lange habe ich so etwas gutes schon nicht mehr gegessen? Egal! Auf jeden Fall zu lange!" Dass niemand auf seine Ansprache reagierte, lag hauptsächlich daran, dass sich Kauen und Reden im Normalfall nicht wirklich gut vertrugen, worüber sich seine Tischnachbarn glücklicherweise etwas mehr im Klaren waren, als Rumo selbst. Den Rest seiner Mahlzeit verschlang allerdings auch er schweigend, wofür ihm sicher einige andere Gäste des Lokals sehr dankbar waren. Erst als auch der letzte Krümel von den Tellern geleckt war und die Drei sich in die Polsterung ihrer Sessel hatten zurücksinken lassen, brach Blaubär das Schweigen. "Und was steht nun an?" "Schlafen", murmelte Rumo und ließ seinen gehörnten Schädel auf die Tischplatte sinken, woraufhin er einige missbilligende Blicke von Essenden und auch von Mythenmetz kassierte. "Morgen, meinte ich natürlich", gähnte Blaubär zurück, blieb aber trotz sichtbarer Ermüdung aus Angst vor dem mürrischen Lindwurm aufrecht sitzen. Dieser fuhr sich mit der gespaltenen Zunge über den Mundwinkel. "Auf jeden Fall nicht weiter kopflos herumrennen und fragen. Das bringt ganz offensichtlich nichts." "Was ist mit so etwas wie dem Rathaus?", versuchte es Rumo. "Vielleicht ist er in irgendwelchen Listen eingetragen." "Als Kratze? Wohl kaum." "Hm", machte der Wolpertinger gleichgültig. Es war ohnehin nicht mehr als eine Schnapsidee gewesen. Es wurde wie so häufig wieder still in der Runde. Keinem wollte so recht einfallen, was man nun hätte machen sollen, wie man auch nur einen kleinen Schritt hätte weiter kommen können. Rumo fiel auf, dass Blaubär nun schon seit einer ganzen Weile nachdenklich ins Nichts starrte, als plage ihn irgendein Gedanke, der ihm keine Ruhe ließ. "Woran denkst du?", fragte er ungeniert und hob seinen Kopf von der Tischdecke. Der Buntbär brauchte eigne Sekunden, um zu antworten. "Äh… ich habe mich nur etwas gefragt…" Neugierig beugte sich Mythenmetz vor. "Was denn?" "Na ja, es war nur ein Gedanke…" Blaubär zögerte. "Raus damit", forderte der Lidwurm und klopfte ungeduldig mit den Klauen auf den Tisch, sodass das Besteck klirrend zu tanzen begann. "Äh… gut…" Der Bär kratzte sich verlegen am Kopf. "Ich dachte nur… na ja, Letterkerl hat doch den Namen der Stadt geändert, oder? Er hat aus Sledwaya Seldwyla gemacht. Könnte es dann nicht auch sein, dass er den Namen der Kratze geändert hat?" Ruckartig fuhr Rumo aus seiner zusammengesunkenen Haltung auf und sah zu Mythenmetz hinüber. "Könnte das sein?" Der Schriftsteller brauchte nicht zu überlegen. "Natürlich könnte das sein!", reif er aus. "Es ist sogar recht wahrscheinlich. So wahrscheinlich, dass ich darauf eigentlich hätte kommen müssen…" Er wurde plötzlich wieder still. Rumo rückte aufgeregt näher an den Tisch heran. "Heißt das, dass wir jetzt tatsächlich einen Schritt weiter sind?" Blaubär seufzte. "Schön wär's. Das ist es ja gerade, wir hätten damit eher wieder einen Schritt rückwärts gemacht, als das wir weiter gekommen sind. Vorher hatten wir einen Namen, an dem wir uns orientieren konnten. Wenn das jetzt allerdings stimmt dann…" Er verstummte. "Eine Variation von Spiegel - Himmel, das könnte alles sein!", stöhnte Mythenmetz. "Wir stünden noch mehr vor dem Nichts als sowieso schon." Aller Enthusiasmus war aus Rumo gewichen wie die Luft aus einem undichten Ballon. Er sank zurück in die Polsterung der Eckbank, auf der er die letzte Stunde gesessen hatte. "Und was nun?" Der Lindwurm stand auf und strich sich das Gewand glatt. "Wir tun das, was du vorher schon so geistreich vorgeschlagen hast: Schlafen. Über unser weiteres Vorgehen können wir uns Gedanken machen, wenn wir ausgeruht sind. Auch darüber, was uns diese neue Erkenntnis brächte oder eben auch nicht brächte, würden wir sie als Wahrheit annehmen." "Einwandfreie Idee", stimmte Blaubär zu und erhob sich ebenfalls von der Tischrunde, Rumo folgte wortlos. Die Zimmer hatten sie sich schon vor dem Essen zeigen lassen, sodass sie nun nur noch die wenigen Stufen zum Obergeschoss des Gasthauses empor steigen mussten, um sich in die wohl verdienten Daunenfedern fallen zu lassen. Rumo trottete müde neben Blaubär her, während sie die Treppe erklommen, und musterte ihn schläfrig von der Seite. Dabei fiel sein Blick unwillkürlich auf dessen neue Lieblings-Kopfbedeckung, den zerfledderten Alchimistenhut aus dem Herzen der Ruine, den der Buntbär aus irgendeinem Grund noch immer trug. Er schnüffelte unauffällig. "Und das Ding stinkt doch", murmelte er zu sich selbst, als sich ihre Wege in Richtung Nachtlager getrennt hatten. Kapitel 11: Der Alchimeister ---------------------------- Der nächste Morgen kam schneller als Rumo es sich gewünscht hätte und wartete mit penetrantem Sonnenschein auf, der sich rücksichtslos durch einen Spalt im Vorhang zwängte und dem müden Wolpertinger direkt ins linke Auge schien. Dieser setzte sich gähnend und ächzend in dem etwas zu klein geratenen Bett auf und rieb sich die schmerzenden Oberarme. Ob Blaubär und Mythenmetz bereits wach waren? Er vermochte es nicht zu sagen, natürlich nicht. Auf alle Fälle sollte ihm zumindest etwas Zeit bleiben, um seine Gedanken zu ordnen, Zeit die langsam aber sicher bitter nötig wurde. Rumo betrachtete träge einen Wasserfleck an der oberen Zimmerecke direkt über dem Kleiderschrank, der, nebst Tisch, Stuhl und Bett, für die Pensionsgäste im Zimmer bereitgestellt worden war. Wie lange war er nun schon unterwegs? Sechs Tage waren insgesamt vergangen, bis er die Finsterberge hatte hinter sich lassen können, dann waren zwei Tage für den Weg zur Lindwurmfeste angefallen - rechnete man die Zeit mit ein, die er auf Blaubär gewartet hatte. Einen Tag war er grob gerechnet ohnmächtig gewesen und noch einmal fünf Tage hatte der Marsch nach Sledwaya gedauert, etwas länger, als Rumo gehofft hatte, aber er hatte es nicht ändern können. Summa-summarum machte das… vierzehn Tage. Genau zwei Wochen also. Rumo erschrak so heftig, als sei gerade eben ein gekochtes Gespenst aus der Wand neben ihm gefahren. Zwei Wochen? Sollte das etwa heißen, dass ihnen nur noch rund eine Woche blieb, um nach Atlantis zurück zu kehren? Und das auch noch mit der Formel? Faktisch gesehen war das völlig unmöglich, so schlecht Rumo bei dem Gedanken auch werden mochte. Allein der Weg dorthin würde die gesamte restliche Zeit kosten, ließ man die unwesentliche Tatsache außer Acht, dass sie die Formel noch nicht einmal ansatzweise hatten. Wie hatte er nur so dermaßen die Zeit aus den Augen verlieren können? Andererseits, was hätte er ändern sollen? Rumo wurde elend zumute. Mir einer einzigen hektischen Bewegung schlug er die Bettdecke zur Seite und sprang auf, fest entschlossen etwas zu tun. Nur was, das war die Frage. Ohne eine weitere zeitraubende Überlegung stürmte der Wolpertinger aus dem Zimmer und die schmale Holztreppe hinunter, die in den Gastraum der Privatwirtschaft führte, wo ein überraschter Blutschink hinter dem Tresen stand und einen Bierkrug mit etwas polierte, das aussah, wie seine eigene Unterhose. "Kann ich irgendetwas für dich tun, Junge?", fragte der Wirt, stellte das Glas ab und legte sich das Unterhosen-Geschirrtuch über die linke Schulter, um den aufgebrachten Gast eingehend mustern zu können, wohl abschätzend, ob es sich bei ihm um eine potentielle Gefahr für sein Mobiliar handelte. Rumo kam schlitternd vor ihm zum Stehen. "Ja, in der Tat, das können Sie", keuchte er etwas außer Atem. "Sagen Sie, halten Sie hier irgendwo Brieftauben?" Der Blutschink kratzte sich am Kopf und ließ dümmlich die Zunge aus dem Maul hängen. "Öh, ja, die haben wir. Hinterm Haus steht der Schlag. Einfach nur hier raus." Er deutete auf eine verwitterte Hintertür neben den Toiletten unweit der Bar. "Is' gar nich' zu verfehlen." Rumo nickte kurz zum Dank, eilte durch besagten Ausgang und fand sich daraufhin in einem kleinen Hinterhof mit nett möblierter Terrasse gesäumt von Blumenbeeten und einer überschaubaren Rasenfläche wieder. Ein einsamer Baum warf mit mächtigen Ästen Schatten über den gesamten Platz. Direkt zu seiner linken hatte jemand einen winzigen Holzverschlag zusammengezimmert, der etwas windschief anmutete und durch dessen offen stehende Tür lautes Gegurre hervordrang. Offenbar der Taubenschlag. Viele Gaststätten in Zamonien boten ihren Gästen den Service hauseigner Brieftauben, die diese nutzen konnten, um Geburtstagsgrüße und Urlaubspostkarten zu versenden oder auch - und das war eher im Sinne der Besitzer - die zu Hause Gebliebenen um Geld anzuflehen, wenn sie die Wirtshausrechnung nicht bezahlen konnten, was durchaus häufig vor kam, denn Zamonier tranken gerne einmal einen über den Durst und vergaßen dann schnell, dass sie mit begrenztem Budget angereist waren. Rumo betrat die wackelige Holzkonstruktion durch die enge Tür und sah sich sofort erschlagen von eine übermächtigen Woge aus Geräuschen und Gestank der grau-weißen Federtiere, die aufgeregt in ihren Käfigen auf und ab staksten. Es roch penetrant nach Kot und viel zu altem Stroh und nach etwas, zu dem Rumo einfach nur das Wort 'Vogel' einfiel, anders war es nicht zu beschreiben, obwohl ohne Zweifel allgegenwärtig. Er versuchte so wenig wie möglich zu Atmen, um seine Lungen nicht mit Tonnen der feinen Staub- und Flaumpartikel anzufüllen, die permanent die Luft verunreinigten, und zog Pergament, Federkiel und Tinte aus dem ebenfalls wackeligen Regal an der Wand gegenüber der Taubenkäfige. Dann setzte er sich an den für seine Größe eigentlich unpassenden Schreibtisch und verharrte dort einige Sekunden regungslos, bevor er den Kiel in das Tintenfässchen tauchte und in seiner krakeligen Handschrift genau vier Zeilen auf das raue Papier kratzte: Smeik, keine Sorge, ich schaffe es. Ich finde die Formel. Allerdings werde ich den Termin nicht halten können. Zögere die Übergabe so weit wie möglich hinaus! Er unterschrieb mit seinem vollen Namen und pustete einige Male auf das Pergament, um die Flüssigkeit zum Verdunsten zu bringen und die Tinte zu trocknen, rollte dann das Blatt zusammen und stand auf. Ein wenig ruppiger als er es ursprünglich angedacht hatte, fischte er einen der schreienden Vögel aus einem Käfig in seiner Griffhöhe. Das Tier versuchte sich zu wehren, schlug hysterisch mit den Flügeln und drehte und wand sich in der Pranke seines Fängers, doch der war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu merken, dass er dem kleinen Wesen die eine oder andere Rippe quetschte. Er rupfte ein Stück Schnur aus demselben Schränkchen, aus dem er auch die Schreibutensilien entnommen hatte, und versuchte der Taube das zusammengerollte Pergament ans Bein zu binden. Das stellte sich jedoch als weit schwieriger heraus, als er zunächst angenommen hatte. So ein Taubenbein war erstaunlich dünn, und dass das kleine Tierchen sich zierte, wie eine Jungfrau vor dem ersten Kuss, machte dich Sache nicht gerade leichter. Alles in allem kostete es Rumo fünf Versuche und einen waschechten Wutausbruch, bis er es endlich geschafft hatte und auch der Navigationsmagnet, der seinen Träger zum Postamt von Atlantis lotste, seinen Platz in dem kleinen Samtbeutelchen am Hals der Taube gefunden hatte. Der Wolpertinger trug das zappelnde Bündel in seiner Hand aus dem Schuppen und warf es wie einen kleinen Drachen in die Luft, in der Hoffnung, dass Vögel so etwas wie einen Fall-Start drauf hatten. Die Taube trudelte verwirrt über ihre plötzliche Freiheit einige Meter hinab und Rumo befürchtete schon, sie umgebracht zu haben, da steckte sie mit einem Mal die Flügel, begann hektisch zu flattern und verschwand schon bald aus dem Blickfeld jeglicher erdgebundener Lebewesen. Ausgenommen vielleicht dem des Bolloggs, aber der zählt nicht. Wer keinen Kopf hat, kann auch nichts sehen. Rumo sah dem kleinen Briefzusteller nach, bis er ihn aus den Augen verlor, seufzte dann und trat den Rückweg in die Pension an. Mehr konnte er im Moment beim besten Willen nicht für Smeik tun. Blieb nur zu hoffen, dass sein Freund es irgendwie schaffte, die Vorvorletzten davon zu überzeugen, die Frist um eine oder zwei Wochen zu verlängern. Andernfalls… Nun, genau genommen hatte er keinen blassen Schimmer, was andernfalls zu befürchten war, niemand hatte es je laut ausgesprochen, doch der Menschenmann hatte wirklich gefährlich ausgesehen, als er seine Drohung ausgesprochen hatte, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatten seine Worte sogar dem riesigen Wolpertinger Angst gemacht. Folglich ließ er es lieber nicht auf einen Versuch ankommen. Im Inneren des Gasthofes hatten sich unterdessen Blaubär und Mythenmetz zum gemeinsamen Frühstück eingefunden, sodass Rumo sich zu ihnen gesellen konnte. Er schwieg. Seine munter plaudernden Gefährten tauschten sich unterdessen über die neueste Entwicklungen ihrer Suche aus und schienen die Ankunft des Wolpertingers kaum bemerkt zu haben. "Wir könnten eine Liste machen", schmatzte Blaubär und gewährte seinen Tischgenossen einen unfreiwilligen Blick auf sein halb zerkautes Rührei. "Eine Liste mit allen Variationen von Spiegel, die uns einfallen. Und dann gucken wir, welcher Name uns am plausibelsten erscheint." Mythenmetz schaufelte Müsli von einer Schüssel in eine andere und übergoss es dann mit Milch aus einem Glaskrug. "Und wie sollen wir das bitte anstellen?", fragte er. "In welche Richtung soll das ganze überhaupt gehen? Ist für dich "Reflektor" plausibler als "Schrank"? Das Problem ist, dass wir nicht wissen, als was genau wir "Spiegel" betrachten sollen. Als Möbelstück? Als Bezeichnung für einen Pegelstand, wie zum Beispiel bei der Blutuntersuchung? Himmel, wenn es danach geht - ein Spiegel ist auch eine Art eine Speise anzurichten!" Blaubär ließ enttäuscht seine Gabel sinken. "Schon gut, schon gut, du hast ja Recht." Dann wandte er sich Rumo zu. "Was sagst du überhaupt dazu? Du bist so still heute Morgen." Rumo hob den Kopf, den er auf die Pfoten gestützt hatte, und fuhr sich mit einer Pranke durch das Gesicht. "Was ich dazu sage? Ich sage, wir haben ein Problem. Ein viel größeres, als das mit dem Namen." "Was für ein Problem?", wollte Mythenmetz sofort wissen. Er legte den Löffel, den er bis gerade benutzt hatte, beiseite und neigte misstrauisch den Kopf. Rumo hatte sich die Worte bereits im Kopf zu Recht gelegt - was tatsächlich einige Zeit gedauert hatte, er war einfach nicht gut in solchen Dingen -, zögerte aber dennoch, bevor er sie aussprach. Er durfte jetzt keinen Fehler machen, sonst wäre guter Rat Teuer. "Nachtigaller arbeitet doch an diesem Experiment…" Ein kurzer Seitenblick auf Blaubär, der ein paar Sekunden verwirrt aus der Wäsche guckte, dann jedoch verstand und bekräftigend nickte. "… und dafür braucht er die Formel, so zumindest hat man es mir erklärt. Aber nach allem, was ich weiß, ist dieses Experiment…." Er suchte nach einem intelligent klingenden Wort "…instabil. Sagte der Professor nicht, wir hätten nicht mehr als drei Wochen, um die Formel zu finden? Ich habe das einmal nachgerechnet und festgestellt, dass wir nun schon insgesamt zwei von eben diesen drei Wochen unterwegs sind, nimmt man die Zeit, die Blaubär und ich alleine verbracht haben, dazu. Uns bleibt also nur noch knapp eine Woche, um die Formel zu den Finsterbergen zu bringen. Und diese Zeit würde allein der Weg dorthin in Anspruch nehmen. Wir befinden uns sozusagen bereits im Zeit-Minus." Rumo hoffte inständig, dass Blaubär sein kleines Spiel mitspielen und seine plötzliche Zeitnot auf den sich verschlechternden Gesundheitszustand seiner angeblich todkranken Verlobten schieben würde. Und tatsächlich schien der gutgläubige Buntbär genau das zu tun, mehr noch, er sprang sofort auf den Zug auf. "Richtig, das sind wir!", pflichtete er aufgeregt bei. "Die Zeit - das hätte ich ja beinahe völlig aus den Augen verloren!" Er drehte sich zu Mythenmetz um. "Rumo hat Recht, wir müssen uns extrem beeilen. Wenn der Professor die Formel nicht binnen der nächsten Woche bekommt, gelingt sein Experiment nicht. Zu unserem Namensproblem kommt also auch noch ein massives Zeitproblem." Mythenmetz schob seine Müslischüssel von sich weg und lehnte sich mit verschränkten Armen Distanz suchend zurück. "Und damit kommt ihr jetzt an? Hätte euch das nicht früher einfallen können? Eventuell dann, als wir noch Zeit hatten?" Blaubär sah Hilfe suchend zu Rumo hinüber, der darauf allerdings ebenso wenig eine Antwort wusste. "Äh….", stammelte er und wich dem durchdringenden Blick der Echse aus. „Äh.. das ist doch jetzt auch egal. Wir haben wenig Zeit und damit müssen wir leben." Mythenmetz fuhr hoch. "Nein, das ist nicht egal! Euch mag es vielleicht nichts ausmachen, in einer völlig planlosen Kamikaze-Aktion den wahnwitzigen Ideen eines Pseudowissenschaftlers hinterher zu jagen, aber ich bin zu alt und zu gesetzt für solch einen Kinderkram." Er rauschte aufgebracht in Richtung Eingangstür. "Euch viel Spaß beim Herumrätseln und Leben Riskieren. Ich für meinen Teil bin raus!" Damit und mit einem lauten Zuschlagen der morschen Holztür war er verschwunden. Rumo starrte ihm entgeistert nach. Was, bei allen zamonischen Göttern, war das nun schon wieder gewesen? Was gab diesem Schreiberling das Recht so auszurasten? Wut begann dem Wolpertinger die klaren Gedanken zu vernebeln und lies ihn alles rationale Denken in den Hintergrund schieben. Auf einmal war ihm völlig egal, dass er sich eigentlich hätte mit dem Lindwurm gut stellen müssen, um seine Ziele zu erreichen. Er sprang ebenfalls auf, wobei er um ein Haar den Tisch umgestoßen hätte. "Das musst du gerade sagen!", brülltet er dem längst verschwundenen Mythenmetz hinterher. "Du bist doch derjenige, der uns die ganze Zeit etwas von einem ach-so-tollen Plan erzählst, den du in deinem durchgeknallten Hirn ausbrütest. Aber wenn es dann daran geht uns Genaueres zu erklären, bist du plötzlich ganz still und machst einen auf Geheimnisvoll. Wahrscheinlich hast du selbst keine Ahnung. Schön, geh doch! Ich kann auf dich verzichten, Freak!" Inzwischen hatten die anderen Frühstücksgäste Rumo ins Visier genommen und machten ihrem Unmut über die plötzliche Unruhe durch ärgerliche Rufe Luft. Dem Wolpertinger hätten sie in dieser Situation allerdings kaum gleichgültiger sein können. Wutentbrannt stürmte er aus dem Raum und die Treppe zu seinem Zimmer hinauf, um seine Sachen zu holen. Die Anspannung der letzten Tage, ja vielleicht sogar der letzten Wochen brodelte in ihm wie kochende Lava, das konnte Rumo deutlich spüren. Dazu kam, dass er eindeutig kein Teamspieler war, schon gar nicht, wenn das Team aus so jemandem wie Mythenmetz bestand. Dass die Emotionen früher oder später überkochen würden, damit war nur zu rechnen gewesen. Unsanft riss Rumo seine Jacke von Kleiderhaken und legte sich Schwert und Tasche um. "Was ist dir denn über die Leber gelaufen?", fragte Löwenzahn ängstlich, doch sein Besitzer antwortete nicht. Er polterte die Stufen der schmalen Holztreppen wieder hinunter, knallte dem Pensionsbesitzer das Geld für die Übernachtung auf den Tresen und verließ das Lokal. Auf den Straßen von Sledwaya waren die Bewohner gerade damit beschäftigt die Überbleibsel des gestrigen Festes zu beseitigen. Sie pflückten Girlanden von den Straßenlaternen und Dächern, fegten leere Becher und schmutzige Servietten aus dem Rinnstein und nicht wenige nutzten die frühen Morgenstunden, um sich etwas die Beine zu vertreten und den beträchtlichen Kater vom spätabendlichen Weingenuss loszuwerden. Rumo war mit einem Mal sonderbar froh darüber, dass es sich offenbar um ein eintägiges Ereignis gehandelt hatte. Er brachte die erste Gasse im Laufschritt hinter sich, eilte noch immer recht zügig durch die zweite, wurde nach der dritten Ecke bereits langsamer und blieb schließlich noch einen Straßenzug weiter vor einer Bäckerei stehen, um sich zu fragen, wo genau er eigentlich hinrannte und vor allem warum. Alles, was er wusste, war, dass er kein Ziel mehr hatte - zumindest keines, dass auch nur in irgendeiner Weise erreichbar schien - und, was noch viel schlimmer war, dass keine Zeit mehr war. So wie es aussah, war es hier und jetzt vorbei. Smeik hatte gespielt und verloren und nun war er verloren. Und er, sein bester Freund, hatte nichts dagegen ausrichten können, so sehr er sich auch bemüht hatte. Rumo ließ sich auf der mittleren der drei steinernen Stufen nieder, die zu der Bäckerei hinauf führten, und vergrub das Gesicht in den Händen. Hatte er nicht noch vor knapp eine Stunde einen Brief an Smeik geschickt, in dem er voller Überzeugung behauptet hatte, die Formel sicher nach Hause zu bringen? Und jetzt - so kurze Zeit später - hatte sich das Blatt so drastisch gewendet, dass ihm nichts anderes zu bleiben schien als aufzugeben. Hatte es überhaupt eine Chance gegeben, das Elixier zu erreichen? War es seine Schuld, dass sie scheiterten? Das Klingeln der Türschelle über seinem Kopf riss Rumo aus seinen düsteren Gedanken und veranlasste ihn aufzublicken. Ein zierlicher Schatten trat aus der Ladentür und blieb überrascht stehen, als er den niedergeschlagenen Wolpertinger auf den Stufen bemerkte. Es war ein augenscheinlich ziemlich junger Menschenmann mit schulterlangem, glatten Haar, das blau-grau in der Sonne schimmerte, und einem weichen, freundlichen Gesicht. Sein freier Oberkörper war über und über von jenen schmerzlosen Narben überzogen, von denen auch Rumo sich eine auf dem Jahrmarkt vor Wolperting hatte schneiden lassen, nur dass es bei dem Jungen nicht um Namen handelte, sondern um Symbole, die Rumo seltsam bekannt vor kamen, die er aber in dieser Sekunde nicht zuordnen konnte. Dazu trug er eine zerschlissene, halblange Stoffhose und um seinen Hals hing an einem Lederband eine kleine, hölzerne Flöte. Alles in allem machte er einen netten, harmlosen Eindruck. Zu spät bemerkte Rumo, dass er dem jungen Mann im Weg saß. "Tschuldigung", nuschelte er mit gesenktem Kopf und stand auf, um einen Schritt beiseite zu gehen und die zierliche Kreatur vorbei zu lassen. Der Kleine machte jedoch keine Anstalten sich zu bewegen. "Schlechten Tag gehabt?", fragte er frei heraus, während er von einem Schokoladenbrötchen abbiss, und lächelte offenherzig. Der Wolpertinger nickte nur. "Und das schon so früh am Morgen? Das ist aber gar nicht gut! Hier…" Er langte in eine Papiertüte mit dem Logo des Bäckers, fischte ein Schinkencroissant heraus und hielt es Rumo hin. "Schenke ich dir. Ich dachte, ich hätte großen Hunger, aber dieses süße Zeug macht doch ganz schön satt." Rumo zögerte kurz, entschied dann aber, dass ein Croissant frisch aus dem Ofen noch keinem geschadet hatte, und griff zu. Sein Gegenüber grinste und hüpfte leichtfüßig die Steinstufen hinunter. "Hattest du etwas Bestimmtes vor? Sonst hätte ich vorgeschlagen, dass wir ein Stück zusammen gehen und ein wenig plaudern, damit du auf andere Gedanken kommst. Ich bin nicht oft in der Stadt und kenne kaum jemanden, da freut es mich, wenn ich mal ein Wort mit dem einen oder anderen sprechen kann." Natürlich hätte Rumo im Grunde etwas vor gehabt, doch sein Trotz ließ ihn das ignorieren und dem außergewöhnlichen jungen Mann zusagen. Und tatsächlich fühlte er sich schon etwas besser, während sie so durch die Straßen schlenderten, an ihren Backwahren kauten und sich angeregt unterhielten. Der Junge entpuppte sich als auf eine angenehme Art neugierig. "Du kommst also aus Atlantis?", schwärmte er und seine honigfarbenen Augen begannen zu leuchten. "Wow! Da wollte ich auch schon immer einmal hin, aber irgendwie ist es nie dazu gekommen. Schade eigentlich, ich muss das nachholen!" "Na ja, geboren bin ich auch nicht dort", versuchte Rumo die Aufregung des kleinen Blauhaarigen zu dämpfen. "Ursprünglich komme ich aus Fhernhachingen. Und aufgewachsen bin ich - das klingt jetzt vielleicht etwas komisch, aber es war tatsächlich so - auf den Teufelsfelsen." Der Menschenjunge machte große Augen. "Wirklich? In deinem Leben ist ja echt was los. Unglaublich!" "Äh…" Rumo trat verlegen gegen einen kleinen Stein. "Vielleicht, ja… Aber wo kommst du überhaupt her?", brachte er hervor in dem unbeholfenen Versuch das Gespräch von sich abzulenken. Der Kleine überlegte kurz, als sei ihm seine eigene Lebensgeschichte gerade entfallen. "Also geboren bin ich hier in Sledwaya, schätze ich. Ich habe meine Eltern nie kennen gelernt, daher ist das etwas schwierig zu sagen. Aber da meine ersten Erinnerungen von hier sind, gehe ich einfach mal davon aus. Aufgewachsen bin ich auch hier, aber das ist inzwischen auch schon fünf Jahre her, daher bin ich fast schon wieder fremd in der Stadt." "Und wieso bist du gegangen?", wollte Rumo wissen. Die Frohnatur verschränkte im Gehen die Arme hinter dem Kopf. "Sagen wir einfach, ich brauchte dringend einen Tapetenwechsel. Ich bin eine Weile planlos durch das Land gezogen, bis ich jemanden kennen gelernt habe, der auf einem dieser umher reisenden Jahrmärkte arbeitet. Als ich ihm erzählte, dass ich unter anderem das Gestaltenwandeln beherrsche, bot er mir an, eine kleine Effektshow auf die Beine zu stellen. Und dabei bin ich geblieben. Es ist nichts, womit man angeben kann, aber ganz witzig. Und von dem Gehalt kann man gut leben." Jetzt war es an Rumo zu staunen. "Du bist Gestaltenwandler? Ehrlich?" "Ja", antwortete der Blauhaarige, als sei das nichts Besonderes. "Das hier ist nicht meine eigentliche Gestalt. Aber so ist es um ein Vielfaches einfacher zu bekommen, was man, will, glaub mir. Als Kratze wird man meist nicht so ernst genommen." Rumo blieb abrupt stehen und schluckte den letzten Bissen seines Croissants hinunter. "Kratze? Das heißt normalerweise bist du…" Er machte eine Handbewegung, die etwas sehr Kleines beschreiben sollte. Der Junge lachte. "Meistens zumindest. Wenn ich gerade Lust habe." Er reckte sich ungeniert und gähnte. "Spaß beiseite. Ja, ich bin eine Kratze. Ich verwandle mich nur während meiner Vorstellungen und - so wie jetzt zum Beispiel - wenn ich mit Daseinsformen ins Gespräch kommen muss, die um einiges größer sind als ich. Da ist das einfach angenehmer zumindest annähernd auf Augenhöhe zu sein. Aber ganz einfach ist das nicht, genau genommen sogar recht anstrengend, daher kann ich diesen Zustand nie länger als etwa eine Stunde aufrechterhalten." "Aha", machte Rumo verwundert und versuchte, das eben Gehörte in irgendeine der unzähligen Schubladen in seinem Gehirn zu stopfen. Es stellte sich als recht sperrig heraus. Nachdem er ein paar Sekunden lang Löcher in die zamonische Luft gestarrt hatte, hastete Rumo dem mittlerweile einige Schritte entfernt tänzelnden Sonderling hinterher. "Sag mal", begann er, als er schließlich aufgeholt hatte, und beschloss, einer plötzlichen Eingebung folgend, aufs Ganze zu gehen. "Du heißt nicht zufällig Spiegel? Oder zumindest so ähnlich?" Diese Frage war ganz offensichtlich ein Fehler. Von einer Sekunde auf die andere verschwand das fröhliche Lächeln von den Zügen des jungen Mannes, als hätte es jemand mit einem Tuch einfach weggewischt. Er hörte auf zu schlendern, sein Schritt wurde fest und bestimmt und sein Blick war starr nach vorne gerichtet. "Nein", sagte er unterkühlt. "Mein Name ist nicht Spiegel." Dann blieb er so unvermittelt stehen, dass Rumo gegen ihn prallte und drei Schritte zurück taumelte. "Wir sollten von hier an getrennt weiter gehen", erklärte er. "Meine Kollegen warten sicher schon auf mich. Das Fest ist vorbei, der Jahrmarkt zieht weiter.“ Er knüllte die leere Papiertüte vom Bäcker zusammen und warf sie in einen metallenen Mülleiner, der an einer Hauswand befestigt war. "War nett mit dir zu plaudern." Ohne sich ein weiteres Mal umzusehen, setzte sich der Gestaltenwandler wieder in Bewegung und hatte schon die halbe Straßenlänge hinter sich gebracht, bevor Rumo begriff, was gerade passiert war. "Warte!", rief er dem Jungen nach. "Wenn du irgendetwas über einen Spiegel weißt, dann sag es mir bitte! Es ist wirklich wichtig!" "Ich weiß nichts von einen Spiegel!", kam die ernüchternde und wenig freundliche Antwort von fern, dann war die seltsame Kratze auch schon hinter einer Hausecke verschwunden und ließ Rumo allein in der leeren Gasse zurück. Der lehnte sich seufzend gegen einen Laternenpfahl. Was war das denn nun schon wieder gewesen? Hatte er wirklich so wenig kommunikatives Geschick, dass jeder, der mit ihm sprach, früher oder später wütend flüchten musste? Hinter sich hörte er hektische Schritte. "Rumo! Rumo!" Es war Blaubär, der aufgeregt auf ihn zu sprintete und schlitternd vor ihm zum Stehen kam. "Hier steckst du also!" Der Buntbär holte ein paar Mal tief Luft, bevor er weiter sprach. "Ich habe die halbe Stadt nach dir abgesucht! Mythenmetz ist zurückgekommen. Er ist zwar noch etwas grantig und wahrscheinlich schlecht auf dich zu sprechen, aber offenbar hat doch seine Neugierde gesiegt. Er will uns weiterhin begleiten, ist das nicht großartig? Wir haben immer noch eine Chance!" Dann bemerkte er den abwesenden Gesichtsausdruck des Wolpertingers. "Ist etwas vorgefallen?" Rumo schüttelte energisch den Kopf und befahl seine Gedanken zurück ins hier und jetzt. "Nein… Nein, da war nichts… nichts Wichtiges." "Sicher?" "Ganz sicher. Und jetzt lass uns zurück zur Herberge gehen. Ich will mir anhören, was Mythenmetz zu sagen hat." Sie betraten den Gasthof durch die kaputte, mächtig in den Angeln quietschende Vordertür, ignorierten den verwunderten Blick des Wirtes, der sich zu fragen schien, was genau diese seltsamen Gäste eigentlich wollten, dass sie immer wieder aus dem Gasthof hinaus stürzten, nur um kurz darauf wieder hinein getrottet zu kommen, und setzten sich zu Mythenmetz an einen der kleinen Ecktische, von dem aus ihnen die Echse bereits missmutig entgegen gestarrt hatte. Rumo entschied sich für einen Platz rechts von ihm, Blaubär nahm zur Linken des Schriftstellers auf der weinroten Sitzgarnitur platz. "Und was nun?", fragte der Wolpertinger in die Runde, nachdem sie sich gesetzt hatten. Diese Frage war zwar schon gefühlte einhundert Mal gefallen und weiter waren sie seit dem letzte Mal ganz sicher auch nicht gekommen, aber allein die Tatsache seiner Ratlosigkeit zur Sprache zu bringen, gab Rumo das gute Gefühl, nicht die volle Verantwortung zu tragen. Mythenmetz nippte an einem Glas mit einer dunkelroten Flüssigkeit, von der Rumo ernsthaft hoffte, dass es Traubensaft war, und kratzte sich am schuppigen Schädel. "Gut, machen wir mal was anders und gehen geplant und durchdacht vor. Wir haben wenig Zeit, also sollten wir möglichst schnell die Stadt verlassen. Hier kommen wir ja ganz offensichtlich nicht weiter. Kehren wir lieber zurück zur Lindwurmfeste und durchforsten meine Bibliothek, dort könnten wir, wenn wir Glück haben, den einen oder anderen Hinweis finden. Könnten, wohl gemerkt. Sicher bin ich mir da keinesfalls, es gibt kaum Aufzeichnungen über die Prima Zateria. Alle Alchimisten, die sich bis jetzt damit beschäftigt haben, hatten - um es auf den Punkt zu bringen - nicht mehr wirklich alle Tassen im Schrank." Er warf Rumo und Blaubär einen viel sagenden Blick zu. "Was im Grunde bereits einiges über unser Unternehmen aussagt…" "Jaja", winkte Rumo ab. Er hatte keine Lust auf weitere Diskussionen über die Absurdität seines Unterfangens. Er war sich dessen sehr wohl bewusst. "Also verlassen wir jetzt sofort die Stadt, oder wie?" "Falls dir in der Stunde deiner Abwesenheit nicht gerade ein bahnbrechender Hinweis über den Weg gelaufen ist, ja." Der Wolpertinger lehnte sich zurück. "Nein, da war nichts. Mir ist zwar ein Kratzenjunge begegnet, aber der wusste auch nichts über einen Spiegel. Ist auch nicht weiter verwunderlich, er kam nicht von hier. War Gestaltenwandler beim Jahrmarkt oder so etwas in der Art. Ganz netter Kerl, eigentlich." Mythenmetz hätte beinahe den Schluck Saft, den er soeben genommen hatte, wieder ausgespuckt. "Sag mit bitte nicht, dass du ihn hast laufen lassen!" Rumo verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Was hätte ich denn bitte sonst tun sollen? Ihn einfangen und als Haustier halten?" "Sag mal, bist du eigentlich völlig BESCHEUERT?", fuhr ihn der Lindwurm an und besprühte ihn mit Spucke. Der Wolpertinger bezweifelte ernsthaft, dass er sich das gefallen lassen musste. "Was ist denn bitte schön nun schon wieder?" Mythenmetz fuhr sich verzweifelt mit der Klaue übers Gesicht. "Er war ein Gestaltenwandler, Wolpertinger! Ein Gestaltenwandler! Das ist eine der höchsten alchimistischen Fähigkeiten überhaupt!" "Na und?", rechtfertigte sich Rumo. "Was hat das schon zu sagen? Er wusste nichts von Spiegel. Und auch nichts von irgendwem, der so ähnlich heißt. Das hat er mehr als deutlich gemacht. Und außerdem: Woher soll ich denn bitte wissen, was so ein Alchimist alles drauf hat? Ich habe keine Ahnung von dem ganzen Quatsch und habe es auch nie behauptet!" Der Schriftsteller atmete ein paar Mal tief durch und schien sich schließlich langsam aber sicher wieder zu beruhigen. "Schon gut, du hast ja Recht." (Historischer Augenblick, fand Rumo.) "Aber diese Kratze muss dich angelogen haben. Wahrscheinlich ist er genau derjenige, nach dem wir suchen. Kratzen haben von Natur aus nichts mit Alchimie am Hut, woher sonst sollte dieses spezielle Exemplar sein wissen haben als von eben jenem Meister, der uns in dem Buch "Spiegel, die Kratze" beschrieben wird?" Er stand auf und raffte seinen Umhang zusammen. "Schnell! Wir müssen ihn finden!" Rumo hatte gerade noch Zeit sich zu fragen, ob er in den Augen des Lindwurms endlich einmal etwas richtig gemacht hatte, als er auf den seltsamen Kratzen-Jungen gestoßen war, da packte dieser ihn auch schon am Ärmel seiner Jacke und zerrte ihn aus der Sitzbank. Blaubär blieb wie immer nicht anderes übrig, als den beiden hinterher zu hetzten und zu versuchen, nicht den Anschluss zu verlieren. So schnell, wie es Mythenmetz' nicht vorhandene Kondition erlaubte, hasteten sie zum Stadttor, in der Hoffnung, dass die Jahrmarktstruppe dieses noch nicht passiert hatte. Dort angekommen postierten sie sich vor der hohen Mauer wie ein Trupp besonders gefährlicher Leibwächter und taten das einzige, was ihnen übrig blieb. Warten. Das übliche Schweigen stellte sich ein. Immerhin kein Streit, fand Rumo. Nahezu eine Stunde verging, zamonische Daseinsformen jeglicher Art durchquerten die Schwelle zur Stadt und wieder hinaus und einige von ihnen warfen dem seltsamen Trio einen fragenden Blick zu. Doch niemand wagte einen Kommentar. Rumo wurde langsam ungeduldig. Gerade als er missmutig die Arme in die Luft werfen und ausrufen wollte, dass doch ohnehin alles sinnlos sei, da der Zirkus doch sicherlich schon lange abgezogen sei, sprang Blaubär plötzlich einen Schritt vor und deutete aufgeregt die Hauptstraße hinunter. "Da hinten kommen sie. Das müssen sie sein!" Rumo spähte in die angezeigte Richtung. Tatsächlich, dort, etwa zweihundert Meter von ihnen entfernt, zogen Pferde sieben oder acht Planwagen die grob gepflasterte Straße hinauf. Begleitet wurden sie von einer Gruppe Zamonier, darunter die seltsamsten und eigensinnigsten Kreaturen, die der Kontinent zu bieten hatte: Zwei Yetis in Gladiatorenrüstung, ein Nebelheimer mit einer großen Trompaune im Gepäck, ein verschlagen dreinblickender Hundling, mehrere Fhernhachen und ein Wildschweinling, der ein Einhorn führte. Es gab eine Schreckse mit großem, gusseisernen Kessel auf dem Rücken und eine Zwiezwergenfamilie, die offenbar einen ziemlichen Lärm machte. Angeführt wurde der auffällige Tross von etwas, das wohl halb Dämon, halb Yeti sein sollte ("Uärgh!", machte Grinzold. "Einige Beziehungen gehören von Natur aus verboten!") und ein kleines Bündel auf der rechten Schulter trug, das sich beim Näherkommen als zierliche, blau-schwarz getigerte Kratze herausstellte. Rumo stellte sich der Truppe mit ausgesteckten Armen in den Weg. "Verzeihung!", rief er, sobald er sich in Hörweite wusste. "Wäre es möglich, kurz mit einem eurer Mitglieder zu sprechen?" Der Führer des seltsamen Trosses hob seine linke Pranke, woraufhin der gesamte Zug hinter ihm quietschend, scheppernd und staubend zum Stehen kam. Einige der Schauteller reckten verwundert die Hälse, um zu sehen, was weiter vorne vor sich ging, andere stupsten den neben ihnen Stehenden mit dem Ellenbogen an und wisperten etwas unverständliches, wobei sie auf den wüst aussehenden Wolpertinger deuteten. Der Yeti-Mischling begutachtete ihn eine Weile misstrauisch und fragte dann gerade heraus: "Wen wünscht du zu sprechen, Hund?" Doch noch bevor Rumo etwas antworten konnte, begann sich die Tiegerkratze auf der Schulter zu regen. Sie reckte sich, machte einen Buckel, der einmal ihre gesamte Wirbelsäule entlang zu laufen schien wie eine Laola-Welle, und sprang dann leichtfüßig vor dem Wolpertinger auf den Boden. "Schon gut Faron, er will zu mir", erklärte der Kleine seinem Besitzer. "Ich habe ihn heute in der Stadt getroffen und da scheinen einige Fragen offen geblieben zu sein. Gibst du mir zwei Minuten?" Der, der Faron hieß, nickte, drehte sich dann zu seinem Gefolge um und rief: "Macht es euch bequem Jungs! Wir bleiben ein Weilchen hier." Der Gestaltenwandler vergewisserte sich noch kurz, dass seine Gefährten auch wirklich bereits waren zu warten, dann wandte er sich Rumo zu und deutete mit dem Kopf in Richtung einer abseits liegenden Hausecke. "Du und deine Freunde - kommt mit. Das muss jetzt nicht unbedingt jeder mitbekommen. Bei uns wird viel getratscht." Als er sah, dass alle drei ihm gehorsam folgten, huschte er lautlos an der Hauswand entlang, suchte sich einen Vorsprung in ausreichender Höhe und sprang hinauf, um dann zu warten, bis sich alle um ihn herum versammelt hatten und ihn erwartungsvoll anstarrten. Er seufzte. "Es geht um das Buch oder? Na schön, fragt, was ihr wollt. Ich komme ja ohnehin nicht drum herum." Mythenmetz entschied prompt, dass es an seiner unzweifelhaften Kompetenz war, die Situation zu regeln. Und dieses Mal hätte es Rumo kaum rechter sein können, immerhin war es die Idee der alten Echse gewesen, mit dem seltsamen Kratzenjungen zu sprechen. "Also, reden wir nicht lange um den heißen Brei herum. Du bist, folgere ich, Spiegel, eben jener Spiegel, den uns Gofid Letterkerl in seiner Novelle beschreibt?!" Die Tiegerkratze machte ein gequältes Geräusch. "Ja, ich bin der Alchimistenschüler aus der Kurzgeschichte. Und nein, mein Name ist nicht Spiegel. Ich heiße Echo. Echo, verdammt! Hätte ich gewusst, dass Letterkerl so etwas im Sinn hatte, als er sagte, er wolle meine Geschichte aufschreiben, ich hätte er kein Wort von mir erfahren!" Eine Welle unendlicher Erleichterung durchfuhr Rumo. Er packte das zierliche Tier an den Flanken, hob es hoch und schüttelte es wie einen Cocktail. "Du bist es also!", rief er dabei. "Du bist es wirklich!" Echo fauchte, fuhr die Krallen aus und wand sich geschickt wie eine Schlange aus dem ungeschickten Griff. "Au! Pass auf, du grober Hund! Du brichst mir ja die Rippen!" Er setzte sich wieder hin und leckte sich ein paar Mal mit der rauen Zunge über den Rücken und den elegant gebogenen Schweif. "Ja, ich bin es", sagte er schließlich. "Präzise gesprochen bin ich ein Alchimeister vierten Grades. Ich habe, bevor ich mich dem Jahrmarkt anschloss, eine Ausbildung zum Alchimisten genossen und nach Abschluss derer an der Akademie von Florinth vier Meistergrade abgelegt. Allerdings sah ich es niemals als erstrebenswert an, in einem düsteren Labor irgendwelchen sinistren Ideen und wahnhaften Träumen hinterher zu jagen. Da begeistere ich lieber ein paar Kinder mit einem schönen Feuerwerk, da hat die Welt mehr von, denke ich. Noch irgendwelche Fragen?" "Ähh…", machte Rumo, doch Mythenmetz kam ihm zuvor. "Wie viel weißt du über die Altern Künste?" Echo zuckte mit den spitzen Schultern. "Eine ganze Menge, schätze ich. Ich wurde speziell in diese Richtung ausgebildet." Dann sah er plötzlich auf und den drei Weggefährten geradewegs in die erstaunten Augen. "Aber jetzt verratet mir bitte einmal, was genau ihr eigentlich von mit wollt. Warum war es euch so verdammt wichtig, mich zu finden? Braucht ihr eine Salbe, ein Heilmittel, eine Tinktur? Gut, ich werde euch das Rezept aufschreiben, sofern ich es kenne. Wenn es euch allerdings darum geht, meine Geschichte aufzuschreiben, dann vergesst es. Ich habe diesem Gofid Letterkerl bereits Rede und Antwort gestanden und was dabei heraus kam, war dieses völlig verdrehte Heftchen, das nicht mal annähernd das wiedergibt, was tatsächlich passiert ist. Außerdem kommen seit jenem Tag ständig irgendwelche Leute zu mir und fragen mich, ob ich denn Spiegel, der Spiegel, sei. Danke, auf noch so etwas kann ich verzichten." "Nein, darum geht es uns nicht", versuchte Blaubär zu erklären, doch die Kratze bliebt sichtlich skeptisch. "Und warum, bitte schön, rede ich dann gerade mit Hildegunst von Mythenmetz und seinem Gefolge, wenn es sich nicht um eine erneute Niederschrift handeln soll?" "Weil wir deine Hilfe brauchen", erklärte Rumo schnell, bevor ihm wieder jemand das Wort abschneiden konnte. "Professor Nachtigaller schickt uns. Wir sind auf der suche nach… nach…." "Nach der Prima Zateria", ergänze Blaubär, der merkte, dass seinem Gefährten das passende Wort gefehlt hatte. "Der Professor braucht das Elixier für ein Experiment von unermesslicher Tragweite. Und er braucht es möglichst bald. Daher die Dringlichkeit." Echo lachte trocken. "Die Prima Zateria? Warum nicht gleich die Formel, um Blei in Gold, Blut in Wein oder Brot in Diamanten zu verwandeln? Oder gar die Anleitung zum Bau eines Perpetuum Mobile?" Er sprang zu Boden. "So etwas wie die Essenz des Ewigen Lebens gibt es nicht und wird es auch niemals geben. Eure Suche ist sinnlos, also vergesst es! Ich kann euch nicht helfen und auch sonst wird es keiner können. Geht nach Hause. Ich bin ein Alchimist kein Zauberer!" Mythenmetz blieb völlig ungerührt. "Eine solche Essenz gibt es also nicht? Seltsam, war es nicht gerade dein Meister, der versucht hat, sie zu vervollständigen? Mir war, als hätte ich da mal so etwas gelesen…" Echo schnaubte verächtlich. "Herzlichen Glückwunsch, du weißt mehr als der dämliche Rest. Darf man fragen, woher du dein Halbwissen beziehst? Ich wüsste gerne, wer in Zamonien sich traut, so schamlos Gerüchte über meinen Meister zu verbreiten." "Ach, niemand bestimmtes." Der Schriftsteller verschränkte selbstzufrieden die Arme vor der Brust. "Sagen wir einfach, ich recherchiere recht gern. Das ist ein großer Teil meiner täglichen Arbeit. Und außerdem…" Ein gefährliches Lächeln kroch über seine Züge wie der Schatten eines Dämons. "Außerdem kannte ich Succubius Eißpin persönlich." "Das tut mir aufrichtig Leid für dich, glaub mir. Auch wenn du ihn sicher nicht wirklich gekannt hast, aber wer will das schon." Echo drehte sich um und entfernte sich, während er sprach. "Trotzdem muss ich euch bitten jetzt zu gehen. Ich möchte mit diesem Irren nichts mehr zu tun haben. Er ist meine Vergangenheit und das bleibt er auch. Vergangenheit." Damit und mit einem aufgebrachten Peitschen seines langen Schweifes gesellte er sich wieder zu der munter plaudernden Jahrmarktstruppe, die ihn offenbar nicht nach seiner Vergangenheit fragte. Aber das tat man beim Jahrmarkt wohl besser ohnehin nicht. Rumo blickte ihm enttäuscht nach. "Na das war ja wohl nichts", seufzte er. "So giftig, wie der drauf war, als wir ihn auf die Formel angesprochen haben, ist bei dem sicher nichts mehr zu holen." "Hmm", machte Mythenmetz und ließ es im nicht vorhandenen Raum stehen, als sei es eine Aussage. Blaubär schwieg. Dem war nichts mehr hinzuzufügen. Eine Weile standen die Drei ratlos in der Gegend herum, kauten auf ihren Unterlippen herum und kratzten sich dann und wann nervös am Kopf. Keiner mochte so recht aussprechen, was ihnen nun allen auf der Zunge lag: Das altbekannte "Und was nun?". "Der Zug ist schon außer Sichtweite, wir haben unsere Chance verpasst." "Und stehen mal wieder vor dem Nichts", ergänzte Rumo schlecht gelaunt. "Wie immer." Mythenmetz bliebt weiterhin stumm, folgte ihnen aber, als sie sich auf den Weg zurück in die Stadt machten. Warum sie genau diese Richtung einschlugen, wo sie genau so gut die Stadt hätten verlassen können, vermochte keiner von ihnen zu sagen. Wahrscheinlich hatte die Herberge etwas Tröstliches an sich. Dieses Mal betraten sie den Gasthof nicht, sondern blieben knapp vor seiner Tür auf der spärlich frequentierten Straße stehen. Was hätten sie da drinnen auch tun sollen? Sich wieder an einen Tisch setzten und Trübsal blasen? Das wurde inzwischen ja beinahe zur Gewohnheit. „Und nun?“, äußerte Rumo schließlich und zog den Reisverschluss seiner Jacke zu. Es war kalt geworden in den letzten Tagen, der scharfe Wind drang inzwischen mit Leichtigkeit durch sein dichtes Fell und ließ ihn frösteln. „Verlassen wir die Stadt und kehren zur Lindwurmfeste zurück?“ „Das wäre wohl das Beste“, antwortet Mythenmetz, während er die Taschen seines Umhangs durchsuchte. Nach einigen Sekunden beförderte er ein Tuch zutage und putze sich die schuppige Nase, faltete den Seidenstoff dann sorgsam wieder zusammen und schob ihn zurück in sein lilafarbenes Gewand. Die Stimmung hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht. Rumo fühlte sich seltsam stumpf, wie betäubt, ganz so, als hätte er wieder einmal einen Schlag auf seinen lädierten Schädel bekommen. Alles um ihn herum drang nur schwer an seine sonst so scharfen Sinne heran, die Geräusche waren dumpf, die Farben der Umgebung milchig getrübt und sogar sein Geruchssinn schien ihn verlassen zu haben. Müdigkeit überkam ihn. Er gähnte vernehmlich, blickte träge die leere Gasse entlang und wollte den Blick gerade wieder abwenden und seine Gefährten zum gehen animieren, als ihm etwas auffiel. Zunächst glaubte er, sein getrübtes Augenlicht spiele ihm einen Streich. Doch auch nach mehrfachem Blinzeln und Reiben wollte der kleine, dunkle Fleck am Ende der Straße einfach nicht verschwinden, mehr noch, er schien größer zu werden, näher zu kommen. Jetzt war auch Blaubär etwas aufgefallen. „Sagt mal…“, begann er vorsichtig und starrte in eben jene Richtung, in die auch Rumo seit einigen Sekunden angestrengt blickte. „Ist das da hinten…?“ Mythenmetz trat neben seine Gefährten. „Na, das ist doch mal überraschend!“ Das, was da in kleinen, aber dennoch bestimmten Schritten die Gasse hinab auf sie zukam, war eine Kratze. Eine blau-schwarze Tigerkratze um genau zu sein. Echo. Der tierische Alchimist trabte auf die Gruppe zu, sprang auf den letzten Metern auf den Fenstersims eines der Fenster des Gasthofes, verharrte schließlich dort und setzte sich, das Gesicht der erstaunten Reisegruppe zugewandt. "Ich habe nachgedacht." „Und bist dabei zu genau welchem Ergebnis gekommen?“, wollte Mythenmetz mit hochgezogener Augenbraue wissen. Auch Rumo war skeptisch. Echo machte ein betretenes Gesicht. „Tut mir Leid, dass ich mich vorhin so benommen habe“, miaute er kleinlaut. „Ich habe eingesehen, dass ihr nicht zu den Leuten gehört, die mich nur aufgrund von Letterkels Buch ansprechen. Euer Vorhaben schien euch wirklich wichtig.“ „Das ist es in der Tat!“, machte Rumo deutlich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Also kannst du uns nun doch weiterhelfen, oder wie dürfen wir deine Rückkehr verstehen?“ Die Kratze nickte. "Vielleicht gibt es tatsächlich eine Möglichkeit, wie ich euch helfen kann.“ Er zögerte. „Der Lindwurm hatte schon Recht, ich weiß etwas über die Prima Zateria." "Aha!", rief Rumo triumphierend, doch Mythenmetz bedeutete ihm mit einer schnellen Handbewegung zu schweigen. "Wie auch immer", fuhr Echo fort und seine Stimme wurde nun wieder etwas fester. "Ich erwarte eine Gegenleistung für dieses wertvolle Wissen." "Was?", fragte der Schriftsteller gerade heraus. Echo holte einmal tief Luft. "Ich habe euch ja von meinem Dilemma mit diesem "Spiegel, die Kratze"-Buch von Letterkerl erzählt. Nun, ich kann nicht zulassen, dass diese Halbwahrheiten weiter auf dem ganzen Kontinent verbreitet werden. Also möchte ich, dass du, Lindwurm…" Er sah Mythenmetz mit durchdringendem Blick an. "…die wahre Geschichte aufschreibst. Alles, so wie es wirklich passiert ist, ohne etwas wegzulassen oder dazu zu erfinden. Ich erzähle es dir und du verfasst es so, dass es für die Allgemeinheit tauglich ist. Nicht mehr und nicht weniger will ich. Also, was sagst du?" Alle Augenpaare richteten sich auf den Schriftsteller, der selbstbewusst zu grinsen begonnen hatte und zärtlich die Federn in seiner Manteltasche tätschelte. "Ich kriege sämtliche Rechte an dem Werk?" "Wenn ich den Inhalt abgesegnet habe, dann soll es meinetwegen so sein. Ich könnte ohnehin nicht viel mit dem Geld anfangen, das ich dafür bekäme." Mythenmetz Grinsen wurde sichtlich breiter. "Also das nenne ich doch mal ein einwandfreies Geschäft." Kapitel 12: Es geht wieder runter --------------------------------- Man beschloss sich zwecks Planung weiterer Schritte in die altbewährte Herberge zurück zu ziehen. Echo hatte sich auf unbestimmte Zeit von seiner Schaustellertruppe verabschiedet, was diese erstaunlich gleichgültig aufgenommen hatten. Und auch der Gestaltenwandler selbst schien nicht wirklich betrübt über den plötzlichen Abschied - offenbar hing man dort nicht sonderlich aneinander. Nun - gegen Mittag desselben Tages - saßen die vier Waffenbrüder um einen kleinen Tisch im Schankraum ihres Stammgasthofes und warteten darauf, dass irgendeiner von ihnen sich berufen fühlte das Schweigen zu brechen. Und wenn es ums Sich berufen fühlen ging, konnte es natürlich nur einen geben. "Beginnen wir also ganz formell", sagte Mythenmetz und sah in die Runde, als erwarte er für diese Aufforderung Beifall. Doch nichts dergleichen geschah. Der Schriftsteller hüstelte. "Ähäm, in Ordnung, ich werde beginnen." Er zupfte sich die Robe zu Recht und schob sich in eine kerzengerade Sitzposition. "Mein Name ist bekanntermaßen Hildegunst von Mythenmetz und ich arbeite als freiberuflicher Schriftsteller. Soweit wohl kaum etwas Neues - für die Meisten von uns." Rumo hatte plötzlich das Gefühl als starre ihn jemand eindringlich von der Seite an. Er fixierte vorsichtshalber die Tischplatte. "Ich bin stolze siebenhundertdreizehn Jahre alt", fuhr der Lindwurm fort, "stehe in der Blüte meines Lebens und erfreue mich einer Karriere, die Ihresgleichen sucht. Und nur um Gerüchten vorzubeugen: Ich bin ledig und ungebunden. Und sehr glücklich über diesen Zustand." Mehr gab es offenbar aus seiner Sicht nicht zu sagen. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Rumo war der Nächste in der Reihe. "Rumo von Zamonien, acht Jahre alt, hauptberuflich Leibwächter", erklärte er kurzabgebunden. Gern hätte er mehr von sich preisgegeben und dadurch weniger ruppig und verschlossen gewirkt, doch er hatte Angst, sich durch ein falsches Wort zu verraten und damit den gesamten Plan zu gefährden. Also blieb er bei der Kurzversion. "Ich bin in Wolperting zu Hause, halte mich aber der Arbeit wegen häufig in Atlantis auf. Das ist nicht immer einfach, zumal ich meine Verlobte so nur sehr selten sehe, aber ich kann wenig dagegen tun. Meine Arbeit ermöglicht uns ein sehr komfortables Leben und wir beide wissen das zu schätzen" Echo sah in an und nickte. "Manchmal muss man Kompromisse eingehen, das verstehe ich." Dann begann er zu grinsen. "Ein berühmter Schriftsteller und ein waschechter zivilisierter Wolpertinger. Mit euch ist ja richtig was los!" Er wandte sich Blaubär zu und sah in erwartungsvoll an. "Jetzt du!", forderte er. "Du bist ein ehemaliger Schüler von Nachtigaller? Bedeutet das nicht, dass du der einzige deiner Art sein musst? Das musst du mir erklären! Buntbären gibt es doch eine ganze Menge!" Blaubär fuhr sich verlegen mit einer Pfote über den Hinterkopf und begann zögerlich seine Geschichte zu erzählen. Seinem Gesicht war anzusehen, dass er gar nicht erst erwartete, dass irgendeiner seiner Gefährten ihm Glauben schenken würden, und wenn Rumo ehrlich war, tat er es auch nicht. Noch dazu hatte er mit jeden Wort mehr und mehr das Gefühl, das alles schon einmal gehört zu haben, nur konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern, wo das gewesen sein sollte. Klabautergeister, Tratschwellen und Freinschmeckerinseln, ein Tyrannowalfisch Rex – natürlich, diese Dinge gab es in Zamonien, doch dass jemand all diesen Wundern in einem einzigen, kurzen Leben begegnet sein sollte, klang doch etwas sehr an den Haaren herbei gezogen. Und woher, um alles in der Welt, kannte er diese Geschichte? Wieso fühlte er sich in diesen Sekunden, als erlebe er diese Situation bereits zum zweiten Mal, als wüsste er, was der Buntbär erzählen würde, obwohl er sich sicher war, noch niemals mit all diesen Leuten an einem Tisch gesessen zu haben? Dann, gerade als Blaubär seine angebliche Begegnung mit dem ewigen Tornado in der süßen Wüste schilderte, fiel es dem Wolpertinger wie Schuppen von den Augen. "Das ist sie!“, platze es aus ihm heraus bevor er etwas dagegen tun konnte. "Das ist die Geschichte, mit der du das Duell gegen Nussram Fhakir gewonnen hast, das legendärste Lügenduell in der zamonischen Geschichte!" Mythenmetz stellte das Glas, aus dem er soeben getrunken hatte, so kraftvoll zurück auf den Tisch, dass die Flüssigkeit darin über den Rand schwappte. "Das Lügenduell gegen Nussram Fhakir?“, rief er. „Natürlich! Deswegen kamst du mir von Anfang an so bekannt vor! Du bist dieser Lügenkönig, der Lügenduellant, der es geschafft hat, mit seiner Erzählweise alles zu ruinieren, was wir Autoren über Jahrhunderte geprägt und perfektioniert hatten!" "Ich… ähm…" Der aufgebrachte Schriftsteller ließ ihn nicht zu Wort kommen. "Du bist schuld, dass meine Verkaufszahlen im Jahr deines Erfolgs einen Jahrhunderteinbruch zu verzeichnen hatten, ich hoffe, das ist dir klar!" Blaubär schluckte merklich. „Na ja…“ "Nun, schön zu wissen, dass wir jemanden in unseren Reihen haben, der nicht einmal ehrlich genug ist, um uns etwas über sein Leben zu erzählen.“ "Nein, ich…" "Was hast du dir davon versprochen? Wolltest du gut dastehen? Wolltest du Anerkennung? Oder fällt es dir einfach nur schwer, zwischen Wahn und Wirklichkeit zu unterscheiden?" "Ich…" Blaubär schien ernstlich verzweifelt und er begann Rumo mehr und mehr Leid zu tun. Mythenmetz’ Worte trafen den gutmütigen Buntbären offenbar geradewegs an empfindlichster Stelle. Was bezweckte er mit dieser Lügengeschichte? War ihm denn nicht klar, dass so eine dreiste Spinnerei früher oder später auffliegen musste? Schlimmer noch, dass sie zu weiteren Fragen seine Glaubwürdigkeit betreffend führen würde? Rumo beschlich die kalte Angst. Da war er, der kleine Fehler, mit dem alles stand und fiel, der kleine Ausrutscher, der das Ende ihrer Reise bedeuten konnte. Wenn Mythenmetz jetzt auf den Gedanken kam, auch Blaubärs Geschichte rund um Professor Nachtigaller zu hinterfragen, konnten sie einpacken, die Kettenreaktion war klar voraus zu sehen: Flog Blaubär auf, war jede Zusammenarbeit mit Mythenmetz undenkbar. Und ohne Mythenmetz hatten sie kein Angebot mehr, dass sie dem jungen Alchimisten Echo machen konnten, was wiederum bedeutete, dass die Formel für das Elixier des ewigen Lebens in unerreichbare Ferne rückte. Und in letzter Konsequenz: Er, Rumo – hatte er nicht mit dieser ganzen Lügerei angefangen, indem er Blaubär unter der Angabe falscher Tatsachen um Hilfe gebeten hatte? Plötzlich wurde ihm bewusst, wie schrecklich alles aus dem Ruder gelaufen war. Er hatte sich in etwas verstrickt, das ihn den Kopf kosten konnte – und dieses etwas konnte er nicht mit Löwenzahn erschlagen. „Sag mir eins, Buntbär…“ Rumo zählte in seinem Kopf die Augenblicke bis zu seinem Untergang herunter. T minus drei Sekunden. Zwei. Eins. „Wie viel von dem, was du mir über den Grund unserer Reise erzählt hast, war gelogen?“ Mythenmetz Stimme war vollkommen emotionslos. Vorbei. Rumo wünschte sich mit einem Mal an einen Ort ganz weit weg von Sledwaya, Himmel, am liebsten ganz weit weg von Zamonien, doch es funktionierte nicht. Als er die Augen wieder öffnete, befand er sich immer noch in dem düsteren, stickigen Schankraum des Gasthofes. Niemand sprach ein Wort. Der Buntbär fixierte den Tisch während er wiederum von Mythenmetz mit einem vernichtenden Starren bedacht wurde. Echo blickte fragend vom einen zum nächsten und Rumo konzentrierte sich ganz auf die verdorrte Orchidee auf der Fensterbank. Er wusste, dass mit jeder Sekunde, die in Stille verstrich, ein weiteres Wort dem Misstrauen zum Opfer fiel, dass er etwas sagen musste, um sich zu rechtfertigen, dass irgendwer irgendetwas sagen musste. Trotzdem schwieg er. Er war nicht zum Reden geschaffen, beruhigte er sich selbst. "Nichts!" Rumo fuhr aus seiner Schockstarre hoch und gaffte sinnlos in die Runde. Mythenmetz wirkte überrascht, Blaubär entschlossen. "Nichts von all dem ist gelogen", wiederholte der Buntbär mit fester Stimme und begegnete dem eiskalten Blick des Schriftstellers mit furchtloser Geste. "Es mag sein, dass ich ein erfolgreicher Lügengladiator war, aber in Bezug auf Nachtigaller würde es mir niemals in den Sinn kommen, auch nur ein einziges unwahres Wort zu sprechen." Rumo klappte der Unterkiefer herunter. Blaubärs Züge waren so entschlossen, seine Augen so ehrlich, dass er ihm seine Worte beinahe selbst geglaubt hätte. Das war wahrlich große Lügenkunst! Eine perfekte Mischung aus skrupelloser Berechnung und emotionaler Gefangennahme, die jeden täuschte, der sich der Wahrheit nicht vollkommen sicher war. "Nachtigaller ist wie ein Vater für mich", fuhr der Bär unbeirrt fort. "Er hat mir alles beigebracht, was ich weiß und mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Ich verdanke ihm so viel." Sein Blick wurde merklich härter. "Und ich lasse mir ganz sicher nicht unterstellen, seinen Namen für so etwas wie eine Lüge zu missbrauchen." Mythenmetz musterte ihn von von oben bis unten, als versuche er geradewegs in sein Innerstes zu blicken und so zu erkennen, ob man ihm gerade waschechtes Anglerlatein auftischte oder ob diese geflügelte Rede tatsächlich der Wahrheit entsprach. Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, wandte er seinen Reptilienblick ab, schnaubte dabei verächtlich und stich sich über das samtene Halstuch. "Nun gut, ich will dir glauben", sagte er gedehnt und nicht ohne eine deutliche Spur Abfälligkeit in der Stimme. "Was für eine andere Wahl hätte ich schon?" Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. "Aber ich will eine Sache von Anfang an klarstellen: Wenn ich jetzt sage, dass ich euch weiterhin helfe, geht es mir dabei einzig und allein um mein Buch. Was aus euch wird, ist mir, gelinde gesprochen, egal." "Nichts Anderes hätten wir erwartet", gab Rumo kühl zurück. Er war einfach nur unendlich erleichtert, noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen zu sein. Nicht auszudenken, was es nach sich gezogen hätte, wäre die ganze Wahrheit in diesen Sekunden an diesem Tisch aufgeflogen! Echo war unterdessen auf der Tischplatte zu einem sprichwörtlichen Häuflein Elend zusammengeschrumpft. "Herrscht bei euch immer eine solche Stimmung?", fragte er kleinlaut, als sich die Gemüter wieder etwas abgekühlt hatten. "Meistens ja", seufzte Blaubär. "Leider, muss man sagen. Wir sind keine sehr harmonische Truppe." Rumo und Mythenmetz schwiegen. Sie wussten beide nur zu gut, dass die Reibereien eindeutig auf ihr Konto gingen. Die kleine Kratze ließ den Kopf hängen, eine Bewegung, die dem aufmerksamen Buntbären nicht entging. "Jetzt bist du aber dran!", sagte er daher munter, um das ungleiche Quartett auf andere Gedanken zu bringen. "Du hast dich noch gar nicht vorgestellt, Kleiner." Echos Gesicht hellte sich merklich auf. "Okay!", miaute er und schien schon wieder guten Mutes zu sein. "Also: Mein Name ist Echo, ich bin sechs Jahre alt und ein Alchimeister vierten Grades, aber das sagte ich ja bereits. Ich wurde zunächst privat und dann an der Akademie von Florinth ausgebildet. Dort habe ich dann auch meine Meistergrade abgelegt. Allerdings habe ich danach nie praktiziert, sondern mich nach einigen Monaten der Planlosigkeit dazu entschlossen, meine Kenntnisse einzusetzen, um zu begeistern. Ich mag es, wenn die Leute bestaunen, was ich tue. Das ist viel angenehmer, als sie vor Angst flüchten zu sehen. Tja, und das begründet grob gesagt alles, was ich hier und heute bin." Er verneigte sich lächelnd. Blaubär lächelte zurück und Rumo schloss sich ihm gerne an. Der kleine Kater war ihm sympathisch. "Schön, so viel also zur allgemeinen Vorstellungsrunde", sagte Mythenmetz unterkühlt, als arbeite er eine Liste mit Tagesordnungspunkten ab. "Kommen wir nun zum eigentlichen Problem." Ein prüfender Blick in Echos Richtung, dem dieser nur wiederwillig standhielt, dann fragte er gerade heraus: "Kennst du die Formel? Die Prima Zateria?" Der junge Alchimist nickte. "Ja, ich denke schon. Im Grunde..." Rumo übermannte die Euphorie. Konnte das wirklich sein? Konnte es sein, dass er seinem Ziel nun zum ersten Mal zu Greifen nahe war? Vielleicht - ganz vielleicht - konnte er es doch noch innerhalb der Frist schaffen. Vielleicht war noch nichts verloren. "Kannst du die Formel aufschreiben? Sag schon!", drängelte er und rutschte Unruhig auf seinem Platz hin und her. Er konnte und wollte nicht verbergen, dass er es kaum erwarten konnte, die Rezeptur endlich in seinen Pfoten zu halten. Echo schlug unruhig mit dem Schweif. "Na ja…" "Na ja was?" Der Gestaltenwandler kratzte nervös mit einer Vorderpfote über das raue Holz des Tisches. "Nun… es ist so: Die Formel ist nicht vollständig. Mein Meister konnte sie - leider oder glücklicherweise, das kann man sehen, wie man möchte - zu Lebzeiten nicht mehr vollenden. Und ich habe schlichtweg nie das Bedürfnis verspürt, es zu versuchen." Rumos Gehirn war noch nicht bereit, einen erneuten Rückschlag einfach so hinzunehmen. "Aber könntest du es denn?", fragte er eilig. "Könntest du die Formel vervollständigen?" "Ich müsste damit experimentieren…" "Worauf warten wir dann noch?" Rumo sprang auf. "Finden wir ein Labor und dann nichts wie los!" "Dafür wäre ich allerdings auch", stimmte Mythenmetz zu. Echo wirkte nun deutlich zerknirscht. "So einfach ist das, fürchte ich, nicht." "Warum denn das nun wieder?" "Es ist folgendes", begann der Alchimist und wich Rumos durchdringend fragendem Blick aus. "Mein Meister besaß eine der größten, wenn nicht sogar die größte Sammlung alchimistischer Substanzen des gesamten Kontinents. Nur deshalb und auf der Grundlage jahrzehntelanger Studien konnte er überhaupt so nahe an das Geheimnis des ewigen Lebens gelangen. Ich besitze zwar sein Wissen, aber ich fürchte fast, dass alle nötigen Materialien zusammen mit dem Schloss niedergebrannt und somit wertlos geworden sind. Und mir wäre kein Einrichtung bekannt, die sie uns alle ersetzten könnte. Einige Destillate waren geradezu einzigartig." "Ach komm schon!", rief Rumo und warf trotzig die Arme in die Luft. "Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wie oft soll ich denn bitte schön noch vertröstet werden? Ich will endlich einmal vorankommen!" Blaubär fuhr sich mit den Pfoten über den pelzigen Schädel. "Das ist wirklich frustrierend! Gibt es denn gar keine Möglichkeit?" "Nicht, dass ich wüsste", gab Echo kleinlaut zu. "Tut mir Leid, wenn ich euch falsche Hoffnungen gemacht habe. Es ist mir auch gerade eben erst aufgefallen, dass uns wohl beinahe sämtliche Zutaten fehlen würden. Sonst hätte ich anders gehandelt." "Na, na, na!" Überraschenderweise war es Mythenmetz, der dem enttäuschten Krätzchen nun aufmunternd zusprach. "Noch ist es doch wohl etwas zu früh, um den Kopf in den Sand zu stecken." Echo sah auf. Und auch Blaubär und Rumo starrten den Schriftsteller gebannt an. "Was meinst du?" "Du sagst, du brauchst ein gut ausgestattetes Labor?" Der junge Alchimist nickte schnell. "Gut…." Der Lindwurm machte eine selbstzufriedene Pause und sah in die Runde, um sich vergewissern, dass ihm allgemeine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. "Also… es ist gut möglich, dass ich einen Ort kenne, an dem wir nahezu alles finden müssten, was du für deine Experimente brauchst." Rumo glitt zurück in die Sitzbank und beugte sich gespannt vor. "Ich bin als junger Schreiberling ein paar Mal dort gewesen, es ist also schon eine ganze Weile her. Dennoch glaube ich, dass es noch existieren könnte." "Nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!" Mythenmetz sah missbilligend auf den ungeduldigen Wolpertinger herab. "Schon gut, du ungehobelter Hund. Lass mich ausreden." Er holte tief Luft und massierte sich die Schläfen. "Ich kann nicht glauben, dass ich kurz davor bin, euch eines meiner wohl gehütetsten Geheimnisse zu verraten." Dann schien er sich mit einem Mal wieder gefangen zu haben. "Nun denn, was soll's. Ich schätze, ich muss ein paar Opfer bringen, um an meine Sensationsgeschichte zu kommen. Also: Ich hoffe, ihr alle seit bereit, mit einer weiteren Legende aufzuräumen." Und wie sie das waren. Rumo konnte vor Aufregung kaum noch still sitzen. Er nickte eifrig und Blaubär und Echo taten es ihm gleich. "Sehr gut." Mythenmetz erhob sich von seinem Platz und stich sich in einer obligatorischen Geste das Gewandt glatt. "Dann lasst uns keine Zeit verlieren. Nächster Halt: Schloss Schattenhall." “Es existiert also absolut wirklich und ehrlich und in echt?“, fragte Echo zum gefühlt zehntausendsten Mal, als sie Buchhaim durch den imposanten Haupteingang betraten. Schon längst waren sie vom einmaligen Parfum der Stadt – diese eigentümliche Mischung aus Druckerschwärze, altem und neuen Leder und staubigem Pergament – empfangen worden, es hatte sie umhüllt, als sie durch die Felder zur Stadtmauer hinab gestiegen waren und begleitete sie auch jetzt, während sie an den unzähligen Literaturcafes und Antiquariaten, Druckereien und Verlagsgebäuden vorbei schlenderten. Mythenmetz seufzte. „Ich gebe ja zu, dass ich in meiner Jugend häufiger Mal aufgrund diverser Substanzen, die ich hier lieber nicht erwähnen möchte, nicht ganz bei mir war. Aber ja, ich kann dir versichern, dass es existiert. Und gleichzeitig möchte ich dich darauf hinweisen, dass ich dir sehr dankbar wäre, würdest dieses Wissen nicht an die allzu große Glocke hängen.“ „Uaahh, das ist ja unglaublich!“ Echo sprang vor dem Schriftsteller herum, wie ein aufgeregtes Kind vor den Toren eines riesigen Vergnügungsparks. „Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich tatsächlich das sagenumwobene Schloss Schattenhall sehen werde! Einige Alchimisten würden allein für ein Bild der Fassade ihre eigene Großmutter verkaufen!“ „Einige Alchimisten würden ihre eigene Großmutter für ein Käsebrot verkaufen“, murmelte Rumo zu sich selbst und grinste. Er hatte während seiner Karriere im Rumotron bereits mit einigen, allerdings eher zweitklassigen Exemplaren zu tun gehabt, und die Meisten von ihnen hatten Haus und Hof verspielt, sobald eine seltene Substanz auf dem Tisch gelandet war, was durchaus vorkam, da man in dem Kasino jeglichen Wertgegenstand als Einsatz akzeptierte. Das erhöht den Gewinn für uns, hatte Smeik gesagt. Echo hatte seinen leisen Kommentar gehört und verzog das Gesicht. „Nicht alle Alchimisten sind böse oder habgierig, weist du?“ „Das hat auch keiner gesagt“, beschwichtigte Blaubär schnell. „Aber du musst zugeben, dass diese Berufsgruppe dazu neigt, eine kleine Schraube locker zu haben.“ Zu Rumos Überraschung grinste Echo. „Das ist allerdings richtig.“ Der Buntbär packte das zierliche Krätzchen um den Bauch, hob es hoch und setzte es Mythenmetz auf die breiten Schultern, der daran offenbar ausnahmsweise Mal nichts auszusetzen hatte. Denn statt sich zu beschweren, blickte er eher nachdenklich drein. „Eins verstehe ich nicht ganz…“ Echo war sichtlich erfreut über die Übersicht, die er nun über die Dinge hatte, und machte es sich auf der Echsenschulter bequem. „Und das wäre?“ „Man müsste meinen, dass du, aufgrund deiner Vergangenheit, die Alchimie nicht gerade lieben gelernt hast. Trotzdem bist du an die Akademie von Flortinth gegangen und hast dort sogar noch vier Meistergrade abgelegt, womit du nun den zweithöchsten Rang unter den Alchimisten innehast.“ Der Schriftsteller drehte seinen Kopf zur Seite und versuchte, dem Krätzchen auf seiner Schulter so gut wie möglich in die Augen zu sehen. „Warum?“ Echo blickte eine Weile schweigend vor sich hin, bevor er antwortete. Als er schließlich zu sprechen begann, schien er mit den Gedanken sehr weit entfernt. „Ich kann verstehen, dass es dir seltsam vorkommen muss“, sagte er langsam und mit ernstem Gesicht. „Manchmal erscheint es mir ja selbst absurd, immerhin waren es nur knapp dreißig Tage, die ich mit meinem ehemaligen Meister verbracht habe. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich noch sehr jung war, als mein Frauchen starb und in diese neue, völlig fremde Welt geschubst wurde, genau weiß ich es allerdings nicht. Alles, was ich sagen kann, ist, dass mich diese kurze Zeit geprägt hat, wie nichts anderes in meinem Leben. Die Alchimie ist ein Teil von mir, ob ich will oder nicht.“ Rumo fand es faszinierend. Dieses junge Wesen schien wie zwei Personen in einem einzigen, blau getigerten Kratzenkörper, auf der einen Seite fröhlich, neugierig, auf der anderen sehr nachdenklich und geradezu verschlossen. Es war, als versuche er um jeden Preis zu verstecken, was ihn wirklich bewegte – ob vor sich selbst oder vor seinen Gefährten, das war dem Wolpertinger dabei noch nicht wirklich klar. Wer war diese Kratze? Und was war ihre Geschichte, über die Mythenmetz so viel und er so wenig wusste? Man mied sie, während sie in der Schriftstellerstadt eine Straßenecke nach der anderen hinter sich brachten. Dieses Mal war daran allerdings weniger ihre seltsame Gruppenkonstellation, als viel mehr Hildegunst von Mythenmetz ganz allein Schuld, der ein etwas zweischneidiges Verhältnis zu seinen Verlegern pflegte. Zwar bedeutete das Herausgeben eines echten Mythenmetz nach aktuellen Verkaufszahlen für den Begünstigten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass er bis an sein Lebensende ausgesorgt hatte, wovon die meisten allerdings recht wenig hatten, da die bemitleidenswerten Kreaturen sich, nach einem Geschäftsgespräch mit der divenhaften Echse, zumeist auf direktem Wege selbst in die Nervenheilanstalt einlieferten. Hier kannte man die Launen des Erfolgsschriftstellers zu genüge und wusste auch, wie er mit jenen umsprang, die es wagten, sein unzweifelhaftes Können in irgendeiner Weise zu kritisieren. Ergo ging man ihnen aus dem Weg. Mythenmetz schien das nicht im Geringsten zu stören. „Wir müssen uns rüsten, bevor wir in die Katakomben hinabsteigen“, erklärte er sachlich und betrachtete im Vorbeigehen die Auslagen eines Antiquariats. „Die Bücherjäger waren gefährlich, als ich vor sechshundert Jahren hier war, und sind es garantiert auch jetzt noch. Ich bin ihnen bereits ein paar Mal begegnet und nur um Haaresbreite einem grausamen Schicksal entronnen. Hätten sie mich in ihre schmutzigen Klauen bekommen, ich hätte nie auch nur ein einziges Buch veröffentlicht. Und wir wissen alle, was das für einen Verlust für die zamonische Kultur bedeutet hätte!“ „Grauenvoll!“, rief Rumo theatralisch und erntete prompt den bitterbösen Blick eines pikierten Lindwurms. Echo und Blaubär kicherten ungeniert. „Wie auch immer“, knurrte Mythenmetz in Richtung des vergnügt vor sich hin grinsenden Wolpertingers. „Jeder von uns braucht etwas, womit er kämpfen und sich verteidigen kann. Andernfalls können wir uns jetzt schon mal unseren Sarg bestellen. Rumo blieb ungerührt. „Ich habe mein Schwert. Mehr brauche ich nicht und mehr will ich nicht“, erklärte er selbstbewusst und hielt dem abschätzenden Blick des Schriftstellers ohne mit der Wimper zu zucken stand. Er hatte mit Löwenzahn und Grinzold ganz Untenwelt bezwungen, sie jetzt auszutauschen erschien ihm beinahe gleich eines Verrats. „Wie du meinst“, sagte Mythenmetz gedehnt und wandte sich, nach einigen Sekunden der abfälligen Betrachtung, Blaubär zu. „Und du? Was ist mit dir? Mit welcher Waffe kannst du umgehen?“ Blaubär sahr an sich herunter und betrachtete seine ausgesteckten Handflächen. „Na ja, normalerweise kämpfe ich, wenn überhaupt, mit den blanken Pfoten. Aber ich denke, wenn es wirklich dermaßen wichtig ist, könnte ich mich damit anfreunden, ein kleines Messer oder etwas in der Art bei mir zu tragen.“ Der Lindwurm nickte. „Dazu hätte ich dir ebenfalls geraten. Du bist verhältnismäßig klein und wendig, große Waffen würden dich folglich in deinem Bewegungsradius einschränken.“ Etwas Ähnliches hätte Smeik auch gesagt, schoss es Rumo durch den Kopf, doch er schob den Gedanken an seinen besten Freund schnell beiseite. Er verursachte ein unangenehmes Stechen in seiner Brust, genau dort, wo er sein Herz vermutete. „Jetzt zu dir“, fuhr Mythenmetz in der Reihenfolge fort und hatte dabei Echo ins Auge gefasst. „Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass es wohl das Beste währe, wenn du dich bei drohender Gefahr möglichst schnell aus dem Staub machst. Nimm es nicht persönlich, aber ich glaube kaum, dass du es mit einer ausgewachsenen Spinxxxxe aufnehmen könntest, wenn es darauf ankäme.“ Echo nickte lächelnd. „Das ist schon in Ordnung so. Ich denke selbst, dass ich euch in solchen Dingen keine große Hilfe wäre. Und wenn ich ehrlich bin…“ Er sah betreten zu Boden. „Ich kann mich mit körperlicher Gewalt nicht wirklich anfreunden. Zwar bin ich kein Vegetarier, aber allein das Jagen für meinen eigenen Bedarf fällt mir häufig sehr schwer. Ich hasse es, etwas töten zu müssen, mit dem ich mich unterhalten kann.“ „Urgh!“, machte Rumo, der sich diesen Zustand soeben bildlich vorgestellt hatte. Da wurde aus einer lebensnotwendigen Jagd schnell ausgewachsenes Morden. Mythenmetz schenke Echo ein verständnisvolles Lächeln, das den Wolpertinger aus irrsinnigen Gründen neidisch machte. „Schon gut“, sagte er sanft. „Keiner von uns wird dich zwingen.“ Nach einigem Umherlaufen in diversen kleinen Gässchen und zwielichtigen Seitenstraßen fand der leicht orientierungslose Lindwurm schließlich, wonach er gesucht hatte. Schnurstracks und ohne zu zögern rauschte er über die Schwelle eines vollkommen verdreckten Lädchens, über dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift „Waffen und Rüstungen“ bedrohlich an einem einzigen, rostigen Nagel baumelte. Im Inneren des heruntergekommenen Hauses war es eng und stickig, überall standen die unterschiedlichsten, gefährlich aussehenden Dinge in wirren, unübersichtlichen Stapeln herum und spitze Metallenden ragten alle paar Zentimeter ungeschützt aus dem Waffendickicht, um jedem, der nicht aufpasste, in Arme und Beine zu schneiden. An den Wänden prangten riesige Lanzen und Keulen, Schilde und Rüstungsteile, teilweise eben so schlecht befestigt wie das wurmstichige Brett über dem Eingang und vom ersten Eindruck her keinesfalls stabiler. Rumo beäugte sie argwöhnisch. Um nicht mehr Zeit als unbedingt notwendig in dem obskuren Laden verbringen zu müssen, kauften sie eilig ein mittelgroßes Jagdmesser für Blaubär und einen reichlich verzierten Säbel für Mythenmetz, welchen dieser unter seiner Robe verbarg. Natürlich nur zur Sicherheit, hatte er gesagt. Grundsätzlich sei er als Lindwurm sehr pazifistisch eingestellt. Rumo überlegte, wie das mit der Tatsache zusammenpasste, dass er noch vor wenigen Tagen damit gedroht hatte, sie zu fressen, kam aber zu keinem befriedigenden Ergebnis. Schließlich beschloss er, solche Gedanken demnächst Blaubär zu überlassen, und stattdessen ein paar Pyras in einen kleinen, goldenen Schild zu investieren, den man am linken Oberarm trug. Grinzold war beleidigt. „Was soll das denn bitte?“, beschwerte er sich entrüstet. „Wozu brauchen wir das? Wir haben im Alleingang ganz Untenwelt bezwungen und jetzt kommst du mir mit so etwas? Das ist doch lächerlich!“ „Ich denke, es kann nicht schaden“, erwiderte Rumo in Gedanken. „Mich hat es in letzter Zeit ziemlich häufig beinahe zerlegt, findest du nicht?“ „Allerdings!“, quietschte Löwenzahn dazwischen, wurde jedoch umgehend von einem Stöhnen Grinzolds abgewürgt. „Ach, sei doch still, du Memme! Wir sind Krieger!“ „Ihr seit Krieger!“, entrüstete sich der Stollentroll. „Ich wollte nie einer sein! Ihr habt mich gezwungen! Ich werde immer noch ohnmächtig, wenn ich Blut sehe!“ „Wo er Recht hat…“, seufzte Rumo und grinste still in sich hinein, während er den Schild über seine Jacke streifte und festzurrte. Blaubär trat neben ihn und klopfte probeweise gegen das schimmernde Metall. „Schickes Teil“, sagte er und pfiff anerkennend. „Nimmst du es mit?“ „Schätze schon“, antwortete Rumo und ließ kurz seinen Arm kreisen. „Ich muss in Zukunft etwas besser aufpassen, so wie es mich in letzter Zeit erwischt hat.“ Er lachte. Echo war derweil durch die wackeligen Regale gestromert und hatte interessiert sämtliche Schwerter, Degen und Äxte, Wurfsterne, Keulen und Lanzen bis ins kleinste Detail beäugt und beschnuppert. Als er sah, dass seine drei Gefährten zur Kasse vorgerückt waren, sprang er neben ihnen auf den Tresen. „Ganz schön übles Zeug steht hier herum“, miaute er und sah sich furchtsam um. Mythenmetz reichte dem Verkäufer einen Beutel Pyras herüber, den der zwielichtige Dämon gierig an sich riss. „Das ist noch gar nichts“ erklärte er. „Die meisten Bücherjäger basteln sich ihre Waffen und Fallen selbst aus Dingen, die sie in den Katakomben finden oder sich in blutigen Zweikämpfen aneignen. Einer, der dort unten eine wertvolle Waffe besitzt, ist entweder ein guter Kämpfer oder nicht lange am Leben.“ Echo schüttelte sich. „Und wir müssen wirklich an denen vorbei, wenn wir nach Schattenhall wollen?“ „Ich kenne zwar einige relativ sichere Abkürzungen, aber ganz werden wir wohl kaum um eine Konfrontation herum kommen“, seufzte der Lindwurm und schien ernstlich bestürzt. „Glaub mir, ich würde es auch vorziehen, hier oben in einem netten kleinen Cafe zu sitzen. Aber unser Buntbär hier hat es sich nun mal in den Kopf gesetzt, dass er diese Formel für seinen Professor finden möchte, und wir alle waren idiotisch genug, sein Vorhaben zu unterstützen. Ergo werden wir wohl oder übel da herunter müssen.“ Echo zog das Köpfchen zwischen die spitzen Schultern. „Ich hoffe, das ganze geht gut.“ Und mit diesem Wunsch war er nicht alleine. Als sie den Laden verließen, hatte es über Buchhaim zu regnen begonnen. Schwere Sturmwolken türmten sich über der Stadt auf und ein scharfer Wind pfiff erbarmungslos durch die Gassen. Die Antiquare waren aus ihren Geschäften gestürmt und zogen hektisch Planen über ihre wertvollen Auslagen oder versuchten gleich die schweren Rollwagen im Alleingang durch die viel zu schmalen Türen zu quetschen. Sie jammerten und fluchten, schimpften und zeterten mit den bemitleidenswerten Regalen, die jedoch genau so wenig für den Wolkenbruch konnten, wie die blassen Gestalten, denen sie gehörten. „Na toll“, murrte Rumo, während sie schnellen Schrittes durch die nassen Straßen eilten. „Ich hasse es, wenn mein Fell nass wird!“ „Wo liegt überhaupt der Zugang zu diesen ominösen Katakomben?“, wollte Blaubär wissen und schüttelte sich, ebenfalls nicht sonderlich glücklich drein blickend, den Regen aus dem Pelz. „Müssen wir in irgendeine Höhle und ein geheimes Passwort aufsagen oder so etwas?“ Mythenmetz schüttelte den Kopf. „Viel einfacher. Und dann auch wieder nicht.“ Seine Gefährten sahen den Schriftsteller fragend an. „Was meinst du?“ „Lasst es mich so erklären: Im Grunde befindet sich in jedem Antiquariat, das ihr hier seht, ein Zugang. Das ist auch notwendig, denn die Antiquare nutzen die trockene Luft dort unten und erweitern ihre Lagerräume in die obersten, leicht zugänglichen Stollen. Hunterte, tausende Regale voller mehr oder weniger wertvoller Bücher lagern dort. Und genau das ist unser Problem. Zu seinem eigenen Schutz und um für genügend Nachschub an Raritäten zu sorgen, beschäftigt nahezu jeder Antiquar einen oder mehrere Bücherjäger, die in ihrem Auftrag die Katakomben nach Schätzen durchkämmen. Auf dem Schwarzmarkt würden sie die wertvollen Werke niemals loswerden, so aber springen dabei saftige Prozente für sie heraus. Für uns bedeutet das, dass wir Schwierigkeiten haben werden, jemanden aufzutreiben, der uns, bei unserem Auftreten, abnimmt, dass wir keine Jäger sind, und uns hinunter lässt. Denn natürlich lässt jedes Antiquariat aus eigenem Interesse nur die eigenen Jäger hinein. Soweit verstanden?“ „Schon…“, antwortete Rumo. „Aber wenn wir sie überzeugen, dass wir keine Bücherjäger sind? Es kann ihnen doch egal sein, ob irgendwelche Fremden sich dort unten herumtreiben, wenn wir es doch ohnehin nicht auf ihre Bücher abgesehen haben.“ Mythenmetz schien nun beinahe ziellos durch die Straßen zu irren, ganz so als wisse er selbst nicht wirklich, wohin er seine Weggefährten als nächstes führen sollte. Immer wieder sah er sich um, las Namensschilder über Antiquariaten und Buchläden, Verlagshäusern und Cafes, nur um dann den Kopf zu schütteln und weiter zu eilen. „Sicher könnte ihnen das egal sein. Und wenn ich alleine unterwegs wäre, gäbe es auch wohl kaum ein Problem. Aber sieh uns doch einmal an. Du bist ein Wolpertinger und der da“ – er deutete auf Blaubär – „ist ein Buntbär. Wir sehen aus wie das Killerkommando vom Dienst. Ich zumindest denke nicht, dass man uns abnehmen wird, dass wir dort unten Urlaub machen wollen.“ Echo huschte zwischen ihren Beinen über den aufgeweichten Boden. „Wie bist du denn damals herunter gekommen?“, fragte er neugierig. „Können wir nicht einfach denselben Weg nehmen?“ Der Lindwurm seufzte. „Das geht leider nicht. Der Antiquar, der mich damals in die Katakomben ließ, ist lange tot, sein Laden geschlossen. Er hatte keinen Nachfolger und wollte wohl auch keinen. Diese Möglichkeit fällt also aus.“ „Ach Mist!“ Rumo wischte sich den Regen aus den Augen. Die Welt um sie herum wurde zusehends nasser und matschiger und den vier Reisenden ging es keinen Deut besser. Sie versuchten sich so gut es eben ging vor dem Wolkenbruch zu schützen und gaben dennoch ein erbärmliches Bild ab, wie sie so völlig durchweicht, triefend und tropfend tiefer in die Stadt hinein spurteten. „Und jetzt? Fragen wir uns einfach durch und hoffen auf unser Glück?“ „Uns wird kaum etwas anderes übrig bleiben. Mir will leider beim besten Willen keine andere Möglichkeit….“ Mythenmetz erstarrte inmitten seiner Bewegung und stierte mit entsetztem Blick die vom Regen verzerrte Straße hinunter. „Oh nein…“ Rumo vollführte ein geradezu kunstvolles Ausweichmanöver, um den plötzlich stehen gebliebenen Lindwurm nicht über den Haufen zu rennen. Echo, der ein wenig verträumt in der Gegend umher gesehen hatte, hatte da weniger Glück. Blaubär blieb als einziger mehr oder weniger eigenmächtig stehen. „Was ist los? Was ist da hinten?“ Er reckte den Hals und hob die Pfote über die Augen, um besser durch den milchigen Vorhang aus Regen sehen zu können. Rumo tat es ihm gleich. Unweit von ihnen, vor einem kleinen Laden für Schriftstellerbedarf, stand eine Lindwurmdame mit auffällig roter Robe und einem farblich schrecklich unpassenden, pinken Regenschirm, und studierte offenbar interessiert die Schaufensterauslagen. So wie es aussah, hatte sie die Gruppe Reisender noch nicht bemerkt. Mythenmetz hatte angefangen nervös von einem Fuß auf den anderen zu tänzeln. „Könnten wir uns bitte möglichst schnell und unauffällig aus dem Staub machen?“, bat er. „Danke!“ Rumo rührte sich keinen Millimeter. „Warum?“ Der Schriftsteller warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Das erkläre ich dir, sobald wir von hier verschwunden sind.“ „Nichts da! Wir hatten uns darauf geeinigt, dass Erklärungen, von nun an, an Ort und Stelle abgegeben werden. Also raus mit der Sprache!“ In dieser Sekunde drehte sich das Lindwurmweibchen um und erblickte das seltsame Grüppchen einige Meter weiter. Zunächst wirkte sie etwas verwirrt, dann jedoch hellten sich ihre Züge auf und sie kam munter auf die Gefährten zugestapft. Mythenmetz verzog das Gesicht. „Bitte nicht…“ „Hildegunst? Bist du das etwa?“ Der Schriftsteller setzte sein gezwungenstes Lächeln auf. „Yette“, rief er mit deutlichem Sarkasmus in der Stimme aus und trat auf die geschmacklos gekleidete Lindwurmdame älteren Semesters zu, um sie zum Umarmen. Allerdings mit deutlichem Widerwillen. „Was für eine Überraschung dich hier zu treffen!“ Dann drehte er sich zu seinen Begleitern um. „Darf ich vorstellen: Yette von Stanzenmacher. Ihres Zeichens Autorin etlicher erstaunlich erfolgloser Liebesromane und – wahrscheinlich ihre bedeutendste Errungenschaft im Leben – meine Ex-Frau.“ Von Nahem betrachtet wirkte das Lächeln im Gesicht des weiblichen Lindwurms eben so falsch wie das ihres vormaligen Ehegatten. „Charmant wie immer, nicht wahr, Hildegunst?“ „Man tut, was man kann.“ Rumo blickte argwöhnisch zwischen den beiden Echsen hin und her, die ihn beide um mindestens dreißig Zentimeter Körpergröße überragten, und hoffte inständig, dass sie nicht vorhatten, sich auf offener Straße anzufallen. Andererseits – was hätten sie schon groß tun sollen? Sich mit ihren Schreibfedern kitzeln? Oder wollten sie sich gegenseitig zu Tode Zitieren? Jedenfalls schien es, falls sie sich tatsächlich einmal geliebt hatten, schon eine ganze Weile her zu sein. „Nun, wie auch immer… hallo allerseits“, grüßte Yette, nachdem sie das Blickduell mit ihrem Ex-Mann ganz offensichtlich gewonnen hatte. „Hildegunst, möchtest du mir deine Begleitung nicht vorstellen? Weißt du, es überrascht mich ein wenig dich in einer Gruppe reisen zu sehen, normalerweise meidet dich doch jedes halbwegs vernünftige Lebewesen.“ Das Lächeln verschwand von Mythenmetz’ dünnen Reptilienlippen. „Nun, ich kann mich an eine Zeit erinnern, zu der du mich ganz und gar nicht meiden wolltest, werte Yette.“ „Jeder macht beizeiten Fehler, Liebster.“ „Ähm… ich bin Blaubär, das ist Rumo und der da unten heißt Echo“, sagte der Buntbär schnell, um einer Entgegnung des mittlerweile etwas in Rage geratenen Erfolgsschriftstellers zuvor zu kommen. „Wir sind auf der Suche nach einem Weg hinunter in die Katakomben von Buchhaim, um dort im Auftrag von Nachtigaller nach alten Alchimie-Büchern und Aufzeichnungen zu suchen, die er für seine Forschungen verwenden kann.“ Yette musterte ihn von oben bis unten. „Na, da habt ihr euch ja einiges vorgenommen. Ich frage lieber erst gar nicht, wie ihr meinen geschätzten Ex-Mann dazu bewegen konntet, bei einer solchen Aktion mitzumachen, wahrscheinlich geht es ohnehin nur um seinen eigenen Profit.“ Mythenmetz schnappte hörbar nach Luft und setzte zu einer bissigen Antwort an, doch Yette kam ihm zuvor. „Lasst mich raten: Er hat euch versprochen euch hinunter zu bringen?“ „Im Grunde ja“, gab Rumo zu. Der weibliche Lindwurm lachte hölzern. „Dann muss ich euch leider kurz desillusionieren. Ich würde mein neuestes Manuskript darauf verwetten, dass er keine Ahnung hat, wie genau es für euch weiter gehen soll. Das war schon von je her so. Seine Geschichten strotzen nur so vor unvorhergesehenen Wendungen und ausgeklügelten Plots, aber wenn es daran geht, im wahren Leben etwas zu planen, kommt er keine fünf Meter weit. Und nebenbei spielt er gerne den großen Abenteurer. Ist es nicht so, Schatz?“ „Bitte! Ich wüsste nicht, was du über mich…“ „Also kennst du einen Weg hinunter? Gut, ich bin mit vielen Antiquariaten hier vertraut. Nur so aus Interesse: Wo steigt ihr ein?“ Mythenmetz bewegte einige Sekunden lang tonlos die Lippen, schnaubte dann verächtlich und wandte sich demonstrativ ab. Yette grinste selbstsicher. „Ich wusste es. Er hat keine Ahnung.“ Darauf wusste keiner der Reisenden eine rechte Erwiderung. Zwar war diese Erkenntnis nichts Neues für sie – Mythenmetz hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass sie sich würden durchfragen müssen – doch eine Niederlage vor jemandem zuzugeben, war noch einmal eine ganz andere Geschichte. Rumo tropfte der Regen in die Augen und er zog sich seine durchweichte Lederjacke enger um den Körper. Was für ein Sauwetter. „Wie wichtig ist es euch, da runter zu kommen?“ Sogar der pikierte Schriftsteller ließ sich dazu hinreißen sich umzudrehen und seine Ex-Frau argwöhnisch aus dem Augenwinkel zu beobachten. „Was meinst du damit?“ „Ich wüsste gerne, was du, mein lieber Hildegunst, bereit wärst für den Erfolg eurer so genannten Mission zu tun.“ Mythenmetz zog misstrauisch eine Augenbraue hoch. „Worauf willst du hinaus?“ Yette schüttelte ihren Regenschirm und bespritzte dabei ihr schuppiges Gegenüber mit einer gehörigen Ladung Regenwasser. Natürlich ganz aus Versehen. „Ich hätte euch spontan ein Angebot zu machen“, erklärte sie mit siegessicherer Miene, ganz so als wisse sie, dass sie bei dem nun Folgenden nur gewinnen konnte. „Es gibt da diesen kleinen Verlag – Von Hachingen Drucke heißt er – mit dessen Besitzer ich recht gut befreundet bin. Leider läuft sein Laden mit Angeschlossenem Antiquariat zurzeit mehr als schlecht, wenn sich nicht bald etwas ändert, wird er wohl oder übel Konkurs gehen.“ „Nicht einmal deine Freunde haben Erfolg“, giftete Mythenmetz dazwischen. „Merkst du was?“ „Also unter diesen Bedingungen bin ich kaum bereit, mein Angebot zu formulieren.“ „Klappe, Lindwurm!“, zischte Rumo in einem Anfall ungekannten Selbstbewusstseins gegenüber der Echse. „Ich will das hören!“ Mythenmetz schien so perplex von der plötzlichen Auflehnung, dass er augenblicklich verstummte. Yette strich sich mit ihrer freien Hand die Robe glatt, eine Geste, die den Wolpertinger stark an Mythenmetz selbst erinnerte. „Gut, wo war ich… Also, wie ich bereits sagte, wird mein Freund wohl sehr bald seinen Laden schließen müssen. Bedauerlicherweise hegt er, neben seinem Misserfolg im Verlagswesen, eine ausgewachsene Panik vor Bücherjägern, weshalb er als so ziemlich einziges Geschäft in der ganzen Stadt niemanden unter Vertrag hat. Folglich steht auch sein Antiquariat eher bescheiden da. Ich denke, er wäre mit Freuden bereit euch in die Katakomben zu lassen – gegen eine entsprechende Gegenleistung, versteht sich.“ „Und woran hatten Sie da gedacht, Madam?“, fragte Blaubär höflich und blickte die Lindwurmdame gemeinsam mit Rumo erwartungsvoll an. „Ich bin sicher, wir könnten uns einig werden. Uns liegt in der Tat einiges daran, dort hin zu gelangen.“ „Hat euch schon mal jemand gesagt, dass ihr wirklich außerordentlich schlecht im Verhandeln seid?“, stöhnte Mythenmetz hinter ihnen. „Man gibt doch nicht gleich zu Anfang zu, wie sehr man etwas haben will!“ „Keine Angst, Hildegunst. Es wird bei meiner Forderung ohnehin ausschließlich auf dich ankommen.“ Yette trat einen Schritt auf ihren Ex-Mann zu, bis sie schließlich nur wenige Zentimeter von ihm entfernt stand. „Machen wir uns nichts vor“, sagte sie ruhig. „Du bist erfolgreicher als jeder andere Schreiberling auf diesem verrückten Kontinent. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht verstehe, reißen dir die Leute deine Werke förmlich aus den zittrigen Klauen, so schlecht sie auch sein mögen. Wenn du etwas in den Druck gibst, ist es ein beinahe vorprogrammierter Bestseller.“ „Danke, ich weiß, dass ich ein Genie bin.“ „Still jetzt! Hör zu, alles, was ich will, ist, dass du dein nächstes Werk im Von Hachingen Verlag heraus bringst, nicht mehr und nicht weniger. Wenn du das tust, dann überrede ich meinen Freund, euch durch sein Antiquariat in die Katakomben zu lassen. Es ist deine Entscheidung.“ Mythenmetz schob die resolute Lindwurmdame mit sanfter Gewalt von sich weg. „Völlig ausgeschlossen! Dieser Verlag ist vollkommen unbekannt! Vermutlich hat er nicht mal die Voraussetzungen, um eine Auflage zu drucken, die meiner würdig ist!“ „Für die nötigen Druckereien kann man sorgen!“ „Trotzdem!“, rief der Lindwurm aus. „Wo kämen wir denn da hin, wenn jetzt plötzlich jeder nichtige Möchtegern-Verleger einen Mythenmetz herausgeben dürfte. Die Leute verlangen nach einem aufwendigen Druck, einem optisch ansprechenden Einband, einer hochwertige Bindung! Sie vertrauen auf den Verlagsnamen ebenso wie auf den meinen. Bestimmte Verlage stehen für Qualität, andere nicht. Dieser nicht! Also nein! Ich weigere mich!“ „Schön“, sagte Yette reserviert und raffte ihren Umhang zusammen. „Damit wäre das ja geklärt.“ Das war es für Rumo allerdings noch lange nicht. Der Lindwurm wollte Zicken machen? Nicht mehr mit ihm. Er packte die Echse an der aufwändig in Falten gelegten Halskrause und zog den Kopf des Schriftstellers zu sich auf Augenhöhe. „Jetzt hör mir mal zu, du Möchtegern-Dino. Du hast eine ganze Bibliothek voll von eigenen Büchern, die dir sicherlich alle einen Haufen Kohle eingebracht haben. Offenbar bist du sogar so berühmt, dass du dir ein solches Verhalten uns gegenüber heraus nehmen kannst, was weiß ich. Also wird dir wohl kaum ein Zacken aus der Krone brechen, wenn du einem kleinen Fhernhachen einen Gefallen tust. Und ganz nebenbei: Keine Formel, keine Infos von Echo. Ist das soweit bei dir angekommen?“ Rumo war selbst überrascht und gleichzeitig direkt begeistert von seiner neuen, forschen Vorgehensweise. Tatsächlich schien er damit einigen Eindruck auf den launigen Schriftsteller zu machen, der krampfhaft versuchte, sich den wütend knurrenden Wolpertinger vom Hals zu halten. „Himmel“, brachte er hervor und zog seine Halskrause mit aller Macht aus Rumos kräftigen Pfoten. „Weiche von mir, du verrücktes Tier!“ Er taumelte einige Schritte zurück und sortierte hektisch sein kostbares Gewand. „Ist ja gut, ist ja gut. Ich habe verstanden. Meinetwegen soll es so geschehen. Ich gebe mich geschlagen.“ „Mehr wollte ich nicht hören“, grinste Yette. „Folgt mir.“ „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, Herr von Mythenmetz“, erklärte der fhernhachische Verlagsbesitzer nun schon zum siebenundzwanzigsten Mal mit einer bodentiefen Verbeugung. „Sie retten mir damit das Leben!“ „Und ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das die richtige Entscheidung war“, gab Mythenmetz genervt zurück und versuchte den kleinen Wicht wie eine lästige Fliege aus seinem Bewegungsradius zu wedeln. „Nun zeigen Sie uns schon ihren Zugang zu den Katakomben. Hier drinnen hält man es ja keine zwei Minuten aus.“ In der Tat herrschten im winzigen Antiquariat Goldletter denkbar schlechte klimatische Bedingungen sowohl für Lebewesen als auch für Bücher. Es war stickig warm und die Luft viel zu feucht, penetranter Schimmelgeruch stieg Rumo in die empfindliche Nase und bereits mit bloßem Auge war der Moder zwischen den unordentlichen Stapeln wertloser Folianten zu erkennen. Was den Wolpertinger aber am meisten schockte, war die kleine Pritsche, die in einer dunklen Ecke des Raumes aufgebaut stand, nur bedeckt von einer zerwühlten Flickendecke und einer ausgeblichenen Jacke als Kopfkissen. Der Fhernhache sah schlecht aus, sein Gesicht war verquollen, seine Augen tränten und er hustete am laufenden Band. Seine Lebensumstände machten kein Geheimnis daraus, warum dem so war. So lebt es sich also am Abgrund der Gesellschaft, dachte Rumo erschüttert. Schrecklich! Der erfolglose Verleger und Antiquar war hinter seinen aus Kisten bestehenden Verkaufstresen getreten und zog nun mit einiger Mühe eine Falltür auf, die den Blick auf ein schwarzes, scheinbar bodenloses Loch frei gab. „Bitte sehr, die Herren. Dort ist es.“ Echo trat an den Rand des quadratischen Loches und sah besorgt hinunter. „Und da sollen wir wirklich rein?“, fragte er vorsichtig. „Sieht ziemlich… finster aus.“ „Das tut es tatsächlich“, fügte Blaubär nicht minder misstrauisch hinzu. „Wie dringend war die ganze Angelegenheit noch gleich?“ Mythenmetz trat neben sie. „Ich darf darauf hinweisen, dass ihr selbst es so gewollt habt. Jetzt ist beim besten Willen kein Rückzieher mehr drin. Wir werden da herunter steigen und nicht ohne diese verfluchte Formel zurückkehren. Was auch immer das für uns bedeutet.“ Rumo ertappte sich dabei, wie er nervös schluckte. War es wirklich erst drei Jahre her, seit er in Untenwelt gewesen war? Es erschien ihm plötzlich mindestens doppelt so lange zu sein. Vielleicht hätte er in den letzten Jahren etwas mehr trainieren sollen…. Und etwas weniger Sumpfschweinebraten wäre sicherlich auch keine schlechte Idee gewesen… „Tja, zu spät für solche Erkenntnisse, Kleiner“, sagte Grinzold gelassen. „Jetzt mach dir mal nicht gleich ins Fell. Wir haben einen Vrahok zerlegt. Und General Ticktack, wenn ich dich daran erinnern darf. Was sollte uns bitteschön aufhalten können?“ „Richtig so!“, stimmte Löwenzahn ihm ausnahmsweise einmal zu. „Wir sind unschlagbar, Rumo. Du bist der größte Held Zamoniens, vergiss das nicht! Und wir sind stets an deiner Seite, wenn es hart auf hart kommt.“ Nach diesen aufmunternden Worten seiner beiden engsten Vertrauten fühlte sich Rumo tatsächlich schon etwas besser. Es stimmte, er war ein Held, ein geborener Abenteurer. Er hatte sich für seine große Liebe bis nach Hel gekämpft und er würde sich für seinen besten Freund bis nach Schattenhall schlagen. Wenn nötig auch noch weiter. Neuer Mut überkam ihn. „Mythenmetz hat Recht! Jetzt ist es zu spät, um umzukehren. Wir gehen. Und wir tun es jetzt!“ „Na, deinen Tatendrang möchte ich haben“, lachte Blaubär nervös. Rumo grinste ihn an. „Wir schaffen das, da bin ich mir sicher. Zu viel hängt davon ab, als das wir es uns erlauben könnten zu scheitern.“ „Wenn wir also die allgemeinen Ermutigungsreden hinter uns gebracht haben, würde ich vorschlagen, dass wir Taten folgen lassen und unsere Pfoten auf diese Treppe dort setzten“, sagte Mythenmetz trocken und wies auf die schmale, ziemlich morsch aussehende Holzleiter, die in die Katakomben hinab führte. „Ich mache den Anfang, wenn es keinen stört. Ich dürfte ohnehin der Einzige sein, der sich halbwegs dort unten auskennt.“ Er trat auf die Falltür zu und setzte seine Klaue auf die erste hölzerne Sprosse, die schon jetzt bedrohlich zu knacken begann. In dieser Sekunde trat der zierliche Verleger vor, der sich bis dahin vorsichtshalber hinter der schweigenden, allerdings süffisant grinsenden Yette versteckt hatte. Er räusperte sich zaghaft und tänzelte unruhig auf der Stelle. „Wenn ich die Herren noch auf etwas hinweisen dürfte…“ Rumo, der die Anwesenheit des Fhernhachen schon beinahe wieder vergessen hatte, wirbelte zu ihm herum, ebenso wie Blaubär und Echo. Mythenmetz verdrehte die Augen. „Was denn noch?“ „Ich sehe es als meine Pflicht an Sie darauf hinzuweisen, dass sie sich vor dem Schattentod in Acht nehmen sollten, werte Herren. Ich hörte grausame Dinge über ihn.“ „Schattentod?“, echote Rumo. „Wer oder was ist das denn?“ Doch bevor der Kleine antworten konnte, schnitt ihm der Lindwurm das Wort ab. „Lächerlich!“, schnaubte er ungeniert. „So etwas wie einen Schattentod, was auch immer das sein soll, gibt es nicht! Seit Jahrhunderten versuchen die Bücherjäger mit solchen Geschichten die Angst vor den Katakomben zu verbreiten, das ist alles. Und der Name ist nichts weiter als eine billige Kopie vom einstigen Schattenkönig. Eine Beleidigung für diese erwürdige Kreatur. Ich habe schon dutzende von diesen Geschichten gehört. Bücherschatten, Schattenherrscher und wie sie alle hießen. Tut mir Leid, aber ich kann diesen Ammenmärchen keine große Bedeutung zumessen.“ Der Fhernhache war unter diesen unerwartet harschen Worten mehr und mehr in sich zusammen geschrumpft. „Nun, mein Herr, ich…“ „Ich bitte Sie! Verschwenden Sie nicht unsere Zeit mit diesen Hirngespinsten! Und ihr anderen: Lasst uns endlich gehen!“ Rumo musterte Mythenmetz eindringlich. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Lindwurm. Seine Reaktion war vollkommen überzogen, dazu wanderten seine Augen angespannt im Raum umher und er zupfte sich immer wieder am bereits mehr als akkurat sitzenden Kragen herum. Und warum hatte er es plötzlich so eilig? Noch eiliger, als ohnehin schon? Rumo wusste, dass es wohl kaum etwas bringen würde, ihn gerade heraus zu fragen. Nein, dazu war der Lindwurm eindeutig zu geheimniskrämerisch veranlagt. Also begnügte er sich damit, ihm fürs erste zu zu stimmen. „Er hat Recht, was auch immer dort unten lauern mag, wir können uns davon nicht aufhalten lassen. Wir müssen uns endlich auf den Weg machen.“ Der Fhernhache sah sie mit großen, wässrigen Augen an. „Bitte, werte Herren, nehmen Sie meine Warnung ernst. Der Schattentod ist keines der Märchen, die sonst in der Stadt kursieren. Er ist real. Und er tötet.“ Er klingt ziemlich überzeugt, schoss es Rumo durch den Kopf und ein ungutes Gefühl beschlich ihn in Form eines kalten Schauers, der wie eine Spinne langsam seinen Rücken empor kroch. Wobei – mehr wie ein ganzes Rudel Spinnen. Lebten Spinnen in Rudeln? Gab es in dieser Sekunde etwas Unwichtigeres? „A… alles Schwachsinn!“, reif Mythenmetz, der schon halb in der Luke verschwunden war. „Seemannsgarn! Anglerlatein!“ Rumo spürte, wie sein Unterbewusstsein zu rebellieren begann und seine sämtlichen Raubtiersinne gegen ein Voranschreiten protestierten. Irgendetwas war hier faul, schrecklich faul. Konnte es sein, dass der Lindwurm sie geradewegs ins Verderben führte? Machte das Sinn? Würde er sich selbst wissentlich und willentlich in Gefahr begeben? Vermutlich eher nicht. Aber warum hatte er dann so vehement auf Waffen und Rüstungen bestanden? Rumo schüttelte sich, um mit eisernem Willen sämtliche Zweifel zu verbannen. Er wollte und konnte sich jetzt kein Zögern und Zaudern leisten. Man verließ sich auf ihn! Es stimmte: Was auch immer sich dort unten in den Katakomben verbarg, er würde es wohl oder übel mit ihm aufnehmen müssen. Schattentod, überlegte er. Klang das gefährlich? Dann folgte er Mythenmetz’ Beispiel und stieg ohne noch einmal aufzusehen die Treppe hinab in die Finsternis. Kapitel 13: Der Schattentod --------------------------- Rumo ließ Mythenmetz nicht aus den Augen, während sie sich ihren Weg durch den dunklen, nicht ausgebauten Teil der Katakomben von Buchhaim suchten. Die Echse führte sie zielsicher, viel sicherer, als er es in Buchhaim selbst getan hatte, um Ecken und Windungen, die Tunnel hinab und wieder hinauf, durch Engpässe, die ihnen allen Platzangst bescherte, und durch riesenhafte Höhlen, die Rumo daran erinnerte, wie die Felsdecke in Untenwelt über den Vrahoks zusammengebrochen war. Damals war es seine Rettung gewesen. Hier würde dasselbe höchstwahrscheinlich seinen Tod bedeuten. Positiv zu vermerken war, dass sie bis jetzt noch keinem Bücherjäger begegnet waren. Zwar hatten sie einmal jemanden aus der Ferne schreien hören, doch Mythenmetz hatte sie ermahnt, sich hier unten nur um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Das allein sei häufig schon schwierig genug. Negativ war die Unruhe, die die Echse ausstrahlte, seit der kleine Fhernhache diesen ominösen Schattentod erwähnt hatte. Rumo wusste nicht, ob es den anderen beiden auch aufgefallen war – vermutlich eher nicht, dazu waren sie viel zu sehr damit beschäftigt, ihre eigene Angst vor der erdrückenden Dunkelheit zu bekämpfen – doch er selbst spürte diese Unsicherheit mehr als deutlich. Immer wieder sah sich der Schriftsteller unauffällig um, presste angespannt die Kiefer aufeinander oder erwürgte mit seinen Klauen unsichtbare Einhörnchen, alles offenbar unbewusst, denn natürlich gab er sich nach wie vor selbstsicher. „Wir werden nicht auf direktem Wege nach Schattenhall gehen“, erklärte Mythenmetz, während er mit erhobener Fackel voran schritt. „Das kann ich nicht zulassen. Niemandem außer mir und meinem geschätzten Freund Colofonius Regenschein – die Götter mögen ihn selig haben – steht es zu, zu wissen, wo sich dieser heilige Ort befindet. Daher begeben wir uns zunächst zu ein paar Freunden von mir, die hier unten leben.“ „Hier unten LEBT etwas?“, fragte Echo und räusperte sich schnell, als er bemerkte, dass seine Stimme deutlich schriller klang als sonst. „Also ich meine etwas, das sich nicht mit Vorliebe von Artgenossen ernährt?“ Mythenmetz sah in sekundenlang an, als habe sich die kleine Kratze soeben erst vor seinen Augen materialisiert. „Ja…“, sagte er schließlich abwesend. „Ja, hier unten lebt so einiges.“ „Brrr“, machte Echo. Dann schwieg er wieder sein furchtsames Schweigen – ganz offenbar wollte er Näheres überhaupt nicht wissen. Rumo trug die Fackel in der Linken und Löwenzahn in der Rechten, jederzeit bereit für einen Angriff mit beidem. Vorrangig mit Löwenzahn, denn würde die Fackel in der Hektik verlöschen, wäre das wahrscheinlich eher suboptimal. „Ich hoffe, deine so genannten Freunde sind uns etwas freundlicher gesinnt als diese Bücherjäger“, grummelte er und versuchte zu ignorieren, dass sein gesamter Körper sich gegen die unheimliche Umgebung wehrte. „Ich habe keine Lust, meine friedlichen Absichten erst mit dem Schwert unter Beweis stellen zu müssen.“ „Keine Sorge“, antwortete Mythenmetz kühl. „Die Wesen, von denen ich spreche, sind von Grund auf pazifistisch eingestellt. Wenn du sie also nicht gleich mit deinem Brotmesser anfällst, werden sie sich auch dir gegenüber freundlich verhalten.“ Rumo schnaubte und hörte Grinzold in seinen Gedanken aufheulen. „Wie hat der uns gerade genannt? Wie war das, hä? Wiederhole das, du arrogante Echse, und wir zeigen dir, wer von uns das Brotmesser ist! Komm schon, trau dich!“ ‚Wir werden ihm gar nichts zeigen, Grinzold.’ „Spielverderber!“ Blaubär leuchtete misstrauisch mit seiner Fackel umher, um ja keine Ecke des Stollens, die als potentielles Monster-Versteck durchging, ungesehen zu lassen. „Über was für Wesen reden wir hier eigentlich? Verzeih, aber ich kann mir nur schwerlich eine Kreatur vorstellen, die ihr Dasein freiwillig hier unten fristet.“ Mythenmetz führte die Gruppe nach kurzem Nachdenken in die rechte Abzweigung einer Kreuzung. Dieser Schacht war etwas breiter als es die letzten gewesen waren, seine Wände glommen im Dunkeln durch irgendeine fluoreszierende Substanz, die Rumo nicht zuordnen konnte und auf dem Boden konnte man auch ohne Fackelschein die Umrisse zerwühlter Bücherstapel erkennen. Halb zerfalle Regale säumten dann und wann die rauen Wände und der Wolpertinger kam nicht umhin sich zu fragen, wie sie wohl dort hingekommen waren. Wäre so etwas wie ein Limonadenstand nicht sinnvoller gewesen? Seinetwegen auch ein kleines, gemütliches Gasthaus. Er hatte Hunger. „Buchlinge.“ Rumo schreckte aus seinem Tagtraum von einem saftigen Riesenschnitzel und sah verständnislos zu Mythenmetz herüber. „Was, um alles in Zamonien, sind Buchlinge?“ „Werdet ihr sehr bald sehen.“ Und damit schien von seiner Seite aus wieder einmal alles gesagt. Schweigend setzten sie ihren Weg fort, jeder vollkommen in die eigenen Gedanken vertieft, die Blicke starr auf den steinigen Pfad gerichtet und die Fackeln umklammert, wie das letzte Ende eines Rettungsseils. Rumo vermochte nur zu ahnen, was in diesen Sekunden in seinen Gefährten vorging, ihre maskenhaften Gesichter im Flackerlicht sprachen von furchtsamer Erwartung, nervöser Unruhe und nicht zuletzt grimmiger Hoffnung auf einen baldigen Erfolg. Erfolg… Der Wolpertinger biss sich auf die Unterlippe. Das sollte sie also sein, die wohl letzte Etappe seiner Suche. Was zunächst nur bis zu den Finsterbergen zu reichen angedacht war, hatte ihn schließlich bis nach Buchhaim und in dessen unheimliche Eingeweide geführt, und noch immer war der Ausgang seiner Expedition mehr als Ungewiss. Würde er mit der Formel im Gepäck wieder ans zamonische Tageslicht treten? Würde er die Welt da oben überhaupt lebendig wieder sehen? Gut, letzteres war vielleicht etwas sehr pessimistisch gedacht, aber es stand außer Frage, dass eine solche Möglichkeit existierte. ‚Nun, so oder so, bald wird das alles ein Ende haben’, dachte Rumo bissig und entlockte seiner Kehle ein leises, aber entschlossenes Grollen. Vielleicht war es besser, dass er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnte, wie dieses Ende aussehen würde. „Zur Seite!“, brüllte Blaubär und duckte sich mit einer schnellen Bewegung unter einer durch die Luft sirrenden Pranke hinweg, die eindeutig auf seine Schläfe gezielt hatte. Dann ließ er sich auf alle Viere fallen und vollführte eine bodennahe Drehung um etwa einhundertachtzig Grad, die seinen Gegner von den gepanzerten Beinen fegte, sodass er unsanft auf seinem Hinterteil landete. Mythenmetz und Echo hasteten vom einen Ende der kleinen Höhle in die andere, um dem kämpfenden Pulk, bestehend aus Rumo, Blaubär und einem etwas unglücklichen Bücherjäger, bestmöglich zu entgehen und ja nicht Gefahr zu laufen, selbst in dessen fauchendes, kratzendes und beißendes Zentrum gesogen zu werden. Schlussendlich war es ihnen doch nicht gelungen, diesen zwielichtigen Gestalten ganz und gar zu entgehen, doch da sie damit ohnehin kaum gerechnet hatten, waren sie vorbeireitet Ihr Weg hatte die vier Freunde auf Zeit gerade durch eine besonders schöne Tropfsteinhöhle geführt, deren Erhabenheit sie eine Weile still bestaunt und so gleichzeitig etwas Rast gemacht hatten, als sie von Fern das Klirren einer schweren Rüstung vernommen hatten. „Er kann es sich leisten laut zu sein“, hatte Mythenmetz gestöhnt. „Also ist er entweder lebensmüde oder einfach nur extrem gut in dem, was er trut. Lasst uns lieber irgendwo ein Versteck auftun.“ Leider hätte sich wohl zunächst einmal der Fels irgendwo auftun müssen, bevor die Reisenden selbiges mit einem Versteck hätten tun können. Denn ihre optisch so ansprechende Tropfsteinhöhle hatte sich in diesem Augenblick als vollkommen Deckungs-untauglich erwiesen, was in anbetracht der näher kommenden Schritte natürlich etwas ungünstig gewesen war. „Dann lasst uns ihm zumindest entgegen gehen“, hatte der Lindwurm daraufhin insistiert. „Wenn es hier zum Kampf kommt, hat er hunderte Möglichkeiten uns – Verzeihung: euch – auf einem der Stalagmiten aufzuspießen, noch bevor ihr auch nur eine einzige Bewegung zu Abwehr auf die Reihe kriegt.“ „Sind Stalagmiten eigentlich die, die von unten…“ „Ja, sind sie, Rumo, aber das spielt jetzt wohl kaum eine Rolle oder?“ Ergo hatten sie das wohl einzige gemacht, was ihnen in dieser Situation übrig geblieben war: Sie waren den klappernden Schritten entgegen gegangen und schließlich in einer weiteren, kleineren Höhle gelandet, die, sehr zu ihrer Erleichterung, weitestgehend frei von spitzen Felsformationen irgendeiner Art war. Und dann hatte er ihnen auch schon gegenüber gestanden, ein fast vollständig hinter einer schweren Eisenrüstung verborgener Wildschweinling mit einem golden schimmernden Buch unter dem Arm und einer stümperhaft gefertigten Axt auf dem Rücken. Offenbar war er nicht minder erschrocken, in seinem Jagdrevier weiteren lebenden Seelen zu begegnen, denn sobald er sie durch den Schlitz in seinem gehörnten Helm bemerkt hatte, war er entsetzt einen Schritt zurück gewichen. „Wer seid ihr und was wollt ihr hier?“ Mythenmetz war vorgetreten. „Wir sind Reisende, nichts weiter. Wir haben es nicht auf Bücher abgesehen, also lass uns ziehen, Jäger.“ „N… nichts da! Das… das glaube ich euch nicht! Ihr seid bewaffnet!“ ‚Mythenmetz hat sich geirrt’, war es Rumo in dieser Sekunde durch den Kopf geschossen. Dieser Jäger war nicht so laut gewesen, weil er es sich hätte leisten können, sondern weil er es schlichtweg nicht besser wusste. Das erklärte auch das übermäßige Rüsten – er war ein blutiger Anfänger. Leider machte ihn das höchsten noch gefährlicher, da er so tendenziell aus Angst oder Übereifer auf alles losgehen würde, was sich bewegte. Sein Arm hatte gezittert als er seine Axt gezogen und damit auf den Schriftsteller gedeutet hatte. „Dich kenne ich doch! Du bist Autor. Aber ich fand deine Bücher immer langweilig. Musste die in der Schule lesen, das war dämlich. Also hab ich geschwänzt. Dann hab ich ärger von meinen Eltern bekommen. Das war auch dämlich.“ Mythenmetz zeigte sich unbeeindruckt. „Vielen Dank für den kleinen Exkurs in Punkto deine Lebensgeschichte.“ „Hä?“ „Aber würdest du uns jetzt bitte vorbei lassen?!“ Der Bücherjäger hatte sich nachdenklich mit der Schneide seiner Axt am Helm gekratzt. „Ähhh…“, machte er dabei. „Ähh… nein, ich fürchte, das kann ich nicht machen.“ Dann hatte er ohne Vorwarnung zu schreien begonnen und war auf Mythenmetz zugestürmt, sodass dieser nur noch „Oh Götter!“ seufzen konnte, bevor er von Blaubär aus der Schusslinie gezogen wurde. „Überlass das uns, okay?“ Das hatte der Schriftsteller natürlich mit Freuden getan und sich flugs mit Echo im Gepäck hinter einem Felsbrocken verborgen. Zumindest solange, bis dieser zerbrochen war, als die Axt aus einigen Metern Entfernung in den brüchigen Stein krachte. Oder besser gesagt: Die obere Hälfte dessen, was mal eine Axt gewesen war. Und damit hatte dann seine Rennerei begonnen. Rumo hatte unterdessen zu seiner großen Freude festgestellt, dass sie mit diesem speziellen Exemplar eines Bücherjägers leichtes Spiel haben würden. Seine Rüstung war viel zu schwer und ihm noch dazu an einigen Stellen zu groß, sodass sich der Wildschweinling in ihr kaum bewegen konnte. Und die wenigen Bewegungen, die er dann doch hinbekam, waren so unbeholfen und ängstlich, dass er damit nicht einmal Löwenzahn erschrecken konnte. Sowieso gab der sich in diesem Kampf erstaunlich selbstsicher. Was wohl daran liegen musste, dass sie kaum etwas zu befürchten hatten. Nachdem der unglückselige Bücherjäger von Blaubär zu Fall gebracht worden war, packte Rumo ihn an den Hörnen seines Helms, zog ihn mit viel Schwung daran hoch und schleuderte ihn dann wie ein nasses Handtuch an die Höhlenwand, wo er laut scheppernd abprallte und zu Boden rutschte. Der Buntbär, der diesen Schritt voraus gesehen hatte, nutzte die Orientierungslosigkeit ihres Gegners, um schnell sein Messer zwischen dessen Helm und Brustpanzer zu schieben. „Gib auf! Du hast keine Chance!“ Der Bücherjäger hob die Hände. „Schon gut, schon gut!“, jammerte er und fügte schnell noch ein theatralisches Schluchzen an, nur um sicher zu gehen. „Ich seh’s ja ein. Nur bitte lasst mich leben!“ Blaubär zog das Messer zurück und richtete sich auf. „Wir hatten nie vor dich zu töten.“ „Nicht?“ Noch immer sichtlich misstrauisch ließ der Wildschweinling langsam seine schützenden Arme sinken. „Aber ich dachte, unter Jägern macht man das so? Müsstet ihr mir nicht jetzt mein Buch und meine Waffen abnehmen?“ Rumo verdrehte die Augen, kam auf das zitternde Häuflein Elend zu und streckte ihm seine Pfote entgegen, um ihm aufzuhelfen. „Da du ganz offenbar nicht zugehört hast, als der dicke Dino mit dir gesprochen hat, sage ich es dir gerne noch einmal: Wir sind keine Bücherjäger, sondern einfache Reisende, verstanden?“ Zögerlich nahm der Besiegte die Hilfe an und ließ sich von dem Wolpertinger hochziehen. „Also stimmt das tatsächlich? Aber wohin wollt ihr denn, dass ihr euch hier herunter traut?“ Mythenmetz, der unterdessen das goldene Buch vom Steinboden aufgelesen hatte, warf dieses nun achtlos seinem Besitzer entgegen. Der fing es nur unter größten Mühen und drückte es sogleich an seine Brust, als hinge sein Leben davon ab. Was es vielleicht auch tat. „So weit kommt das noch“, schnaubte die Echse ungehalten, „dass wir jetzt auch noch ausgerechnet einem Bücherjäger auf die Nase binden, wohin wir auf dem Weg sind. Ich würde vorschlagen, du kümmerst dich lieber darum, dass du selbst ungeschoren hier herauskommst – wofür ich gerade nicht unbedingt meine Klaue ins Feuer legen würde – und lässt uns einfach in Frieden, einverstanden?“ Der Bücherjäger zuckte zusammen und um Mythenmetz’ Mundwinkel zeichnete sich ein herablassendes Lächeln ab. „Ja, so sieht es aus, du…“ „Seid still!“ Jetzt war es an dem Lindwurm zusammen zu zucken und augenblicklich begann an seiner Schläfe sehr deutlich eine Ader zu pochen. „Sag mal hast du sie noch alle?“, fuhr er den Wildschweinling an und besprühte ihn dabei mit einer ordentlichen Ladung Spucke. „Wie redest du bitte mit den Leuten, die gerade gnädigerweise dein Leben verschont haben?“ Der Bücherjäger klammerte sich noch fester an sein Buch, die Augen hinter dem Schlitz in seinem Helm tanzten wild in der Höhle umher. „Nein, versteht mich nicht falsch. Ihr müsst still sein, bitte!“ „Jetzt reicht es mir aber endgültig mit dir! Ich…“ Weiter kam er auch diesmal nicht, denn Rumo war vor ihn gesprungen und hatte ihm so gut es ging seine Pfote vor das Dinosauriermaul geschoben. „Er hat Recht! Still!“ Was der Bücherjäger ganz offenbar schon längst vernommen hatte, war auch den scharfen Sinnes des Wolpertingers nicht entgangen. Ein leicht unregelmäßiges und doch rhythmisches Geräusch aus der Dunkelheit der Katakomben , wie die Schritte eines Humpelnden, allerdings begleitet von einem metallischen „klick“ bei jedem zweiten Aufsetzten. Rumo legte angestrengt lauschend die Stirn in Falten. Was mochte das sein? Echo hatte es auch gehört. „Oh nein, bitte nicht noch einer von denen“, flüsterte er ängstlich und zog das Köpfchen zwischen die Schultern. „Dieses Mal kommen wir bestimmt nicht ungeschoren davon.“ „Kommt ihr auch nicht, wenn ihr nicht sofort verschwindet“, hauchte der Wildschweinling, der wieder zu zittern begonnen hatte, und ließ sein hart umkämpftes Buch fallen, als wäre es plötzlich wertlos geworden. Panisch warf er den Kopf nach links und rechts, während das Geräusch von allen Seiten her näher zu kommen schien. Rumos Mund wurde mit einem Mal trocken. Was auch immer da auf sie zukam, machte ihm Angst, ohne dass er wirklich erklären konnte, warum. Wahrscheinlich war es der Bücherjäger, der ihn in seiner Hektik ansteckte und seinen Herzschlag beschleunigte, bis er ihn in seinem Hals spüren konnte. „Was ist das?“ Als der Jäger ihm antwortete, war es die reine Furcht, die aus ihm sprach. Seine Stimme bebte zusammen mit dem Rest seines massigen Körpers, bis die Rüstung nur so rasselte, und machte das Gesagte beinahe unverständlich. Rumo musste aufmerksam zuhören, um ihn zu verstehen. „Glaubt mir, ihr müsst fliehen! Wir alle müssen fliehen! Jetzt sofort!“ „Niemand flieht hier! Was ist das, was kommt da?“ Der Bücherjäger schien den Tränen nahe. „Bitte, lasst mich gehen! Diese humpelnden Schritte, dieses metallene Klicken – das ist der Schattentod. Er ist gekommen, um mich zu holen, weil ich ihm eines seiner Bücher gestohlen habe.“ Rumo zuckte zusammen – innerlich und äußerlich – und wirbelte zu Mythenmetz herum. „Ammenmärchen, ja?“, knurrte er ihm entgegen. „Sehr reales Ammenmärchen, würde ich sagen!“ „Pah“, machte der Lindwurm abfällig, konnte dabei aber nicht verbergen, dass er selbst vor Anspannung zitterte. Die kurzen Flügel auf seinem Rücken verrieten seine hektischen Atemzüge und er schluckte hörbar. „Wie ich schon sagte: Das ist alles Schwachsinn! Das ist nur ein weiterer Bücherjäger, nicht mehr und nicht weniger! Dieser kleine Feigling will uns doch nur einen Bären aufbinden, damit wir ihn ungeschoren davonkommen lassen!“ „Bitte, ihr müsst mir glauben!“, fiepte der Wildschweinling mit inzwischen hysterischer Stimmlage. „Ich erzähle euch keine Märchen. Wir müssen verschwinden! Diese Kreatur wird mich in Stücke reißen und dann seid ihr dran. Es heißt, er kenne keine Gnade, weil er aus purer Langeweile tötet.“ Damit blickte er sich ein letztes Mal wild in der Höhle um, offenbar um sich zu entscheiden, aus welcher Richtung das omnipräsente Geräusch denn nun genau kam, stürmte dann wie von der Tarantel gestochen und ohne sein erbeutetes Buch los, prallte gegen den verdutzt dreinblickenden Blaubär, stieß ihn zur Seite und verschwand schließlich in eben jenem Stollen, aus dem er gekommen war. Mythenmetz verschränkte die Arme vor der Brust. „Was für ein Feigling! Das ist ein Bücherjäger, nichts weiter. Und wir werden ihn auseinander nehmen, wie den da gerade auch. Ende, Schluss, aus. Nichts mit Schattentod, ihr werdet schon sehen.“ Ein hässlich schabendes Geräusch dicht gefolgt von einem markerschütternden Schrei ertönte aus der Richtung, in die der ängstliche Wildschweinling soeben verschwunden war und Mythenmetz fuhr zusammen. „Ähm… schön, dann hat der eine Bücherjäger jetzt eben den anderen getötet, umso besser für uns, oder?“ Rumo fand das alles andere als lustig. Dem Klang nach hatte es nur wenige Meter von ihnen entfernt gerade tatsächlich einen Mord gegeben, noch dazu einen erschreckend schnellen und erbarmungslosen, dem nicht einmal ein Kampf voran gegangen war. Falls der Schriftsteller recht hatte und es wirklich nur ein Bücherjäger war, dann war es ein sehr viel stärkerer als der vorhergehende. Falls er sich allerdings irrte und es tatsächlich dieser Schattentod war… ja, was war dann eigentlich? Wer war diese Kreatur? Welche Ziele verfolgte sie? Und was wusste der Lindwurm, was sie nicht wussten? Er kam nicht dazu, weiter über diese Fragen nachzudenken, denn in dieser Sekunde kam etwas durch denn Stolleneingang in die Höhle hinein geflogen und landete schließlich mit einem dumpfen Aufprallgeräusch direkt vor Mythenmetz’ Füßen. Es war der Bücherjäger. Oder besser gesagt: Eine Hälfte von ihm. „Oh Scheiße!“, entfuhr es dem sonst so gesitteten Lindwurm und er stolperte hektisch einige Schritte zurück, um ja nicht mit der sich ausbreitenden Blutlache in Berührung zu kommen. Oh Schieße war auch in etwas das, was Rumo im Angesicht des halben Kadavers durch den Kopf schoss, begleitet von einem unmissverständlichen „Uärgh!“, das Blaubär zur gleichen Zeit im exakten Wortlaut aussprach. Echo stellte seinen Schweif auf, formte einen mächtigen Buckel und fauchte wie der Teufel persönlich, als könne er damit den toten Körper in die Flucht schlagen, was natürlich, sehr zum Leitwesen aller, nicht funktionierte. Der Wolpertinger begriff schnell, dass ihr Problem allerdings weniger im grausigen Anblick der Leiche lag, als viel mehr bei demjenigen, der ihnen dieses Geschenk beschert hatte und der nun unregelmäßig klappernden Schrittes unaufhaltsam auf die kleine Reisegruppe zugelaufen kam, ruhig und besonnen, als mache er einen Spaziergang. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit hatte Rumo Todesangst. „Wir sind am Allerwertesten, Leute“, sagte Grinzold leise und dieses Mal alles andere als tollkühn oder wagemutig-optimistisch. „Was auch immer da auf uns zukommt, macht uns kalt.“ Löwenzahn wimmerte nur gedämpft vor sich hin. Alle Augen waren nun auf den Höhleneingang gerichtet, in stummer Erwartung des Schlimmsten. Das Geräusch der Schritte schien nun in benahe greifbarer Nähe und langsam begann sich eine Gestalt im fahlen Licht der Fackeln abzuzeichnen, die Mythenmetz noch immer trug, die Blaubär und Rumo zum Kampf in den Fels gesteckt hatten. Beinahe wäre der Wolpertinger überrascht gewesen, denn die Kreatur war recht klein, kleiner als er auf jeden Fall. Vielleicht sogar kleiner als Blaubär, das war schwer zu sagen. Sie hatte ihren gesamten Körper in eine zerschlissene schwarze Robe gehüllt und eine Kapuze verbarg das Gesicht im Schatten. Doch was am skurrilsten war, war die riesenhafte Sense, die die schwarze Gestalt auf dem Rücken trug, und von der noch immer das Blut des unglückseligen Bücherjägers tropfte. Rumo war sich sicher: Vor ihm stand der Tod persönlich. Mythenmetz reagierte geistesgegenwärtig. Er packte Echo am Schlafittchen und schleuderte ihn zur anderen Seite der Höhle hinaus, wohl wissend, dass dieser mit Sicherheit unversehrt und auf allen Vieren aufkommen würde. Dann griff er in seinen Umhang und beförderte den Säbel zutage, den er bis jetzt darin verborgen hatte. Jetzt war keine Zeit für Zimperlichkeiten, das war selbst ihm klar. Auch Rumo brauchte nur Sekunden, um seine Angst zu zerkauen, herunter zu schlucken und in seinem Innersten in Kampfgeist zu wandeln. Wenn er schon untergehen sollte, dann wenigstens in der Schlacht. So und nicht anders war es dem größten Helden von Zamonien vorbestimmt, da war er sich sicher. Als er merkte, dass eben jene stoische Ruhe ihn einhüllte, die ihn immer während eines ernst zu nehmenden Kampfes begleitete, hob er Löwenzahn und deutete mit dessen gespaltener Spitze auf den Neuankömmling. „Keinen Schritt weiter!“ Und tatsächlich bleib die vermummte Gestalt just in diesem Augenblick stehen und verharrte, wo sie sich befand, während die Sense unaufhörlich rubinrote Tropfen auf seinen Nacken fallen ließ. Es schien ihn nicht weiter zu stören. „Wer bist du?“, wollte Rumo wissen. Die Gestalt legte den Kopf schief, das Gesicht in seine Richtung gedreht. „Bist du der, den man den Schattentod nennt?“ Die Gestalt ließ ihre rechte Hand langsam über die Schulter zum Schaft der Sense wandern. „Es interessiert mich nicht, wie man mich nennt.“ Rumo erschauderte beim klang, der kalten, völlig gefühllosen Stimme, die eindeutig vermittelte, wie egal es ihrem Besitzer war, wie viele Leichen seinen Weg pflasterten und ob es nun Wolpertinger oder Lindwurm war, was zu seinen Füßen zuckte und sich wand. Er schluckte ein weiteres Mal, obwohl sein Mund schon seit mehreren Minuten staubtrocken war. „Und was willst du? Der, der dir dien Buch gestohlen hat, ist tot, du kannst es also wiederhaben.“ Jetzt hatte die Gestalt, die wohl tatsächlich eben jener Schattentod war, die Sense in die rechte Hand genommen, hielt sie von sich weg und musterte abschätzend das darauf glitzernde Blut. „Was, dieses Buch? Nein, ihr könnt es behalten, es ist wertlos.“ „Aber du hast den Bücherjäger getötet? Warum? Was willst du?“ „Was ich will…“ Der Schattentod ließ einen Tropfen Blut den hölzernen Schaft in seiner Hand hinunter gleiten. „Keine Ahnung, sag du es mir.“ Verdutzt ließ Rumo Löwenzahn ein paar Zentimeter sinken. Was war das denn? Ein Mörder mit philosophischen Zügen? Das hatte ja fast ein wenig melancholisch geklungen. Dann sammelte er sich wieder um nahm erneut eine kampfbereite Haltung an. Der Unaufmerksame fällt als erstes, hatte Smeik ihm beigebracht. „Woher soll ich wissen, was du willst? Töten lassen wir uns auf jeden Fall nicht so einfach!“ Der Schattentod schwang die Sense locker in der Hand, als prüfe er, wie gut sie sich führen ließ. „Ach tatsächlich? Darf ich das als Herausforderung verstehen? Ich mag Herausforderungen. Aber nur, wenn sie auch wirklich schwierig sind, also enttäuscht mich bitte nicht, ja? Andererseits bist du ein Wolpertinger, die sollen ja vergleichsweise gute Kämpfer sein...“ Er packte die Sense nun mit beiden Händen und senkte seinen Körperschwerpunkt. „Nun, wir werden sehen.“ „Ist das alles?“ Rumo verlagerte als Reaktion auf die offensichtliche Kampferöffnung ebenfalls sein Gewicht. „Das ist deine Motivation zu kämpfen? Allein die Herausforderung, ob du jemanden töten kannst oder nicht?“ Der Schattentod zuckte gelangweilt mit den Schultern. „Das Leben ist so erdrückend monoton. Und es dauert viel zu lange für jene, die einsam sind.“ Das nächste, was Rumo wusste, war, dass die Sense nur Millimeter von ihm entfernt in den Fels schlug. „Was ist denn? Ich dachte, ihr Wolpertinger seid schnell?“ Rumo war mehr als klar, dass er bereits tot wäre, hätte sein Gegner nicht mit voller Absicht daneben gezielt. Und wenn er ehrlich war, war dieses Wissen nicht gerade das, was man als aufbauend bezeichnen würde. Doch es gehörte weit mehr dazu, den Kampfgeist eines Wolpertingers zu zerschlagen und so gelang es ihm, sich geschickt unter dem nächsten Schlag wegzuducken, der die Luft genau dort zerschnitt, wo wenige Sekunden zuvor noch sein Kopf gewesen war. Jetzt machte sein Gegenüber ernst. Die nächsten Hiebe parierte Rumo mit Löwenzahn, was keine wirklich leichte Angelegenheit war, da sich die beiden Waffen hinsichtlich ihrer Länge doch beträchtlich unterschieden. So war die Sense mit Schaft gemessen sogar einige Zentimeter größer als ihr Träger, während Löwenzahn gerade einmal die Länge von Rumos Unterarm maß. Kein sehr angenehmer Nachteil. Der Schattentod begann nun am laufenden Band auf den Wolpertinger einzuschlagen, sodass diesem kaum etwas anderes übrig blieb, als abzuwehren und zurück zu weichen, soweit es eben ging. Schließlich stieß er mit dem Rücken gegen die Höhlenwand und sah sich schon als Geschnetzeltes am Boden liegen, als plötzlich Blaubär aus dem Nichts auftauchte, mit gefletschten Zähnen seitlich gegen den Schattentod prallte und ihn einfach mit sich umriss, wie eine leblose Schaufensterpuppe. Das Knäuel aus blauem Fell und schwarzer Robe überschlug sich durch die schiere Wucht des Angriffs ein paar Mal auf dem Boden, wobei die Sense unkontrolliert durch die Höhle geschleudert wurde und beinahe Mythenmetz einen Kopf kürzer gemacht hätte, und kam schließlich einige Meter weiter zum liegen. Sofort entbrannte zwischen den beiden Kontrahenten ein stummer Wettbewerb, wer sich zuerst wieder sortiert hatte und weiterkämpfen konnte, den Blaubär schon bald für sich entscheiden konnte. Er sprang auf die Hinterläufe, zog sein Messer aus dem Gürtel und rammte es dem immer noch am Boden liegenden Schattendtod ins Bein. „Ja!“, entfuhr es Rumo und er stieß triumphierend die linke Faust in die Luft. Dann sprang ihr Gegner auf die Füße, so elegant und sicher, als existiere die Klinge in seiner Wade überhaupt nicht, und Rumo ließ die Faust schnell wieder sinken. Zu früh gefreut. Blaubär taumelte einige Schritte zurück. „Was zum…?“ Der Schattentod beugte sich zu dem Messer in seinem Bein herunter, zog es in einer einzigen, kraftvollen Bewegung heraus und Rumo musste entsetzt feststellen, dass nicht ein einziger Tropfen Blut an ihr klebte. „Zu tragisch“, säuselte die schwarze Gestalt. „Jetzt hättet ihr mich fast gehabt und dann das.“ Er lachte dreckig, dämonisch. ‚Natürlich’, dachte Rumo. ‚Ein Holzbein. Daher die unregelmäßigen Schritte.’ In diesem Moment wollte er nicht darüber nachdenken, wie schnell diese Kreatur gewesen sein musste, als sie noch ihr richtiges Bein besessen hatte. Manche Fragen stellte man sich am besten erst gar nicht. „Verdammter Mist!“, fluchte Blaubär ungeniert und sprang schnell in einen gebührenden Sicherheitsabstand. „Hoffentlich ist sonst jedenfalls alles echt an dem, andernfalls wird’s haarig!“ Der Schattentod ging zu seiner Sense und hob sie auf. „Dabei seid ihr doch hier die pelzigen Zeitgenossen…“ Rumo hatte keine Zeit sich zu fragen, was das über die Rasse seines Gegners aussagte. Er hastete hinüber zu Mythenmetz, der nach dem unerwarteten Sensenanschlag auf seine Person offenbar in eine Art Schockstarre verfallen war. „Schnell!“, reif er ihm zu. „Gib mir deinen Säbel!“ „Hä, warum das?“ „Frag nicht! Gibt ihn mir einfach!“ Etwas ungeschickt warf ihm der Lindwurm seine einzige Bewaffnung zu, nachdem er begriffen hatte, dass er seine Fragen wohl besser auf später verschieben sollte. Rumo fing die reichlich verzierte Waffe mit seiner linken und hielt sie sich nebst Löwenzahn vor die Brust. Zeit für drastischere Maßnahmen. Dann stürmte er ohne Rücksicht auf Verluste auf den Schattentod zu, überwand die letzten Meter in einem einzigen, rieseigen Satz und griff an. Dieses Mal hatte eindeutig er die Oberhand. Wie besessen prügelte er auf die vermummte Gestalt ein, sodass seinem Gegner erst gar nicht die Zeit blieb, zum Schlag mit der Sense auszuholen, und genau da lag sein Vorteil. Er war vielleicht nicht so schnell, aber seine Waffe war es, denn sie war klein und das war gut so. Und dann, als der Schattentod nach einem besonders harten Treffer gegen den Holzschaft der Sense für wenige Sekunden den Kopf zur Seite drehte, war der Moment gekommen, auf den er gewartet hatte. Rumo schleuderte Löwenzahn in die Luft. Gleichzeitig setzte er seine Schlagreihe fast ohne Unterbrechung mit dem Säbel fort, denn genau so sollte es sein. Das Problem an der Geschichte: Sie befanden sich in einer Höhle und somit war der Platz nach oben hin deutlich begrenzt, das musste er bedenken und hatte er bedacht. Wenn alles so lief, wie er es angedacht hatte, würde Löwenzahn knapp unter der Felskuppel entlang kratzen, ohne diese zu berühren. Wenn es nicht so lief – nun, dann hatte er eben Pech gehabt. Die Geräusche hinter dem Klirren seiner Treffer sagten Rumo, dass er kein Pech hatte, dieses Mal nicht. Das schaben von Metall auf Stein blieb aus, dafür war ein deutliches rhythmisches Sirren zu hören. Eins, zwei, drei… in anbetracht der maximalen Höhe wären zehn oder zwölf ein guter Anfang. Vier, fünf, sechs… Rumo drängte den Schattentod weiter rückwärts. Sieben, acht…. Jetzt kam der schwierige Teil. Sie mussten zurück, nur wie? Rumo tat einen aus dem Fechten stammenden Ausfallschritt mit dem rechten Bein und sein Gegenüber wich mit einer Rechtsdrehung seinerseits aus. Sehr gut. Neun… Rumo schnitt dem Schattentod geschickt den Weg ab und dirigierte ihn so zurück zu eben jener Stelle, an der er Löwenzahn aus der Hand gegeben hatte. Zehn… Einen Schritt, ein Schlag mit dem Säbel und sie waren am richtigen Punkt angekommen. Jetzt kam es drauf an. Elf… und abwärts. Löwenzahn raste mit dem Griff voran in Richtung Boden, wo sein Besitzer im Bruchteil eines Augenblicks den Säbel von der Rechten in die Linke warf, die so freigewordene Hand in die Luft stieß, sein Schwert aus dem freien Fall fing und die Klinge der scheinbar aus dem nichts aufgetauchten Waffe auf seinen Gegner niedersausen ließ. Ein elffacher DeLucca. Er war perfekt. Oder wäre es zumindest Gewesen, wenn nicht Rumos ganz persönlicher Albtraum gerade in diesem Moment beschlossen hätte, wahr zu werden. Denn offenbar wusste der Schattentod nur allzu gut, was da auf ihn zukam, sodass er sich im genau richtigen Augenblick wegducken konnte. Das wiederum machte aus dem so kunstvoll durchgeführten mehrfachen DeLucca nichts weiter als einen sehr kraftvollen, vorwärts gerichteten Angriff, der jetzt nicht nur ins Leere verpuffte, sondern seinen Vollstecker auch noch dazu verdammte, seiner Waffe nachzustürzen und in einem unsäglich missglückten Vorwärtssalto zu Boden zu taumeln. Rumo merkte sofort als er aufprallte, dass etwas nicht stimmte. Ein glühender Schmerz zuckte von seinem Nacken ausgehend durch seinen gesamten Körper und lähmte ihn. Nicht psychisch, sondern physisch. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Da waren nur noch Schmerzen und kleine, silberne und goldene Sterne, die vor seinen Augen tanzten und ihm die Sicht verwischten. Er wusste, was los war, konnte es ganz deutlich spüren, knapp unterhalb seines ersten Halswirbels: Durch den Aufschlag war einer der Nervendrähte in seinem Nacken gerissen. Einer jener Drähte, deren Existenz er im Strudel der Ereignisse vollkommen vergessen hatte. Nun, das kam ihn jetzt teuer zu stehen. ‚Bitte’, flehte er in Gedanken, als er auf den rauen Steinen in sich zusammen sackte. ‚Bitte lass die anderen begreifen, was los ist! Lass sie mir helfen. Oder lass sie zumindest abhauen.’ Gern hätte er Blaubär ein Zeichen gegeben, doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte nicht einmal mehr seinen Arm heben. Der Schattentod hatte sich unterdessen wieder gesammelt und kam nun mit erhobener Sense auf den am Boden liegenden Rumo zu. „Na da ist wohl etwas leicht nach hinten losgegangen, wie?“ Sein meckerndes Gelächter erfüllte einmal mehr die kleine Höhle. „Na komm schon, steh auf, so macht das keinen Spaß!“ Rumo rührte sich nicht. Wie auch? Sein Gegner hob die Sense über den Kopf, bereit zum finalen Schlag. „Du willst nicht? Nun gut, dieses Spiel wurde mir ohnehin langsam zu eintönig.“ Er schob seinen Arm noch etwas weiter nach hinten und riss ihn dann mit voller Kraft zurück, die Klinge seiner blutbefleckten Waffe akkurat auf Rumos nun ungeschützt liegende Kehle ausgerichtet. Jetzt begriff auch Blaubär, dass mit seinem regungslos daliegenden Freund etwas nicht stimmen konnte, doch er befand sich am anderen Ende der Höhle und obwohl er sofort lossprintete, brauchte man kein Mathegenie zu sein, um sich ausrechnen zu können, dass es zu spät war. Das glänzende Metall rauschte mit irrwitziger Geschwindigkeit auf den Wolpertinger hernieder, der in diesen Sekunden mit dem Leben abschloss. Das letzte, was er sah, war seltsamerweise der Schatten einer Katze, die über seinen Kopf hinweg sprang und sich so zwischen ihn und die Sense warf… ‚Vielleicht keine Katze’, überlegte er. ‚…vielleicht eine Kratze?’ Und dann: ‚Was für ein sinnloses Opfer, Echo. So sehr du es auch willst, du kannst ja doch nichts ausrichten. Wir werden alle sterben.’ Und genau das war der Moment, in dem sie eben nicht starben. Denn, so unglaublich es auch schien: Wenige Zentimeter vor dem Hals der kleinen Kreatur stoppte die Sense ganz unvermittelt durch die Hand ihres Besitzers, um dann zitternd an Ort und Stelle zu verharren. Rumo verstand die Welt nicht mehr und Blaubär, der schlitternd neben ihnen zum Stehen kam, offenbar eben so wenig. Der Schattentod hatte erbarmungslos einen Bücherjäger nieder gemetzelt und war kurz davor gewesen, einem ihm völlig fremden Wolpertinger die Kehle aufzuschlitzen, doch vor dem Mord an einer Kratze schreckte er zurück? Wo lag da der Sinn? Schließlich ließ er sogar die Sense sinken und taumelte wie getroffen von Wolpertinger und Kratze weg. „Was wird hier gespielt?“ Auf Echos kleinem Kratzengesicht lag ein Ausdruck, den man nur mit absoluter Bitterkeit und Abscheu beschreiben konnte, ein Ausdruck puren Hasses, den wohl keiner dem fröhlichen Krätzchen zugetraut hätte. Bis jetzt. „Lustig“, zischte er dem Schattentod entgegen. „Genau das wollte ich dich gerade fragen!“ Kapitel 14: Merkurius und Sulfurus ---------------------------------- Als Sulfurus zur Welt kam, war sein Bruder bereits sieben Jahre alt und - obwohl er sich wohl niemals würde erinnern können - das erste Mitglied seiner kleinen Familie, das er an diesem Tag seiner Geburt zu sehen bekam. Denn während Merkurius den Säugling bereits aus einer angewärmten Flasche fütterte, kämpfte seine Mutter im Nebenzimmer mit dem Fieber, das die Schwangerschaft mit sich gebracht hatte. Es war ein Kampf, den sie gewinnen sollte, auch wenn die Chancen denkbar schlecht standen, und das erwies sich als großes Glück für ihre Söhne, die bereits ohne einen Vater auskommen mussten, da sich niemand aus ihrem Heimatdorf zu ihnen bekennen wollte. Ohnehin sollte sehr bald klar werden, dass die Brüder wohl kaum selbiges sein konnten - zumindest nicht reinen Blutes - denn während Merkurius die weizenblonden Haare und die blasse Haut der übrigen Dorfbewohner geerbt hatte, zeigten sich bei Sulfurus wenige Wochen nach seiner Geburt die wilden, deutlich dunkleren Züge der Nomaden, die dann und wann Schutz in der kleinen Siedlung suchten. Doch entgegen dem, was man jetzt vielleicht annehmen möchte, stellte all dies kein Hindernis für die jungen Menschen dar, denn man lebte in einer offenen und toleranten Gesellschaft, in einem harmonischen Miteinander, das keinen für seine Herkunft verurteilte. Als Mensch in Zamonien wurde einem das Leben auch sonst schon schwer genug gemacht. So wuchsen Merkurius und Sulfurus in behütetem und gesittetem Umfeld auf, frei von jeder Zukunftsangst, denn ihr Weg war vorbestimmt. Wie es der Zufall wollte, waren sie beide in ein Feuerzeichen des Zodiak geboren, was nach der Tradition ihres Stammes bedeutete, dass sie Krieger werden würden, ganz gleich was kam. So war es Gesetz: Die Erdzeichen wurden Bauern und Hirten, die Wasserzeichen Heiler, die Luftzeichen Ingenieure und Handwerker und die Feuerzeichen eben Krieger. Diese Destination wurde nicht hinterfragt, denn sie hatte sich über die Jahrhunderte bewährt. Und das Wohl aller stand über dem Glück des Einzelnen. Also wurde Sulfurus gleich seinem Bruder mit erreichen des sechsten Lebensjahres dem obersten Heerführers des Dorfes zur Ausbildung unterstellt und somit seine Zukunft besiegelt. Inzwischen war er zehn Jahre alt. Es war nun ein Tag gekommen, der große Veränderungen in sein junges Leben bringen sollte, doch natürlich wusste Sulfurus das nicht, als er erwachte und sich über die einfallenden Sonnenstrahlen freute, die bereits eine beachtliche Wärme mit sich brachten und vom nahen Frühling kündeten. Auf dem Futon neben sich konnte er seinen Bruder schnarchen hören - nicht so, dass es ihn geweckt hätte, aber dennoch deutlich zu vernehmen. Der attraktive Siebzehnjährige hatte sich in den letzten Monaten zum regelrechten Langschläfer entwickelt, sehr zu Sulfurus' Verwunderung, denn der kannte ihn nur äußerst strebsam und pflichtbewusst. Er beugte sich zu der schlafenden Gestalt herüber und versetzte ihr einen Stoß. "Hey, Merkur! Aufwachen!" Sein Bruder sabberte. Verblüffend, wie schnell aus einem sonst durchaus gut aussehenden Menschen etwas erschreckend Unattraktives werden konnte. "Aufwachen, du Esel!" Sulfurus schlug erneut zu. Dieses Mal härter. Merkurius öffnete die Augen. "Ich hasse dich!" "Tu das. Solange du dabei wach bist..." Sulfurus wusste, dass sein Bruder ihn selbstverständlich nicht hasste. Viel mehr fiel diese Beleidigung wohl unter das typische Geplänkel, welches selbst zwischen Geschwistern der besten Familien an der Tagesordnung war und auch die Menschen ebenso wie jede andere Gattung in Zamonien nicht verschonte. Man liebte und verabscheute sich in gleichem Maße und konnte dabei doch niemals vergessen, dass man das gleiche Blut in sich trug. Na ja, in Merkurius' und Sulfurus' Fall zumindest zur Hälfte. Ihre Mutter erwartete die beiden Jungen bereits mit aufgedecktem Frühstück, als sie - nun wieder ganz einträchtig - die Treppe herunter geschlendert kamen und sich an den Tisch setzten. Sulfurus griff nach einer Scheibe Brot und belegte sie großzügig mit Käse. "Wir machen heute eine Exkursion zu den Schlachtfeldern auf den nördlichen Gipfeln", verkündete er dabei, nicht ohne ein gewisses Maß an Vorfreude in der Stimme. "Unser Lehrer will mit uns zum ersten Mal praktischen Taktikunterricht machen." "Gut für euch." Seine Mutter - eine zierliche Frau mit rotblondem Haar und heller, sommersprossiger Haut - nickte zufrieden. "Mit roher Gewalt allein ist keine Schlacht zu gewinnen. Je früher ihr das lernt, desto besser." Aus den Augenwinkeln konnte Sulfurus erkennen, wie sein großer Bruder kaum merklich das Gesicht verzog, denn, ganz im Gegensatz zu ihm selbst, hielt dieser rein gar nichts von seinen Zukunftsplänen. Das Krieger Sein lag ihm nicht – mehr noch: Er verabscheute Waffen zutiefst und hielt sämtliche Schlachten der zamonischen Geschichte für das unsägliche Werk Testosteron gesteuerter Holköpfe – so zumindest hatte er es einst in einem seiner seltenen emotionalen Ausbrüche formuliert. Natürlich hatte ihre Mutter keine Ahnung von diesen Gedanken und würde auch niemals etwas davon erfahren, da waren sich die Brüder einig. Auflehnung gegen die eigenen Eltern war in ihrer Gesellschaft schlicht undenkbar, das hatte man ihnen früh beigebracht. Also schwieg Sulfurus auch an diesem Morgen. Merkurius schob seine leere Müslischüssel von sich weg. „Ich muss los. Professor Aspargus hat mich gebeten, vor dem Unterricht noch ein Paar der Waffen aus dem untern Lager zu holen, und ich möchte nicht zu spät sein.“ „Warte!“, würgte Sulfurus zwischen seinem halb zerkauten Sonnenblumenkernbrot hervor. „Ich komme mit!“ Doch gerade als er aufspringen und seinen Rucksack greifen wollte, legte sich die Hand seines Bruders schwer auf seine Schulter und drückte ihn herunter, zurück auf seinen Platz am kleinen Esstisch. „Nein, das wirst du nicht“, erklärte Merkurius ruhig und sah ihn mit durchdringendem Blick an, der ihm wohl etwas hätte sagen sollen, doch er verstand nicht. „Warum nicht? Ich muss doch ohnehin in die Richtung, wenn ich zum Treffpunkt für unseren Ausflug will!“ „Tu einfach, was ich dir sage, Sulfur.“ „Also ich finde, du könntest deinen Bruder ruhig mitnehmen“, mischte sich ihre Mutter ein und verschränkte die Arme vor der Brust, was bei Müttern nie ein gutes Zeichen ist. „Er ist erst zehn und der Weg ans andere Ende des Dorfes ist nicht gerade kurz.“ Merkurius hatte sich bereits seine Tasche umgehängt und die Hand auf die Klinke der Haustür gelegt. „Er wird ihn schon alleine finden, Mutter. Er ist nicht dämlich.“ Und noch bevor Sulfurus sich so recht entschieden hatte, ob das nun als Kompliment zu verstehen war oder doch eher nicht, war der blonde Junge auch schon durch die Tür hinaus verschwunden und ließ eine verblüffte Mutter zurück, die sich fragte, seit wann ihr Sohn sich ihr so schamlos widersetzte. „Was ist in letzter Zeit nur los mit ihm, er hat sich so verändert…“ „Das nennt man Pubertät, Mama, und es kommt in den besten Familien vor.“ So gelassen, wie er vor seiner Mutter tat, sah Sulfurus die Sache ganz und gar nicht. Natürlich waren auch ihm die Veränderungen an seinem großen Bruder aufgefallen, wahrscheinlich sogar noch viel früher als irgendwem sonst, denn immerhin teilten sie sich dasselbe Schlafzimmer. Und eins konnte der Menschenjunge mit Sicherheit sagen: Wenn es eins nicht war, das diesen Prozess in dem attraktiven Blondschopf ausgelöst hatte, dann war es die Pubertät. Nein, diese Phase hatte er lange hinter sich gelassen. Noch dazu hätte er sich wohl kaum von solch banalen Gefühlsschwankungen mitreißen lassen, korrekt und reserviert wie er von Natur aus war. Aber was war es dann? Sulfurus war nicht entgangen, dass mit den psychischen Veränderungen seines Bruders auch physische einhergingen. So war Merkurius, der ohnehin eher zierlich gebaut war, in letzter Zeit geradezu dürr geworden, seine Wangen waren eingefallen und unter seinen Augen lagen dunkle, für sein Alter völlig untypische Schatten, die er offenbar zu reduzieren versuchte, indem er jeden morgen zum Bach hinunter ging und seinen Kopf in das eiskalte Quellwasser tauchte. Es funktionierte nicht wirklich. Sulfurus wusste nicht, ob seiner Mutter all diese Dinge entgangen waren, oder ob sie sie lediglich ignorierte, weil sie nicht wahr haben wollte, dass mit ihrem Sohn etwas nicht stimmte, doch vorsichtshalber mied er dieses Thema wann immer es ihm möglich war. So beeilte er sich auch jetzt zu seiner Tasche und dann endlich ebenfalls aus dem Haus zu kommen, musste aber sehr zu seinem Missfallen feststellen, dass er seine Robe im Schlafzimmer liegen gelassen hatte. Wortlos und schon denkbar schlecht gelaunt für die frühe Uhrzeit stürmte er die Treppenstufen hinauf und in das recht geräumige Zimmer am ende des Flures, in dem sein Futon und der seines Bruders noch immer auf dem Boden lagen. Viele Möbel gab es hier nicht, nur einen Schreibtisch und einen Kleiderschrank, dazu zwei Stühle und eine kleine Kommode für Bücher, Schreibfedern und sonstigen Kleinkram. Wahrlich, sie besaßen nicht viel – und doch herrschte in dem spartanischen Raum ein heilloses Durcheinander. Eilig begann Sulfurus sich durch Berge von Klamotten, Papier und nicht gemachten Hausaufgaben – das waren seine! – zu wühlen, doch seine dunkelrote Wanderrobe blieb unauffindbar. Sie hing weder im Kleiderschrank an der Stange noch hatte er sie über die Stuhllehne geworfen, sie flog nicht auf dem Boden herum und lag auch nicht zerknittert in irgendeiner Ecke. Der Menschenjunge fluchte und ließ sich niedergeschlagen auf seinen Futon fallen. Heute war einfach nicht sein Tag. Und dabei war es erst kurz vor Acht! Eine Möglichkeit gab es noch: Vielleicht war seine Robe vom Bügel gerutscht und auf den Boden des Schrankes gefallen – dort hatte er immerhin noch nicht nachgesehen. Sulfurus ließ sich seufzend auf alle Viere fallen und krabbelte auf den geräumigen Kleiderschrank zu, schob die Tür auf und begann sich am Boden entlang zu tasten. Dort lagen ihre Ersatz-Futons und Schlafgewänder sowie einige Laken und Decken, nichts Ungewöhnliches also und schon lange keine dunkelrote Wanderrobe. Sulfurus wollte seine Arme gerade zurückziehen, als er mit der rechten Hand in all dem weichen Stoff an etwas Hartes stieß, etwas Viereckiges. Neugierig zog er es aus der Dunkelheit des Schrankbodens hervor und ließ es vor sich auf den Boden fallen. Ein Buch. Und nicht nur irgendein Buch. Er kannte es – natürlich – denn jeder in Zamonien kannte es. Sein Ruf eilte ihm voraus, es war ein Nachschlagewerk gleich dem Lexikon des Professor Nachtigaller, mehr noch, es war eine Bibel, und dann doch eine, von der man sich besser fern hielt: „Alchimie“ von Zoltepp Zaan. Sulfurus saß auf seinem Futon und wartete darauf, dass sein Bruder das Zimmer betrat. Versteckt hinter seinem Rücken lag das ominöse und für einen Menschen vollkommen unsittliche Buch, das er am morgen vor der Schule gefunden, danach allerdings sofort wieder versteckt hatte, um es vor ihrer Mutter geheim zu halten. Inzwischen war es Abend geworden. Der jüngere der beiden Brüder brauchte nicht lange zu warten, denn schon wenige Minuten später schob sich die Tür auf und Merkurius wankte gähnend über die Schwelle. Er ließ erst seine Tasche und dann sich selber auf den Boden fallen und reckte sich ausgiebig. „Oh Götter, was für ein anstrengender Tag!“ Sulfurus reagierte nicht, sondern starrte ihn nur mit ernstem Blick an, was der Ältere nach einer Weile dann doch etwas seltsam fand. „Was ist los? Was guckst du so?“ „Verheimlichst du uns etwas? Mir und Mutter?“ Merkurius ließ die Schultern hängen und legte fragend den Kopf schief. „Was meinst du?“ Sulfurus war im Moment nicht im Geringsten dazu aufgelegt, irgendwelche Spielchen zu spielen, also holte er das gefundene Buch hinter seinem Rücken hervor und warf es seinem Bruder vor die Füße. „Ist das deins?“ Der zierliche Blondschopf hob den Folianten hastig auf und presste ihn sich an die Brust, als hoffe er, ihn so vor den Blicken des Anderen verbergen zu können. „Na und?“, fauchte er. „Darf ich jetzt keine Bücher mehr besitzen?“ Sulfurus sprang auf. „Aber doch nicht so ein Buch!“, rief er aufgebracht und merkte am Rande, wie er wild mit den Armen zu gestikulieren begann. „Wir sind Menschen, Merkur, du bist ein Mensch! Alchimie ist für uns tabu! Und selbst wenn sie es nicht wäre: Sie ist gruselig und gefährlich! Ich weiß beim besten willen nicht viel darüber, aber das weiß ich dann doch: Zoltepp Zaan war ein Verrückter! Das sagen alle!“ Nun richtete sich auch Merkur auf, langsam und bedacht und mit dem Buch immer noch fest vor seiner Brust. Als er seinem Bruder in die Augen sah, lag viel Bitterkeit in seinem sonst so sanften Blick. „In einem Punkt hast du Recht, Sulfur“, sagte er leise und seine Stimme zitterte kaum merklich. „Du hast tatsächlich keine Ahnung. Du lebst jeden Tag mit der Gewissheit einmal mit Schwert und Schild durch die Gegend zu stolzieren und der Held deines Dorfes zu werden. Und das ist in Ordnung, denn offensichtlich macht dich dieser Gedanke glücklich. Für mich aber gibt es einiges mehr zwischen Himmel und Erde als das richtige Spannen einer Armbrust, auch wenn das für die vielleicht schwer nachvollziehbar ist.“ Dann ließ er plötzlich das Buch sinken und begegnete Sulfurus ganz offen. „Aber es ist ohnehin egal, denn schon morgen früh werde ich nicht mehr hier sein.“ Sein jüngerer Bruder starrte ihn verständnislos an. „Wie meinst du das?“ Merkurius klappte den Deckel des in schweres Leder gebundenen Buches auf und zog ein stück Pergament daraus hervor. „Ich habe mich an der Akademie von Gralsund beworben und vor ein paar Tagen die Zulassung erhalten. In einer Woche beginnt das Semester und da ich mich noch nach einer Bleibe umsehen muss…“ Sulfurus hatte das Gefühl, man hätte ihm von jetzt auf gleich die Luft zum Atmen genommen, und er musste sich anlehnen. „Das ist nicht dein Ernst!“ „Mein voller Ernst!“ Nein, das darf er doch nicht tun!, dachte Sulfurus im kindlichen Trotz. Ich muss ihn aufhalten! Es muss doch einen Weg geben ihn aufzuhalten! „Wie… wie willst du das denn bezahlen? Gralsund ist viel zu teuer! Wir sind arm wie Kirchenmäuse, das weißt du selber!“ Nun huschte fast so etwas wie ein Lächeln über Merkurius’ jugendliche Züge. „Du hast folglich doch nicht all meine Verstecke gefunden. Denn hättest du, wüsstest du jetzt auch, dass ich bereits über ein ganz beträchtliches Vermögen verfüge. Ich habe gearbeitet. Die letzten eineinhalb Jahre, wenn du es genau wissen willst. Und außerdem bekomme ich ein Stipendium!“ In Sulfurus’ Kopf rasten die Gedanken wild durcheinander. Das dürfte doch alles nicht wahr sein! Das war doch nicht sein Bruder – sein ehrlicher, offener und aufrichtiger Bruder – der da vor ihm stand! „Du hast gearbeitet? Und wann? Du warst doch nie weg!“ „Zumindest nicht so, dass ihr es bemerkt hättet. Nachts habe ich gearbeitet. Und tagsüber, wann immer ich es mir leisten konnte von der Schule fern zu bleiben.“ Dann wurde Merkurius’ Blick auf einmal wieder ganz sanft und er ging auf seinen Bruder zu, hockte sich vor ihm hin, um auf einer Augenhöhe zu sein, und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Hör zu, mein Keiner. Seit ich denken kann, träume ich davon ein Alchimist zu werden. Ich bin mir sicher, dass wir eines Tages all die schönen Dinge um uns herum – Sonne und Regen, Gewitter und Stürme, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang – verstehen und erklären können. Und wahrscheinlich noch so vieles mehr, das unsere Welt um ein vielfaches besser machen wird. Ich möchte ein Teil dieses Prozesses sein, meinen Fingerabdruck in den Büchern der Naturwissenschaft hinterlassen, wenn auch nur ganz klein und irgendwo am untersten Rand einer Seite. Denkst du, du kannst versuchen, das zu verstehen?“ Denken konnte Sulfurus im Augenblick nur eins und das war, was ihre Mutter wohl dazu sagen würde. Würde sie wütend sein? Wahrscheinlich eher enttäuscht und traurig. Und für ein Kind, das seine Eltern liebt, war es bei Weitem die schlimmste Form der Strafe zu sehen, wie all die Hoffnungen und Träume der eigenen Mutter zerbrachen. Es war dieser Ausdruck in den Augen, der einem genau sagte, dass man gerade etwas zerstört hatte, was nicht so leicht wieder zu kitten war. Vielleicht gar nicht mehr. Sulfurus liebte seine Mutter. Aber seinen Bruder liebte er auch und das machte die ganze Sache ja so schwierig. Er konnte ihm nicht in die Augen sehen. „Willst du wirklich gehen? Steht deine Entscheidung fest?“ Merkurius nickte. „Das tut sie. Und schon lang. Es tut mir leid, dass ich dich und Mutter verlassen muss, aber anders geht es nicht. Ich hoffe nur, dass sie eines Tages begreifen wird, warum ich mich so entschieden habe. Du musst ihr dabei helfen, kleiner Bruder, ich verlasse mich auf dich.“ Sulfurus verzog das Gesicht. „Kannst du nicht mit etwas Kleinerem anfangen sie zu schocken? Du könntest dich zum Beispiel als schwul bekennen. Wenn du Glück hast, schmeißt sie dich dann ohnehin raus.“ Die Brüder sahen sich an und lachten und für einen Moment war Sulfurus’ Welt wieder in Ordnung. Der Moment war kurz. „Und du willst wirklich schon heute Nacht gehen?“ Wieder ein Nicken. „Meine Sachen sind gepackt und das Pferd steht für mich gesattelt im Stall. Für mich gibt es kein zurück mehr.“ Sulfurus begriff, dass er seinen großen Bruder ziehen lassen musste. Offenbar hatte er sich die ganze Alchimisten-Sache wirklich in den Kopf gesetzt und war es nicht nur gut und richtig seinen Träumen nachzujagen? Und so wie es aussah hatte der Blondschopf tatsächlich Erfolg darin, wie er eigentlich in allem Erfolg hatte, was er anfing. Warum ihm also keine Chance geben? Ob seine Mutter das genau so sehen würde, wusste er nicht, doch vielleicht war dies der Berüchtigte Moment, in dem Jugendliche sich von ihren Eltern lossagten, um selbst in die Welt aufzubrechen. Davon hatte er zumindest schon viel gehört. „Beantworte mir nur noch eine Frage…“ Merkurius sah auf. „Ja?“ „Wenn ich nicht durch Zufall heute das Buch gefunden hätte, hättest du mir dann gesagt, dass du gehst?“ Der Ältere ging auf Sulfurus zu, legte ihm die Arme um den Hals und zog ihn zu sich heran. Dann zerwuschelte er ihm das ohnehin schon recht zottelige, dunkelblonde Haar und küsste ihn federleicht auf den Scheitel. „Versprich mir, dass du deinen Weg gehen wirst, egal was passiert. Tust du das, Kleiner?“ Sulfurus war aufgeregt. Mit leuchtenden Augen betrachtete der Vierzehnjährige die riesenhaften Gebäude, Fabriken und Handelszentren um sich herum. Alles qualmte, quietschte und fauchte vor sich hin, wie ein einziges, riesenhaftes Tier, es atmete, keuchte, lebte und all die Bewohner und emsigen Arbeiter waren seine Parasiten, Schmarotzer, die ihm im Fell hockten und ihm das Blut aussaugten, um selber überleben zu können. Hier war nichts grün, nichts bunt, alles hatte Metallfarben und war aus Metall, die Türme und Straßen, die Zäune und Karren. Und sogar der eine oder andere Bürger schien die glänzenden Elemente nicht nur am Körper zu tragen, sondern ganz und gar aus ihnen zu bestehen. Wohin man auch sah gab es schwere Industrie, Öl klebte an allen Wänden und fast jeder Gegenstand war von Rost überzogen. Das also war Eisenstadt. Sulfurus hatte sich riesig gefreut, als er vor einigen Wochen die Einladung von seinem Bruder erhalten hatte, ihn doch einmal an seinem neuen Wohnort zu besuchen, nachdem sie sich ja nun immerhin schon knapp vier Jahre nicht mehr gesehen hatte. Der inzwischen Einundzwanzigjährige hatte seine Ausbildung in drei Jahren summa cum laude abgeschlossen und war danach in die Stadt der Metalle gezogen um dort mit selbigen zu experimentieren. Er hatte Sulfurus in seinem Brief erklärt, was genau er machte, doch der hatte nicht ein Wort verstanden. Aber er durfte ihn sehen und das war sowieso viel wichtiger. Schnell war ein Termin gefunden und nun, ja, nun stand Sulfurus in dieser verrückten Industriestadt und staunte sich sprichwörtlich die Augen aus dem Kopf. Als Merkurius schließlich am Treffpunkt ankam, um ihn abzuholen, hätte sein jüngerer Bruder in beinahe nicht erkannt. Denn der, der da auf ihn zu geschritten kam - würdevoll und sanft lächelnd - war längst nicht mehr der frühreife Junge, der einst sein Heimatdorf verlassen hatte, um seinen Träumen nachzujagen. Nein, die Person, die jetzt dort, wenige Zentimeter vor Sulfurus zum Stehen kam, war ein erwachsener Mann, daran bestand kein Zweifel. Er betrachtete seinen Bruder von oben bis unten, studierte ihn von unten bis oben und konnte es doch nicht fassen, so unglaublich erschien ihm diese Veränderung. Sie beide entstammten einer bäuerlichen Siedlung und dementsprechend war auch ihre Bekleidung stets einfach und zweckmäßig gewesen, jetzt allerdings hüllte sich der attraktive Menschenmann in ein weinrotes Gewand mit goldfarbenen Applikationen und Verzierungen - das ihm ausgesprochen gut stand, wie sein Gegenüber dann doch zugeben musste - und trug auf dem Kopf einen dieser Hüte, schwarz und mit großen Rabenfedern verziert, die Sulfurus bis jetzt nur auf den wenigen Bilder gesehen hatte, die man ihnen in der Schule von Alchimisten gezeigt hatte. Darunter hervor wallte langes, weizenblondes Haar, das knapp über den Schultern zu einem losen Zopf gebunden war und seinem Besitzer weit den Rücken hinunter reichte. Aber das Beste, fand Sulfurus, das Beste war definitiv das dezente Ziegenbärtchen, das nun das Kinn des Älteren der beiden Brüder zierte und ihm dieses gewisse Etwas verlieh, das der Vierzehnjährige aus irgendeinem Grund mit "verrückter Wissenschaftler" verband. Es gefiel ihm. Wortlos fielen sich die beiden um den Hals und standen so einige Zeit lang unbewegt da, eingehüllt in die Frede endlich wieder jemanden in die Arme schließen zu können, den man nun schon über Jahre vermisst hadre. Sulfurus für seinen Teil war überglücklich, doch als er endlich von nahem in Merkurius Gesicht sehen konnte, lächelte dieser nicht. "Mutter ist nicht hier, nehme ich an?" Der Jüngere schüttelte in nun ebenfalls etwas gedämpfter Stimmung den Kopf. "Nein. Sie sagte, sie könne es nicht ertragen, dich zu sehen…" "Und ich kann sie verstehen", sagte Merkurius leise und tastete mit der Hand nach seinem Pferdeschwanz. "Es muss schlimm für sie gewesen sein." "Das war es." Die Brüder schwiegen einige Sekunden lang, dann raffte sich der Besuchte zusammen, fasste Sulfurus am Arm und zog ihn hinter sich her, während er einen Weg in den Norden der Stadt einschlug. "Nun komm, ich will dir alles zeigen! Meine Wohnung, mein Labor und sowieso die ganze Stadt! Hier ist alles so unglaublich, wir werden Tage brauchen!" Sie verbrachten den gesamten restlichen Nachmittag damit durch Eisenstadts endlose, finstere und überfüllte Straßen zu wandern, Maschinen und Gebäude zu bewundern oder sich vor ihnen zu gruseln und Kreaturen nachzustarren, die eine perfekte Symbiose mit ihrer Umwelt darzustellen schienen, Wesen mit metallenen Körpern und Gesichtern aus beschlagenem Kupfer, aus dessen Münden es rauchte und Qualmte und denen Öl aus Knien und Ellenbogen tropfte. Sulfurus konnte sich gar nicht satt sehen an all diesen Wunderlichkeiten, die ein Bauernjunge wie er im Normalfall niemals zu Gesicht bekommen hätte, nicht einmal in seinen Träumen. Besonderes Interesse wecke in ihm eine kleine Fabrik, die Geräte herstellte, welche ein wenig an riesige Vögel erinnerten und mit denen man, so schwärmte Merkurius, eines Tages würde fliegen können, auch wenn man keine Schwingen besaß. Sulfurus erklärte ihn für verrückt. Lachen mussten sie beide, als sie vor einem winzigen Bäckerladen standen, der inmitten von Schwerindustrie und Metallverarbeitung schon ein sehr skurriles Bild abgab mit seinen bunten und Zucker überzogenen Auslagen, den Kuchen und riesenhaften Torten, von denen eigne ganz herrlich dufteten. Sie kaufen sich jeder ein kleines Gebäck mit so viel Schokolade, Marzipan und bunten Streuseln, wie nur irgendwie auf den süßen Teig passte, und aßen es munter wie kaum jemand in dieser trostlosen Stadt auf einem hervorstehenden Rohr sitzend, während sie dem dumpfen Schlagen der allgegenwärtigen Maschinen lauschten. Als schließlich die Dämmerung über die Stadt hinein bracht - was, faktisch gesehen, nicht wirklich etwas an der Lichtstimmung änderte - führe Merkurius seinen jüngeren Bruder schließlich in seine Bleibe, ein Zimmerchen in einem der heruntergekommenen Hinterhöfe der sowieso schon relativ schäbigen Stadt. Sulfurus war entsetzt. Nicht nur, dass diese Unterkunft einfach winzig war, sie stank auch noch erbärmlich nach Schwerölen und Metallverarbeitung, deren Dämpfe durch das zerbrochene Fenster hinein aber seltsamerweise nicht wieder hinaus zu wabern schienen. Rost kroch die schlecht verlöteten Wände empor und von der Decke tropfte eine Flüssigkeit, von der man nur hoffen konnte, dass sie Wasser war. In einem kleinen Schrank hingen mehrere, dann doch recht teuer aussehende Roben und Hüte, doch das wackelige Bett in der hinteren Ecke des Raumes war fleckig und abgewetzt und sah auch sonst nicht sonderlich gesund aus. Sulfurus wirbelte zu seinem Bruder herum, der nach ihm das Zimmer betreten hatte. "Hier lebst du?", fragte er ungläubig. "Das ist ja… furchtbar!" Diese Worte mochten für Merkurius recht verletzend sein, doch dem Vierzehnjährigen fiel beim besten Willen keine andere Umschreibung für diese erbärmlichen Lebensumstände ein. Es grenzte an ein Wunder, dass der junge Alchimist sich offenbar noch recht guter Gesundheit erfreute. Merkurius schob sich an seinem Bruder vorbei und ließ sich auf das Bett fallen, das unter der plötzlichen Belastung bedrohlich quietschte. "Ja, irgendwie schon, du hast recht", gab er zu, grinste dabei aber recht selbstbewusst. "Es ist allerdings nur vorübergehend. Meine alte Wohnung musste ich kürzlich verkaufen." Sulfurus setzte sich nun ebenfalls, wobei er aber den Fußboden vorzog. Der sah zwar nicht wirklich sauber aus, schien dafür aber relativ stabil. "Wieso das? Gab es Probleme?" "Das nicht wirklich…" Merkurius zögerte. "Sagen wir, ich brauche in nächster Zeit eine etwas größere Summe Geld und da kam mir das recht gelegen…" "Du brauchst Geld? Wofür das? Ist es für deine Arbeit?" Der Anflug eines Grinsens huschte über die Züge des blonden Menschenmanns. "Na ja…" Sulfurus verdrehte die Augen und schlug seinem großen Bruder spielerisch auf den Oberschenkel. "Nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Was ist los?" Merkurius erhob sich wieder von der schmuddeligen Matratze und trat ans zersplitterte Fenster, wobei sich das Grinsen auf seinem Gesicht deutlich verbreiterte. "Wie soll ich sagen…", begann er, zögerte dann erneut und fuhr sich verlegen mit der Hand über den Hinterkopf. "Na ja…" "Nun sag schon!!" "Schon gut, schon gut!" Merkurius holte tief Luft. "Also… es… es gibt da ein Mädchen. So." Sulfurus konnte nicht anders - er lachte laut auf, sodass sich sein Bruder überrascht zu ihm herumdrehte. "Was gibt es da zu lachen?" Der jüngere der Beiden wischte sich eine Träne aus dem Auge und versuchte verzweifelt sein Gelächter herunter zu schlucken. "Das, haha, das ist doch - oh Götter, ich dachte schon, sonst etwas wäre los! Dabei hast du nur eine Freundin! Himmel, du bist einundzwanzig, ich würde mir mehr Sorgen machen, wenn dem nicht so wäre!" Dann stand auch er auf und legte seinen Arm um Merkurius Schultern - so weit er eben konnte, denn der Alchimist überragte ihn um gut einen Kopf. "Aber sag mal… das muss ja eine ziemlich teure Braut sein, wenn du ihretwegen deine Wohnung verkaufst:" Er grinste. Doch sein Bruder schüttelte den freundschaftlich-zutraulichen Arm ab. "Nein, so ist das nicht. Es ist mehr so, dass… Nun, faktisch gesehen bin ich noch nicht wirklich mit ihr zusammen." "Ah, daher weht also der Wind, du willst sie mit teuren Geschenken beeindrucken", schlussfolgerte Sulfurus. "Aber denkst du nicht, dass das der falsche Weg ist, so etwas anzufangen?" "Nein, ich…" Merkurius seufzte. "Okay, hör zu, ich erzähle dir die ganze Geschichte. Das Mädchen, das ich meine… nun, wie es die Götter wollen ist sie die Tochter eines der richtig hohen Tiere der Stadt, einem Menschenmann, der es im Metallgeschäft richtig zu etwas gebracht hat. Ich habe sie bis jetzt nur ein paar Mal von weitem gesehen aber schon als ich ihr das erste Mal in die Augen sah war mir klar, dass sie die Eine, die Einzige für mich ist, auch wenn das vielleicht etwas verrückt kling. Lange glaubte ich, als keiner Wissenschaftler niemals eine Chance bei ihr zu haben, bis ich davon hörte, dass ihr Vater einen Wettbewerb ausgeschrieben hat, um einen Ehemann für seine liebreizende Tochter zu finden, der ihn gleichzeitig eines Tages beerben sollte. Natürlich war mir sofort klar, dass ich keine andere Wahl habe, als an diesem Wettstreit teilzunehmen. Und daher habe ich beschlossen, meine recht ansehnliche Wohnung zu verkaufen, um den zur Teilnahme erforderlichen Betrag von einhunderttausend Pyras aufbringen zu können." "Einhunderttausend Pyras?", rief Sulfurus aus und pfiff anerkennend. "Das ist in der tat eine teure Braut, mein Lieber!" Merkurius lächelte verschmitzt. "Was soll ich tun? Ich bin nun mal verliebt." "Und der gleiche Idiot mit dem Kopf in den Wolken, der du schon immer warst." Sulfurus genoss die Woche, die er bei seinem großen Bruder verbrachte, wie kaum etwas zuvor in seinem Leben. In den letzten Jahren war das Wohnen in einem Haus mit seiner Mutter eine einzige Tortur geworden, denn weil sie bereits von einem ihrer Söhne in Sachen Zukunftsvorstellung enttäuscht worden war, erwartete sie nun von ihrem zweiten Sprössling umso perfektere Leistungen, auch wenn der dazu überhaupt keine Lust hatte. Und so war es für ihn geradezu ein Segen, endlich einmal frei von jeglicher mütterlicher Kontrolle sein zu können, lange aufzubleiben, zum Frühstück Eis zu essen und all das zu tun, was man als Junge schon immer einmal tun wollte. Die Tage vergingen wie im Flug. Am letzten Abend dann lagen sie zusammen auf ‚ihrem Dach’, wie sie es nun nannten. Es war das Dach eines der höheren Gebäude der Stadt - wenn auch längst nicht das höchste - und man hatte einen recht schönen Blick auf die umliegenden Fabriken und Straßen. Doch das einmalige hier war, dass man, wenn der Wind günstig stand, manchmal, ganz manchmal das Glück hatte, dass der dichte Dunstschleier über der Stadt aufriss und man die Sterne sehen konnte. Diese, ihre letzte Nacht war eine solche, seltene Nacht und das weiße Licht der fernen Sonnen stimmte Sulfurus melancholisch. Er beobachtete das, was laut Merkurius der große Wagen genannt wurde, und zeichnete seine Form mit dem Finger nach. "Was denkst du, wie dein Leben weiter gehen wird?" "Hm?", machte Merkurius und warf seinem kleinen Bruder einen kurzen Blick zu. Dann sah auch er wieder auf zu den Sternen. "Na ja… wenn es so laufen sollte, wie ich es mir wünsche… Ich würde Floria so schnell wie möglich ehelichen und dann mit ihr aus dieser hässlichen Stadt verschwinden, egal was ihr Vater dazu sagt!" "Floria?" "Ja, das Mädchen von dem ich immer sprach. Hatte ich ihren Namen noch nicht erwähnt?" "Nein, das hattest du nicht." "Oh…" Merkurius schwieg einige Sekunden und sagte dann leise: "Ich würde sie 'meine Blume' nennen…" Sulfurus schnaubte einen Lacher. "Götter, bist du kitschig!" "Was dagegen?" Der junge Alchimist verzog das Gesicht. "Warte erstmal, bis du verliebt bist! Dann hast du auch solche Gedanken!" "Sich zu verlieben heißt nicht seine Männlichkeit aufzugeben, Kumpel!" Dieser Kommentar brachte dem vorlauten kleinen Bruder einen saftigen Schlag in die Rippen ein, der ihn aufkeuchen ließ und sie beide zum Lachen brachte. "Und danach? Was machst du, wenn du mit deiner Blume in fremde Gefilde geflüchtet bist, sein Vater dich zum Vogelfreien hat erklären lassen und dich zum Abschuss freigibt?" "Forschen", antwortete Merkurius ohne nachzudenken und ohne weiter auf Sulfurus' Sticheleien einzugehen. "Es gibt so vieles auf dieser Welt, das ich verstehen möchte. Ich möchte alles wissen, einfach alles! Jede noch so kleine Kleinigkeit. Ich werde alles katalogisieren, von der kleinsten Ameise bis hin zum Bollogg-Gehirn. Und ich werde nicht eher ruhen, bevor ich auch ihn endlich gefunden habe!" Sulfurus blinzelte. "Ihn?" Aus Merkurius' Richtung kam ein sanftes Lachen, kurz und beinahe zärtlich. "Den Stein der Weisen. Ich möchte der Alchimist sein, der es schafft – derjenige, der Metall zu Gold macht." Das war der Moment in dem sich Sulfurus mit der Hand vors Gesicht schlug. "Gut, bis vor zwei Sekunden habe ich dir abgenommen, was du gesagt hast. Ich dachte: Meine Güte, mein Bruder ist tatsächlich ein Visionär! Jetzt weiß ich: Du bist einfach nur durchgeknallt." "Na vielen Dank, dass du an mich glaubst!" "Immer wieder gern, Bruder, immer wieder gern!" Sulfurus würde niemals vergessen, was die letzten Worte gewesen waren, die er zu seinem großen Bruder gesagt hatte. Es war der Morgen seiner Abreise aus Eisenstadt gewesen und nachdem sie sich herzlich umarmt hatten, hatte er ihm einen Schlag auf den Rücke verpasst und gesagt, er solle sich auf dem Wettbewerb nicht unterkriegen lassen, die Konkurrenz platt machen und sich die Braut schnappen. Ja, genau das waren seine Worte gewesen. Und an jenem Tag, an dem es soweit sein sollte, konnte der Vierzehnjährige sich kaum auf seine Schulaufgaben konzentrieren, so sehr war er mit den Gedanken bei dem verliebten Alchimisten, wünschte ihm im Geiste alles Gute und feuerte ihn an. Und eigentlich war er sich auch sicher, dass niemand anderer als sein Bruder diesen Wettbewerb gewinnen konnte. Wer sonst sollte seine Fähigkeiten, sein Geschick haben. Und wer sonst sah bitte so verboten gut aus? Dann, eine Woche später kam dieser Brief. Dass etwas nicht stimmen konnte, wurde Sulfurus recht schnell klar, als er an diesem Tag von der Schule nach Hause kam und seine Mutter weinend am Küchentisch sitzend vorfand. Vor ihm auf der bunt bestickten Tischdecke lag ein entfaltetes Blatt Papier, das der Junge nahm und überflog, dann wieder sinken ließ und fassungslos ins Leere starrte. Das konnte nicht sein! Völlig unmöglich! Noch einmal las Sulfurus die so widersinnig erscheinenden Zeilen und es erschien ihm wie ein schlechter Scherz, ein makaberer Streich, den ihnen irgendwer spielte – wer auch immer das sein mochte... … müssen Ihnen leider mitteilen, dass Merkurius von Midgard am vergangenen Montag unter tragischen Umständen im offenen Gefecht gefallen ist… wünschen Ihnen herzlichstes Beileid… in tiefster Trauer… Der Junge ließ das Papier zu Boden gleiten. Gefecht? Was für ein Gefecht? Etwa die Schlacht in den Midgardbergen? Ein Krieg? Sein Bruder - ausgerechnet sein Bruder - sollte in einem Krieg gefallen sein? Derselbe junge Mann, der nichts mehr verabscheut hatte, als den offenen, mit Waffen ausgetragenen Konflikt, sollte nun eben diesem zum Opfer gefallen sein? Nein! Das war Irrsinn! Es musste eine Verwechslung vorliegen! Sulfurus merkte kaum, wie ihm die Tränen in Strömen über die Wangen liefen und er zu einem Häuflein Elend auf dem Küchenfußboden zusammensank. In seinem Kopf war alles wie vernebelt, er vermochte keinen einzigen klaren Gedanken zu fassen außer: Das kann nicht sein! Das kann einfach nicht sein! Man vergab dem fortgelaufenen Kind sein Vergehen und zelebrierte eine würdige Beerdigung, obwohl nie eine Leiche übergeben worden war, und das ganze Dorf erschien zur gemeinsamen Trauer. Sulfurus selber konnte auch nach einer verstrichenen Woche noch nicht fassen, dass er seinen Bruder niemals wieder sehen sollte, seinen Bruder, der im Leben noch so viel vor gehabt hatte. All diese Pläne, die er für verrückt gehalten hatte - der Stein der Weisen, ein Perpetuum Mobile - plötzlich glaubte er fest daran, dass der junge Alchimist all dies hätte erreichen können, wenn ihm das Schicksal nur die Chance dazu gegeben hätte. Und Floria - was war aus Floria geworden? Hatte er den Wettbewerb um ihre Hand gewonnen? Hatte er sie gefreit? Hatte er es vorgehabt? Hatte er sie noch aus Eisenstadt hinaus und in eine bessere, schönere Welt führen können? Was Sulfurus zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass er beobachtet wurde, dass jemand im Schatten verborgen stand und dem Begräbnis mit verzweifeltem Blick folgte. Jemand, der die Trauer in den Augen seiner Liebsten sah und sich nichts mehr wünschte als ihnen all ihre Fragen beantworten zu können. Doch er konnte nicht, denn sie hätten ihn nicht erkannt. Merkurius von Midgard war tot. Und Succubius Eißpin saß verborgen im Zwielicht der jungen Bäume und beobachtete mit seelenlosem Starren, wie dort, wenige Meter von ihm entfernt, sein Leben zu Grabe getragen wurde. Kapitel 15: Nerven zeigen ------------------------- Sie standen wie eingefroren, ein unbewegtes Bild, so als seien sie nichts weiter als der Fels, der sie umgab. Rumo nach wie vor am Boden, Echo, den Schweif bedrohlich erhoben und den Rücken gewölbt, auf seiner Brust. Daneben Blaubär und zu seiner anderen Seite der herbei geeilte Mythenmetz, deren beider Blicke ungläubig auf dem nun regungslosen Schattentod wenige Meter vor ihnen ruhte. Selbiger starrte wie vom Schlag getroffen zurück, das einzige Lebenszeichen das leichte Zittern der Sense in seiner Hand, die nun, sehr zu Rumos Erleichterung, zu Boden zeigte. Es schien ein Wettstreit zu sein - wer von ihnen konnte sich durch völlige Bewegungslosigkeit am längsten davor drücken, die Situation erklären zu müssen - und weder Mythenmetz, noch Echo oder der Schattentod schienen besonders erpicht darauf zu verlieren. Nach etwas mehr als einer halben Ewigkeit - so empfand es zumindest Rumo - räusperte sich Blaubär schüchtern, löste sich aus seiner Erstarrung und sah mit merklichem Unbehagen zwischen den sich gegenüber stehenden Parteien hin und her. "Ähm… nun, Leute, eine Frage stand im Raum", begann er zögerlich. "Also… was genau wird denn hier nun gespielt? Scheinbar kennt man sich ja untereinander…" Echo fauchte wild. "'Kennen' ist ein ziemlich harmloses Wort für die Tatsache, dass er versucht hat, mich umzubringen!" "Es geschah einvernehmlich!", rief der Schattentod bebend und hielt seine Waffe abwehrend vor die Brust. "Ich habe deine Unterschrift!" "Ich war dem Tode nahe und du hast es schamlos ausgenutzt!" Die Stimme der Kratze überschlug sich unangenehm und mischte sich mit einem kehligen Knurren zu einer aggressiven Disharmonie. "Du hast mich bis zum Schluss betrogen und belogen! Mich und Izanuela! Sie hat dich geliebt und du hast sie getötet!" "Ihr habt mich hintergangen! Ihr wolltet den Vertrag brechen!" "Und du solltest in deinem Scheiß-Schloss verrecken!", brüllte Echo und der Satz hallte dutzendfach von den massiven Höhlenwänden wieder, fegte ihnen allen um die Ohren wie ein eisiger Wind. "Wow", macht Blaubär leise und duckte sich unwillkürlich. Echo steig nun langsam von Rumo herab und ging mit fließenden Bewegungen auf den Schattentod zu. "Verrate es mir", hauchte er dabei gefährlich leise. "Wieso bist du hier? Wie konntest du überleben? Über deinem Kopf ist nicht nur dein Haus, sondern eine ganze Welt zusammen gebrochen, so etwas übersteht kein normaler Mensch." 'Menschen', dachte Rumo. 'Keine Ahnung, worum es geht, aber die machen nur Ärger.' Der Schattentod wich vor der heran schleichenden Kratze zurück. "Woher soll ich das wissen? Ich wurde ohnmächtig kurz nachdem du aus dem Fenster gesprungen warst. Und als ich wieder aufwachte, war ich auf einmal hier!" "Schwachsinn! Was willst du hier? Was ist dein Plan?" "Es gibt keinen Plan!", reif der Bedrängte und warf die Arme in die Luft, sodass die Sense vernehmlich sirrte. "Es gibt überhaupt keinen Plan mehr! Du hast mir alles genommen, schon vergessen?" Echo schnaubte verächtlich. "Soll ich etwa Mitleid haben? Tut mir Leid, aber aus irgendeinem Grund fällt mir eine solche Empfindung dir gegenüber gerade etwas schwer." Rumo fand es ziemlich mutig von der kleinen Kratze, so mit einem Mann zu reden, der noch vor wenigen Minuten recht erfolgreich versucht hatte, sie zu töten. Zwar hatte er bei Echos Anblick aus irgendeinem, dem Wolpertinger völlig schleierhaften Grund augenblicklich inne gehalten, doch das Blut des Bücherjägers tropfte immer noch verheißungsvoll von seiner Sense, was ihn nicht gerade sympathischer machte. "Also", bohrte Echo weiter und wich keinen Millimeter. "Wie kommst du hier her und was, bei allen Dämonen von Hel, willst du hier?" An dieser Stelle hüstelte der bisher stille Mythenmetz nervös und als hätten sie sich gerade erst erinnert, dass der Lindwurm ja auch noch zu den Anwesenden zählte, wandten sich alle Blick mit einem Mal zu ihm. Echo kniff die Augen zusammen und musterte den Schriftsteller scharf. "Was weißt du?", fragte er dann langsam, nun zum ersten Mal offenbar nicht mehr am Schattentod interessiert. "Du bist schon so komisch drauf, seit wir hier herunter gestiegen sind. Hast du etwas mit der ganzen Sache zu tun? Dann gib es hier und jetzt zu!" "Na ja…", wich Mythenmetz aus und sah zur Decke. "Keine Ausflüchte, Reptil." Rumo hätte anerkennend gepfiffen, hätte er noch Kontrolle über seine Gesichtsmuskulatur besessen. Hinter der Fassade beinahe übermäßiger Freundlichkeit und Fröhlichkeit verstecke die Kratze ein hartes, unnachgiebiges Selbst, das immer wieder hervor blitze und klar postulierte, dass mit jenen nicht zu scherzen war, die den Tod gesehen hatten. "Äh, nun gut." Mythenmetz strich sich einmal mehr nervös über die Robe. "Ich denke, ich habe da einiges zu kläre und vor allem zu erklären." Er holte tief Luft und sah in die Runde. "Wenn man es ganz genau nimmt und es mit der Wahrheit wirklich ernst meint, dann… dann könnte es eventuell ich gewesen sein, der den werten Herren dort drüben hier herunter gebracht hat." "Das darf doch alles nicht wahr sein!", stöhnte Echo, als Mythenmetz seinen Bericht beendet hatte. "Ist dir eigentlich klar, was du getan hast, Lindwurm?" "Was hätte ich den machen sollen?", entrüstete sich der Schriftsteller. "Ihn einfach da liegen lassen? Sein wertvolles Gehirn einer Bande von rachelüsternen Bauern überlassen? Sicher nicht!" "Du hättest ihn einfach verscharren können! Irgendwo in der Pampa. Das wäre das beste für uns alle gewesen!" "Wie ich bereits am Rande erwähnte, hat er noch gelebt, als ich ihn fand!" "Na und? Wozu gibt es Spaten?" Blaubär erhob sich von dem Stein, auf dem er bis jetzt gesessen hatte, und trat in die Mitte ihres kurzfristig um Rumo arrangierten, provisorischen Sitzkreises. "Okay, an dieser Stelle möchte ich gerne zwei Dinge anmerken!" "Nur zu", gewährte Mythenmetz großzügig, als besäße er tatsächlich die Autorität für ein solches Zugeständnis. "Erst mal: Habe ich das jetzt alles richtig verstanden? Der da" – der Buntbär deutete auf den teilnahmslos an einer Höhlenwand lehnenden Schattentod - "ist der ehemalige Schrecksenmeister von Sledwaya und dazu Echos vormaliger Meister, der allerdings versucht hat ihn umzubringen. Das geschah mehr oder weniger einvernehmlich, da Echo einen Vertrag unterzeichnet hat, der seinen Meister bevollmächtigte, ihm nach Ablauf einer Frist das Fett auszukochen." Blaubär blickte in die Runde und sah die Kratze und seinen vermummten Meister wortlos nicken. "Äh, gut - oder auch nicht. Auf jeden Fall wurde der Vertrag dann gebrochen, Echo war frei und sein Meister vermeintlich tot." Wieder ein Nicken. "Was Echo dann allerdings nicht wusste, war, dass Mythenmetz gerade in Sledwaya war, das Schloss des Schrecksenmeisters einstürzen sah und selbigen bewusstlos in den Trümmern fand. Aus Angst, das - wie er wusste sehr wohl wusste, denn er kannte ihn schon seit einigen Jahren persönlich – sehr wertvolle Wissen des Alchimisten könnte nach seinem Ableben in die falschen Hände geraten, brachte er den Mann an den seiner Meinung nach einzig sicheren Ort tief in den Katakomben von Buchheim." Dieses Mal nickte der Lindwurm. "Dort - so vermutete Mythenmetz - würde der Schrecksenmeister dann schon sehr bald seinen Verletzungen erliegen und sein gefährliches Wissen wäre weit entfernt von jeder Zivilisation sicher verborgen." Blaubär blickte zwischen Mythenmetz und dem Schattentod hin und her. "Allerdings ist dieser Plan wohl nicht ganz aufgegangen." Der vermummte Mensch schnaubte ein freudloses Lachen. "Das erklärt zumindest, warum ich irgendwann ohne Erinnerung daran, wie ich hergekommen bin, in diesem Drecks-Labyrinth aufgewacht bin." "Es ist passiert, was passiert ist", fuhr Echo unwirsch dazwischen. "Es ist zwar keine Entschuldigung dafür, dass du dich dann einfach auf machst und sinnlos Amok läufst, aber ich schätze, es passt einfach zu deinem Charakter. Was war das zweite, was du anmerken wolltest, Blaubär?" Bei der Erwähnung seines Namens zuckte der Buntbär kurz zusammen, so sehr war er offenbar gefesselt von der verfahrenen Situation. "Äh, ja. Nun… ich weiß ja nicht", er drehte sich um und sah zu dem immer noch am Boden liegenden Wolpertinger herab, "aber sollten wir uns nicht vielleicht langsam mal um Rumo kümmern? Ihn aufheben oder so?" 'Oh vielen Dank', dachte Rumo spöttisch. 'Aber mir geht es gut. Die ersten fünf Sekunden der letzten halben Stunde lag ich sogar fast bequem.' Mythenmetz trat neben den verletzten Krieger, beugte sich herunter und begutachtete ihn eingehend. "Ich frage mich, was ihm fehlt. Er hat sich seit seinem unfreiwilligen Salto nicht bewegt. Und sprechen kann er offenbar auch nicht." Echo kam ihm zu Hilfe. "Ein Nervenschaden, vermutlich", erklärte er "Vielleicht ist etwas mit seiner Wirbelsäule, das wäre allerdings wenig erfreulich." Rumo fluchte innerlich. Er hätte seinen Mitreisenden sehr genau sagen können, was ihm fehlte, und vielleicht auch, wie man selbige beheben konnte, doch das Problem war offensichtlich. Denn natürlich konnte er nicht. "Ich werde ihn mir ansehen", schlug Echo vor. "Vielleicht kann ich etwas tun, ich habe rudimentäre Kenntnisse in Anatomie und Medizin." Der Schattentod lachte kalt. "Und mit deinen kleinen Kratzenpfötchen willst du dann was genau tun? Ihn am Rückenmark operieren? Nun, viel Vergnügen." "Mit Verlaub, haben Sie eine bessere Idee?", fragte Blaubär zurück und verschränkte missmutig die Arme vor der Brust. Es war nicht zu übersehen, dass ihm der Fremde noch immer nicht geheuer war, und Rumo konnte es ihm wunderbar nachempfinden. "In der Tat, die habe", sagte er Schattentod trocken, stieß sich mit dem Rücken von der Höhlenwand ab und ging auf die kleine Gruppe zu. "Folgender Vorschlag", erklärte er. "Ich flicke euren Freund hier wieder zusammen - immerhin war es ja auch mehr oder weniger meine Schuld, dass er verletzte wurde - und danach ziehen wir wieder jeder unseres Weges und vergessen, dass dieses ganze Treffen jemals stattgefunden hat." "Unmöglich!", rief Echo bevor einer der anderen eine Chance zur Antwort bekam. "Ich kann ihn unmöglich einfach ziehen lassen! Er ist ein Monster! Ganz Buchheim fürchtet sich vor ihm!" Der Vermummte zuckte mit den spitzen Schultern und wandte sich ab. "Es ist eure Entscheidung. Eine Operation am offenen Rückenmark unter den hier gegebenen Umständen endet mit fünfundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit tödlich, so viel kann ich euch verraten. Aber wenn ihr es versuchen wollt, nur zu. Ich möchte bloß nebenbei erwähnen, dass ich so etwas schon etliche Male gemacht habe, unser kleiner pelziger Freund hier sein Wissen aber wohl allerhöchstens aus Büchern bezieht, die er - wohl gemerkt - bei mir zu lesen bekam. Nun, wenn ihr dennoch nicht wollt, kann man nichts machen." "Warte!" Mythenmetz sah zu der Kratze hinab. "ich verstehe, wie sehr dir der Gedanke, diese Mann ungeschoren davon kommen zu lassen, widerstrebt, Echo. Aber bedenke unsere Lage. Ohne Rumo sind wir hier unten so gut wie wehrlos. Und wer weiß, ob du ihm tatsächlich helfen könntest. Ich fürchte, wir werden uns auf das Angebot einlassen müssen. Etwas anderes wird uns kaum übrig bleiben, wenn wir hier lebend wieder heraus kommen wollen." Echo schnaubte verächtlich und sah zu Boden. Sagte jedoch nichts mehr. "Also ist es beschlossene Sache?", fragte Blaubär in die Runde. "Rumo wird operiert und im Gegenzug verleugnen wir, dass wir uns jemals begegnet sind? Mythenmetz und der Schattentod nickten. Sie brachten Rumo in eine kleinere Tropfsteinhöhle, die eine geeignete, tischartige Erhebung besaß und legten ihn, vorsichtig und mit der nach allgemeiner Vermutung verletzten Wirbelsäule nach oben, auf selbiger ab. Echo hatte sie nicht begleitet, sondern saß einige hundert Meter entfernt an einem unterirdischen Salzsee, um, wie sich ausdrückte, mit der Situation klar zu kommen. Keiner seiner Kameraden nahm es ihm übel. Was Rumo seinen Mitreisenden allerdings sehr wohl übel nahm, war, dass sie ihn tatsächlich offenbar ganz vertrauensvoll in die Hände jener Kreatur gaben, die noch vor wenigen Minuten versucht hatte, sie alle umzubringen. Sie hatten sich zwar noch einmal bei Echo vergewissert, dass die Aussagen seines Meisters über sein Können auch tatsächlich der Wahrheit entsprachen, doch was garantierte ihnen bitteschön, dass der verrückte Mensch nicht einfach ein Skalpell zückte und ihm die Kehle aufschnitt? In der Vorstellung des Wolpertingers war dieser Gedanke nicht sonderlich abwegig. Doch da er weder eine Chance hatte, seinen Unmut zu äußern, noch etwas daran zu ändern, versuchte er sich möglichst entspannt seinem Schicksal zu fügen. Er schloss die Augen, und wartete auf die Dinge, die da kamen. Unterdessen hatte der, der Succubius Eißpin hieß - man hatte sich auf dem gemeinsamen Weg untereinander namentlich vorgestellt - einige Kerzen aus seinem Umhang zutage befördert, sie um Rumo herum platziert und angezündet. Dann fischte er aus einer Tasche ein zerschlissenes Leder-Etui, löste den Knoten des dünnen Hanfseils, mit dem es umwickelt worden war, und breitete es neben dem Kopf des Wolpertingrs aus. Das Mäppchen enthielt ein blitzendes Sezier-Set - zwei Skalpelle mit auswechselbaren Klingen, mehrere Pinzetten, Seziernadeln, und Lupen und ein Reagenzglas in dem eine durchsichtige Flüssigkeit umher schwappte. 'Ethanol' stand in filigraner Schrift auf dem Etikett. Mythenmetz und Blaubär hielten sich im Hintergrund, gleichzeitig gehalten von dem Anstand, den Operierenden nicht bei seiner Arbeit zu stören, und getrieben von der unweigerlichen Neugierde, die wohl jeden im Anbetracht einer solchen Situation überkommt. So schielten sie aus gebührendem Abstand zu dem Verletzten herüber und zogen dann und wann eine Augenbraue hoch oder bissen sich auf die Unterlippe. Sagten jedoch nichts. „Ich gehe mal davon aus, dass du durchaus noch in der Lage bist, mich zu hören, Wolpertinger“, sagte Eißpin schließlich distanziert und schob die Ärmel seiner Robe nach oben. „Zunächst einmal werde ich deinen Nacken und Rücken abtasten, um herauszufinden, was genau dir fehlt. Es passiert also vorerst nichts dramatisches, falls du dir in der Hinsicht Sorgen gemacht hattest.“ Rumo hörte den ehemaligen Schrecksenmeister tatsächlich nur zu gut. Und ja, er hatte sich Sorgen gemacht und machte sie sich auch immer noch. Abtasten mochte ja ganz in Ordnung sein, doch um die defekten Nervendrähte zu ersetzten, würde der Alte ihn hundertprozentig aufschneiden müssen – wenn er sie denn überhaupt ersetzten konnte, hier Unten herrschte ja nicht gerade ein hoher medizinischer Standard – und dann begann für ihn der hässliche Teil. Leider hatte das Schicksal ihm eine Wahl abgesprochen, und so fügte sich Rumo missmutig. Eißpins dünne Finger legten sich spinnenartig in seinen Nacken und begannen ihn Zentimeter für Zentimeter zu massieren, zuckten jedoch schon nach wenigen Sekunden wieder zurück. „Ah!“ „Was ist?“, fragte Blaubär, der in seiner Neugierde letztendlich doch näher an das Hauptgeschehen gerückt war. „Wissen Sie, was Rumo fehlt?“ Der alte Alchimist lachte kurz. „Allerdings, das weiß ich. Es war auch nicht gerade eine Herausforderung. Hier, sieh!“ Er bog das Nackenfell des Wolpertingers mit den Fingerspitzen auseinander, bis schließlich die dünnen Enden der kupferfarbenen Nervendrähte frei lagen, die Nachtigaller vor einigen Wochen dort eingezogen hatte. „Offenbar wurde sein Rückenmark bereits einmal irreversibel verletzt, sodass es für notwendig befunden wurde, es durch künstliche Leitungen zu ersetzen. Diese Eingriff ist dahingehend problematisch, als dass er meist mangels der notwendigen Kenntnis unsauber durchgeführt wird und die Drähte zu sehr auf Spannung gezogen werden. Folglich reißen solche künstlichen Nerven gerne über kurz oder lang.“ 'Na wundervoll', dachte Rumo grimmig. 'Der verrückte Eydeet mit den sieben Gehirnen hat also gepfuscht. Wie überaus erbaulich!' „Und kann man da etwas machen?“ Die deutliche Sorge in Blaubärs Stimme stimmte den Wolpertinger spontan wieder etwas sanftmütiger. Es war ein schönes Gefühl, einer anderen Person nicht völlig egal zu sein, auch wenn diese einen gerade an einen Psychopathen ausgeliefert hatte. Irgendwie machte es die Sache erträglicher, wenn ein guter Wille dahinter stand. Eißpin zog das Ethanol aus dem Leder-Etui und entkorkte das Reagenzglas. „In der Tat, das kann man. Ich wage sogar zu behaupten, dass ich mit einer der fähigsten Personen bin, an die ihr hättet geraten können, wenn es daran geht, Nerven zu isolieren und neue einzuziehen. Allerdings würde ich sagen, wir verzichten auf dieses fremdartige Draht-Zeug und gehen den natürlichen Weg. Das ist sicherer und hält, nebenbei bemerkt, um einiges länger.“ Mythenmetz verschränkte die Arme vor der Brust. „Den natürlichen Weg? Und wie genau darf ich mir das vorstellen? Soweit ich informiert bin, trägt nicht jeder von uns eine Flasche Rückenmark mit sich herum, Succubius.“ „Das ist mir bewusst, werter Hildegunst“, säuselte Eißpin mit schrecklich süßlicher Stimme. Ein diabolisches Grinsen huschte über seine schmalen Lippen, das selbst unter der Kapuze, die er immer noch trug, deutlichst zu erkennen war, und er wandte sich an die beiden unversehrten Reisenden. „Deshalb würde ich euch jetzt bitten, so freundlich zu sein und mir den unglücklichen Bücherjäger aus der Nachbarhöhle zu bringen.“ Dem Schriftsteller entglitten für einen denkwürdigen Moment die Gesichtszüge. „Du willst... ich meine, du hast tatsächlich vor...?“ „Hast du einen besseren Vorschlag?“ Rumo wurde mit einem Mal furchtbar schlecht. Das erste, was der Wolpertinger empfand, als er wieder zu sich kam, war tiefste Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass Eißpin dann doch ein gewisses Maß an Mitleid mit ihm gehabt zu haben schien und ihm kurz vor dem Eingriff ein Tuch mit einer ominösen Substanz vor die Schnauze gehalten hatte, deren Duft ihn erst betört und dann mit brachialer Gewalt ins Aus befördert hatte. So blieben ihm keinerlei Erinnerungen an das, was in den letzten Stunden – Minuten, ja wie lang eigentlich? - geschehen war, und das war, wenn es nach ihm ging, nicht das Schlechteste, was ihm hätte passieren können. Immerhin lebte er. Wobei das wohl noch zu überprüfen war, denn sonderlich lebendig fühlte Rumo sich im Endeffekt doch eher nicht. Er versuchte, Arme und Beine zu bewegen, was allerdings nicht wirklich funktionieren wollte und ihm erst mal eine Welle der Angst durch den geschwächten Körper jagte. War etwas bei der Operation schief gegangen? Würde er sich womöglich nie wieder bewegen können? Dann folgte aber sogleich die Erleichterung mit der Feststellung, dass er lediglich angebunden war an etwas, das einem Hinrichtungskreuz verdächtig ähnlich sah, wohl aber, so hoffte er, seiner Genesung dienen sollte. Ein ziemlich eindeutiges Anzeichen dafür konnte sein, dass das Kreuz lag und nicht stand. Das war zwar nur eine vage Vermutung, doch Rumo beschloss, fürs erste recht beruhigt zu sein. Das war eindeutig besser für seinen Gesiteszustand. „Ah, du bist wach.“ Eißpin, der offenbar hinter dem Kopfende des Kreuzes gestanden hatte, trat um seinen Patienten herum und musterte ihn eingehend. „Und? Wie fühlst du dich?“ Zeit, das mit dem Sprechen mal wieder zu versuchen, überlegte Rumo und öffnete probeweise das Maul. „Ganz gut, schätze ich“, brachte er schließlich mühsam hervor. Seine Kehle war furchtbar trocken und jetzt, wo er darüber nachdachte, hatte er auch höllischen Durst. „Kann ich -“ Er hustete. „Kann ich vielleicht etwas zu Trinken bekommen?“ Eißpin nickte. „Natürlich.“ Er verschwand und tauchte nur wenige Sekunden später mit einem jener Lederbeutel in den Händen wieder auf, in denen die Gruppe ihr Trinkwasser in die Katakomben transportiert hatte. Vorsichtig setzte er die Öffnung an Rumos Hundelippen. „Heb' auf keinen Fall den Kopf“, mahnte er dabei eindringlich und ließ das Wasser Rumos Rachen hinab tröpfeln. Der schluckte gierig und versuchte, sich an die Anweisung zu halten, was gar nicht so einfach war, wie er feststellten musste. „Ich musste deinen gesamten Rücken öffnen, dementsprechend groß und empfindlich ist auch die Wunde. Dazu dürften sich die neuen Synapsen noch nicht vollständig in dein Zentralnervensystem eingegliedert haben, es ist also Vorsicht geboten.“ Rumo leckte sich den letzten Tropfen Wasser aus dem Mundwinkel und sah Eißpin mit entsetztem Blick an. „Das heißt, ich werde für Wochen, vielleicht sogar für Monate außer Gefecht sein? Das darf nicht sein!“ Der alte Alchimist lachte leise und dem Wolpertinger fiel auf, dass er nun zum ersten mal die Kapuze seines Umhangs abgestreift hatte. Das Gesicht des Menschenmannes wirkte eingefallen und schrecklich erschöpft, tiefe Ringe lagen unter seinen wässrig-blauen Augen, von denen eins blind zu sein schien, und seine Haut hatte die Farbe von kalter Asche. Unzählige, schlecht verheilte Narben zogen sich über das gesamte Antlitz, die von Verbrennungen, Verätzungen und tiefen Schnitten zeugten, und das dünne, zum losen Zopf gebundene Haar, das unter seiner alchimistischen Mütze hervor ragte, war ebenso mausgrau, wie der schlecht frisierte Ziegenbart an seinem spitzen Kinn. Rumo erschauderte. Schön war dieser Mann beim besten willen nicht. Tatsächlich hatte er – ganz nach dem unehrenvollen Spitznamen, den ihm die Buchhaimer gegeben hatten – verblüffende Ähnlichkeit mit dem Sensenmann höchspersönlich, so dürr und klapprig erschien ihm die Gestalt. Wie hatte er im Kampf gegen diese Kreatur verlieren können? Plötzlich erschien Rumo diese ganze Episode nur noch unwirklich, ja geradezu skurril. „Beruhige dich“, sagte Eißpin und riss sein Gegenüber damit aus seinen abdriftenden Gedanken. „Du darfst mir dankbar sein, ich habe dir ein Mittel verabreicht, das den Heilungsprozess auf wenige Tage reduzieren sollte – unter der Voraussetzung, dass du dich in diesem Zeitraum nicht einen einzigen Millimeter bewegst. Hast du das verstanden?“ „Aber wie soll das gehen?“, fragte Rumo aufgebracht. „Wir müssen weiter ziehen! Ich habe ein Versprechen gegeben und die Zeit läuft mir davon!“ „Und genau deshalb befinden sich an den Seiten deines Stützkreuzes auch eigens von mir montierte Trageschlaufen. Deine Freunde sind informiert und haben sich bereit erklärt, dich bis nach Schattenhall zu tragen – was auch immer ihr an diesem verlassenen Ort wollt, man war mir gegenüber nicht sonderlich redselig.“ Rumo biss sich auf die Unterlippe. So erniedrigend diese Art des Reisens auch sein mochte, er schätzte das Angebot seiner Kameraden sehr. Freunde, wie es Eißpin formuliert hatte, würden sie zwar kaum werden, wenn all dies ausgestanden war, doch offenbar konnte man im Zweifel erst einmal aufeinander zählen. Mehr konnte er sich kaum wünschen. Eine Frage drängte sich ihm allerdings dann doch noch auf. „Und was ist mit den Bücherjägern? Ich kann nichts tun, wenn wir einen von ihnen begegnen. Und ob Blaubär alleine damit fertig wird...“ „Das ist alles bereits geklärt“, kam ihm der ehemalige Schrecksenmeister zuvor. „Bis es dir wieder besser geht, werde ich euch eskortieren und Schlimmeres verhindern. Danach haue ich ab und wir sehen einander nie wieder. Das Ganze...“ „...ist nie passiert, schon klar“, beendete Rumo den Satz. „Mir soll es ohnehin egal sein, ich weiß nicht, wer du bist, und ich will es auch gar nicht wissen. Ich weiß nicht mal, ob ich dir für deine Hilfe danken oder dir den Hals umdrehen soll, für den Versuch, mich zu ermorden, das ist schon verwirrend genug.“ „Im Moment reicht es mir schon, wenn du dich aufs Liegen konzentrierst“, kommentierte Eißpin kühl und prüfte noch einmal etwas an Rumos Rücken, das dieser nicht sehen konnte. „Du bist jetzt ein wandelndes Kunstwerk und ich hasse es, wenn man meine Kunst nicht zu würdigen weiß.“ Das klang ein Wenig nach einer Drohung, fand Rumo und schluckte. Vielleicht sollte er wirklich sorgsam mit diesen Ersatz-Nerven umgehen. „Keine Angst, das weiß ich“, erklärte er schnell. „Gut.“ Der alte Alchimist zog mehrere Spritzen mit unterschiedlichsten Substanzen auf, legte sie in ein Etui ähnlich dem, das er für sein Sezierbesteck benutzte, und verschloss dieses dann sorgsam. „Die sind für später. Und nun ruhe dich aus, Wolpertinger. In ein paar Stunden brechen wir auf und dann wird es für dich holprig.“ Es war ein Kraftakt. Mythenmetz übernahm nach einigem Murren und Zetern die rechte Seite des Querbalkens, Blaubär die linke. Echo, der sich vor seinem ehemaligen Meister nur widerstrebend in seiner gewandelten, zweibeinigen Gestalt zeigte, bekam das leichtere, lange Ende des Längsbalkens zu tragen und schritt somit voran. Hinter ihnen ging Eißpin, nun wieder vermummt in seiner Kutte inklusive Kapuze und die Sense poliert und bedrohlich blitzend auf seinem Rücken. Er koordinierte das schlecht gelaunte Tragekommando mit herrischen, einsilbigen Befehlen, die sich meist auf „rechts höher!“ oder „nicht so sehr wackeln!“ beschränkten und nach einer Weile nicht nur Rumo gehörig auf den Geist gingen. Selbiger hatte unterdessen das Gefühl, noch nie in seinem Leben so gedemütigt worden zu sein. Selbst als er sich vor dem gesamten Hohen Rat der Lindwürmer auf sein Brustfell übergeben hatte, hatte er sich würdevoller gefühlt als in diesen Sekunden. Gefesselt an ein Kreuz wie ein Schwerverbrecher auf dem Weg zur Hinrichtung und dem wilden Geschaukel dreier unwilliger Träger ausgeliefert, hatte diese Erfahrung etwas dermaßen surreales, dass es dem Wolpertinger schwer fiel sich klar zu machen, dass all dies wirklich geschah. Dass er sich noch dazu seit etwa einer halben Stunde in übelstem Maße Seekrank – oder besser „Kreuzkrank“ - fühlte, machte die Sache auch nicht so richtig besser. 'Wenn ich jetzt kotze, ersticke ich, bevor es jemand bemerkt', dachte der Getragene bitter. 'Vielleicht sogar erstrebenswert.' Mythenmetz zu seiner Rechten stöhnte theatralisch. „Könnten wir bitte endlich eine Pause einlegen? Meine Arme fühlen sich langsam an, als könnte ich sie demnächst als nutzloses Accessoire hinter mir her ziehen, mehr aber auch nicht.“ „Ich wäre auch für eine Pause“, stimmte Blaubär erschöpft zu und wagte einen Blick hinüber zu Eißpin, der das Gejammer offenbar nicht im Geringsten nachvollziehen konnte. „Nun, wenn ihr weiterhin so schwächlich daher kommt, werden wir nie bei Schattenhall ankommen. Aber wenn ihr unbedingt wollt, dann bitte. Lasst den Hund runter. Aber langsam!“ Mythenmetz, Blaubär und Echo gingen vorsichtig in die Knie, setzten Rumo mitsamt Tragekreuz auf dem Boden ab und schüttelten dann ihre schmerzenden Arme. Knapp drei Stunden waren sie nun schon gewandert und laut dem Schriftsteller würde es noch mindestens zehn weitere Stunden dauern, bis sie die Residenz des Schattenkönigs endlich erreicht hatten. Rumo wusste nicht, für wen diese Nachricht schlimmer war, für ihn oder für seine Träger. „Also, wir brauchen Feuer und etwas Essbares“, kommandierte Eißpin monoton autoritär weiter, nachdem sie alle eine Weile nutzlos in der Gegend herum gestanden hatten. „Ihr drei – seht euch in den umliegenden Höhlen nach möglichen Nahrungsmitteln um, Pilze, Flechten, kleine Tiere, nehmt alles mit, was ihr findet. Aber beleibt auf jeden Fall zusammen!“ Mythenmetz machte ein Gesicht, als war ihm in dieser Sekunde sehr danach, sich einmal darüber auszulassen, dass niemand ihm in seinen Katakomben Befehle erteilte – schon gar nicht ihm, Hildegunst von Mythenmetz! - doch ein lautes Knurren seines Magens betrog seine Absichten, noch bevor er die erste Silbe über die Lippen gebracht hatte und zwang ihn so zur widerstrebenden Kooperation. Folglich trollte er sich leise vor sich hin zeternd mit Echo und Blaubär im Schlepptau aus dem südlichen Höhleneingang in einen Teil der Katakomben, wo sie kurz zuvor ein Fleckchen Stein mit äußerst farbenfrohem Pilzbewuchs gesichtet hatten. Die hatten zwar nicht unbedingt so ausgesehen, als könnte man sie gefahrlos essen, doch vielleicht hob eine daraus gekochte Suppe für eine Weile die Stimmung. Nachdem die Schritte des ungleichen Trios verklungen waren, blieben Rumo und Eißpin allein in der Höhle zurück und während der Wolpertinger eisern einen Punkt an der von Stalaktiten überzogen Decke fixierte, um seine Übelkeit zu bekämpfen, hatte der alte Alchimist ein grünes Pulver aus seinem Mantel gezogen, es kurz zwischen seinen Fingern gerieben und dann auf den Boden geworfen. Nun stand er stumm da und betrachtete das Ergebnis seiner Arbeit: Ein kleines, leise prasselndes Feuer. Dass die Flammen der provisorischen Kochgelegenheit in etwa die Farbe eines Laubwolfgewandes im Frühjahr hatten, wunderte Rumo nicht im geringsten. Immerhin brannten sie ja auch ohne Holz. Eine Zeit lang lauschte Rumo dem beruhigenden Geräusch der Flammen und gab sich ganz der Empfindung hin, die sie ihn ihm auslösten. Denn obwohl er viel zu weit entfernt lag, um etwas spüren zu können, erfüllte ihn allein das Knistern mit einer Ahnung der Wärme, die von den grünen Flammen ausgehen musste. Tatsächlich wurde ihm schon beinahe etwas behaglich zumute und er schloss die Augen, um für einen Moment zu schlafen. Schmerzen hatte er glücklicherweise keine – irgeneins der Mittelchen, die Eißpin ihm stündlich verabreichte, schien ganze Arbeit zu leisten, und eigentlich fühlte er sich auch schon wieder ziemlich fit. Dennoch hielt er es für angebracht, sich an die Anweisungen des ehemaligen Schrecksenmeisters zu halten – das Risiko vielleicht nie wieder in seinem Leben laufen zu können, war eindeutig zu hoch. Rumo öffnete die Augen wieder, als ihm etwas einfiel. So angenehm diese Stille auch war uns so sehr er sich eine ordentliche Mütze Schlaf gewünscht hätte, eine Frage gab es da dann aber doch noch, die ihm auf der Seele brannte und ihm keine Ruhe ließ, seit sie wieder unterwegs waren. „Warum willst du, dass wir das alles hier vergessen?“, fragte er in das Nichts über ihm, nachdem er sich seine Worte genau zurecht gelegt hatte. „Warum hast du uns nicht einfach getötet und bist weiter gezogen, obwohl du sehr wohl die Möglichkeit dazu gehabt hättest? Was hält dich ab?“ Etwas neben ihm raschelte, doch eine Antwort blieb aus. „Ist es wegen Echo?“ „Das geht dich nichts an“, gab Eißpin unwirsch zurück und Rumo konnte an seinen klappernden Schritten hören, dass er sich entfernte. „Aber wenn du ihn damals töten wolltest, wieso tust du es dann jetzt nicht einfach?“ Innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde stand der ehemalige Schrecksenmeister über Rumo gebeugt und hielt ihm seine Sense an den Hals, sodass diesem der Schreck bis in die Pfotenspitzen fuhr. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich davon abhalten zusammen zu zucken und den Kopf schützend zur Seite zu schmeißen. „Bis du wahnsinnig? Was soll das?“ „Hör zu“, hauchte Eißpin ihm gefährlich leise ins spitze Hundeohr. „Das ist mein Leben, mein Problem. Und was ich tue oder nicht tue geht dich einen Feuchten Trompaunenstoß an. Ich hab dich zusammengeflickt, ihr lasst mich ziehen. So war es abgemacht. Keine Fragen, keine Erklärungen. Wir sind uns niemals begegnet und Ende der Geschichte.“ Rumo biss die Zähen zusammen. „Schon gut, schon gut. Und jetzt nimm das verdammte Ding runter!“ Eine weitere, drohende Sekunde presste der Alchimist die Klinge seiner Waffe gegen Rumos Halsschlagader, dann zog er sie mit einem wütenden Ruck zurück und drehte sich weg. Der Wolpertinger entspannte sich langsam wieder und versuchte seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Was, um alles in Zamonien, war das gewesen? Waren seine Fragen wirklich so privat gewesen, dass sie eine solche Reaktion rechtfertigten? Er schloss ein weiteres Mal die Augen. Vielleicht war es einfach noch nicht an der Zeit für Antworten, vielleicht war es einfach an der Zeit für Schlaf. Denn in dieser Sekunde traf es ihn wie ein Hammerschlag: Er war müde, so schrecklich müde, müde, wie er es noch nie zu vor in seinem Leben gewesen war, da war sich Rumo sicher. Bevor seine Gedanken jedoch ins Reich der Träume abdrifteten konnten, rief er sich noch einmal die Gesichter seiner Mitreisenden ins Gedächtnis, das Antlitz von Blaubär, von Mythenmetz, von Echo und auch das von Eißpin, den er beim besten Willen nicht einzuschätzen vermochte. Und mit einem Mal drängte sich ihm etwas auf, dass ihn zum schmunzeln brachte, obgleich er nicht wusste, ob sich seine Mundwinkel tatsächlich bewegten, oder ob vor lauter Erschöpfung nur sein Geist lächelte. 'Vielleicht', überlegte er, 'bin ich momentan einfach nicht der einzige, dem die Nerven blank liegen.' Kapitel 16: Das geheime Schloss - Teil 1 ---------------------------------------- Rumo war zu der Erkenntnis gelangt, dass es für ihre Personenkonstellation offenbar nur zwei Aggregatzustände gab: schweigend oder streitend. Da er selbst sich immer noch weitestgehend außerstande fand, an irgendeiner Auseinandersetzung aktiv teil zu nehmen, bevorzugte er ersteres, auch wenn die herrschende Stille meist von eher unangenehmer Natur war. Leider schien niemand wirklich Rücksicht auf seine Vorzüge nehmen zu wollen. „Ich sehe nicht ein hier abzubiegen!“ Eißpin blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dieser Weg führ von Schattenhall weg, wenn wir dort lang gehen, verlieren wir über einen Tag!“ „Wo wir lang gehen, bestimme hier unten immer noch ich!“, rief Mythenmetz aufgebracht und unterstrich diesen Satz mit einer Geste, die Rumos Kreuz bedrohlich zum schwanken brachte. Er hatte in den letzten Stunden immer wieder eine alte, vergilbte Karte studiert, genickt oder mit dem Kopf geschüttelt und die Gruppe um endlose Windungen und Biegungen geführt, ohne dass irgendjemand Protest erhoben hatte. Jetzt allerdings weigerte sich Eißpin auch nur einen Schritt weiter zu gehen. „Es interessiert mich nicht, was in deiner komischen Karte steht, Hildegunst, ebenso wenig, wie es mich interessiert, dass du vor einer halben Ewigkeit einmal hier unten ein paar Wochen verbracht hast. Ich habe hier gelebt! Und das fünf Jahre lang! Und ich kann dir sagen: Das hier ist nicht der Weg nach Schattenhall.“ „Wie wäre es, Succubius“, zischte Mythenmetz gefährlich, „wenn du dich aus meinen Angelegenheiten heraus hältst und dich einfach auf das konzentrierst, wofür du da bist. Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir die Abmachung, dass du uns Geleitschutz bis an unser Ziel gibst und wir dich dafür ungeachtet deiner Taten unbehelligt ziehen lassen. Für nicht mehr und nicht weniger bist du hier zuständig.“ „Wir hatten die Abmachung, dass ich euch nach Schattenhall bringe! Von einem anderen Ziel war nie die Rede!“ „Seid endlich still!“, fuhr Echo plötzlich harsch dazwischen, ohne die beiden Streitenden auch nur eines Blickes zu würdigen. Er hatte eisern geschwiegen, seit sie sich mit Eißpin auf den Weg gemacht hatten und wirkte auch jetzt distanziert und kalt. „Das ist ja nicht zum aushalten! Ist das der richtige Weg, Lindwurm?“ „Es ist der beste Weg.“ „Das genügt mir. Wir werden also dort lang gehen!“ Eißpin schnaubte ungläubig. „Wie bitte? Oh nein, das sehe ich gar nicht ein!“ Echo befand es offenbar immer noch nicht für nötig sich umzudrehen, stattdessen schüttelte er seinen Arm und hielt zusammen mit seinem Handgelenk ein dünnes, silbern funkelndes Armband empor. Es war eine filigrane Arbeit, die eine Blumenranke mit kunstvoller Beblätterung darstellte. „Wirst du es tun, wenn ich dir das dafür gebe?“ Rumo zog auf seinem Kreuz eine Augenbraue hoch. Wollte der Gestaltenwandler diesen komischen Kauz etwa mit einem Frauenschmuckstück bestechen? Was war das denn für eine Idee? Besonders wertvoll sah es nicht aus, im Gegenteil, es war an einigen Stellen abgewetzt und deutlich angelaufen, so als wäre es oft getragen worden. Zu Geld ließ es sich sicherlich nicht machen. Doch Eißpin stürzte wie vom Donner gerührt zu seinem ehemaligen Schüler herüber, packte dessen Arm mit tödlichem Griff und betrachtete das kleine Silberstück als sei es der Stein der Weisen persönlich. „Wo hast du das her?“, fragte er barsch, während er mit dem Finger über die glänzenden Blumen fuhr. Echo entriss ihm seinen Arm und schob ihn unter den linken, der das untere Ende des Kreuzes trug. „Hast du ernsthaft geglaubt, ich sei damals gegangen, ohne mir etwas zur Erinnerung mitzunehmen?“ Der Blick des ehemaligen Schrecksenmeisters hatte sich verklärt und er sah zu Boden. „Sie hatte es damals schon“, murmelte er abwesend. „Ich würde es niemals vergessen.“ „Also?“ „Schon gut, ich bin dabei.“ Eißpin zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und wandte sich ab, ganz so als wolle er vor der Gruppe verbergen, was in diesen Sekunden in ihm vorging. Und tatsächlich war es für Rumo völlig unbegreiflich, wieso ausgerechnet so etwas Unbedeutendes wie ein Armband eine derartige Gefühlsregung und ein vollständiges Abtreten der Prinzipien bewirken konnte, doch er kam zu dem Schluss, dass es ihm ja im Grunde egal sein konnte. Das Wichtigste war, dass sie Schattenhall erreichten und zwar möglichst bald. Was mit diesem alten, exzentrischen Neuankömmling geschah, wer er war, was er wollte – wen kümmerte das schon? „Schön“, schnaubte Mythenmetz und rückte die Trageschlaufe des Kreuzes in seiner Klaue zu Recht. „Können wir dann weiter gehen?“ Sie konnten und sie taten es auch, nun wieder schweigend und nur gelegentlich durch Eißpins gebellte Kommandos aus ihren Gedanken aufgeschreckt. Bücherjäger behelligten sie dank des metallenen Schrittes des Schattentodes nicht mehr, der ihnen durch die wunderbaren Akustik der Katakomben wie eine Vorhut voraus eilte und den Weg frei machte. Lediglich einige wilde Tiere sprangen hier und da aus dem Dunkel, doch ehe sie auch nur die geringste Chance zum Angriff hatten, schlug ihnen eine wütend rauschende Sense entgegen und verpasste ihnen Entweder den Schock ihres Lebens oder halbierte sie gleich ohne viel Federlesen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Eißpin beugte sich jedes Mal, wenn er etwas erlegt hatte, für einige Sekunden interessiert über den toten Körper, studierte dessen Bau, Gebiss und Gliedmaßen, machte sich dann und wann Notizen und zückte Skalpell oder Jagdmesser – das hing ganz von der Größe des Opfers ab – um sich auch von den Innereien ein genaueres Bild machen zu können. Blaubär und Echo hielten in diesen Minuten zusammen mit Rumo gebührend Abstand, wohl wissend, das dieser Anblick sie wohl eine Weile verfolgen würde, wenn sie sich zu nah heran wagten. Ganz zu schweigen von dem Geruch. Mythenmetz jedoch konnte nicht anders als seiner angeborenen Neugierde nachzugehen und sich in Sichtweite heran zu trauen, als der alte Alchimist einen besonders widerlich anmutenden Mischling aus Riesenkäfer und Ratte auftrennte. Vorsichtig linste er ihm über die Schulter, um einen genauen Blick auf die fremdartigen Innereien zu erhaschen und diese Informationen in seinem reichen Erfahrungsschatz abzuspeichern. Die folgende halbe Stunde war er damit beschäftigt sich zu übergeben. Als er sich halbwegs wieder beruhigt hatte – er würgte mittlerweile nur noch bittere Magensäure empor – wischte er sich über das Maul und deutete einen dunklen Stollen hinunter. „Nur noch ein paar hundert Meter in diese Richtung“, keuchte er. „Dann sind wir da.“ Eißpins Augenbraue zuckte verdächtig, doch er blieb still. Rumo war unendlich erleichtert. Nun hatten sie es also bald geschafft. In wenigen Stunden konnte er von diesem schrecklichen Kreuz aufstehen, Echo würde ihm das Elixier brauen und dann würde ihn nichts mehr halten. Er würde rennen, durch die Süße Wüste, durch den Großen Wald, durch ganz Zamonien, wenn es sein musste, um Smeik endlich aus seiner misslichen Lage zu befreien und diese furchtbaren Menschen zum Teufel zu jagen. Und dann konnte endlich wieder alles seinen gewohnten Gang gehen und er musste sich nicht länger mit lästigen Weggefährten herumärgern. Obwohl – Blaubär war ja ganz nett. Vielleicht konnte man in Kontakt bleiben. „Also auf!“, rief Echo vom vorderen Ende der Tragekonstruktion. „Je eher wir da sind, desto besser!“ Wie es Mythenmetz gesagt hatte, folgten sie dem leicht abfallenden Stollen rutschend und taumelnd tiefer in das Erdreich hinein. Rumo vermochte nicht zu sagen, wie hoch oder tief sie inzwischen sein mochte, so oft waren sie auf und wieder abgestiegen. Waren sie direkt unter Buchhaim oder war ein paar Meter unter ihnen schon Untenwelt? Diese Vorstellung gruselte den wehrlosen Wolpertinger und er schob ihn schnell beiseite. Dort unten wollte er nie wieder hinmüssen – die Erinnerung an so manches Ereignis raubte ihm noch immer den Schlaf. Eißpin verließ unterdessen seine Position hinter dem wankenden Kreuz und schloss schnellen Schrittes zu Echo auf. Als er schließlich auf gleicher Höhe mit ihm war, zog er sich die tarnende Kapuze vom Kopf und strich sich durch das dünne, lange Haar. „Du hast einiges dazugelernt, wie ich sehe“, sagte er und grinste dabei auf eine nicht zu deutende Weise. „Gestaltenwandeln – das ist nicht einfach! Meinen Respekt!“ Echo sah zu Boden. „Was willst du?“ „So abweisend?“ Sein ehemaliger Meister lachte. „So kenne ich dich ja gar nicht! Was ist los mit dir?“ „Denk mal drüber nach.“ Das Lächeln verschwand von Eißpins schmalen Lippen. „Ich habe mir nichts vorzuwerfen und das weißt du auch! Alles, was ich getan habe, geschah einvernehmlich. Ich habe dich nie hintergangen oder zu etwas gezwungen!“ Echo schnaubte und für einen Moment schien ein Anflug von Sanftmut über seine Züge zu huschen. Doch der Moment verging und schon einen Wimpernschlag später war die abweisende Kälte zurückgekehrt. „Das ist nicht der Punkt!“ Er drehte sich so gut er konnte weg und überließ Eißpin seinem Rücken. „Aber das würdest du ohnehin nicht verstehen.“ Sein ehemaliger Meister hob die Augenbrauen und blieb stehen, um sich wieder zurück fallen zu lassen. „Sind wir jetzt nicht ein wenig melodramatisch?“, sagte er laut, sodass sogar der in Gedanken versunkene Mythenmetz neugierig den Kopf hob. „Die letzten fünf Jahre haben deinem Charakter nicht gut getan, Echo!“ Als Antwort erhielt er ein freudloses Lachen, das von den Stollenwänden widerhallte und Rumo die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. „So, das sollte reichen!“ Blaubär, Echo und Eißpin blieben stolpernd stehen und starrten Mythenmetz verständnislos an. „Wie jetzt?“ „Das reicht“, wiederholte der Lindwurm und machte Anstalten Rumos Tragekreuz abzulegen. „Wir sind da.“ Blaubär drehte sich verwirrt einmal um die eigene Achse. „Wie, ‚da’? Wo ‚da’?“ „Willst du mich verarschen“, fragte Eißpin und griff drohend über die Schulter an seine Sense. „Hier ist absolut gar nichts außer diesem götterverdammten Stollen! Wir sind kilometerweit von Schattenhall entfernt!“ Rumo, der spürte, wie seine Kräfte langsam aber sicher zurückkehrten, versuchte verzweifelt sich aufzurichten und sich ebenfalls umzusehen. Hier sah es tatsächlich nicht unbedingt so aus als stünde ein riesiges Schloss hinter der nächsten Ecke. Der schmale Gang, in dem sie stehen geblieben waren, roch modrig, an den wänden tropfte das Wasser herunter und Moos zog sich flächendeckend über die Felsen. Fluoreszierende Pilze säumten die Übergänge zwischen Wand und Fußboden und immer wieder huschten kleine, unheimliche Insekten durch die Lichtkegel ihrer Fackeln. Alles in allem keine sehr königliche Umgebung. „Wir sind hier genau richtig!“, erklärte Mythenmetz beinahe trotzig. „Und jetzt sollten wir uns vielleicht alle ein wenig setzen und ausruhen.“ Der Schattentod ließ ungläubig die gezückte Sense sinken. „Jetzt hat er endgültig den Verstand verloren.“ „Ähm, Mythenmetz…“ Blaubär räusperte sich verlegen. „Ich will deine Autorität ja nicht infrage stellen, aber ich kann hier auch nicht wirklich ein Schloss oder etwas Derartiges sehen.“ „Ihr solltet euch jetzt wirklich hinsetzten!“ „Wo sind wir, Lindwurm?“, wollte jetzt auch Echo wissen. Er und Blaubär folgten gezwungenermaßen Mythenmetz’ Bewegung und setzten Rumo mitsamt Kreuz vorsichtig auf dem Felsboden ab. „Was für eine Art von Spiel ist das hier?“ Doch der Lindwurm schüttelte nur den Kopf. „Regt euch nicht auf, ich halte mein Wort. Ihr werdet schon sehen. Tut mir nur einen Gefallen und setzt euch endlich hin!“ „Einen Teufel werde ich tun!“, rief Eißpin und warf die Arme in die Luft. „Mir reicht es jetzt. Die Echse sagt, wir sind da, also ist mein Teil der Abmachung ja wohl erfüllt. Ich verschwinde! Echo, gib mir das Armband, wie du es versprochen hast!“ Doch Echo rührte sich nicht. Wie hypnotisiert starrte er den Tunnel hinunter, während sich seine Brust deutlich unter aufgeregten Atemzügen hob und senkte. „Leute, was ist das?“ Eißpin war augenblicklich still. Auch Rumo und Blaubär lauschten nun angestrengt in die Dunkelheit hinein und tatsächlich: Ein seltsamer, leiser Singsang hatte die Katakomben um sie herum erfüllt. Er schien von allen Seiten gleichzeitig zu kommen und wurde als tausendfaches Echo von den Stollenwänden zurückgeworfen, sodass er zu einem unheimlichen, geisterhaften Chor anschwoll, der jede einzelne Faser des Körpers zum Schwingen brachte. Rumo fand sich von einem unkontrollierten Zittern erfüllt, dem er selbst mit all seiner Willenskraft keinen Einhalt zu gebieten vermochte und auch Blaubär kämpfte ganz offensichtlich mit seinen Gliedmaßen, die langsam den Dienst quittierten und unter ihm nachzugeben drohten. Dann brach Echo plötzlich bewusstlos zusammen. Blaubär machte einen entsetzten Sprung zur Seite, während aus dem Gestaltenwandler wieder zuckend und zitternd die Kratze wurde, die er war, und Eißpin suchte mit hektischem Blick nach de Quelle der gespenstischen Melodie. „Was soll das?“, rief er und schlug mit seiner Sense panisch ins Nichts. „Was ist das hier für eine Sch….“ Doch bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, schlug auch er der Länge nach zu Boden. Blaubär blieb gerade noch die Zeit sich umzudrehen und dem immer noch gelassen dastehenden Mythenmetz einen hysterischen Blick zuzuwerfen, dann gaben auch seine Beine unter ihm nach und er sank in einem dumpfen Geräusch auf den nassen Fels. Rumo hätte in diesen Sekunden nicht einmal sagen können, dass er Angst hatte. Er spürte, dass auch er seinen Gefährten gleich nachfolgen sollte, dass sich seine Gedanken vernebelten und sich seine Sinne langsam trübten, doch alles, woran er denken konnte, war: ‚Hat Mythenmetz wirklich gelogen? Hat er uns hierher gelotst, weil wir hier untern wehrlos sind? Aber wo liegt da der Sinn?’ Dicht gefolgt von seinem letzten, bewussten und nicht ganz so tiefsinnigen Gedanken: ‚Nicht schon wieder….’ Rumo hatte einen wundervollen Traum. Er war das Kreuz los und fühlte sich lebendig wie nie zuvor. Er tollte über die Wiesen vor Wolperting mit Rala und einem hübschen, weiß braunen Welpen, der wohl sein Sohn sein musste, zumindest waren sie sich sehr vertraut. Smeik sah ihnen von weitem zu und winkte dann und wann, er schien sehr zufrieden und trug ein fettes Grinsen zur Schau, als habe er gerade das Geschäft seines Lebens abgeschlossen. Nun kam sein Sohn angelaufen. Er lachte ausgelassen und sprang mehr als dass er rannte, wobei Gras und Erde hinter ihm aufflogen. Freudig und mit einigem Schwung hopste er in Rumos Arme und begann ihm zärtlich das Fell auf der Wange zu lecken. Rumo erwiderte die Geste nur zu gerne und schleckte dem kleinen Wolpertinger liebevoll über die Ohren und die kleinen Hörnchen, während er von Rala wohlwollend beobachtet wurde. Dann wachte er auf. Blaues Fell klebte an seiner Zunge und Blaubär, der neben ihm lag und schnarchte hatte einen verdächtig nassen Fleck auf dem Kopf. „Uäh!“ Rumo sprang auf und wischte sich mit den Pfoten über die Zunge, um die königsblauen Strähnen loszuwerden. Dann hustete er, sank wieder auf alle viere und erbrach sich auf den Höhlenboden. Wie war das? Der Morgen macht den Tag? Auf einmal fiel ihm etwas auf. Und das war – gelinde gesagt – fantastisch. Das Kreuz! Es war nicht mehr da! Er hatte keine Ahnung, wo es hin war, und ob er überhaupt schon wieder laufen durfte, doch es war weg und das fühlte sich unglaublich gut an. So unglaublich gut, dass Rumo sofort wieder auf die Beine sprang und sich an ein paar Tritten und Faustschlägen versuchte, die traumhaft geschmeidig durch die stickige Luft sirrten. Es war tatsächlich recht stickig. Ziemlich unangenehm sogar. Und obwohl er keine Fackel angezündet hatte, lag ein rötlich heller Schimmer über der gesamten Umgebung, einschließlich Echo und Blaubär, die nach wie vor schlafend, aber ganz offensichtlich unverletzt wenige Meter von ihm entfernt herum lagen. Von Mythenmetz und Eißpin fehlte jede Spur, doch das interessierte Rumo in diesem Augenblick bei weitem nicht so sehr wie dieses seltsame Schimmern und diese unerträgliche Hitze. Er drehte sich um und erstarrte. Lava! Da war überall Lava! Ein riesiger See glühend roter, tödlich heißer Lava, der sich beinahe von seinen Füßen bis hin zum anderen Ende der Höhle erstreckte, an welchem sich dem bereits jetzt halbwegs überforderten Wolpertinger etwas präsentierte, das ihn endgültig an seinem Verstand zweifeln ließ: Es war ein gigantisches, komplett aus tausenden und abertausenden Büchern errichtetes Schloss. Rumo klappte der Unterkiefer herunter. Das war mit Abstand das Atemberaubenste, was er je gesehen hatte! Keine Ebene von Untenwelt, keine Vrahok-Schlacht, kein General Tick Tack hatte eine solch epische Erhabenheit besessen, wie dieses kolossale Papierbauwerk inmitten eines brodelnden Meeres aus purem Feuer. Dabei war es noch nicht einmal besonders schön – ganz im Gegenteil: Mit seiner düsteren, in rotes Licht getauchten Fassade und den leeren, dunklen Fenstern wirkte es alles andere als einladend, gar Furcht erregend und doch konnte und wollte der Wolpertinger den Blick nicht abwenden. „Ziemlich beeindruckend, nicht wahr?“ Mythenmetz trat aus dem Schatten eines Felsens heraus neben Rumo und sah mit ihm zusammen zum Schloss empor. „Ich habe euch doch gesagt, dass ich euch herbringe.“ Rumo war viel zu beschäftigt damit sich der überwältigenden Atmosphäre hinzugeben, um zu hinterfragen, wie genau der Schriftsteller es angestellt haben mochte, sie alle hier her zu transportieren. Stattdessen wanderte sein Blick immer wieder die endlosen Bücherreihen hinauf und hinunter auf der Suche nach vielleicht einem einzigen, halt gebendem Stein, doch es gab keinen. Es war schier unglaublich! „Das ist einfach fantastisch!“, brachte er schließlich atemlos hervor. „Ist das Schloss Schattenhall?“ „In seiner ganzen Pracht“, nickte Mythenmetz und lächelte. „Wie ich es versprochen habe.“ Etwas stöhnte hinter ihnen, fluchte kurz, polterte dem Klang nach gegen einen Stein, fluchte noch einmal und warf sich schließlich von hinten halb über Rumos rechte Schulter. „Wie ich sehe stehst du wieder, Großer“, grinste Blaubär noch halb benommen und schlug seinem Kameraden freundschaftlich auf den Rücken. Der zuckte zusammen – ein wenig schmerzte es trotz der Freude dann doch noch. „Und das ist also das sagenumwobene Schloss Schattenhall, hm? Ziemlich beeindruckend, muss ich zugeben!“ Mythenmetz’ Lächeln hatte nun etwas unverkennbar Selbstverliebtes an sich. „Schön, dass wir uns da einig sind.“ Blaubär schüttelte energisch den Kopf, sodass eine Wolke grauen Staubs aus seinem Fell wehte und lautlos zu Boden rieselte. „Bleibt nur noch die Frage wie wir hier hergekommen sind…“ „Ist das nicht egal?“, fuhr im der Lindwurm hastig über den Mund und blickte etwas nervös umher. „Wir sind hier, der Rest ist doch unwichtig.“ „Meine Kopfschmerzen stimmen ihm zu“, krächzte Echos heiser klingende Stimme von einer Etage tiefer zu ihnen empor. „Egal wie er’s gemacht hat, ich hab mich nach einer Reise schon mal besser gefühlt. Nach langen Erklärungen ist mir grad so gar nicht.“ „Dito“, stimmte Rumo müde zu und rieb sich die lädierten Gliedmaßen. „Also was steht nun an? Wir gehen da rein, du zeigst Echo das Labor und er macht sich ans Werk?“ Mythenmetz verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Fast richtig, mit der kleinen Ausnahme, dass nicht wir alle sondern nur Echo und ich das Schloss betreten werden. Ihr zwei werdet hier draußen auf uns warten.“ Rumo ließ die Schultern sinken. „Und warum das nun wieder? Was soll die ganze Heimlichtuerei um dieses Schloss? Du hast uns betäubt, damit wir nicht wissen, wo es liegt, nicht wahr?“ „Wieder fast richtig.“ „Nun da kann ich dich beruhigen“, gähnte der Wolpertinger, ohne auf das ‚fast’ einzugehen. „Ich kann mir hier unten kaum merken wo rechts und links ist. Und falls du Angst hast ich könnte unsere Witterung aufnehmen – bei dem Gestank überall um uns herum bin ich froh, wenn ich meinen eigenen Schweif wittern kann.“ Mythenmetz betrachtete ihn abschätzend von oben bis unten. „Trotzdem“, sagte er schließlich. „Dieses Schloss ist eines der letzten Geheimnisse dieses Kontinents und ich werde alles daran setzten, dass das auch nach unserem Besuch der Fall bleibt. Hier unten liegen einige meiner liebsten und teuersten Erinnerungen, mit kaum einem anderen Ort verbinde ich so viel wie mit diesem. Ich kann einfach kein Risiko eingehen.“ „Schon gut, schon gut“, lenkte Blaubär ein, bevor der in die Jahre gekommene Schriftsteller zu sehr in Nostalgie versank. „Wir warten hier, kein Ding. Wie lange wird es schon dauern? Einen Tag, vielleicht zwei?“ Alles sah nun zu Echo hinunter, der die Unterlippe zwischen die spitzen Zähne genommen hatte. „Das hängt ganz davon ab, wie gut das Labor ausgestattet ist. Die Formel ist bis auf wenige Komponenten vollständig, allerdings muss ich eventuell einige der Zutaten synthetisieren. Und vergesst nicht, dass immer noch nicht hundertprozentig sicher ist, dass ich alles nötige vorfinden werde. Vielleicht war diese Reise auch völlig umsonst.“ Rumo packte die kleine Kratze im Nacken und hob sie sich auf Augenhöhe. „Sag so was nicht, klar? Noch einen Fehlschlag kann ich mir nicht leisten! Nicht so kurz vorm Ziel! Ich bin sowieso schon weit über die eigentliche Frist hinaus, wenn du es nicht hinbekommst, weiß ich endgültig nicht mehr weiter!“ „Weiß ich doch!“ Echo wand sich aus dem unangenehmen Griff. „Und ich werde ja auch mein Bestes geben. Aber was ich nicht habe, habe ich nicht. Das ist nun mal ein Fakt.“ „Fakten können mich mal“, knurrte Rumo und trat frustriert gegen einen Stein. „Ich will Glück, keine Fakten.“ „Eine Bitte hätte ich allerdings noch“, fuhr die Kratze unbeeindruckt fort. „Können wir uns ein paar Stunden ausruhen, bevor wir weiter machen? Immerhin bedeutet eine Hypnose auch immer eine große geistige Anstrengung.“ Mythenmetz nickte verständnisvoll. „Natürlich können wir…“ Dann stutze er plötzlich. „Woher weißt du…?“ Zum ersten Mal seit Stunden huschte ein Lächeln über Echos Gesicht. „Wer je unter einem posthypnotischen Befehl gestanden hat, lernt sich zu schützen, glaub mir. Ich kann zwar niemanden daran hindern mich zu hypnotisieren, doch mein Unterbewusstsein ist mehrfach versiegelt, sodass ich lediglich in einen tiefen, traumlosen Schlaf falle.“ „Hypnose also, hm?“ Rumo kratze sich am Kopf, um sich an das zu erinnern, woran er sich technisch gesehen nie würde erinnern können. „War ich `n Huhn oder so was? Das fand ich schon immer irgendwie witzig.“ Mythenmetz warf ihm einen strafenden Blick zu. „Du warst überhaupt nichts außer einem schweren, schlafender Hund. Und jetzt lass uns alle eine Runde Schlaf tanken, bevor es für Echo ernst wird. Er wird jede seiner genialen grauen Zellen brauchen, um euch euer dämliches Mittelchen zusammen zu brauen.“ „Elixier“, maulte Rumo leise, zog es dann aber vor der Aufforderung des Lindwurms nachzukommen. Auch er merkte inzwischen, wie sehr ihn die Hypnose beansprucht hatte – körperlich und vor allem mental. Sein Gehirn fühlte sich an wie ausgewrungen. Während Lindwurm, Wolpertinger und Kratze sich einen halbwegs bequemen Schlafplatz suchten und sich genüsslich einrollten, blieb Blaubär irritiert stehen und starrte auf seine Kameraden hinab. „Sagt mal, interessiert es eigentlich niemanden außer mir, wo der alte Mann hin ist?“ Wie sich herausstellte, hatte Mythenmetz den alten Mann schlicht in einen anderen Teil der Katakomben verfrachten lassen. Von wem, darüber schwieg er eisern. Und es war auch keinem von ihnen so recht danach nachzufragen, die Hauptsache war, dass sie den verrückten Alchimisten möglichst weit von ihnen entfernt wussten. Besonders Echo war nach dieser Neuigkeit sichtlich erleichtert, und sogar sein Armband hatte er noch. Das jedoch stimmte ihn ein wenig trübsinnig, denn, wie er selber sagte, brach er nur sehr ungern Abmachungen, doch so wirklich Mitleid vermochte keiner von ihnen aufzubringen. Nachdem sie sich ein paar Stunden ausgeruht hatten und sich alle wieder einigermaßen bei Kräften fühlten, wies Mythenmetz Rumo und Blaubär an, unweit des Schlosses Stellung zu beziehen und diese nur zu verlassen, wenn Gefahr in Verzug war. Für diesen Fall übergab er ihnen auch eine mit glänzend rotem Wachs versiegelte Karte. „Dieser Plan“, erklärte er und warf den beiden Säugetieren von oben herab einen strengen Blick zu, „ist ein sehr detailliertes Abbild sämtlicher Gänge, Ebenen, Kammern und geheimen Räume Schattenhalls. Ursprünglich war er dazu gedacht Teil meines Nachlasses zu werden, doch in Anbetracht der Umstände sehe ich ein, dass ich ihn euch werde anvertrauen müssen.“ Er legte Blaubär das Papyrus in die ausgestreckte Pfote. „Doch werdet ihr ihn nur im absoluten Notfall öffnen, ist das klar? Wenn sich niemand in akuter Lebensgefahr befindet, gibt es keinen Grund, das Siegel zu brechen!“ „Äh, verstanden“, sagte Blaubär schnell und nickte. „Wir kommen nur im absoluten Ernstfall rein.“ Mythenmetz musterte ihn noch einmal prüfend. „Gut. Wir sind auf der untersten Kellerebene, in dem als Labor gekennzeichneten Raum. Dort kommt ihr hin, falls etwas ist. Ihr werdet keinen anderen Korridor betreten und keine andere Tür öffnen, nichts anfassen und nichts verändern!“ „Verstanden.“ „Das hoffe ich!“ Der Schriftsteller raffte sein Reisegewand zusammen und schlang es sich enger um den Körper „Nun gut. Echo, bist du bereit?“ Echo hatte, seit er aufgewacht war, keinen Ton von sich gegeben und wirkte auch jetzt noch etwas blass um das schwarze Näschen – soweit das bei Fellträgern überhaupt möglich war. „Ähm, ja, natürlich“, murmelte er zögerlich und mehr zu sich selbst, bevor er sich erhob und langsam auf Mythenmetz zutrottete. „Lass uns anfangen.“ Rumo sah dem seltsamen Paar nach, das, geisterhaft illuminiert von der aufwogenden Lava, die Landbrücke zum Schloss Schattenhall empor schritt. Er war sich nicht sicher, was er empfinden sollte. Seine Reise war so kurz vor ihrem Ziel und doch fühlte es sich irgendwie nicht richtig an. Fehlte nicht etwas? Wo war der große Höhepunkt, der epische Kampf am Ende, die finale Schlacht? Wo war der Knall, auf den alle warteten? Bald würde sich seine Klaue um eine Schriftrolle mit einer Formel darauf schließen, er würde nach Atlantis zurück kehren und dann war alles vorbei. Das war doch gar nicht so schlecht. Oder? Mythenmetz und Echo verschwanden im Zwielicht, von fern war das Knarzen einer mächtigen Tür zu hören und dann war mit einem mal alles totenstill. Echo folgte dem Schriftsteller durch die endlosen Korridore des geisterhaft verlassenen Schlosses. Während der letzten Tage war er jeden Morgen erwartungsvoll, ja geradezu aufgeregt in den Tag gestartet, so sehr hatte er sich auf das unter Alchimisten so Sagen umwobene Schloss Schattenhall gefreut. Doch nun, da er sich endlich im inneren dieses fantastischen Kunstwerkes befand, hatte er nicht einen Blick für seine düster abstrakte Schönheit übrig. Viel zu viel war passiert in den letzten Stunden, Dinge, die niemals hätten passieren dürfen. Wie konnte es sein, dass sein Meister am Leben war? Wie hatte so etwas nur passieren können? Er hatte ihn sterben sehen, hatte gesehen, wie er unter den Trümmern verschwand, hatte gehört wie er schrie. Und nun stand er da, arrogant und selbstverliebt wie eh und je, so als sei nichts gewesen, als sei dieser entscheidende Monat in Echos jungem Leben nichts weiter als ein böser Traum. Etwas huschte vor dem Krätzchen über den Boden, kreischte ohrenbetäubend und schnappte nach seinem Schweif, doch er erschrak nicht einmal. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie Mythenmetz nach dem Ding, das tatsächlich ein wenig aussah wie ein in schweres Leder gebundenes Buch, mit seinem Säbel schlug und es schließlich mit einem Fußtritt gegen die Wand beförderte. Wilde Kreaturen, dunkle Ecken, Spinnweben - hier erinnerte alles an Eißpins Schloss, nur dass es durch den Lava-Vorgarten wohl nicht annähernd so kalt werden konnte. Echo fröstelte dennoch. Eißpin hatte es natürlich nicht verstanden. Es ging ihm nicht um den Pakt, nein, ihm war schon vor langer Zeit klar geworden, dass - wenn auch aus Notwehr - er derjenige gewesen war, der sich nicht wie abgesprochen verhalten hatte. Der Schrecksenmeister mochte grausam zu so ziemlich jedem Tier des Kontinents gewesen sein, ihm gegenüber hatte er sich jedoch nie auch nur unhöflich verhalten und in dem Moment, in dem Echo dies bewusst geworden war, war ihm auch eine andere, für seinen sanften Charakter geradezu unerträgliche Wahrheit aufgegangen: Er hatte ein Leben zerstört. Eißpin war tot - und er war Schuld. Echo war schon immer der festen Überzeugung gewesen, dass, egal wie grausam eine Kreatur sein mochte, niemand den Tod verdient hatte. So hatte es ihm sein Frauchen beigebracht und daran glaubte er wie an kaum etwas anderes. Und nun hatte er selbst sich zum Richter erhoben, indem er einem hilflosen Wesen den Rücken gekehrt und es seinem Schicksal überlassen hatte. Es hatte viele Monate gedauert, bis er diese überwältigenden Gefühle der Schuld schließlich in sein Inneres verbannen konnte und sie ihn auch in seinen tiefsten Träumen nicht mehr verfolgten. Diese Zeit hatte ihn verändert, das wusste er selber, und das sicher nicht zum besseren. Er hatte begonnen Alchimie zu studieren, einfach aus einem Gefühl heraus, das ihm sagte, er würde sich hinterher besser fühlen. Und das tat er tatsächlich, wenn auch nur ein wenig und er ahnte, dass es auch etwas damit zu tun haben konnte, dass er erwachsen wurde, doch er vermied es zu viel über solche Dinge nachzudenken. Vor einem Jahr dann endlich hatte er sich wieder richtig wohl in seinem Pelz gefühlt. Er hatte seinen Abschluss in der Tasche und machte sich voller Tatendrang auf in ein neues Leben, in das Leben, das er sich immer erträumt hatte. Es gab Arbeit für ihn, er konnte gehen wohin er wollte, und sogar ein Mädchen traf er. Es hielt nur ein paar Monate, doch das spielte keine Rolle, er lebte. Und jetzt? Jetzt kam jemand anspaziert und knallte ihm vor den kleinen Kopf, dass all die Tage der Schuld und der Selbstzweifel völlig sinnlos gewesen waren! Er war kein Mörder, denn niemand war tot. Er hatte nichts getan. Nichts! Er war wer er war. Und das völlig ohne Grund. "Was geht dir durch den Kopf?" Echo schreckte auf und wäre beinahe über seine eigenen Pfoten gestolpert. "Äh, wie bitte?" Mythenmetz sah mit sanftem Blick zu ihm herunter. "Du starrst die ganze Zeit über wie seelenlos vor dich hin. Irgendetwas stimmt doch nicht mit dir! Ich dachte, dass du vielleicht darüber reden möchtest?" Die kleine Kratze schüttelte den Kopf. "Nein, schon gut", murmelte er. "Ich bin mir nur gerade nicht mehr ganz so sicher, wer ich bin. Aber dabei kannst du mir wohl kaum helfen." Mythenmetz sah ihn weiterhin an, nickte dann schließlich. "Das ist wohl wahr. Jeder muss für sich selber heraus finden, wer er ist. Und noch viel wichtiger: Wer er sein möchte." Er schwieg kurz. "Hängen deine Zweifel mit unserer Begegnung mit Succubius Eißpin zusammen?" Echo seufzte. "Ja", antwortete er wahrheitsgemäß. "Eine Menge von dem, was ich bin, definierte sich über das, was ich getan habe - oder das, von dem ich bis gerade dachte, dass ich es getan hätte." Wider nickte Mythenmetz. "Ich verstehe." Dann dachte er einige Minuten nach, während er Echo tiefer in das Gewölbe hinein führte, in dem es mit jedem verwirrenden Stockwerk wärmer wurde. Die Kratze hatte ein ums andere Mal das Gefühl, dass sich die Wände verschoben, doch er wagte es nicht, den Schriftsteller danach zu fragen, wo er doch aus allem, was mit Schattenhall zu tun hatte, so ein großes Geheimnis machte. Als sie schließlich eine mächtige, zweiflügelige Tür aus schwarzem Holz erreichten, blieb der Lindwurm stehen und wandte sich abermals seinem Begleiter zu. "Darf ich dich etwas fragen? Es ist von großer Wichtigkeit für das Buch." Echo setzte sich verdutzt auf die Hinterpfoten. "Klar." "In welcher Beziehung stehst du zu Eißpin?" Jeder Muskel im Körper der Kratze zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen. Das war sie, die Frage, der er aus dem Weg ging, seit er damals aus dem Fenster des Schlosses in Sledwaya gesprungen war. Er hatte gewusst, dass er sich früher oder später mit ihr würde auseinander setzten müssen, allerdings wäre ihm etwas später deutlich lieber gewesen. Er dachte nach. War die Antwort wirklich so schwer? "Wir waren… sind Todfreunde." Ohne, dass er es wirklich geplant hatte, war ihm das Wort über die Lippen gekommen, das er damals für seine seltsame Beziehung zu dem Meister erfunden hatte. Und im gleichen Augenblick war er unglaublich erleichtert, denn er spürte, dass er es noch immer sagen konnte, ohne dass es sich falsch anfühlte. Und noch etwas fiel ihm ein: "Er und ich - wir haben in unserem Leben auf die eine oder andere Art vieles falsch gemacht. Ich denke, wir sind einander begegnet, um das zu erkennen." Mythenmetz blinzelte erstaunt. "Das… das war ehrlich gesagt nicht ganz die Antwort, mit der ich gerechnet habe!" Echo merkte, wie sich ein Grinsen den Weg auf seine tierischen Lippen suchte. "Ich weiß. Und jetzt lass uns da rein gehen. Ich will heute noch dem Geheimnis des ewigen Lebens auf die Schliche kommen." Kapitel 17: Das geheime Schloss - Teil 2 ---------------------------------------- Rumo betrachtete Löwenzahn mit zusammengekniffenen Augen. Ein haarfeiner Riss zog sich durch die eine der beiden Klingen und der Wolpertinger hätte schwören können, dass der vor dem Kampf mit dem Schattentod noch nicht dort gewesen war. Er fuhr mit dem Daumen über besagte Stell und knurrte leise. „Wenn das hier abbricht, grab ich den alten Mann persönlich wieder aus den Tiefen der Katakomben aus und mach ihn dafür verantwortlich!“ Blaubär, der mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Boden lag und gelangweilt an einer Wurzel kaute, schielte hoch. „Hm? Wovon sprichst du?“ Rumo hielt ihm sein kostbares Schwert unter die Nase. „Hiervon spreche ich. Wenn eine der Klingen abbricht, lernt mich der Sensen-Heini aber mal richtig kennen!“ Blaubär lehnte sich zurück und grinste. „Klar, genauso, wie er dich beim erstem Mal kennen gelernt hat: Mit gebrochenem Rückgrat auf dem Höhlenboden.“ „Gerissen, nicht gebrochen“, murrte Rumo, hob dann sein Schwert näher an den Kopf und lauschte tief in seine eigenen Gedanken hinein. ‚Löwenzahn? Grinzold? Alles klar bei euch?‘ „Das sollte ich DICH fragen, Memme!“ ‚Schön, dass es dir gut geht, Grinzold.“ „Der Grobian und ich sind in Ordnung, danke“, fiepte Löwenzahn genervt von seinem Zimmernachbarn. „Aber du glaubst gar nicht, was ich für eine Angst um dich hatte! Plötzlich warst du weg und dann war da dieser gruselige alte Mann! Der hat uns hochgehoben und… und seine Gedanken waren das aller-aller-schlimmste, was ich jemals gehört habe! Es war einfach grauenvoll! Grauenvoll!!“ Löwenzahn begann zu weinen. „Und so was nennt sich Stollentroll“, höhnte Grinzold von oben herab. „Also ich fand, der Kerl hatte Format! Hatte ordentlich Erfahrung im Töten, der Gute!“ „War ja klar, dass DIR das gefällt!“ Beruhigt klinkte sich Rumo aus dem kleinen Streit aus. Er wusste immer noch nicht so ganz, wie das mit den eingeschmiedeten Gehirnen genau funktionierte, doch zumindest schien der Riss im Material keinerlei Einfluss auf die geistige Gesundheit seiner beiden Freunde zu haben. Hoffentlich blieb es auch bei einem Riss. Andererseits stand nun ja nicht mehr viel Gefährliches auf dem Plan, oder? Echo würde die Formel liefern und dann ging es für alle zurück nach Hause. Andererseits hatte etwas wirklich Gefährliches von Anfang an nicht auf ihrer Zu-Erledigen-Liste gestanden und dennoch wäre er inzwischen einige Male beinahe draufgegen. Rumo schob Löwenzahn in seine Leder-Scheide. Vielleicht sollte er ihn eine Weile nicht mehr hervor holen. Sicher war sicher. Blaubär hatte inzwischen aus Langeweile mit etwas Lehm ein halbes Gemälde auf den Steinboden geschmiert. „Was denkst du, wann Mythenmetz und Echo wiederkommen werden? Drei oder vier Stunden sind sie jetzt bestimmt schon weg.“ „Keine Ahnung“, Rumo zuckte mit den Schultern. „Ich verstehe rein gar nichts von Alchimie, daher ist es mir auch völlig schleierhaft, wie lange man für so ein Experiment brauchen könnte. Einen Tag vielleicht oder zwei. Oder noch um einiges länger, was mir, salopp gesagt, so gar nicht in den Kram passen würde.“ Blaubär schien inzwischen aufgegangen zu sein, dass er keinen einzigen Tropfen Wasser zur Verfügung hatte, um sich den Lehm wieder von den Pfoten zu waschen. Etwas entsetzt blickte er erst auf sein kleines Kunstwerk – eine etwas missglückte Strichmännchen Zeichnung von ihrer Reisegruppe im Kampf mit etwas, dass nach Rumos Schätzung mindestens drei Köpfe hatte – und dann zurück auf seine Pfoten. Schließlich begann er, sie möglichst unauffällig neben sich auf dem Boden abzustreichen, was herzlich wenig brachte. „So lange? Und was sollen wir in der ganzen Zeit machen? Mir ist ja jetzt schon langweilig!“ „Dann lass uns nach etwas Essbarem suchen“, schlug Rumo vor und sprang auf die Hinterpfoten. „Ich könnte ohnehin etwas Bewegung vertragen.“ Blaubär nickte und stand ebenfalls auf. „In Ordnung. Aber wir sollten uns nicht allzu weit vom Schloss entfernen. Wer weiß, was sich neben geistig beschränkten Bücherjägern und amoklaufenden Alchimisten noch so alles hier unten herumtreibt.“ Rumo band sich sein Schwert auf den Rücken. „Du hast wahrscheinlich Recht. Obwohl es mich ja schon irgendwie interessieren würde, ob ich gegen so einen richtigen, erfahrenen Bücherjäger eine Chance hätte.“ „Vergiss es!“ „Schon gut, war nur’n Scherz…“ „Aber ein ganz schlechter!“ Sie machten sich auf den Weg in das Schloss Schattenhall umgebende Stollensystem, eine Angelegenheit, bei der Vorsicht geboten war, denn immer wieder brach mitten auf dem Weg die kochend heiße Lava durch das Gestein, tröpfelte von der Decke oder rann in mal kleinen, mal größeren Rinnsalen die Wände hinab. Die Luft, die bereits in der Höhle recht stickig gewesen war, wurde nun geradezu unerträglich heiß und Rumo merkte, wie ihm das Atmen mit jeden Schritt schwerer zu fallen schien. Seine Kehle war wie ausgetrocknet und plötzlich erschien es gar keine so gute Idee mehr zu sein, die verbleibenden Wasservorräte an ihrem Lagerplatz zurück zu lassen, um für die Jagt leichter zu sein. „Guck nicht so“, grinste Blaubär von der Seite. „Schwitzen ist gesund! Andere Zamonier zahlen dafür!“ „Andere Zamonier haben auch mehr als ihre Zunge zum Schwitzen, Schlauberger!“ Rumo öffnete das Maul und ließ die Luft über den erhitzten Muskel streichen. Hecheln war unter zivilisierten Wolpertingern eigentlich absolut verpönt, doch unter diesen Umständen war ein Verstoß gegen Konventionen wohl nachzuvollziehen. Leider brachte die Unsitte nur bedingt etwas. Blaubär hatte sich seinen Pullover über den Kopf gezogen und versuchte ihn nun so zu tragen, dass er möglichst wenig Körperoberfläche bedeckte. „Das nächste Mal, wenn ich vorschlage, dass wir das Wasser zurück lassen, schlag mich bitte.“ „Kann ich das auch präventiv erledigen?“ „Auf keinen Fall.“ „Zu schade.“ Rumo hob den Kopf und nahm Witterung auf. Da war etwas. Nichts großes, nichts Gefährliches, aber etwas Lebendiges. ‚Und was lebendig ist, das kann man Töten. Und was tot ist, das kann man essen.‘ Nanu, woher kam das denn auf einmal? Rumo blinzelte irritiert und kratzte sich am Schädel. Diese Gedanken waren nicht die seinen gewesen und auch zu Löwenzahn oder Grinzold schienen sie nicht zu gehören. Sie klangen fremdartig in seinem Kopf, aber dennoch irgendwie richtig. Wie eine Regel, ein ultimatives Gesetzt, das hier über allem stand und an das man sich halten sollte, wenn man überleben wollte. „Hast du das gehört?“ Rumo Sinne schnellten zurück ins Hier und Jetzt und er drehte sich zu Blaubär um. „Hä?“ „Hier ist etwas. Irgendwas Lebendiges. Was kleines, wuseliges. Wollen wir es uns krallen? Vielleicht gibt es einen guten Braten ab.“ „Äh, klar!“ Rumo schüttelte das letzte Bisschen Verwirrung ab und ließ zu, dass ein selbstzufriedenes Grinsen in ihm empor stieg. Jagen, ja, das war nach seinem Geschmack. Endlich ging es hier mal wieder um etwas, in dem er richtig gut war. „Du von links, ich von rechts?“ „So machen wir’s!“ Echo hörte die Tür des Labors hinter sich zufallen. Mythenmetz hatte das Angebot ihm bei der Arbeit zu assistieren ausgeschlagen und erklärt, dass er selbst noch etwas Wichtiges in dem alten Gemäuer zu erledigen habe, jetzt, wo er schon einmal hier sei. Und wenn Echo ehrlich war, dann war es ihm auch lieber, wenn er etwas für sich sein konnte. Eigentlich hätte es ein ganz simples Geschäft sein sollen: Sein Wissen – das er eigentlich nicht einmal wollte – gegen die Richtigstellung seiner Geschichte. Doch nun, da sein ehemaliger Meister wie aus dem Nichts heraus auf der Bildfläche erschienen war, kochten die unterdrückten Emotionen in seinem Inneren auf einmal über. Plötzlich hatte er das unerklärliche und, rational gesehen, auch absolut sinnlose Gefühl, sich beweisen zu müssen. Echo wusste nicht, ob er Eißpin jemals wiedersehen würde oder ob dieser sich nun endgültig von allen Lebewesen isoliert und sich in seine Zuflucht hier unten – wo auch immer die sein mochte – zurück gezogen hatte, doch er wurde den Gedanken nicht los, dass der Alte es wissen würde, wenn er versagte. Und er würde ihn wieder mit diesem Blick bedenken, diesem überheblichen Grinsen, das sagte: Netter Versuch, Kleiner, aber an meine Genialität wirst du niemals heran reichen! Nein! Er war nicht mehr der unbedarfte Naivling, der er vor fünf Jahren gewesen war! Er war erwachsen geworden, selbstständig und ein hervorragender Alchimist! Er würde nicht versagen! Er durfte nicht versagen. Echo atmete einmal tief durch und begann dann damit, das Labor und seine Ausstattung zu inspizieren. Mythenmetz hatte nicht übertrieben, hier gab es alles, was das Alchimistenherz begehrte und noch so einiges mehr. Die Kratze erkannte diverse Destillen und Retorten, Öfen für unterschiedlichste Temperaturen und Verfahren, sogar einen florinthischen Frostofen und einen über zweiundzwanzig Stufen regulierbaren Bunsenbrenner gab es. An einer Wand aufgereiht standen dutzende alchimistische Batterien und das Regal direkt daneben quoll über vor Reagenzgläsern, Erlenmeyerkolben, Petrischalen und sonstigem Glasgerät. In der Mitte des Raumes standen zwei lange Werkbänke mit eingelassenen Waschbecken und einem halben Dutzend Mikroskope mit einer breiten Auswahl an Linsen, daneben ein Beistell-Wagen voller Skalpelle, Löffel, Spateln und Nadeln, zum feststecken von Präparaten. An das geräumige Hauptlabor schloss sich eine weitere Kammer an, in dem Echo eine Sammlung von Zutaten fand, die überraschenderweise tatsächlich mit der von Eißpin mithalten konnte. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, das gesamte zamonische Periodensystem der Elemente in Form eines Schrankes mit siebenhundertvierzehn einzelnen kleinen Schubladen nachzubauen – für jedes Element eine. Und als Echo ein paar davon aufzog – die mit harmloserem Inhalt, nur zur Vorsicht – fand er jede einzelne von ihnen gefüllt, egal wie selten oder schwer zu bekommen das Element auch sein mochte. Dazu gab es ein Regal mit Kräutern und eines mit Verbindungen jeder Art, ob stabil oder instabil, flüssig, fest oder gasförmig. Es waren sogar einige darunter, die in speziellen Druckbehältern aufbewahrt werden mussten, die die Substanz exakt auf dem Tripelpunkt hielt, ein chemischer Zustand, in dem alle drei Aggregatzustände gleichzeitig vorlagen. Echo war beeindruckt. Solche Gerätschaften waren selten! Ohne Zweifel, dieses Labor war perfekt ausgestattet und im Grunde gab es nichts, das dem jungen Alchimisten für seine Forschungen fehlte. Mit einer Ausnahme. Einer sehr entscheidenden Ausnahme. Hier gab es kein einziges Fett. Echo ging die Formel für die Prima Zateria noch einmal Punkt für Punkt im Kopf durch. Er kannte sie in ihrer Unvollkommenheit auswendig, wie er auch alles andere auswendig kannte, was er einmal gelesen oder gehört hatte, und doch hatte er sie bis vor wenigen Monaten nicht verstanden. Es hatte drei Jahre intensivster alchimistischer Studien bedurft, bis der jungen Kratze klar geworden war, welche entscheidende Rolle die Fette und auch die Todesseufzer für das Elixier spielten und wie erfahren und präzise Eißpin in seinen Vorbereitungen vorgegangen war. Es ging nicht darum, wahllos irgendwelche hochwertigeren Lipide und Gase zu vermengen, nein, hinter dem Sammelwahn des alten Mannes steckte wesentlich mehr. Der entscheidende Faktor war die Lebenskraft selbst, die Seele, die Vis Vitalis, die allen Substanzen innewohnte, die ihren Ursprung in einem lebenden Organismus hatten. Sie war es, die alle antrieb, der Motor des Seins sozusagen, eine unbändige Kraft, die sich die Alchimisten von je her bewusst oder unbewusst zu Nutze machten. Normalerweise war sie lediglich Katalysator für die verschiedensten Reaktionen und Vorgänge, doch bei der Prima Zateria war nun die Vis Vitalis selbst Hauptzutat und zentrales Element, das war Eißpin von Anfang an klar gewesen. Also hatte er alles daran gesetzt, diese Energie in ihrer reinsten Form zu sammeln und schlussendlich zu konzentrieren, bis sie schließlich stark genug war, einen Körper für immer am Leben zu erhalten. Und die einzige Vis Vitalis, die Echo hier zur Verfügung stand, waren ein paar lebende Bücher und eine Handvoll Ratten. 'Und meine eigene', dachte Echo bei sich und erinnerte sich damit selbst an einen weiteren Minuspunkt auf der Liste. Kratzenfett, das Bindemittel, das die Energien der verschieden Kreaturen zusammenfließen lassen sollte – nun, es stand außer Frage, dass er keines als alchimistische Ingredienz besaß. Und selbst wenn er es vorgefunden hätte, so hätte er es nicht verwenden wollen, das wurde dem Gestaltenwandler mit einem Mal klar. Echo setzte sich auf die Hinterläufe und rollte seinen Schweif eng um den Körper. Was nun? Die Chancen, die Formel ohne Vis Vitalis und ohne einen geeigneten Emulgator vollenden zu können, waren gering bis unmöglich. Wenn schon die Grundelemente nicht stimmten, wie sollte man dann einem Experiment den letzten Schliff verpassen? Die einzige Möglichkeit, die blieb, war es, die nötigen Stoffe zu synthetisieren, sie künstlich herzustellen und zu hoffen, dass es in etwa den gleichen Effekt erzielte. Immerhin wusste niemand so genau, wo die Vis Vitalis überhaupt her kam, wie sie entstand und was sie im Einzelnen bewirkte. Vielleicht genügte es, Verbindungen mit denselben Eigenschaften herzustellen? Wie Fette aufgebaut waren, das wusste Echo, und auch, was seines von anderen Tieren unterschied. Es war eine irrsinnige Idee und höchstwahrscheinlich war sie zum Scheitern verurteilt, doch was hatte er schon für eine Wahl. Er musste es versuchen. Seufzend erhob sich Echo auf die Hinterläufe, legte die Vorderpfoten aneinander und konzentrierte sich auf die Energien, die in ihm flossen. Dann befahl er seinen Zellen, sich neu zu ordnen. „Mir ist laaaangweiliiig!“ Rumo ließ sich auf den Rücken fallen und reckte alle vier Gliedmaßen zur Höhlendecke. „Hier ist es zu warm, wir haben nicht genug Wasser, nichts zu tun und außerdem habe ich Hunger!“ Blaubär hob eine Augenbraue und sah ihn ebenfalls aus dem Liegen heraus an. „Du hast Hunger? Die letzte Lavaschlange hast du ganz allein gefressen, wenn ich dich daran erinnern darf. Wenn du jetzt noch was willst musst du es dir alleine jagen!“ Rumo erwog diese Möglichkeit einige Sekunden lang. „Hmm...nein. Zu viel Aufwand.“ „Dachte ich mir“, grinste Blaubär und wedelte sich mit dem Ärmel seines Pullovers, den er beiseitegelegt hatte, kühle Luft zu. Kühlere Luft, um genau zu sein, denn wirklich kalt war neben einem riesigen Lavasee wohl gar nichts. „Aber du hast Recht, dieses Gewarte ist wirklich schrecklich langweilig. Wie lange sind Mythenmetz und Echo jetzt schon da drin? Ich verlieren hier unten jegliches Gefühl für Zeit.“ „Ein Tag ist sicher schon vergangen“, überschlug Rumo. „Vielleicht sogar mehr. Viel zu viel auf jeden Fall! Mir läuft die Zeit davon!“ „Mir läuft das Wasser davon, das find ich aktuell viel schlimmer!“ Rumo ignorierte den matten Scherz seines Reisegefährten und begnügte sich damit reglos auf die Felsen über ihm zu starren. Wenn nicht bald etwas Spannens passierte, würde er noch wahnsinnig werden. Dann war er der Nächste, der in diesen unsäglichen Gängen mit einer Sense Amok lief. Sollte dieser Echo nicht ein herausragender Alchimist sein? Wieso brauchte er dann so lange für die Vervollständigung einer einzigen dämlichen Formel? Er sollte da drin keine Kekse backen, sondern Arbeiten! „Sei nicht so ungeduldig, du zu groß geratener Hund“, ermahnte Blaubär, dem nicht entgangen war, dass der Wolpertinger mit jeder verstrichenen Stunde hibbeliger geworden war. „Echo wird uns schon nicht hängen lassen. So ein Typ ist er nicht, davon bin ich überzeugt. Er gibt sicherlich sein Bestes. Vielleicht ist das ganze doch eine Nummer schwerer, als er gedacht hat! Immerhin reden wir hier nicht von dem Hausrezept deiner Mutter für Schweinshaxe, sondern vom Elixier des ewigen Lebens. Wenn das so einfach herzustellen wäre, würde ich mir heute keine Gedanken mehr darüber machen, warum mein Körper irgendwann einmal ohne meine Einwilligung den Geist aufgeben wird.“ Rumo fuhr sich mit der Pranke über das Gesicht und versuchte die Aufregung herunter zu schlucken, die ihn befallen hatte, seit ihm klar geworden war, dass er bald die Lösung für all seine Probleme in den Pfoten halten würde. Es funktionierte nur bedingt, ein leichtes Ziehen in der Magengegend blieb auch nach mehrmaligem Durchatmen und ließ sich auch nicht vertreiben, als er versuchte, sich in eine Art Trance-Zustand zu versetzten, indem er im Geiste unentwegt das Wort „Schnitzel“ wiederholte. Hoffentlich, hoffentlich beeilte sich Echo! Echo schloss die Elektroden an Kopf und Schwanz der toten Ratte an und drehte den Saft der alchimistischen Batterie voll auf. Die Spannung zuckte durch das Tier, es bäumte sich kurz auf, hüpfte zweimal wie ein Fisch auf dem Trockenen und blieb dann wieder reglos liegen. Ein verbrannter Geruch erfüllte den Raum. „Verdammt!“ Der junge Alchimist griff nach einem Federkiel und schleuderte ihn quer durch das Labor. „Warum funktioniert das nicht? Ich habe alles zu einhundert Prozent richtig synthetisiert, da bin ich mir sicher! Warum also...“ Noch einmal betrachtete er die tote Ratte, die ihm seit ein paar Stunden als Versuchsobjekt für seine vorläufigen Elixiere diente. „Warum willst du nicht leben, du Vieh?“ Das gesamte Labor war ein einziges Schlachtfeld. Zweiundzwanzig Stunden experimentierte Echo nun schon ohne zu essen oder zu schlafen und dennoch hatte er das Gefühl, keinen Schritt weiter zu sein. Er hatte Unmengen an Fett hergestellt, von simpelsten Fettsäuren bis hin zu einem kühnen Gemisch mit einem Hauch Zamomin, in der Hoffnung, dass es die ersehnte Vis Vitalis bringen würde, hatte sie vermengt und wieder getrennt, sie gekocht, gefroren und sublimiert, doch ohne Erfolgt. Nichts hatte die Ratte zum Leben erweckt, weder konzentrierte Erkenntnuss, noch Schlaukraut-Essenz, keine reduzierte Schreckseneiche und auch keine Kratzenminze. Letzteres war eine pure Verzweiflungstat. Er hatte sich beim Grundrezept akkurat an Eißpins Vorgaben gehalten und war beim Hinzufügen möglicher fehlender Substanzen auf einzig logische Art und Weise vorgegangen, doch es half alles nichts. Die Ratte wollte nicht leben. In den letzten Stunden hatte die Kratze ein Verdacht beschlichen, der sich mit jedem fehlgeschlagenen Versuch zu erhärten schien. Es war ein Gedanke, der ihm zuvor so noch nie gekommen war, der aber in seiner Banalität schier auf der Hand lag und so ärgerte sich Echo, dass er nicht von Anfang an diese Möglichkeit in Betracht gezogen hatte. 'Was ist, wenn nicht ich mich irre? Was ist, wenn Eißpin falsch lag und das ganze unmöglich ist? Wer sagt mir denn, dass es bei ihm funktioniert hätte, hätte er mich in jener Nacht getötet und ausgekocht?' War die ganze Aktion von Anfang an zum Scheitern verurteilt? Eißpin war ohne frage genial, er hatte Elemente erstellt, von denen noch niemand zuvor gehört hatte, hatte sich selbst resistent gegen so ziemlich jede Krankheit gemacht und nicht zuletzt eine Methode entwickelt, jeden denkbaren Stoff in Gold zu verwandeln. Dass er es schaffen könnte, sogar den Tod zu besiegen, war denkbar, doch sicher hatte auch der brillanteste Geist seine Grenzen. Echo ließ sich auf den Boden neben einem der Labortische hinabsinken, zog seine vermenschlichten Knie an und legte die Arme darum. Es gab im Grunde zwei Möglichkeiten: Entweder sein Meister hatte sich geirrt – oder es lag nach wie vor an der fehlenden Vis Vitalis. Es gab wahrscheinlich keine Methode, um da eine oder das andere auszuschließen, aber war es nicht so oder so egal? Wenn die Formel in den Grundzügen nicht stimmte, hatte er nichts in der Hand. Er selbst sah sich, bei aller Bescheidenheit, als talentiert und vielleicht hätte er mit jahrzehntelanger Forschung selbst einen Weg hin zum ewigen Leben finden können, doch binnen weniger Tage war allein der Gedanke illusorisch. Und wenn es doch die Vis Vitalis war, die an seinem Versagen Schuld war, konnte er daran hier unten ohnehin wenig ändern. 'Du weißt, dass das nicht stimmt.' Echo biss sich auf die Unterlippe. 'Es gibt einen Weg, an eine große Menge Vis Vitalis zu kommen. Dieses Buch, es stand dort drin, erinnerst du dich?' Der junge Alchimist wusste nicht, wann genau sein Bewusstsein eine solche Penetranz und Dreistigkeit entwickelt hatte, sich permanent in seine Angelegenheiten einzumischen, doch seit ein paar Jahren gab es da diese Stimme, die sich stets zu äußern pflegte, wann immer Echo kurz davor stand etwas Dummes, Gefährliches oder Verbotenes zu tun. Und meistens war sie dafür. Es war keine tatsächliche Stimme in seinem Kopf – er war nicht verrückt oder zumindest hoffte er das – sondern viel mehr eine Ahnung, der Geist eines Sprechenden, der Echo in seiner Ausdrucksweise und in seiner ganzen Art jedoch von Anfang an seltsamerweise an jemanden erinnert hatte. An jemanden, mit dem er etwa einen Monat lang recht viel zu tun gehabt hatte. Fakt war, dass diese Stimme recht hatte und Echo wusste das. Er hatte es einmal gelesen in einem Buch mit dem Namen „Urchemie des Ultimativen“, das selbst unter den radikalsten Alchimisten als wissenschaftlicher Humbug abgetan wurde. Es befasste sich mit Energieströmen, mit der Theorie, dass alles relativ sei, dass Raum, Zeit und Energie eine Einheit bildeten, die durch spezielle Rituale und Vorgehensweisen aufgelöst und in ihre Einzelteile zerlegt werden konnte. Dimensionslöcher hatten eine Rolle gespielt, dunkle Energie und dunkle Materie, die man nicht sehen könne, die aber dennoch vorhanden seien. Wirres Zeug, das Echos Gehirn zwar Wort für Wort gespeichert hatte, von dem er aber nicht einmal die Hälfte verstanden hatte. Eins jedoch war ihm besonders im Gedächtnis geblieben: Ein waghalsiges Experiment, bei dem der Urheber des Buches die von ihm so genannte Urenergie einfing, indem er sie in Form von Blitzen direkt aus der Atmosphäre zog. Gelehrte in ganz Zamonien bezweifelten, dass es einen solchen Versuch jemals gegeben hatte, geschweige denn dass er hätte erfolgreich sein können, da es außer der theoretischen Anleitung keine weiteren Niederschriften zu diesem Thema gab und auch der Verfasser des Werkes niemals namentlich in Erscheinung getreten war. Doch Echo war nicht überzeugt. Vielleicht war an diesen Theorien etwas dran. Während des Lesens hatte er schnell gemerkt, dass sich vieles von dem Behaupteten mit Nachtigallers berühmter Dunkelheitsforschung überschnitt, die er – im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, nie als schwachsinnig abgetan hatte. Energie aus der Schwärze des Weltraums... da steckte mehr dahinter, als sie meisten vermuteten, da war er sich sicher. 'Was, wenn du dir diese Energie irgendwie zu Nutze machen könntest?' Aber wie sollte das gehen? Wie fing man solch eine Energie? Eine Energie, von der niemand so genau wusste, ob sie überhaupt da war? Der anonyme Alchimist hatte eine riesige Apparatur skizziert, bestehend aus gigantischen Elektroden, einer Spule, unendlichen Anzeigen und Messgeräten und vollendet mit einer winzigen Menge Zamomin, das schon fast zu einem Muss bei scheinbar wahnsinnigen Experimenten geworden war. Diese Apparatur nachzubauen schied für Echo aus, so viel war klar. Also brauchte er etwas anderes. Aus den Botanik-Vorlesungen seines Studiums wusste er, dass Pflanzen eine Art Energiefalle nutzen, um sich das sie umgebende Licht zunutze zu machen. Es war ein Trichter, der die Wellen aufnahm und sie strudelförmig nach unten in das Blatt beförderte, wo sie die Photosynthese in Gang setzten. Doch im Gegensatz zu Pflanzen würde Echo keine Lichtenergie benötigen, sondern Urenergie. Dunkle Energie, die Energie des Universums selbst. Wenn der unbekannte Alchimist recht hatte und sie es tatsächlich war, die einst für die Entstehung des Lebens auf dem Planeten verantwortlich war, dann konnte sie es sicher auch ein zweites und ein drittes Mal. Eine Idee begann sich in seinem Kopf zu manifestieren. Sie war verrückt, vielleicht sogar gefährlich, doch mit einem ganzen Universum voller Glück, würde sie funktionieren. „Jetzt reicht es mir!“ Rumo sprang auf und fegte damit Blaubär von seinem inzwischen angestammten Liegeplatz. „Wie lange sollen wir denn bitte noch warten? Ich gehe da jetzt rein!“ „Denk daran, was Mythenmetz gesagt hat“, mahnte Blaubär und rappelte sich ebenfalls auf. „Wir sollen das Schloss nur im absoluten Notfall betreten. Wer weiß, was da drin auf uns wartet? Ich finde, wir sollten ruhig bleiben und die Zeit absitzen.“ „Ich bin die letzten drei Tage ruhig geblieben!“, jammerte Rumo lauthals, drehte sich einmal um die eigene Achse und begann dann wie manisch in der Höhle auf und ab zu laufen. „Ich kann nicht warten, verstehst du! Ich kann nicht! Ich habe keine Zeit!“ „Das verstehe ich ja! Aber davon, dass du jetzt hier durchdrehst, geht die ganze Sache auch nicht schneller, glaub mir! Du hilfst grad niemandem, auch nicht dir selbst.“ Rumo blieb stehen und funkelte Blaubär wütend an. „Ich will auch niemandem helfen, ich will voran kommen! Ich bin nicht der Typ, der daneben sitzt und wartet! Ich mache! Ich kämpfe! Ich bin ein Wolpertinger, dafür sind wir verdammt noch mal da!“ Blaubär seufzte resignierend. „Okay, okay, schon gut, wir gehen rein. Aber vorsichtig! Und wir folgen exakt dem Plan, den Mythenmetz uns gegeben hat! Wir gucken nicht mal nach links und rechts, klar?“ „Klar!“ „Gut…“ Der Buntbär zog die Karte des Schlosses aus seiner Tasche und entrollte sie. Dann studierte er eine Weile die darauf verzeichneten Wege, nickte immer wieder mit dem Kopf und murmelte zustimmend vor sich hin. Rumo versuchte ihm über die Schulter zu linsen und so ebenfalls einen Blick zu erhaschen. „Ist es weit? Sag schon!“ „Nein.“ Blaubär rollte die Karte wieder zusammen. „Weit ist es offenbar nicht. Und verlaufen sollten wir uns eigentlich auch nicht, es geht ziemlich geradeaus.“ Rumo grinste. „Worauf warten wir dann noch? Zeit mal nachzugucken, wie weit unser kleiner Freund mit seinen Experimenten ist!“ Blaubär stolperte seinem Gefährten unbeholfen vom langen Liegen hinterher, als dieser energiegeladen wie immer aus der Höhle stürmte. „Nur fürs Protokoll: Ich habe ein sehr schlechtes Gefühl dabei!“ Echo starrte die Ratte und an und die Ratte starrte zurück. Sie saß zusammen gekauert in einer Schale, Elektroden an ihren winzigen Gliedmaßen und das Fell in eine grünlich fluoreszierende Nährlösung getaucht und doch hätte dieser Augenblick für den jungen Alchimisten kaum erhabener sein können. Das Leben selbst sah zu ihm herauf aus kleinen, schwarzen Knopfaugen, furchtsam zwar, aber so voller Vitalität, dass es kaum zu begreifen schien. Er wagte sich nicht zu bewegen, wagte es nicht zu atmen, so zerbrechlich war die Konstruktion, die Echo in den letzten Stunden sorgsam Schraube für Schraube und Linse für Linse durch das ganze Labor hinweg konstruiert hatte. Gebündeltes Licht schoss vor im und hinter ihm durch den Raum, kreuzte sich, brach sich nach exakt berechnetem Winkel und schnitt präzise ausgewählte Linsen, bis der Betrachter das Gefühl bekam, es rotiere in sich selbst. Und im Grunde tat es das auch, wiederholte sich so oft in sich und addierte sich auf, bis sich seine Energie ins Gegenteil verkehrte und eine noch viel größere Kraft frei setzte, als gewöhnlichem Licht ohnehin schon inne wohnte. So zumindest lautete Echos grobe Theorie. Sie basierte auf Vermutungen und vagen Annahmen, die viel unpräziser gewesen waren, als sie es für einen solchen Versuch wahrscheinlich hätten sein sollten, doch was für eine Wahl hatte er gehabt? Ein unheimliches Sirren lag über dem Wald aus Linsen-Ständern und Kabel-Lianen, dessen Ursprung seltsamerweise in dem grünlichen Licht selbst zu liegen schien und stärker wurde, je näher die Spirale ihrem Mittelpunkt samt verschreckter Ratte kam. Dort, wo Echo stand, neben seinem Versuchsobjekt, war es beinahe unerträglich laut, obgleich die Lichtwellen auf dem letzten Stück hin zu den Elektroden an dem Tier beinahe verschwunden schien. ‚Nein“, dachte Echo. ‚Nicht verschwunden, nur unsichtbar. Es ist Anti-Licht. Dunkle Energie. Ich habe es geschafft!‘ Und dann kam ihm ein weit weniger erfreulicher Gedanke. ‚Die Ratte lebt, doch wenn ich es berühre, bin ich höchstwahrscheinlich tot.‘ Noch einmal beobachtete Echo fasziniert die Ratte, die sich in ihrem Bad aus Nährlösung und dunkler Energie suhlte. Sie schien keine Schmerzen zu haben oder unter sonst irgendwelchen Beschwerden zu leiden, das war gut. Ein Teil des gutmütigen Gestanltenwandlers hatte sich die ganze Zeit über gefragt, ob das, was er hier tat, ethisch vertretbar war, doch er hatte diese Gewissensbisse die ganzen letzten Stunden über verdrängt. Jetzt, da das Ergebnis seiner Experimente ganz offensichtlich keinerlei Traumata zu durchleiden hatte, konnte er sein Gewissen beruhigen – zumindest redete er sich das ein. Nach etwa einer Minute reglosen Starrens gelang es Echo seinen Blick von dem kleinen großen Wunder vor ihm zu lösen und sich im Labor umzusehen. Und jetzt? Rumo wollte eine Formel, ein Schriftstück, ein Dokument, ein Rezept zum nachkochen sozusagen. Aber wie sollte er das anstellen? Die Zusammensetzung der Eißpinschen Nährlösung war schnell aufgeschrieben, aber wie sollte einem Nachahmer begreiflich gemacht werden, welch wilde Konstruktion er zu bauen hatte, um einen ähnlichen Erfolg zu erreichen? Echo war sich noch nicht einmal selbst zu einhundert Prozent sicher, was genau er da eigentlich zusammen geschraubt hatte, wie als das ganze einem Unbeteiligten klar machen? Die naheliegenste Lösung war natürlich eine Zeichnung, doch allein der Gedanke daran ließ den jungen Alchimisten das Gesicht verziehen. Er mochte ja in vielen Dingen äußerst talentiert sein, eine Sache jedoch gehörte ganz sicher nicht dazu und das war der Umgang mit der Zeichenkohle. Wann immer er sich aus reiner Langweile an dem einen oder anderen Werk versucht hatte, war das Ergebnis stets bemitleidenswert gewesen und wurde schnellstens entsorgt. Vorzugsweise im Giftmüll-Container. Es gab Dinge, die brauchte die Welt nicht zu sehen! Aber was blieb ihm anderes übrig? Vorsichtig duckte Echo sich unter seiner Konstruktion hinweg und zog ein Pergament und eine Zeichenfeder aus einer Schublade. Dann hockte er sich in eine Ecke und begann zu zeichnen, was er sah. Ob es irgendwer verstehen würde, ob man überhaupt erkennen konnte, was er mit den krummen, krakeligen Lienen auf schmutzigem Papier meinte? Nun, sie mussten, denn besser ging es nicht. Und vielleicht, überkam es ihn plötzlich, war es auch besser so. Vielleicht war es das allerbeste, wenn niemand so genau wusste, was er hier unten veranstaltet hatte. Denn was er immer noch nicht so genau wusste, war, wo diese Energie, der er sich vom Universum geliehen hatte, genau her kam. Energie entstand nicht und Energie verging nicht, sie war ewig – lediglich ihre Form war variabel. Und das bedeutete, dass die Energie, die nun durch die Adern der Ratte pulsierte, zuvor irgendeinen anderen Zweck erfüllt hatte. Hoffentlich war der nicht allzu wichtig gewesen. Während Echo so vor sich hin zeichnete, Listen von Zutaten für die Nährlösung erstellte und auch noch einmal jedes Fett und jeden Todesseufzer auflistete, den sein Meister einst für dieses Experiment verwendet hatte, wanderten seine Gedanken zu Eißpin, der nur wenige hundert Meter entfernt in selbstzerstörerischem Wahn durch die Katakomben wanderte und wohn kaum ahnte, dass sein Lebenswerk soeben vollendet worden war. Oder zumindest so was Ähnliches. Wahrscheinlich war es gut so. Wer weiß, was der Alte mit diesem Wissen angestellt hätte? Wobei – im Grunde war es naheliegend. Er würde sich auf die Suche nach Florias Leiche machen, nach dem, was von ihr noch übrig geblieben war. Und dann würde er sie wieder erwecken. Und wenn er feststellte, dass sie keinen Körper mehr besaß, den man reanimieren konnte, würde er ihr einen solchen bauen, davon war auszugehen. Echo erschauderte bei der Vorstellung einer skurrilen Hochzeitszeremonie mit Eißpin und einer Zombie-Artigen Floria, deren Wiedernatürlichkeit der völlig verblendete Bräutigam nicht sehen konnte und wollte. Er tat ihm mehr Leid als alles andere. Schließlich ließ er die Feder sinken und sah sich um. Wollte er dieses Werk wirklich einfach so in fremde Hände geben? Immerhin handelte es sich hier um eines der größten Geheimnisse der Alchimie. Doch was sollte er damit? Er hatte der experimentellen Alchimie vor Jahren abgeschworen und sich soweit es eben ging von ihr distanziert. Und jetzt, da er wusste, dass Eißpin noch am Leben war, wollte er umso weniger mit ihr zu tun haben. Sollten andere doch den Ruhm für seine Arbeit einstreichen, er brauchte all das nicht. Und Schaden konnte man mit dieser Entdeckung ja wohl kaum anrichten, oder? Echo erhob sich, rollte die Pergamente zusammen, versiegelte sie und machte sich dann daran, das Chaos im Labor zu beseitigen. Blaubär starrte auf den Plan vor seiner Nase und drehte ihn immer wieder hin und her. „Ich glaube, jetzt müssen wir nach…. rechts!“ „Das glaube ich eher nicht“, antwortete Rumo von etwas weiter vorne. Der Buntbär studierte die Karte ein weiteres Mal. „Doch, doch, ich bin mir ziemlich sicher!“ Rumo ging auf ihn zu und schob die Karte mit sanfter Gewalt aus seinem Blickfeld. „Ich würde deinen Anweisungen ja mit Freuden folgen, Kumpel. Da gibt es nur ein kleines Problem…“ Er deutete mit ausgestreckter Pfote auf die Wand rechts von ihnen. „Dort ist kein Weg!“ Blaubär blinzelte ein paar Mal verdutzt, ging dann zur Wand und begann, die Steine abzutasten. Sie gaben erwartungsgemäß nicht nach. „In der Tat, hier ist nichts...“, murmelte er und kratzte sich dann am Kopf. „Seltsam.“ Rumo schnappte sich die Karte. „Die übernehme von nun an ich! Sonst kommen wir ja nie an!“ Er entfaltete sie und sah drauf. Das konnte doch nicht so schwer sein! Wenn also dieses Rote X dort das Labor markierte, indem sich Echo gerade befand und das M dort hinten für Mythenmetz stand, der Eingang dort lag und die vier Treppen, die sie gerade herauf gekommen waren…. Rumo tippte Blaubär auf die Schulter und steckte ihm, als dieser sich überrascht umdrehte, die Karte in geöffneten Pfoten. „Schon gut. Kannst sie wieder haben.“ Blaubär lachte, wenn auch nur kurz. Rumo war trotzdem beleidigt. Gut, konnte er halt keine Karten lesen, na und? Was war schon dabei? Dafür war er nicht blau. So! „Mach es doch besser!“, schmollte er und scharrte mit den Pfoten über den Boden wie ein bockiges Kind. „Ich will einfach nur ankommen. Und das wenn möglich noch heute!“ „Schon gut“, wehrte Blaubär ab und hob beschwichtigend die Pranken. „Ich arbeite ja dran! Weit kann es eigentlich nicht mehr sein.“ „Das hoffe ich!“ „Wir wären wesentlich weiter, wenn du nicht die ganze Zeit an mir herum meckern, sondern mich einfach mal machen lassen würdest!“ „Wenn ich dich nicht angetrieben hätte, säßen wir immer noch da draußen in der Höhle!“ „Und das wäre auch besser so!“ „In der Tat, das wäre es!“ Rumo und Blaubär schreckten aus ihrem kindischen Streit auf und wirbelten herum. Wenige Meter von ihnen entfernt im Korridor stand Mythenmetz, ein Buch unter dem Arm, das Monokel vors Auge geklemmt, und funkelte sie wütend an. „Was macht ihr zwei hier drin? Hatte ich euch nicht gesagt, dass ihr draußen auf uns warten sollt?“ Blaubär machte einen Schritt von Rumo weg, um sich auch rein Körperlich von dem Übeltäter zu distanzieren. Der Wolpertinger nahm es ihm postwendend sehr übel. „Es war seine Idee. Er meinte, wir hätten genug gewartet!“ Mythenmetz nahm Rumo ins Visier, der daraufhin einige Zentimeter zu schrumpfen schien. „Ich meinte ja nur…. Es war schon ziemlich viel Zeit vergangen. Euch hätte etwas zugestoßen sein können.“ Die Entschuldigung war schwach, das wusste er selber. Der Schriftsteller schnaubte. „Wie auch immer! Ihr könnt froh sein, dass ich euch gefunden habe. Ihr minderbemittelten Pelzträger habt es nämlich geschafft euch gehörig zu verlaufen. Was bei der detaillierten Karte, die ich euch gab, nebenbei bemerkt schon eine Leistung für sich ist!“ Rumo und Blaubär sahen betreten zu Boden. Was hätten sie auch anderes tun sollen? „Nun, aber da ihr jetzt ohnehin schon mal hier seid…. Echo?“ Erst jetzt bemerkten die beiden unwillkommenen Eindringlinge, dass Mythenmetz von Echo begleitet wurde, der zwar etwas erschöpft aus der Wäsche guckte, sonst aber noch ganz munter wirkte. In Rumos Innerem verkrampfte sich alles. Nun war die Stunde der Wahrheit gekommen. Hatte er es geschafft? Auch Blaubär war die angespannte Neugier ins Gesicht geschrieben, während er erwartungsvoll von der Echse hin zur Kratze und wieder herauf zur Echse blickte. „Also…?“ Der junge Alchimist ließ sich Zeit mit seiner Erklärung und trieb Rumo so an den Rand des Wahnsinns. Raus mit der Sprache, du komische Katze!, hätte er am liebsten gebrüllt, doch er hielt an sich und übte sich in Selbstbeherrschung. Vielleicht auch nicht das Schlechteste. Dann endlich begann Echo zu sprechen. „Es war nicht leicht, so viel kann ich sagen“, erklärte er und stricht sich mit seinen vermenschlichten Fingern die langen Haare aus der Stirn. „Ich habe mich Methoden bedient, die ich lieber nicht genutzt hätte. Doch letzten Endes…“ er griff in seine Tasche und wühlte etwas darin herum, zog dann schließlich etwas daraus hervor und präsentierte es seinen Mitreisenden „… habe ich es geschafft.“ Echo übergab Rumo zwei Rollen Pergament, die dieser ungläubig entgegen nahm. Sein Hirn schien nicht in der Lage aufzunehmen, dass es das gewesen sein sollte. Das war alles. Zwei kleine Fetzen Papier und ein bisschen Tinte. Eine wochenlange Reise und etliche Lügen und Kämpfe für ein Stück bekritzelte Holzfasern. Kein Höhepunkt, keine epische Schlacht, keine Explosionen. Gar nichts. Formel fertig, ende, aus. „Das einzige Problem daran ist…“ Der Wolpertinger horchte auf. Da war es! Jetzt kam es doch noch! Sein großes Finale, auf das er die ganze Zeit gewartet hatte. Der epische Kampf, der Stoff, aus dem Helden wie er gemacht waren. „… dass es dadurch, dass ich die Formel meinen Bedingungen anpassen musste, ganz genau genommen kein Elixier des Ewigen Lebens mehr ist, sondern viel mehr eine Möglichkeit, Leben zu erschaffen, beziehungsweise bereits Totes wieder zum Leben zu erwecken. Ich hoffe, das reicht Nachtigaller aus. Außerdem sollte der Schritt zur Lebenselixier von dort aus auch nicht mehr allzu weit sein. Falls es nicht reicht… tut mir Leid, mehr konnte ich nicht tun.“ Rumo blinzelte. Und wo war jetzt sein Problem? Seine Aufgabe, die nur ein Held lösen konnte? Das konnte es doch wohl nicht gewesen sein! Alle Augen hatten sich auf ihn gerichtet, doch es dauerte eine Weile, bis der Wolpertinger begriff, dass man eine Antwort von ihm erwartet. „Äh…“, stammelte er. „Äh… ja, wird schon reichen.“ „Gut, dann sind wir hier wohl fertig“, sagte Mythenmetz und sah in die Runde. Jeder hat, was er will und alle sind glücklich. Dann können wir ja gehen.“ Rumo versucht sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er wollte noch nicht gehen. Hatte das Abenteuer nicht gerade erst angefangen? Könnten sie nicht noch ein kleines Bisschen hier unten bleiben, wo es gefährlich war? Nur so zum Spaß? „Findest du nicht, dass du in letzter Zeit genug ‚Spaß‘ hattest?“, mischte sich Löwenzahn plötzlich in seine Gedanken ein. „Darf ich dich dran erinnern, dass du ein paar Mal beinahe drauf gegangen wärst? Du hast nicht mal mehr dein eigenes Rückgrat!“ ‚Jaa, ich weiß….‘ „Pff, recht haste, Junge!“, rief Grinzold. „Wir sind hier noch nicht fertig! Hier gibt es bestimmt noch eine Menge starker Typen, die man mal ordentlich aufmischen kann. Wir könnten den alten Typen mit seiner Sense wieder ausgraben.“ „Und dann? Dann macht er uns tot!“, kreischte Löwenzahn. „Auf gar keinen Fall.“ Grinzold machte ein beleidigtes Geräusch. „Ich wollte sagen, dass wir uns mit ihm anfreunden könnten. Ich fand ihn richtig sympathisch.“ „Nun, ich NICHT!“ ‚Schon gut, schon gut, ich habs ja verstanden!‘ Rumo versetzte Löwenzahn einen Klaps und gab seinen Gefährten damit zu verstehen, dass sie die Klappe zu halten hatten. Solche Signale brauchte es, wenn man zwei Stimmen in seinem Kopf hatte und nicht früher oder später in der Psychiatrie landen wollte. Irgendwann musste einfach mal Ruhe sein. Unter den vier Reisenden war unterdessen eine verlegene Stille entstanden. Ihre Zusammenarbeit war beendet, doch irgendwie schien keiner der Erste sein zu wollen, der diesen Schritt offiziell machte. So standen sie eine Weile betreten in der Dunkelheit Schloss Schattenhalls und schwiegen sich an, bis sich Mythenmetz schließlich räusperte und in gewohnter Geste seine Umhang glatt strich. Eine Geste des Sammelns. „Nun ich denke, wir alle wissen, was nun ansteht. Es ist an der Zeit, sich auf den Rückweg zu machen.“ Echo, Blaubär und auch Rumo nickten. „So soll es sein“, pflichtete der Wolpertinger abwesend bei. „Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren. Je schneller wir hier raus sind, desto besser.“ Mythenmetz hob den Arm und deutete in einen der angrenzenden Stollen. „Gut. Der schnellste Weg hier raus und zurück zur Oberfläche führt hier entlang. Hoffen wir einmal, dass uns die Bücherjäger zumindest dieses Mal in Ruhe lassen.“ Rumo setzt ein zuversichtliches Lächeln auf, als er seinen Gefährten in die nicht zu deutenden Gesichter blickte. Eigentlich war es perfekt so, wie es war. Wieso wollte er überhaupt ein großes Finale? Es kostete nur Zeit und in den meisten Fällen verlor irgendwer dabei auf dramatische Weise sein Leben. Eigentlich konnte er sich verdammt glücklich schätzen, dass zumindest die letzte Etappe seiner Reise so reibungslos verlaufen war. „Ja, hoffen wir es!“ Also Rumo schließlich aus der Tür des kleinen Antiquariats heraus trat, das sie seltsamerweise leer vorgefunden hatte, tat er einen tiefen, befreienden Atemzug. Es war tatsächlich geschafft. Und endlich schien diese Neuigkeit auch in seinem Hirn angekommen zu sein. Alles war vorbei und sie hatten gesiegt. Eine Formel, oder zumindest etwas in der Art, zum erschaffen des Lebens selbst lag in seiner Pfote und schon bald würde er sie eintauschen gegen das eine Leben seines Freundes. Das mochte vielen unbegreiflich erscheinen, doch der Wolpertinger machte sich nichts aus dem Wissen der Welt, solange er die um sich hatte, die er liebte. Und dem Argument, dass man mit einer Apparatur, die Leben erschuf, wenig Schaden anrichten konnte, hatte selbst der äußerst skeptische Mythenmetz wenig entgegen zu setzten. Atemzug Nummer zwei war beinahe genau so süß wie der erste. Eine Leichtigkeit hatte von Rumo Besitz ergriffen, wie er sie seit Jahren nicht mehr gespürt hatte. Er hätte nicht übel Lust gehabt, die gesamte Stecke von Buchhaim nach Atlantis in einem Zug durch zu rennen und noch am selben Abend die erlösende Nachricht in Smeiks Büro zu tragen, doch zunächst mussten Verhältnisse geklärt werden. Während der letzten paar Stunden in den Katakomben hatte sich Aufbruchsstimmung unter seinen Gefährten breit gemacht. Ihre Reise war beendet und ebenso war es ihre Zusammenarbeit. Sie hatten sich nicht wirklich gut verstanden, doch irgendwie schien ein nahender Abschied dennoch schwermütig zu stimmen. Sogar Mythenmetz war auf der Zielgerade erstaunlich still geworden, was im Endeffekt bedeutete, dass er sich nur über jeden zweiten, anstatt direkt über jeden Stein beschwert hatte. Rumo rechnete es ihm hoch an. Der dritte Atemzug roch nach Angst. Blaubär schob sich hinter seinem Gefährten aus der Tür und sah sich um, indem er sich auf der kleinen buchhaimer Straße einmal um die eigene Achse drehte. „Was, bei Hel, ist denn hier los?“ Die sonst so lebendigen Gassen waren wie ausgestorben. Mythenmetz hielt misstrauisch die Nüstern in den Wind. „Irgendwas stimmt hier nicht. Ganz und gar nicht. Wieso ist hier niemand?“ Eine zerfetzte Buchseite wehte vor ihnen über das Kopfsteinpflaster, gefolgt von einer zweiten und einer dritten und dann einer halb abgeknickten Schreibfeder. Ihr Rascheln war der einzige Laut weit und breit, nur begleitet vom unheimlichen Heulen des Windes – das perfekte Bild einer Geisterstad. Rumos Glücksgefühle wichen einem frostigen Erschaudern. Das war doch alles nicht richtig! Sie waren doch nur etwa eine Woche weg gewesen! Was konnte in diesen paar Tagen nur passiert sein? Echo tapste zu Blaubär auf die Straße. Er hatte die Ohren angelegt und den Körper nah an den Boden gedrückt. „Das gefällt nicht. Lasst uns von hier verschwinden. Bitte!“ Der Buntbär nickte zustimmend und schlang sich die Arme um den Körper als würde er frieren. „Der Kleine hat Recht. Irgendwas ist hier nicht ganz sauber. Und ich will nicht warten, bis es kommt und mich frisst! Lasst uns abhauen!“ Rumo wagte sich nun ebenfalls ein paar Schritte weiter hinaus und sah links und rechts die Gasse hinunter. Tatsächlich. Es war niemand zu sehen. Alle Buchläden und Gaststätten waren geschlossen, das ewige Sirren und Wummern der Druckerpresse war verstummt und aus keinem einzigen Schornstein drang Rauch. Es war, als wäre Buchhaim nichts weiter als eine übergroße Theaterkulisse, die man nach Absetzten des Stückes verwaist zurück gelassen hatte. „Wir könnten irgendwo klopfen“, schlug Echo vor. Vielleicht ist ja jemand zu Hause und kann uns verraten, was hier passiert ist.“ Mythenmetz war ihm einen Schritt voraus. Er war auf einen Buchhandel zugegangen, der bis vor wenigen Tagen noch so ziemlich jedes Buch der zamonischen Literatur geführt hatte, und hämmerte nun mit beiden Klauen an den geschlossenen Fensterladen. „Hey!“, rief er dabei wenig freundlich. „Aufmachen! Jemand da? Wir haben da ein paar Fragen!“ Eine Weile geschah gar nichts. Dann, nach etwa einer Minute der absoluten Stille, drang auf einmal zur Überraschung aller eine dünne Stimme zu ihnen nach draußen. „Wer sind Sie?“, fragte die Stimme eine Spur ängstlich. „Sind Sie ein Zamonier?“ Mythenmetz warf einen ungläubigen Blick über die Schulter, scheinbar um sich zu vergewissern, dass seine Gefährten diese Frage gerade eben auch gehört hatten. „Natürlich sind wir Zamonier! Was sollten wir denn bitte sonst sein? Außerirdische?“ „Beweist es!“ „Also das ist doch…“ Der Schriftsteller stemmte genervt die Krallen in die Hüften. „Mein Name ist Hildegunst von Mythenmetz! Wenn Sie sich die Mühe machen würden, ihren komischen Fensterladen auch nur für eine Sekunde zu öffnen, dann würden Sie es vielleicht sehen können. Und ich könnte sehen, mit welchem Idioten ich es zu tun habe!“ „Schon gut, schon gut, ich glaube Ihnen. Kommen Sie rein. Aber machen Sie schnell!“ Wieder folgten einige Sekunden der Stille, dann kratzen deutlich hörbar einige Riegel über die Innenseite der nahen Eingangstür und ein Schlüssel wurde herum gedreht. Schließlich schwang die Tür auf und die wässrigen Augen eines alternden Wildschweinlings spähten misstrauisch durch den Spalt. Als er Mythenmetz erkannte, hellte sich sein Blick auf. „Hildegunst von Mythenmetz! Sie sind es wirklich! So ein Glück! Hier in Buchhaim denken viele, die hätten sie schon erwischt. Wo doch jeder weiß, dass sie auf der Liste stehen. Wie konnten Sie sich bis jetzt verstecken? Aber ist ja auch egal. Kommen Sie erst mal rein!“ „Ähm, danke….“, antwortete Mythenmetz langsam und mit einem Gesichtsausdruck, der vermuten ließ, dass er an der geistigen Gesundheit seines Gegenübers zweifelte. Dann schob er sich am Gastgeber vorbei in die Buchhandlung, dicht gefolgt von Rumo, Blaubär und Echo, die allesamt froh waren, von der unheimlichen Straße herunter zu kommen. Der Wolpertinger ließ zu, dass ein letzter Schauer des Unbehagens seinen Körper schüttelte und ihm das Nackenfell zu Berge stehen ließ, bevor er sich wieder fasste und seinerseits den Wildschweinling beäugte. Er wirkte bedrückt und eingeschüchtert und Rumo vermutete, dass das nichts mit seinem fortgeschrittenen Alter zu tun hatte. Er beschloss, dass dies nicht die Zeit für Smalltalk oder Formalitäten sein konnte. „Tut mir Leid, wenn ich so mit der Tür ins Haus falle, guter Mann, aber könnten Sie uns vielleicht sagen, was hier los ist? Warum ist Buchhaim so ausgestorben?“ Der Buchhändler sah Rumo einen Augenblick entgeistert an. „Diese Frage meinen Sie nicht ernst, oder?“ An dieser Stelle sprang Blaubär ein. Er fuhr sich mit der Hand über den Hinterkopf und lachte verlegen. „Haha, entschuldigen Sie meinen ungehobelten Freund. Hallo erst mal. Mein Name ist Blaubär. Und nun… doch! Die Frage meinen wir leider ernst.“ Die Augen des Alten wandernten entsetzt von einem Reisenden zum nächsten, ernteten dabei jedoch nur ratlose Blicke, sodass er schließlich einsehen musste, dass man ihn nicht auf den Arm nahm. Er fuhr sich zitternd mit einer Pfote durch das Kopffell. „Das gibt es doch wohl nicht….“, murmelte er wie zu sich selbst. „Wie kann man das nicht mitbekommen haben?“ „Was, alter Mann?“, drängelte Mythenmetz genervt. „Was mitbekommen?“ Als der Wildschweinling schließlich aufsah, war die Furcht in seinen Augen beinahe greifbar. „Es tut mir Leid euch das sagen zu müssen…“, flüsterte er kaum hörbar. „Aber ganz Zamonien befindet sich im Krieg.“ Kapitel 18: Zu spät ------------------- „Krieg?“ Mythenmetz verschränkte ungläubig die Arme vor der Brust. „Das können Sie doch nicht ernst meinen! Was für ein Krieg soll denn das bitte sein, der ganz Buchhaim lahmlegt?“ Das war eine gute Frage, fand Rumo. Zamoniens Einwohner waren zwar nicht gerade für ihre Friedfertigkeit bekannt, doch meist beschränkten sich ihre Aggressionen auf kleinere Reibereien in den Bergen oder tollkühne, schnell entschiedene Eroberungsfeldzüge auf einzelne Städte. Selbige verliefen laut und dreckig und ließen selten einen Stein auf dem anderen, etwas, das ihnen sicherlich aufgefallen wäre, als sie die Katakomben verlassen hatten. Nein, hier war etwas anderes im Gange. Die Straßen waren wie leer gefegt und doch unberührt. Eine angespannte, gespenstische Stille lag über der Stadt, kein Kriegsgetümmel weit und breit, aber auch sonst war nicht der kleinste Laut zu hören gewesen. Und dann war da ja noch diese Sache, die der alte Wildschweinling erwähnt hatte. ‚Ganz Zamonien….‘ „Wir werden alle sterben“, winselte Löwenzahn rein prophylaktisch. „Ihr wisst es also tatsächlich nicht, wie?“ Der Wildschweinling schüttelte resignierend den Kopf. „Unfassbar. Wie konnte das passieren?“ „Wir waren die letzten Tage in den Katakomben“, erklärte Blaubär. „Wir haben dort… etwas erledigt.“ Das wütende Funkeln in Mythenmetz‘ Augen brachte ihn schneller zum Schweigen als eine ganze Horde Bolloggs, doch die Sorgen des Schriftstellers, ihre kleine geheime Mission könnte auffliegen, schien vollkommen unbegründet, denn der Buchhändler war ganz mit sich selbst beschäftigt. „Also haben sie die Katakomben noch nicht erreicht. Oder noch nicht gefunden. Beides gut. Gut für uns.“ „Ähm, wer sind denn „sie“?“, mischte sich nun auch Echo ein, der das ganze bis jetzt stillschweigend beobachtet hatte. Der Wildschweinling wirbelte zu ihm herum und riss dramatisch die Augen auf. „Die, gegen die wir Krieg führen, natürlich!“, rief er und warf dabei die Arme in die Luft. „So weit war ich“, entgegnete Echo trocken. „Und gegen wen genau führen „wir“ Krieg?“ Es war ihm anzusehen, dass er sich nur schwer eine Macht ausmalen konnte, die gegen einen ganzen Kontinent voller tödlicher Kreaturen länger als drei Minuten bestand, und Rumo konnte es ihm nachfühlen. Doch der Wildschweinling war von seiner Sache überzeugt. „Gegen eine Übermacht! Sie sind überall. Sie waren überall! Ganz plötzlich!“ „Komm zum Punkt, Alter!“ Mythenmetz‘ Geduld hatte offenbar ihre Grenzen. Was, genau genommen, hinreichend bekannt war. „Menschen!“ Rumo brauchte einige Sekunden, bis diese Information in seinem Gehirn angekommen war. Und dem allgemeinen Schweigen nach zu urteilen, ging es seinen Gefährten da nicht anders. Als die Bedeutung hinter diesem einen Wort dann schließlich zu ihm durchgesickert war, erschien sie ihm so lächerlich, dass er am liebsten auf der Stelle laut los gelacht hätte, doch Mythenmetz kam ihm zuvor. Der Lindwurm prustete los, wie man es wohl selten von ihm erlebt hatte, musste sich sogar an einen der Bucherstapel klammern, um nicht umzufallen. „Menschen“, japste er. „Haha… Menschen! Diese kleinen, dürren, talentlosen Irren, von denen drei oder vier wie Tiere in den Bergen hausen, meinst du die, alter Mann? Das ich nicht lache!“ Dann wurde er schlagartig ernst. „Auf den Arm nehmen kann ich mich alleine, verstanden?! Also raus damit! Was geht hier wirklich vor?“ Der Buchhändler hatte sich ängstlich vor dem ausladenden Lachanfall der Echse geduckt und lugte nun vorsichtig zwischen seinen Armen hervor. „Es ist, wie ich es Ihnen sage“, stammelte er. „Sie kamen über Nacht. Haben alle strategisch wichtigen Punkte besetzt. Hatten innerhalb weniger Stunden sogar Atlantis unter ihrer Kontrolle.“ „Atlantis?“ Rumo rutschte das Herz in die Hose. „Völlig unmöglich! Niemand kann Atlantis einnehmen!“ „Das dachte ich auch“, gab der Wildschweinling zu. „Das dachten wir alle. Aber es ist passiert. Sie waren auf einmal so viele, so furchtbar viele! Und sie fallen in die Städte ein! Sledwaya und Nebelheim gehören schon ihnen, etliche andere auch. Und wir, die wir in den Städten leben, die noch nicht erobert sind, können nichts weiter tun als uns zu verstecken und zu hoffen, dass es bald vorbei ist.“ „Nun aber mal langsam!“, unterbrach Echo und sprang auf den Verkaufstresen, um besser auf sich aufmerksam machen zu können. „Wie schaffen es Menschen – und seien es noch so viele – ein Land wie dieses zu unterwerfen? Sie sind klein! Und ihre Körper sind schwach! Ihre Rasse ist nicht gemacht für den Kampf!“ Der alte Buchhändler sah ihn lange an, bevor er schließlich mit zitternder Stimme antwortete: „Man sagt, sie töten Bolloggs. In Dreier-Teams. Zwei bringen ihn zu Fall und der Dritte reißt ihm bei lebendigem Leib das Herz raus.“ Echo blieb völlig ungerührt. „Schwachsinn“, erklärte er gerade heraus. „Märchen, Geschichten, die sich in bester Flaschenpost-Manier hochschaukeln. So etwas ist völlig unmöglich. Denk doch mal nach, Alter Mann! Ein einziges Bollogg-Herz ist wahrscheinlich gut zehn Mal so schwer wie ein Mensch!“ Doch der Wildschweinling schüttelte nur energisch den Kopf. „Sagt, was ihr wollt! Glaubt, was ihr wollt. Aber ich weiß, dass es stimmt. Und ich weiß auch, dass ich nicht besonders scharf darauf bin, diesen Monstern von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen. Der da“ - er deutete mit einer dürren Klaue auf Mythenmetz –„steht auf ihrer Liste. Ihrer Todesliste. Das heißt, sie werden bald kommen und ihn holen. Genau wie sie Nachtigaller und all die anderen geholt haben. Und wenn das passiert, will ich nichts mit euch zu tun haben. Also geht bitte!“ „Schön!“, fauchte der Schriftsteller und richtete sich zu seiner vollen, imposanten Größe auf. „Das hatten wir ohnehin gerade vor. Nichts könnte uns auch nur eine Sekunde länger im Laden eines solchen Spinners halten!“ Mit einer theatralisch ausladenden Geste schlug er sich seinen Reiseumhang um den Körper und wandte sich zur Tür. „Ich hoffe nur, dass hier keines von meinen Werken auf sein staubiges, sinnentleertes Ende wartet! Dieser sogenannte Buchhandel ist das Leder nicht wert, in das es gebunden wurde!“ Damit und mit dem Klingeln der silbernen Türglocke war er verschwunden. Echo hüpfte elegant vom Verkaufstresen herab und stolzierte ihm mit hoch erhobenem Schweif nach, gefolgt von Rumo, der der kleinen Kreatur geistesabwesend die Tür aufhielt. In seinem Kopf tanzten die Gedanken einen wilden Tanz, während er versuchte, das soeben gehörte zu sortieren. Die Menschen hatten Atlantis übernommen? Nein, das war unmöglich! Er kannte Atlantis und seine Bewohner zu genüge, um das zu wissen. Allein durch seine schiere Größe, seine Unübersichtlichkeit und seine Struktur glich es einer einzigen gigantischen Festung, dazu kamen Greife als Stadtwachen, endlose Tunnelsysteme, in denen angeblich sogar Drachen hausten und eine ganze Armee von finsteren Gestalten, Mördern und Halsabschneidern, mit denen nicht mal er, ein Wolpertinger, sich freiwillig angelegt hätte. Noch dazu fielen Menschen in der großen Stadt, obgleich sie das Ballungszentrum aller Arten war, doch noch immer auf wie bunte Bären. Sie waren erst seit wenigen Jahren überhaupt in der Stadt zugelassen – schlicht aus dem Grund, dass man die Hand voll, die noch von ihnen übrig war, keines Gesetztes würdigen wollte - und galten daher noch immer als selten und nicht gerade gern gesehene Gäste. „Glaubst du, an der Sache ist was dran?“, fragte Löwenzahn zaghaft in sein Gedankengewusel herein. „Wenn da was dran ist, dann sollten wir abhauen. Irgendwo hin, wo sie uns nicht finden! Ich will nicht, dass sie mir bei lebendigem Leib das Herz raus reißen!“ Grinzold stöhnte genervt. „Du HAST kein Herz und du bist auch nicht lebendig, Vollidiot! Du bist ein verdammtes Gehirn in einem Schwert. Aber offenbar kein sehr großes!“ „Auf jeden Fall größer als dein Gewalt verherrlichendes Schrumpfhirn, du Grobian! Nicht wahr, Rumo? Sag’s ihm!“ ‚Lass ihn in Ruhe, Grinzold‘, dachte Rumo beschwichtigend. „‘Du weißt, er ist nicht wie du. Und du weißt auch – ihr wisst es beide! – dass ich euch für den Rest des Tages in einen Sack stecke, wenn ihr euch weiterhin streitet! Das hält man ja nicht aus!‘ „Is‘ ja gut, Kumpel.“ Grinzold gab nach, wenn auch nur ungern, das wusste Rumo. „Also, was glaubst du? Ist an der ganzen Geschichte was Wahres dran? Gehen wir jetzt `n paar Menschen den Hintern aufreißen? Könnten wir ohnehin machen – immerhin sind die Schuld dran, dass wir seit Wochen durch die halbe Weltgeschichte gurken.“ ‚Ich weiß nicht, ob…‘ Rumo hielt inmitten des Gedanken inne, was tatsächlich erstaunlich einfach war. Ihm dämmerte plötzlich etwas. Der Wolpertinger hatte keine Ahnung, was genau es war, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass es etwas Bedeutendes sein könnte, etwas Großes. Noch konnte er es nicht fassen, es war wie ein Nebel, der ihm durch die Pfotenspitzen glitt, als er danach griff, wie ein Buch, zu weit oben im Regal um erreichbar zu sein. Er durfte diese Ahnung nicht aus den Augen verlieren, das wusste er in der Sekunde, als sie ihn ereilte. Doch noch war es zu früh, sie mit den anderen zu teilen, wusste er doch selbst noch nicht so genau, um was es eigentlich ging. Ohne seinen beiden Schwert-Gefährten weitere Aufmerksamkeit zu schenken, sah er sich nach seinen physisch präsenteren Kameraden um. „Wir müssen so schnell wie möglich nach Atlantis!“, verkündete er. „Ich muss wissen, ob der alte Mann die Wahrheit gesagt hat!“ ‚Und ob es Smeik gut geht‘, dachte er weiter, doch das behielt er für sich. Mythenmetz massierte sich in der Stille der verlassenen Straße die Schläfen. „Sag nicht, du glaubst diesem Spinner, Hund! Ich wusste ja, dass du nicht allzu helle bist, aber für so leichtgläubig hätte ich selbst dich nicht gehalten!“ Blaubär war als letzter aus der Ladentür getreten und schien etwas bleich um die königsblaue Nase. „Rumo hat recht“, verteidigte er seinen pelzigen Kollegen. „Ich glaube zwar auch nicht, dass Menschen zu so etwas imstande sind, aber wir können wohl kaum leugnen, dass hier irgendetwas Seltsames vor sich geht. Bevor sich unsere Wege trennen, sollten wir sicher gehen, dass niemand von uns in Gefahr ist. Außerdem…“, er hielt einen Moment inne, bevor er schließlich weiter sprach, „… außerdem geht mir nicht aus dem Kopf, was der Typ über Nachtigaller gesagt hat. Dass sie ihn geholt hätten, was auch immer das bedeuten mag. Und dass sie nun auch Mythenmetz holen wollen. Wenn auch nur irgendetwas davon stimmt, könnten wir bald einen Haufen Probleme bekommen.“ Echo zuckte unruhig mit dem Schweif. „Da ist was dran. Zusammen zu bleiben ist wohl im Moment tatsächlich nicht die schlechteste Idee. Auch wenn es nur dazu dient, auf Nummer Sicher zu gehen.“ „Ja seid ihr denn alle bescheuert?“, rief Mythenmetz aufgebracht und ließ seine Worte einige Sekunden wirkungsvoll in der leeren Gasse wiederhallen. „Ein dahergelaufener Irrer erzählt euch, dass Menschen – Menschen! – Zamonien in ihrer Gewalt hätten und ihr verliert sofort den Kopf?! Wenn ihr nichts Besseres zu tun habt, als zusammen nach Atlantis zu reisen – schön, so sei es! Aber ohne mich! Ich werde zu Lindwurmfeste zurückkehren und du“ – er deutete auf Echo –„wirst mich begleiten und mir Rede und Antwort stehen, wie es mir versprochen wurde!“ Doch Echo machte keine Anstalten sich zu bewegen. „Sei nicht unvernünftig, Mythenmetz“, bat er eindringlich und sah dem Lindwurm geradewegs in die Augen. „Du hast ja recht, wir alle haben, was wir wollten: Rumo und Blaubär ihre Formel für Nachtigaller und du und ich unsere Wahrheit – auf die eine oder andere Art. Und eigentlich sollte es hier uns jetzt vorbei sein. Aber irgendetwas ist hier nicht ganz richtig, das kannst du doch nicht einfach so leugnen! Willst du wirklich aus reiner Starrsinnigkeit Kopf und Kragen riskieren?“ „Ich riskiere hier gar nichts“, gab der Schriftsteller unwirsch zurück und wandte sich mit hoch erhobenem Haupt zum Gehen. „Gut, wenn du nicht mit mir gehen willst, dann werde ich dich nicht zwingen! Aber unsere Abmachung steht – eine Abmachung, die du, wenn ich das mal anmerken darf, ebenso sehr wolltest wie ich! Tu was du willst und folge diesen schlichten Geistern – ich werde im Warmen sitzen und auf dein Erscheinen warten!“ Er raffte seinen Umhang zusammen, schnaubte ein letztes Mal verächtlich und stapfte davon, jedoch nicht ohne für die alle deutlich vernehmbar zu erwähnen, wie lästig es doch war, die ganze Strecke zur Lindwurmfeste zurück laufen zu müssen und dass daran natürlich nur die anderen schuld sein konnten. Rumo hob eine Augenbraue in Blaubärs Richtung, die eindeutig „Hätte er das nicht ohnehin gemusst?“ fragte, doch der Buntbär schüttelte nur den Kopf. „Denk einfach nicht drüber nach.“ Echo lief von widersprüchlichen Gedanken getrieben auf der Straße auf und ab. „Können wir das wirklich zulassen?“, fragte er seine zweibeinigen Gefährten, als er sah, wie Mythenmetz hinter der nächsten Ecke verschwand. „Was ist, wenn ihm wirklich etwas zustößt? Sind wir nicht ein Stück weit für ihn verantwortlich?“ Rumo folgte seinem Blick und musste zugeben, dass ihm dieser Gedanke auch für einen kurzen Moment gekommen war. Sicher, sie waren keine Freunde, bei weitem nicht, doch ein Wolpertinger ließ seine Gefährten für Gewöhnlich nicht im Stich, egal was kam. Auf der anderen Seite fügte sich für ihn alles gerade so perfekt. Anstatt Blaubär länger in dem Glauben lassen zu müssen, er würde mit der Formel in den Pfoten zu seiner todkranken Verlobten nach Wolperting zurück kehren, konnte er nun guten Gewissens direkt und ohne Umwege nach Atlantis reisen, ja wurde sogar noch von ihm begleitet. Die Situation war einfach zu ideal, um sie verstreichen zu lassen. Glücklicherweise schien Blaubär in gewisser Hinsicht seiner Meinung. „Pff“, machte er. „Verantwortlich für den? Da übernehme ich ja lieber die Verantwortung für eine Waldspinnenhexe mitten im Einkaufsviertel von Atlantis! Mit der kann man zumindest versuchen logisch zu diskutieren!“ Dann wurde er ernst. „Aber Spaß beiseite. Ich habe, wie gesagt, keine Ahnung, was an der Geschichte dieses Buchhändlers dran sein könnte, aber solange auch nur eine kleine Chance besteht, dass es die Wahrheit ist, sehe ich es als meine, als unsere Pflicht an, das heraus zu finden und im Zweifel zu Helfen. Rumo hat recht, wir müssen nach Atlantis!“ Natürlich konnte er der Frage nicht ausweichen, was denn nun aus Rala werden würde, da er sich schnurstracks auf den Weg in die Hauptstadt machte. Doch Rumo hatte damit gerechnet und war vorbereitet. „Sie ist in guten Händen“, erklärte er, während sie am Rande des Dämonengebirges entlang in Richtung Osten wanderten. „Unsere besten Ärzte behandeln sie. Und sollte wirklich Krieg herrschen, hat sie eine ganze Stadt voll Wolpertinger, die sie schützen. Die Rasse, die uns bezwingt, möchte ich erst einmal sehen! Ich werde zu ihr zurückkehren, sobald ich sicher bin, dass uns von Seiten Atlantis keine Gefahr droht.“ Die Argumentation hakte etwas, das wusste er selbst, doch Rumo hoffte inständig, dass sie ausreichen würde. Solange diese gespenstische Stille über Zamonien lag, war es besser, sie hielten zusammen. Zu viel Wahrheit war manchmal fehl am Platz. Tatsächlich waren sie auf ihrer gesamten Reise bis zu diesem Zeitpunkt nicht einem einzigen denkenden Wesen begegnet, was, rein gefühlsmäßig, doch etwas seltsam anmutete. Sicher, Zamonien war ein weitläufiger Kontinent, doch im Normalfall traf man etliche Reisende auf den langen Straßen, die das Land durchzogen, ganz zu schweigen von Postkutschen, berittenen Boten oder fahrenden Händlern. Doch nun lagen die Wege wie ausgestorben, ganz genau so, wie es auch schon in Buchhaim der Fall gewesen war. Niemand trieb sein Pferd in wildem Galopp an ihnen vorbei oder hob die Hand zum mürrischen Gruß, während er seinen Karren durch den unausweichlichen Matsch zog. Noch nicht einmal Wegelagerer gab es, von denen es normalerweise in den Höhlen der Dämonenklamm nur so wimmelte. Rumo redete sich ein, dass es am Regen lag. Seit Tagen schüttete es nun schon wie aus Eimern, dazu kam ein eisiger Wind und immer wieder aufwallende Gewitter, die den Himmel mit ihren Blitzen für Bruchteile von Sekunden strahlend weiß färbten. Die drei Reisenden waren nass bis auf die Knochen, froren und hätten sich am liebsten in einer Höhle zusammen gekauert und auf besseres Wetter gewartet, doch die Ungewissheit und das stechende Gefühl, dass vielleicht doch etwas nicht stimmte, trieb sie weiter die rutschigen Berghänge entlang. Echo, der schon lange nicht mehr hatte Schritt halten können, kauerte auf Rumos Schulter und zuckte unter jedem Donnerschlag zusammen. „Sogar der Himmel ist unruhig“, sagte er mit einem Blick nach oben über das Heulen des Windes hinweg. „Wenn wir Atlantis nicht innerhalb der nächsten paar Tage erreichen, werden wir noch ernsthaft krank. Zumindest, wenn es weiterhin so gießt.“ „Der Kleine hat recht“, stimmte Blaubär zu und betrachtete ebenfalls die Wolken, die schwarz und unheilvoll über die hinweg peitschten. „Ich hätte nichts dagegen, wenn wir einen Zahn zulegen, was meinst du, Rumo?“ Rumo nickte. „Nichts dagegen einzuwenden. Je schneller wir da sind, desto besser.“ Er ging hinab auf alle Viere und sah, wir Blaubär es ihm gleich tat. Dann setzten sie von ihrem zuvor gemächlichen Laufschritt in einen schnellen Dauerlauf über. Der Wolpertinger dachte an nicht viel, während sie so liefen, überließ seinen Instinkten das Halt finden auf dem durchweichten Untergrund und seinem inneren Kompass die Richtung. Alles, was für ihn zählte, war, dass er die Formel brachte, endlich, nach zwei langen Wochen Verspätung, die Smeik hoffentlich nicht allzu teuer zu stehen gekommen waren. Smeik… wenn es nun wirklich stimmte… ging es der Haifischmade gut? Um Rala machte Rumo sich tatsächlich nicht allzu viele Sorgen – sie konnte kämpfen, wenn es darauf ankam, das hatte sie mehr als einmal bewiesen. Und Smeik… Kein Grund sich Gedanken zu machen, ermahnte sich Rumo und hielt seinen Blick starr geradeaus. Der bekennende Spieler hatte seine Leibwachen, die ihm den Rücken frei halten würden, auch wenn er selbst gerade einmal nicht in der Stadt war. Ihm ging es sicherlich gut, egal wie es zu diesem Zeitpunkt um Atlantis stand. Und wie sollte es schon um die größte Stadt der Welt stehen? Schweigend und mit ernstem Gesicht sprinteten die beiden Gefährten nebeneinander her, Echo auf Rumos rücken und die alles entscheidende Formel sicher in seiner Tasche. Der Wolpertinger biss sich im Laufen auf die Unterlippe. Er wusste, warum ihn diese ganze Geschichte mit dem vermeintlichen Angriff der Menschen so viel mehr beschäftigte, als die anderen. Es war ihm aufgegangen kurz nachdem sie Buchhaim verlassen hatten und es ließ ihn seit dem nicht mehr los. Doch er konnte es nicht sagen, noch nicht, nicht ohne alles kaputt zu machen, sein ganzes verdammtes Lügenkonstrukt. Blaubär würde sofort aussteigen, wenn er hörte, dass es um Smeik ging, egal, wie nachvollziehbar seine Beweggründe ihm selbst auch erscheinen mochten. Und Rumo hatte so ein Gefühl, dass er in der nächsten Zeit jeden Verbündeten gebrauchen konnte, den er kriegen konnte. „Es sind die Menschen, nicht wahr?“ Löwenzahn klang zum ersten Mal seit langem ruhig und ernst zugleich. „Es ergibt alles einen Sinn.“ Rumo nickte, erinnerte sich dann daran, dass seine beiden Freunde das ja nicht sehen konnten und dachte einen Gedanken der Zustimmung. ‚Erst die ganze Sache im Rumotron und jetzt das. Was, wenn es zusammen hängt? Was, wenn das alles von Anfang an geplant war? Was wenn…‘ „… sie dich loswerden wollten“, brachte Löwenzahn den Satz zu ende, den Rumo sich nicht zu denken getraut hatte. „Und nicht nur dich. Auch Blaubär. Und Mythenmetz. Und vielleicht sogar den Kleinen auf deinem Rücken?“ ‚Das glaube ich nicht‘, entgegnete der Wolpertinger, klang dabei aber weit weniger überzeugt, als er es sich gewünscht hätte. ‚Soweit können sie nicht gedacht haben. Woher sollten sie wissen, dass Smeik blufft und die Formel setzt? Und dass er mich schickt, um sie zu holen? Nein, das ist zu weit hergeholt.‘ „Aber überleg doch mal!“, beharrte Löwenzahn. „Du bist der Held von Zamonien, du hast Untenwelt bezwungen und jeder weiß das! Dieser Blaubär ist Nachtigallers Schützling und hat daher bestimmt auch so einiges drauf, wovon wir nichts wissen. Mythenmetz… nicht mal die Tageszeitungen können Nachrichten so schnell verbreiten wie seine Bücher! Jeder in Zamonien liest sie! Jeder! Mit Ausnahme von dir vielleicht. Und nur die Götter wissen, was diese Katze drauf hat. Er kann sprechen – das ist schon mal nicht normal! Mit uns allen aus dem Weg, hätten ein möglicher Feind auf jeden Fall schon mal bessere Karten Zamonien zu überrumpeln. Und da ist noch etwas….“ „Nämlich die strategisch wichtigen Punkte des Landes“, mischte sich Grinzold ein. „Denk doch mal nach, Großer: Wo liegen die?“ Rumo rief sich die Karte Zamoniens vor das geistige Auge. ‚Atlantis‘, dachte er. ‚Das ist das wichtigste. Dann... die Finsterberge, um die Nordostküste einzurahmen. Danach sicher die Lindwurmfeste. Und dann noch irgendetwas im Süden…. So wie zum Beispiel… Oh Götter!‘ „Wolperting“, vollendete Grinzold. „Und jetzt sag mir, wo ihr drei herkommt!“ Rumo wurde mit einem Mal ziemlich schlecht. Wenn das alles so stimmte, dann war Zamonien vielleicht tatsächlich in großer Gefahr! Natürlich erklärte es immer noch nicht, wie es die Menschen geschafft haben sollten, jene Orte an sich zu bringen, aber Gesetzt dem Falle sie hätten es wieder jeglicher Logik irgendwie bewerkstelligt… „Könnte sein, dass wir ziemlich am Arsch sind, was Großer?!“ ‚Nein!‘ Rumo rammte seine Pfoten energisch in den weichen Boden. ‚Nein, das ist völlig unmöglich! Völlig undurchführbar! Ihr denkt viel zu weit!‘ „Dein Wort in den Ohren der Götter, Junge!“ Der Wolpertinger warf einen Seitenblick auf Blaubär, um sicher zu gehen, dass der von den hitzigen Verschwörungstheorien in seinem Kopf nichts mitbekommen hatte, und war relativ erleichtert, ihn stoisch vor sich hin laufen zu sehen. „Wie lang in etwa noch bis wir Atlantis erreichen?“, wollte Echo von irgendwo hinter seinem Kopf wissen. „Es wird mir jeder Sekunde ungemütlicher hier oben!“ Rumo dachte nach, doch Blaubär kam ihm zuvor. „Etwa drei bis vier Tagesmärsche, wenn wir dieses Tempo halten können. Vielleicht weniger, je nachdem wie viele Pausen wir einlegen müssen. Leider haben wir ja einen Halb-Invaliden dabei!“ Er grinste und zunächst tat Rumo es im gleich. Dann fiel ihm auf, dass er gemeint war. „Hey“, entrüstete er sich. „Meinem Rücken geht es super! Ich spür ihn gar nicht!“ „Na da würde ich mir aber ernsthafte Gedanken machen!“ Der Wolpertinger machte einen Schlenker zur Seite und rammte Blaubär spielerisch an der Schulter. Er war froh, dass die Stimmung sich etwas gelöst hatte und ihn endlich etwas von seinen düsteren Ahnungen ablenkte, auch wenn das bedeutete, dass er einige Witze auf seine Kosten über sich ergehen lassen musste. Ein geringer Preis für jemanden, der über sich selber lachen konnte. Die folgenden Stunden verliefen ereignislos. Wirklich ereignislos, denn bis auf gelegentliche Richtungsdiskussionen sprach keiner von ihnen ein Wort, nicht einmal Löwenzahn meldete sich. Und natürlich bleiben auch die Wege leer, wie sie es schon all die Stunden zuvor gewesen waren. Zumindest bis Blaubär auf einmal abrupt abbremste und schlitternd wenige Meter neben Rumo zum Stehen kam, der verdutzt an seinem Gefährten vorbei joggte. „Was ist los? Komm, wir müssen weiter!“ Doch der Buntbär machte keine Anstalten weiter zu laufen und so legte Rumo eine mehr oder weniger galante Schlamm-Kehrtwende ein und trottete gemächlichen Schrittes zurück. „Ist was?“ „Warte kurz…“ Blaubär hatte die Schnauze in den Wind gehoben und nahm mit geschlossenen Augen Witterung auf. Dann drehte er sich einmal um die eigene Achse und sah sich um. „Seltsam…“ „Was ist seltsam?“ „Ich werde seit einiger Zeit das Gefühl nicht los, dass wir verfolgt werden.“ Rumo blinzelte überrascht. „Verfolgt? Von wem?“ Er hatte nichts dergleichen wahrgenommen und es schien ihm auch äußerst zweifelhaft, dass irgendjemand sonst unter diesen Wetterbedingungen so etwas wie eine Fährte erkennen konnte. Geschweige denn den vorauseilenden Geruch eines Verfolgers. „Keine Ahnung, wer das sein könnte“, gab Blaubär zu. „Es ist auch nur ein grober Verdacht. Aber vielleicht sollten wir die Augen offen halten. Nur zur Sicherheit.“ Echo stellte sich auf Rumos Schulter auf die Hinterpfoten und reckte das Köpfchen. „Das übernehme ich. Ich habe von hier oben eine gute Rundumsicht – ihr könnt euch ganz auf den Weg konzentrieren.“ „Gut, aber fall nicht runter!“ Sie verfielen wieder in ihren schnellen Laufschritt, legten dabei sogar noch etwas an Tempo zu, wobei wohl keiner von ihnen so recht hätte sagen können, ob bewusst oder unterbewusst. Rumo fürchtete sich zwar nicht vor eventuellen Verfolgern jedweder Art, aber auch er blieb nicht von dem unangenehmen Kribbeln des eingebildeten beobachtet Werdens verschont. Falls das überhaupt irgendwie möglich war, so hatte der Regen in den letzten Minuten noch an Intensität zugelegt. Die Welt vor ihnen verschwand hinter einem undurchdringlichen Vorhang aus Wasserfäden und Nebel, bis die Sicht schließlich keine fünfzig Meter mehr betrug und das Laufen zunehmend gefährlicher zu werden begann. Sie befanden sich an einem Berghang, was bedeutet, dass der Boden zu ihrer Rechten teils nahezu senkrecht abfiel – ein ebenso schneller wie tödlicher Weg ins darunter liegende Tal, den Rumo nicht unbedingt vor hatte zu gehen. Er erhob sich wieder auf die Hinterpfoten und bedeutete Blaubär, selbiges zu tun, damit sie langsamer wurden. So sehr sie auch wollten, mehr als vorsichtiges Gehen war bei diesen Witterungsbedingungen in einem unübersichtlichen Gelände einfach nicht drin. Der Wolpertinger wollte seinem Gefährten etwas zurufen, doch der Regen schluckte jedes seiner Worte noch bevor sie sein Maul verließen und zwang ihn so zu schweigen. Nur am Rande bemerkte er, dass Echo sich mit aller Gewalt in sein Fell krallte, um nicht herunter geweht zu werden oder in den Schrecksekunden der viel zu nahe einschlagenden Blitze einfach loszulassen. ‚Das ist die Apokalypse‘, schoss es dem Wolpertinger düster durch den Kopf. ‚Und wir sind mitten drin.‘ Er sah nach oben, den Berghang hinauf, um so vielleicht einen Blick auf die nachtschwarzen Wolken zu erhaschen, in der Hoffnung ein paar weiße dazwischen zu entdecken, doch was er dort sah, raubte ihm beinahe den Atem. Wie selbst von Blitz getroffen, blieb er stehen und rieb sich den Regen aus den angestrengten Augen, so als könne er das Bild, das sich ihm dort oben bot, einfach wegwischen, doch so sehr er auch rieb, es wollte nicht verschwinden. „Sag mir, dass du das auch siehst, Echo.“ Die Kratze antwortete nicht, sondern starrte nur mit vor Angst verzerrtem Gesicht über seine Schulter, offenbar unfähig sich zu bewegen oder sonst wie zu reagieren. Ganz offensichtlich war das, was Rumo dort oben, etwa zehn Meter oberhalb ihrer Köpfe gesehen hatte, keine Einbildung, so sehr er es sich auch gewünscht hätte. Es war eine Gestalt, groß wie er selbst, vielleicht sogar etwas größer, mit langem, vom Regen zerzaustem Fell und stechend roten Augen, die sich durch das Zwielicht auf sie hernieder bohrten, als könnten sie allein die drei Reisenden an ihrem Platz halten. Sie stand auf zwei Beinen, doch nicht das wie, sondern das wo war es, das dem Wolpertinger eine eisigen Schauer über den Rücke jagte. Denn dort, wo die Kreatur stand, war nichts als Fels. Vollkommen glatter, ausgewaschener Fels, ohne jeglichen Halt, ohne Kerbe, ohne Vorsprung. Und dort stand sie, die Kreatur. Auf den Hinterbeinen. Und sah zu ihnen herunter. „Scheiße, was ist das?“, brülle Blaubär durch den tosenden Regen hindurch, als auch er den Blick gehoben hatte. „Also ein Mensch ist das schon mal nicht!“ Nun kam die Kreatur auf sie zu, Schritt für Schritt und irgendwie unischer, ganz so als fiele es ihr schwer, auf den Beinen zu bleiben. Etwas Dunkles tropfte ihr aus dem hundeartigen Maul auf das Brustfell, während sie ohne Zuhilfenahme der Vorderpfoten den fast senkrecht abfallenden Hang hinunter wankte, geradewegs auf sie zu. Rumo ging in die Knie und zog Löwenzahn aus seiner Scheide, wohl wissend, dass dies ein denkbar ungünstiger Ort für einen Kampf war, noch dazu gegen ein Wesen, das offenbar recht wenig von der Schwerkraft hielt. Trotzdem würde er es im Zweifel auf einen Versuch ankommen lassen müssen. Die Gestalt war inzwischen bis auf wenige Meter heran gekommen, langsam, ja beinahe mit Bedacht, und nach und nach konnte der Wolpertinger deutlichere Formen ausmachen. Sie sah aus wie ein wilder Wolpertinger, nur dass ihr Hörner und die charakteristischen braunen Augen fehlten und ihr Fell statt der verbreiteten Dreifarbigkeit schneeweiß war… Moment mal… In dieser Sekunde taumelte die Kreatur, tat einen letzten Schritt, brach dann zusammen und schlitterte ungebremst den Abhang hinab, direkt auf den hunderte Meter tiefen Abgrund zu. Rumo dachte nicht nach. Im Bruchteil eines Augenblicks sprang er zur Seite, packte die Gestalt im Nacken, bremste so ihren Sturz und zog sie sicher auf den schmalen Pfad, auf dem die drei Reisenden wanderten. Dann hob er ihren Kopf, um in das ihm plötzlich bekannt vorkommende Gesicht zu sehen. Es war Hektor. Der weiße Werwolf Hektor, den er vor einigen Wochen bei Nachtigaller kenne gelernt hatte. Und er war verletzt. Rumo sah entsetzt an dem am Boden liegenden Wolf herab. Sein einst fast schon unnatürlich weißes Fell war über und über mit Blut bedeckt, das ihm unaufhörlich aus Mund und Nase rann und sich mit dem Schlamm zu einer hässlichen Brühe mischte. Er schien seine letzte Kraft verbracht zu haben, denn er machte nicht einmal den versucht, sich aus eigener Kraft wieder aufzurichten, sondern blieb nahezu reglos liegen, wo Rumo ihn zuvor hin gezerrt hatte. Den Wolpertinger überkam die nackte Angst. „Schnell“, rief er hinter sich, wo Blaubär und Echo die beiden Hunde aus sicherer Entfernung beäugten. „Wir müssen etwas tun! Er verblutet!“ Echo, der begriffen zu haben schien, dass das nicht die Zeit war, um Fragen zu stellen, kam mit zwei langen Sätzen zu dem Verletzten hinüber gesprungen und legte beide Pfoten auf seine unter flachen Atemzügen bebende Brust. „Sein Puls ist viel zu niedrig, Rumo“, erklärte er ernst. „Er hat sehr viel Blut verloren. Ich bin nicht sicher, ob wir hier draußen noch irgendetwas für ihn tun können. Was auch immer das war, das ihn so zugerichtet hat – es hat ganze Arbeit geleistet.“ „Nein, das darf nicht sein!“, rief Rumo. „Er ist vielleicht der letzte seiner Art! Und mein Freund! Ich lasse ihn nicht einfach sterben!“ „Wir sind mitten in den Bergen! Was soll ich deiner Meinung nach tun? Ich hab nicht irgendein Sedativum bei mir, geschweige denn Blutersatz!“ Rumo sah sich hektisch um, so als könne er hinter dem nächsten Felsen etwas finden, das Leben rettete. Tiefe Verzweiflung hatte von einer Sekunde auf die andere von ihm Besitz ergriffen und trübte seinen Blick für das Rationale. „Was ist, wenn ich ihm mein Blut gebe? Das muss doch irgendwie gehen!“ Echo warf ihm einen eindringlichen Blick zu. „Hör zu“, sagte er ruhig. „Ich werde mir die Erklärung jetzt sparen, aber du musst mir glauben, dass es so einfach nicht geht. Er hat innere Verletzungen, Rumo. Wer weiß, was mit ihm passiert ist.“ „Aber…“ „Schon gut, Rumo, der Kleine hat Recht.“ Der Wolpertinger zuckte zusammen, als Hektor plötzlich zu sprechen begann. Seine Stimme war schwach und von der nahenden Ohnmacht gezeichnet, doch seine Worte waren klar und offenbar sorgfältig gewählt. „Ich bin froh, dich noch eingeholt zu haben, ihr habt ja ein ganz ordentliches Tempo vorgelegt. Da haben mir auch meine Abkürzungen über die Felsen wenig gebracht.“ Er lachte röchelnd und spuckte einen ganzen Schwall Blut, den Rumo schnell mit seinem eigenen Arm wegzuwischen versuchte. Doch der Werwolf schob seine Pfote beiseite. „Nein, bitte, hör mir einfach zu, es ist wichtig!“ Schweren Herzens ließ Rumo seine Klauen sinken und kniete sich neben seinen Freund in den Schlamm. Echo und Blaubär taten es ihm gleich, als sie merkten, dass der Verwundete nichts dagegen zu haben schien. „Keine Ahnung, wer ihr Jungs seid“, grinste er, „aber wenn ihr mir Rumo unterwegs seid, seid ihr wohl in Ordnung. Und ihr seht lustig aus, so alle zusammen.“ „Hektor…“ „Schon gut, ich komme zum Punkt.“ Ein weiteres Lachen, ein weiterer Schwall Blut. Dieses Mal mehr. „Also… ihr müsst zu den Finserbergen reisen! Schnell! Holt euch Verstärkung, wenn ihr könnt, und haltet sie auf. Das Lexikon darf ihnen auf keinen Fall in die Hände fallen, sonst ist es endgültig aus mit uns. Nachtigaller konnte gerade noch an einem geheimen Ort verbergen und mich auf die Suche nach dir schicken, bevor sie ihn hingerichtet haben. Aber sie werden danach suchen. Und sie werden es früher oder später finden. Und dann haben wir verloren. Aber wenn sie einer aufhalten kann, dann bist du es, Rumo. Bitte, du musst uns retten!“ Rumo kam nicht mit. Sein Kopf konnte all das einfach nicht fassen, konnte und wollte nicht begreifen, was er gerade eben gehört hatte, und so sagte er das erste, was ihm in diesem Moment einfiel. „Aber ich muss nach Atlantis…“ „Nein!“, rief Hektor und packte ihn am Arm. „Geh nicht da hin! Die Stadt gehört uns nicht mehr. Sie gehört jetzt denen. Alle dort sind geflohen oder tot! Wir müssen das Lexikon schützen! Solange sie das noch nicht haben, kann noch alles gut werden!“ „Alle in Atlantis sind…?“ Rumo wusste nicht wohin mit seinen Gedanken. Tot… wer war tot? War Smeik tot? War er entkommen? Und was war mit Rala? Und seinen Artgenossen? Und was war hier überhaupt los? Wie hatte so plötzlich das Ende ihrer Welt über ihre Köpfe herein brechen können? Neben ihm richtete sich Blaubär kerzengerade auf und sah mit starrem Blick in die Ferne. „Tut mir Leid, Rumo“, sagte er tonlos, „aber wenn du immer noch nach Atlantis willst, kann ich dir nicht länger folgen. Wenn diese Kreaturen wirklich Nachtiagller auf dem Gewissen haben, dann...“ Er verstummte und ballte seine Klauen zu zitternden Fäusten, die mehr sagten, als Worte es gekonnt hätten. „Ich muss zurück!“, erklärte er schließlich. „Auch um nach meiner Familie zu sehen. Ich kann nicht zulassen, dass ihnen etwas zustößt. Und ich kann nicht zulassen, dass Nachtiagllers Lexikon in die Hände unserer Feinde fällt.“ „Bitte geh mit ihm, Rumo“, bat Hektor flehend. „In Atlantis kannst du keinen mehr retten, aber vielleicht… vielleicht findest du einen Weg, es zurück zu erobern, wenn…wenn…“ Er schloss die Augen und ließ den Kopf zurück sinken. Es war ihm anzusehen, dass er nicht mehr weiter sprechen konnte. Rumo sah sich hilfesuchend um, doch Blaubär schien seine Entscheidung bereits getroffen zu haben und Echo befand sich offenbar in einer Art Schockzustand. Er hatte den Mund geöffnet, so als wolle er etwas sagen, konnte jedoch keinen sinnvollen Gedanken zu Ende führen. Rumo konnte es ihm nachfühlen. Was sollte er tun? Was nur? Er wollte nach Atlantis, doch war dort wirklich noch jemand, der auf ihn wartete? Oder war die Stadt, das Rumotron, war Smeik schon längst verloren? Sollte er zu Rala und bei ihr nach dem Rechten sehen? Oder sollte er Blaubär folgen und dieses ominöse Lexikon verteidigen, von dem offenbar so viel abhing? Und, fragte sich eine Stimme irgendwo ganz tief in seinem Unterbewusstsein, was war mit Mythenmetz? Wenn es wirklich so schlimm um Zamonien stand, wenn alles, was der Buchhändler gesagt hatte, tatsächlich wahr war, dann schwebte auch er in großer Gefahr. Und er wusste es nicht einmal. Vielleicht war er sogar schon tot. Rumo sah auf Hektor herab, in dessen Augen die letzten Funken Leben flackerten. Und während er das tat, wurde ihm mit einem Mal etwas auf schrecklich erdrückende weise Bewusst. Egal, wo er jetzt auch hin ging – für irgendwen anders kam vielleicht jede Hilfe zu spät. Kapitel 19: Getrennte Wege -------------------------- "Also was ist nun?", fragte Blaubär in den unerbittlichen Regen hinein ohne Rumo dabei anzusehen. "Begleitest du mich?" Jegliche Freude, jegliches Leben war aus seiner Stimme gewichen, all das, was den optimistischen Buntbären bisher ausgemacht hatte, schien es nun mit einem Schlag nicht mehr zu geben. Es war bitterer Entschlossenheit gewichen, Entschlossenheit zu tun, was getan werden musste, zu kämpfen, wenn die Zeit dafür gekommen war. Rumo konnte nicht anders als ihn zu beneiden. Er wünschte sich in diesen Sekunden nicht sehnlicher als diese Entschlossenheit auch nur im Ansatz teilen zu können, irgendwo her die Gewissheit zu bekommen, dass der Weg, den er von nun an einschlagen würde, der richtige war. Doch alles, was er empfand, war unfassbarer Zerrissenheit, eine Ratlosigkeit, die aus seinem tiefsten Inneren zu kommen schien und die ihn so sehr erschütterte, dass er sich am liebsten in der nächst gelegene Ecke verkrochen und dort wimmernd gewartet hätte, bis diese ganze Chaos an ihnen vorüber gezogen war. Natürlich war das keine Lösung. Das war es nie. "Rumo?" Blaubärs Stimme klang wie aus einer anderen Welt zu ihm herüber. Ungeduldig. Rumo konnte den Blick nicht von Hektor abwenden, dem der Regen das Blut zusammen mit seinem Leben aus dem Fell wusch. Er hatte vor ein paar Minuten - oder waren es Stunden? - aufgehört zu Atmen. "Ich weiß es nicht…" "Rumo", sagte Blaubär noch einmal und wirkte nun wieder etwas mehr wie er selbst. Weniger kühl, weniger distanziert. Er machte ein paar Schritte auf seinen zusammen gekauert dasitzenden Gefährten zu, bis er schließlich neben ihm stand. "Hör zu, ich kann verstehen, dass das keine leichte Entscheidung für dich ist…" Rumo schnaubte. Blaubär hatte keine Ahnung. Er wusste ja nicht einmal von Smeik! "…aber ich kann, ich darf jetzt nicht zögern. Ich muss die Finsterberge so schnell wie möglich erreichen, wenn ich verhindern will, dass die Menschen an Nachtigallers Aufzeichnungen kommen. Und nicht zuletzt braucht mich meine Familie zu Hause." Der Wolpertinger antwortete immer noch nicht. Er konnte nicht - sein gesamter Körper fühlte sich an wie betäubt. Schließlich hockte sich Blaubär neben ihn. "Willst du meine Meinung hören?" Rumo sah auf. Zu mehr war er im Augenblick nicht fähig. "Ich denke, du solltest auch zu deiner Familie gehen." Das kam unerwartet, selbst für jemanden wie Rumo, der inzwischen gelernt hatte, mit allem zu rechnen. Er wischte sich mit dem Ärmel seiner Lederjacke den Regen aus den erschöpften Augen. Sicher war es Regen. "Aber Hektor hat gesagt…" Blaubär grinste nun wieder aufmunternd, auch wenn sein Gegenüber den Verdacht hegte, dass es dieses eine Mal nicht vom Herzen kam. "Er hatte Angst, ich würde es allein nicht schaffen. Aber da irrt er sich!" Er deutete mit der Pfote auf seine Brust. "In diesen Adern fließt das Blut eines waschechten Überlebenskünstlers. Es gibt kaum etwas in Zamonien, das noch nicht versucht hätte mich unter die Erde zu bringen und sieh mich an! Hier stehe ich vor dir, Lebendig, jung und gutaussehend!" Rumo lachte nicht. Stattdessen blickte er von Blaubär zu Hektor und dann wieder zu Blaubär. "Bist du dir wirklich sicher?" Der Buntbär nickte. "Zu einhundert Prozent. In solchen Zeiten sollte jeder zuerst an die eigene Familie denken und an die, die einem nahe stehen. Geh zu ihnen, schau nach dem Rechten und bringe sie, falls nötig, in Sicherheit. Danach kontaktierst du mich und wir finden gemeinsam raus, wie die Dinge im Rest von Zamonien stehen. Einverstanden?" Rumo schniefte und schluckte schnell den ziemlich großen Kloß in seinem Hals herunter, bevor er Blaubär zustimmte. "Danke", sagte er leise, während ihm langsam klar wurde, wie viel überlegter, wie viel sicherer sein Gefährte mit der Situation umging. Nein, nicht sein Gefährte. Sein Freund. Plötzlich fühlte er sich dem großen Finale, das er sich vor ein paar Tagen noch so sehr gewünscht hatte, nicht mehr wirklich gewachsen. Blaubär richtete sich wieder auf, die ungebrochene Entschlossenheit nun in Form eines Lächelns auf seinen Lippen. "Bedanken kannst du dich bei dir selbst, wenn Zamonien wieder friedlich ist." Also zuerst nach Wolperting, dachte Rumo, ohne die Bemerkung des Buntbären wirklich wahr genommen zu haben, und er wusste mit dieser Sekunde, dass es die richtige Entscheidung war. So sehr er sich auch um Smeik sorgte, Rala war seine Familie, seine Liebe, sein gesamtes Leben. Und er würde sie beschützen, noch bevor er irgendwen sonst schützte. Sicher, sie war eine nicht weniger talentierte Kämpferin als er selbst und mindestens genau so wagemutig, doch diese Menschen schienen eine geradezu übernatürliche Bedrohung zu sein, die er inzwischen nicht mehr einzuschätzen wagte. Und sollte das sogar das Ende für sie alle bedeuten, nun, dann wollt er zumindest bis zur letzten Sekunde bei ihr sein. Smeik würde für dieses eine mal allein klar kommen müssen. Eine Frage blieb dennoch offen. Rumo mobilisierte seine schmerzenden Glieder und erhob sich ebenfalls. "Was machen wir mit Hektor?" Blaubär sah ihn nicht an. "Was sollen wir tun?", fragte er tonlos, nur um sich sofort selbst zu antworten: "Wir können nichts tun. Hier gibt es weit und breit nur Fels, beerdigen scheidet also aus. Und das nächste Tal ist einige Tagesmärsche entfernt, ganz zu schweigen von der nächsten Siedlung…" Natürlich, all das war auch Rumo klar gewesen noch bevor er seine Frage überhaupt gestellt hatte, doch das unaussprechliche aus einem anderen Mund als dem eigenen zu hören, verlieh dem ganzen noch einmal eine ganz neue Dimension. Er sah auf den toten Werwolf herab und schwieg eineiige Sekunden. "Tut mir Lied, mein Freund", brachte er schließlich mit trockenem Hals hervor und er war sich sicher diese Worte noch nie zuvor in seinem Leben so ernst gemeint zu haben. "Ich wünschte, wir könnten mehr für dich tun, nach allem, was du durchgemacht hast…" Dann klopfte er sich zwei mal mit der Faust auf höhe seines Herzens auf die Brust -der Gruß der Waffenbrüder. Blaubär tat es ihm gleich. Eine Weile verharrten sie wortlos im Regen, keiner wollte der Erste sein, der diesen kleinen und doch irgendwie großen Moment des Abschieds durch schnöde Worte durchbrach. Um sie herum tosten die Naturgewalten und fuhren immer wildere, immer aggressivere Geschütze auf. Aus dem gelegentlichen Donner war inzwischen ein durchgehendes, tiefes Grollen wie von tausend Pauken geworden, Blitze schienen sich gegenseitig über den Himmel zu jagen und die Wolken türmten sich so wagemutig, dass man das Gefühl bekam, sie stürzten jeden Moment auf die nahem Berggipfel herab und begrüben ganze Landstriche unter sich. Schließlich löste sich Blaubär aus seiner gedankenverlorenen Starre und wandte sich zum Gehen. "Nur eins noch", sagte er, als er sich schon einige Meter entfernt hatte, und drehte sich noch einmal zu Rumo um. "Wir sollten überlegen, wen von uns Echo begleitet. Wir können ihn kaum allein und ohne Ziel hier in der Wildnis zurück lassen." Echo… Ja, da klingelte etwas im Kopf des Wolpertingers. Echo… Echo! Rumo schreckte aus seinen völlig um sich selbst kreisenden Gedanken und suchte mit hektischem Blick den Boden zu seinen Füßen ab. Über die Ereignisse der letzten Minuten hatte er die Existenz der kleinen Kratze beinahe vollkommen verdrängt. Wie hatte das passieren können? Andererseits, überlege er, hatte Echo sich auch nicht gerade bemerkbar gemacht, während seine beiden Reisebegleiter mit ihren Entscheidungen gehadert hatten. Und auch jetzt, da es direkt um ihn ging, fand Rumo ihn geistesabwesend vor sich hin starrend einige Schritte entfernt neben einem abgestorbenen Baumstumpf stehend. Seltsam. Er schien vollkommen ungerührt von den Kieselstein großen Regentropfen, die ihm in die Nüstern und den halb geöffneten Mund peitschten und der Wolpertinger wurde das Gefühl nicht los, dass er von dem Drama, dass sich soeben direkt vor seinen Augen abgespielt hatte, erstaunlich wenig mitbekommen hatte. Er ging neben Echo in die Knie, um halbwegs von Angesicht zu Angesicht mit ihm sprechen zu können. "Also im Grunde ist es wohl egal, wen von uns du begleitest…", überlegte er sowohl für sich selber als auch für seinen Gefährten. "Gefährlich dürfte es in jedem Fall werden. Von daher…" Der Satz bedurfte kaum einer Vollendung, die offene Frage, die ihn ihm mitschwang, war kaum zu überhören. Doch Echo zeigte keinerlei Reaktion. Nun bemerkte auch Blaubär aus einiger Entfernung, dass mit ihrem kleinen Begleiter irgendetwas nicht stimmte. Er kam herüber getrottet und legte irritiert den Kopf schief. "Echo?", fragte er. "Alles in Ordnung?" Ein Windstoß rauschte ihnen um die durchnässten Ohren, irgendwo in unmittelbarer Nähe schlug der Blitz ein, aber Echo rührte sich nicht. Vielleicht war das alles zu viel für ihn, überlegte Rumo. Der Stress der Reise, die Angst vor der ungewissen Bedrohung und jetzt auch noch Hektors Tod direkt vor seinen Augen - vielleicht hatte sein Kratzenköpfchen schlichtweg den Dienst quittiert. "Ich kann es ihm ja soo sehr nachfühlen", seufzte Löwenzahn theatralisch. "Warum trifft es auch immer uns? Können wir nicht einfach in Frieden alt werden?" 'Sieht so schnell nicht danach aus', dachte Rumo zurück und beugte sich dann vor, um mit der ausgebreiteten Pfote vor Echos Gesicht auf und ab zu wedeln. "Hallo? Kannst du uns hören?" Endlich regte sich der junge Alchimist. Erst ein Blinzeln, daraufhin ein Schütteln von Kopf bis Fuß, was wohl als zum Scheitern verurteilter Versuch gedeutet werden konnte, dem triefenden Fell Herr zu werden. Als er schließlich auf und Rumo in die Augen sah, war sein Blick jedoch immer noch seltsam abwesend, so als sehe er den Wolpertinger zwar, nehme ihn aber nicht bewusst war. "Was… was ist los?", wollte er mit fahriger Stimme wissen. Rumo runzelte die Stirn, beschloss es aber zunächst einmal auf sich beruhen zu lassen. Vielleicht war es tatsächlich nur der Stress. "Unsere Wege werden sich hier trennen", erklärte er ruhig. "Du kannst dir aussuchen, ob du Blaubär zu den Finsterbergen und danach zur Bärenbucht begleitest, oder ob du mit mir nach Wolperting kommst. Vom Risiko her sollte es sich nicht viel nehmen." Waren seine Worte bei Echo angekommen? Rumo war sich nicht sicher. Der honigfarbene Blick der Kratze schien geradewegs durch ihn hindurch zu gehen. Und auch als er antwortete, klangen seine Worte, als kämen sie von irgendwo ganz weit weg. "Ich werde nach Buchhaim gehen." Rumo blinzelte, während sein Gehirn versuchte, diese neue Information sinnvoll einzuordnen, wobei "sinnvoll" in diesem Falle sehr relativ zu verstehen war, denn Sinn machte das Ganze sicherlich äußerst wenig. Blaubär schien das ähnlich zu sehen. "Was willst du denn da?", fragte er sichtlich verdutzt. "Da kommen wir doch gerade her." "Ich gehe nach Buchhaim", wiederholte Echo mit starrem Blick. "Ich muss nach Buchhaim." Dann drehte er sich um und schickte sich an zu gehen. Rumo reagierte reflexartig, machte einen großen Satz nach vorn und versperrte dem Alchimisten somit den Weg. "Warte", rief er. "Du kannst doch nicht einfach weglaufen! Das ist viel zu gefährlich!" "Rumo hat recht", pflichtete ihm Blaubär bei. "Wenn dich die Menschen nicht erwischen, dann ist es ein wildes Tier. Oder das Wetter macht dir den Garaus. Das können wir nicht verantworten!" Doch Echo machte keine Anstalten sich von seinem Vorhaben abbringen zu lassen. Flink, wie er nunmal von Natur aus war, schlängelte er sich durch Rumos Beine hindurch und hüpfte leichtfüßig einen Felsvorsprung hinauf. Alle Versuche seiner Gefährten ihn zu packen und rein physisch an der Flucht zu hindern waren aufgrund seiner Wendigkeit zum kläglichen Scheitern verurteilt, und so blieb Rumo und Blaubär nichts anderes übrig als zuzusehen, wie ihr kleiner Freund schnellen Schrittes hinter einem Vorhang von Regen verschwand. "Echo!", rief der Wolpertinger hilflos in das Unwetter hinein. "Echo, komm zurück! Was tust du denn?" Er wirbelte zu Blaubär herum. "Wir müssen ihm folgen! Das überlebt er nicht!" Blaubär rührte sich nicht, sondern kaute stattdessen nachdenklich auf seiner Unterlippe. Nach einigen Sekunden schüttelte er den Kopf. "Lassen wir ihn gehen." "Was?" Rumos Stimme überschlug sich und rutschte, sehr zu seinem Leidwesen, direkt zwei Oktaven nach oben. Er räusperte sich und startete einen neuen Versuch. "Was?", wiederholte er, dieses mal in normaler Tonlage. "Das kann nicht dein Ernst sein!" "Ich glaube, wir unterschätzen ihn", gab Blaubär erstaunlich entspannt zurück. "Er ist, bevor er uns getroffen hat, auch alleine klar gekommen. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn sich jetzt jeder erst einmal um seine eigenen Angelegenheiten kümmert. Wer weiß, was ihn nach Buchhaim zieht, es scheint ja recht wichtig zu sein. Er schafft das schon." "Aber…" Rumo war verwirrt und auf eine sehr seltsame Weise frustriert, was wohl mit dieser Hilflosigkeit zusammen hing, die ihn seit geraumer Zeit verfolgte. Alleine zu reisen war wesentlich einfacher - man fühlte sich nicht ständig so verantwortlich! "Gnaah", machte er und ließ einen Teil seiner unterrichteten Aggression an einem kleinen Stein aus, den er den Abhang hinunter kickte. Mehr fiel ihm dazu nicht ein. Blaubär trat neben ihn und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. "Machen wir uns auf den weg, okay? Vor uns liegen etliche Kilometer Weg und das Wetter hier oben wird auch nicht besser." Sie verabschiedeten sich mit dem Versprechen, sich wieder zu treffen, sobald sie ihre Liebsten in Sicherheit wussten, doch Rumo war mit den Gedanken nicht bei der Sache. Eine Frage hatte sich in seinem Kopf festgesetzt und wollte ihn auch nicht loslassen, nachdem er schon weit die Täler Richtung Wolperting hinab gewandert war: Wenn Echo so sehr nach Buchhaim wollte, wieso fiel ihm das erst ein, nachdem sie die Stadt schon lange verlassen hatten? Echo setzte zielstrebig ein Pfötchen vor das andere, vollkommen ungerührt von dem strömenden Regen oder dem nahen Gewitter, das sich unheilvoll über ihm entlud. Buchhaim! Natürlich! Wieso war er nicht schon früher darauf gekommen? Buchhaim war der perfekte Ort für ihn! Er musste einfach wieder dorthin, sofort und ohne Umwege und am besten so schnell wie möglich. Nichts und niemand würde ihn von seinem Weg abbringen, denn nirgendwo in Zamonien war er in diesen Stunden besser aufgehoben als in Buchhaim. - Das ist Schwachsinn! - Buchhaim mit seinen Cafés, Antiquariaten, und Buchhandlungen, mit seinen Druckereinen und Bibliotheken und nicht zuletzt mit den Katakomben - was sollten diese tollwütigen Menschen dort schon suchen? Nein, dorthin würden sie sich bestimmt nicht verirren, dort könnt er das ganze Durcheinander einfach aussitzen. - Das ist absoluter Schwachsinn! - Der junge Alchimist sprang mit tropfendem Fell ein Geröllfeld hinunter, der letzte Ausläufer des Gebirges, bevor die Landschaft in die weite Flur der zamonischen Hochebene überging, an deren anderem Ende sich Buchhaim befand. Vor ihm erstreckten sich endlose Wiesen und Felder, hier und da unterbrochen von kleinen, lichten Baumgruppen, die furchtbar unter dem peitschenden Wind litten, sich krümmten und mit ihren entblößten Ästen schlugen. Es war eine wilde, aggressive Schönheit, die den Charakter des gesamten Kontinents in sich zu tragen schien, doch Echo würdigte sie keines Blickes. Seine Augen waren starr auf das ferne Ziel gerichtet, in seinen Gedanken war für nichts anders Platz als den Wunsch in höchster Eile nach Buchhaim zu gelangen. Das und das weit entfernte, beinahe unterbewusste Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Echo kannte seinen Körper und auch seinen Geist sehr genau und schon seit einiger Zeit konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er nicht mehr ganz Herr seiner eigenen Sinne war. Sicher, er fühlte den Wunsch nach Buchhaim zu reisen aus tiefstem Herzen und er war von der Idee so überzeugt wie selten von irgendetwas zuvor. Was ihn dennoch stutzig machte, war die Haltlosigkeit dieses Gedankens. Er war so undurchdacht, so grundlos, war wie aus dem Nichts entstanden und hatte sich in seinem Kopf festgesetzt wie ein besonders hartnäckiger Virus, ein Wahn, der nun nicht mehr von ihm lassen wollte. Laufen, laufen, immer weiter laufen, bis er die Tore der Stadt erreichte. Neben ihm jagte das Wild durch den jungen Weizen, getrieben vom allgegenwärtigen Sturm und ein paar besonders mutigen Raubvögeln, die es wagten, bei dieser Witterung zu fliegen. Sie hätten auch Echo gefährlich werden können - Katzen und Kratzen standen auf dem Speiseplan der meisten der eleganten Räuber - doch dem Alchimisten hätte kaum etwas gleichgültiger sein können. Laufen, laufen, immer weiter laufen… Erschöpfung zerrte an Echos Gliedern und machte schon bald jeden Schritt zur Qual, aber anzuhalten, zu rasten war keine Option. Sicher war es nicht mehr weit, sicher erschienen schon bald die Silhouetten der riesigen Bücher am Horizont, die den Eingang in die Stadt des Lesens und Schreibens formten. Sicher fehlten nur noch ein ganz paar Meter… Echo schnaubte und prustete, um den Regen aus seinem empfindsamen Naschen zu vertreiben, doch es war zwecklos. Mittlerweile hatte er das Gefühl mehr Wasser als Luft zu atmen, allerdings auf weit weniger angenehme Weise als damals, als er seinen kurzen Ausflug in das Leben eines Lachses genossen hatte. Es verstopfte ihm die Nüstern und Ohren und betäubte seine ohnehin schon verwirrten Sinne, bis sich alles um ihn herum in einen schmierigen, grün-braunen Matsch auflöste, wie die verlaufenden Farben eines zu nassen Gemäldes. Aber er musste nach Buchhaim. Musste, musste, musste… Als sich endlich die Umrisse der Stadt hinter dem ewig grauen Vorhang aus Regen abzeichneten, hatte Echo längst jegliche Kontrolle über seinen Körper aufgegeben. Die getigerten Beine unter ihm bewegten sich mechanisch, rhythmisch, trugen ihn irgendwie vorwärts, irgendwo hin, doch zu ihm gehörten sie schon lange nicht mehr. Er spürte sie nicht und wollte es, wenn er ehrlich war, auch gar nicht. Schon von außen sahen sie furchtbar zerschunden und wund aus vom tagelangen rastlosen Wandern über unwegsames Gelände und spitze Steine. Seine Pfoten bluteten an einigen Stellen und hier und dort fehlten ganze Büschel Fell, stumme Zeugen der etlichen Male, der an dichtem Dornengestrüpp hängen geblieben oder von einer besonders steilen Felswand abgestürzt war. Echo wusste, dass er furchtbar aussah und er fühlte sich auch so. Noch immer war ihm nicht klar, warum alles in ihm danach schrie, so schnell wie möglich nach Buchhaim zurück zu gelangen, doch inzwischen zählte nur noch, die Stadtgrenze lebend zu erreichen und nicht vorher vor Erschöpfung zusammen zu brechen. Die letzten Kilometer kamen dem jungen Alchimisten länger und beschwerlicher vor als der gesamte Marsch davor, so mühselig war das Gehen inzwischen geworden. Wäre er nicht ohne hin schon ein Vierbeiner gewesen, spätestens jetzt wäre er auf selbigen gekrochen. Bei jedem Schritt gaben seine Knie einige Zentimeter nach und er drohte mit dem Kopf voran auf dem Boden aufzuschlagen, doch irgendwie, er konnte sich selbst im Nachhinein nicht so genau erklären wie, hielt er durch und stand schließlich, völlig am Ende sowohl seiner körperlichen als auch seiner geistigen Kräfte zwischen den übergroßen Büchern des Buchhaimer Stadttors. Dort brach er zusammen. Er war angekommen, war dort, wo er sein sollte, und es gab keinen Grund auch nur einen einzigen Meter weiter zu gehen. 'Als ob es den vorher gegeben hätte', dachte Echo düster, stellte dann zu seiner großen Verwunderung fest dass er tatsächlich wieder klar und geradeaus denken konnte. Zwar waren seine Gedanken ebenso erschöpft wie er, dennoch war es, als hätte sich ein dichter Nebel aus seinem Kopf verzogen und endlich die Sicht auf den eigenen Geist freigegeben. Die Rastlosigkeit war verschwunden und ließ ihn zugleich mit tausenden Fragen zurück, von denen er allerdings keine einzige in diesen Sekunden beantworten konnte und wollte. Völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass der Regen immer noch in endlosen Fäden auf ihn hernieder prasselte und dass er inmitten einer an normalen Tagen sehr geschäftigen Straße lag, schloss das Krätzchen die Augen und fiel augenblicklich in einen tiefen Schlaf voller wirrer Träume, in denen er von hageren Gestalten in langen schwarzen Umhängen gejagt wurde. Rumo sprintete über die Wiesen vor Wolperting als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Er wusste selbst nicht genau, woher er nach der tagelangen Wanderung noch die Energie für einen derartigen Dauerlauf nahm, doch es kümmerte ihn herzlich wenig. Seine Vorder- und Hinterpfoten gruben sich tief in die aufgeweichte Erde und schleuderten bei jedem Sprung eine Ladung Gras und Schlamm hinter ihm in die verregnete Luft. Er selbst war über und über bedeckt von Matsch und den Resten von Hektors Blut, nicht ein Zentimeter seines Fells schien noch in dem strahlenden Weiß, das ihn sonst so einzigartig machte. Er musste wild aussehen, überlegte der Wolpertinger. Wild und gefährlich, und das war auch gut so. Ein jeder, der es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen, sollte direkt erahnen, mit wem er sich da anlegte. Er war Rumo von Zamonien. Und dieser Kontinent gehörte ihm! Derart in Kampfeslaune hatte er sich zuletzt in Hel selbst gefühlt und vom Ausgang dieses Abenteuers sprachen heute Legenden. "So ist es gut", lobte Grinzold mit kaum überhörbarem Stolz in der Stimme. "Lass den Kreigergeist hell lodern! Blut! Blut! Blut! Blut muss spritzen meterweit…" "Blut bedenkt des Feindes Kleid", skandierte Rumo mit seinem eisernen Freund im Chor. Löwenzahn war schon vor geraumer Zeit sehr still geworden. Der aggressive Rumo war ihm immer noch nicht ganz geheuer und an das Blutlied konnte er sich auch nach dem hundertsten Mal singen nicht wirklich gewöhnen. Er verstand, dass es von Zeit zu Zeit angebracht war, emotionale Härte zu zeigen, aber musste man das denn gleich so heraus posaunen? 'Jetzt hab dich nicht so', dachte Rumo, als er die Zweifel seines ängstlichen Gefährten spürte. 'Alles, was ich will, ist vorbereitet sein, falls ich auf Menschen treffen sollte. Ihnen zeigen, was in uns Zamoniern steckt, wenn man uns unterschätzt. Ich….' Weiter kam er nicht, denn in dieser Sekunde erhaschte seine feine Nase einen Geruch, der ihm auf unheilvolle Weise bekannt vor kam. Es war eine Mischung aus den Schwefel- und Schwarzpulverdämpfen, die in der Kleidung eines jeden Alchimisten wohnten und die auch Echo permanent in seinem Fell trug, und etwas Fremdem, etwas Unbekanntem, etwas, das nicht hier her gehörte. Ja, Rumo kannte diesen Geruch. Er hatte ihn schon einmal gerochen, damals, vor vielen Wochen im Rumotron, an dem Tag, an dem alles begann. Dies war der Geruch der Menschen. Sie waren in der Nähe. 'Macht euch bereit', herrschte er Löwenzahn und Grinzold an. 'Gleich wird es ernst.' Dann streckte er sich noch ein Stück weiter in die Laufbewegung, um an Geschwindigkeit zuzulegen. Er musste Wolperting erreichen, bevor sie es taten, koste es, was es wolle! Nur dann hatte er vielleicht eine Chance sie aufzuhalten und einen Krieg in der Stadt zu verhindern. Nach etwa einem halben Kilometer Sprint bemerkte Rumo in einiger Entfernung eine Ansammlung von schemenhaften Kreaturen, die sich unwirklich, ja geradezu geisterhaft durch den unaufhörlichen Regen bewegten, eine unheimliche Prozession in lange Gewänder gehüllter Schatten, unaufhaltsam auf dem Weg in seine Heimat, um ihr jegliches Leben zu nehmen, wie sie es schon mit Buchhaim getan hatten. Nun, das würde er nicht zulassen. Doch bewegten sie sich wirklich? Der Wolpertinger tat einige weitere, langgezogene Sprünge über das durchweichte Gras. Nein, so schnell, wie er sich ihnen näherte, war es unmöglich, dass sie sich selbst von Fleck bewegten. Vielmehr schienen sie am selben Ort zu verharren, aufgereiht wie die Vogelscheuchen Nun konnte Rumo genaueres ausmachen. Es waren neun von ihnen, sie standen in einem losen Halbkreis verteilt über die gesamte Breite seines Sichtfeldes und, ja, sie schienen ihm entgegen zu Blicken. Warteten sie etwa? Aber auf wen? Auf ihn? Konnte das sein? Es war ein Bild wie aus einem Albtraum: Vor dem Wolpertinger erstreckte sich weit das flache, eintönige Grasland, das an sonnigen Tagen zum spielen und toben einlud. Heute jedoch war es getaucht in gespenstischen Nebel und das endlose milchige Grau des Regens, der die Grenze zwischen Himmel und Erde aufzulösen schien. Und in dieser unwirklichen Welt standen sie, die Gestalten, vor denen sich in diesen Tagen jeder in Zamonien fürchtete. Schwarze Silhouetten mit wehenden Roben halb verborgen hinter dem Schleier des Unwetters, eine stumme Konferenz der Sensenmänner, die sich zusammen gefunden hatten, um ihn, Rumo, zu holen. 'Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren', ermahnte er sich selbst. 'Halte dich an die Fakten. Sieh sie dir an! Denkst du wirklich, die können dir gefährlich werden?' Ihm war aufgefallen, dass keiner der Menschen so etwas wie ein Schwert oder einen Säbel bei sich zu tragen schien. Einige Armbrüste konnte er aus der Entfernung ausmachen, doch damit erschöpfte sich das Waffenarsenal der kleinen Bataillon offenbar auch schon - keine allzu gute Vorbereitung für einen Kampf gegen einen bewaffneten Wolpertinger. Grinzold grummelte nachdenklich. "Pass lieber auf", warnte er Rumo in einem für ihn seltsam ernsten Ton. "Diese Viecher terrorisieren einen gesamten Kontinent. Armbrüste sind sicher nicht alles, was sie in Petto haben. Damit hätten sie es nie und nimmer so weit gebracht, schon gar nicht bei ihrer mickrigen Körpergröße." Rumo nickte. 'Keine Sorge, ich passe auf uns auf.' Plötzlich, als der Wolpertinger sich auf etwa zweihundert Meter genähert hatte, setzten sich die Menschen wie auf ein geheimes Zeichen hin in Bewegung. Diejenigen, die die äußeren Teile des Halbkreises bildeten, rückten langsam näher zur Mitte, sodass sie dem heran galoppierenden Feind systematisch den Weg abschnitten. Tatsächlich! Sie hatten auf ihn gewartet! Unfassbar! Rumo kam schlitternd auf dem matschigen Untergrund zum stehen, die Klauen kampfbereit auf Brusthöhe, Löwenzahn in der Hand. "Geht mir aus dem Weg", grollte er in seiner tiefsten Tonlage, als er sich in Hörweite wähnte. "Ich weiß nicht, was ihr vorhabt, aber mir stellt man sich nicht so leicht entgegen. Das haben schon andere bereut." "Oho, große Worte von einem Köter", höhnte einer der Menschen, der etwas weiter vorne stand als die anderen, mit kalter Stimme, die durch den Sturm schnitt wie ein heißes Messer durch Butter. Er trug, wie der Rest von ihnen auch, eine braune Leinenkutte mit einem breiten Gürtel in der Mitte, in dem allerlei seltsam anmutendes Werkzeug steckte, dazu einen kahl geschorenen Schädel und fremdartige Bemalungen über den kleinen, tief liegenden Augen. Offenbar war er ihr Anführer. "Allerdings haben wir das in der letzten Zeit schon häufiger zu hören bekommen. Ihr Zamonier neigt nicht gerade zur Bescheidenheit." "Ich beweise es euch sehr gerne", gab Rumo finster zurück und hob sein Schwert in Angriffsposition. "Wer von euch möchte der Erste sein?" Der Mensch verschränkte die Arme vor der Brust und warf einen kurzen Blick über beide Schultern zu seinem Gefolge. "Ist er nicht niedlich?", fragte er spöttisch in die Runde. "Er denkt tatsächlich, dass er mit diesem Brotmesser etwas gegen uns ausrichten könnte." Dann wandte er sich wieder Rumo zu. "Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, Wolpertinger, aber wir haben bereits weite Teile eures armseligen Kontinents in unserer Gewalt. Und du bist nicht der erste, dem das nicht passt." Rumo zog drohend die Lefzen hoch. "Zur Not nehme ich euch auch mit meinen bloßen Klauen auseinander, glaubt mir. Das ist meine letzte Warnung! Ich rate euch, geht mir aus dem Weg. Und lasst vor allem meine Heimat in Ruhe!" Der Mensch rührte sich nicht vom Fleck. "Dein Name ist Rumo von Zamonien, nicht wahr?" "Sehr richtig", antwortete Rumo. "Und da ihr ja offenbar von mir gehört habt, dürfte euch auch bekannt sein, wofür ich in diesen Breiten berühmt bin." "Natürlich." Wie beiläufig zog der Mensch ein kleines Notizheft aus seinem Gürtel und schlug es mich wichtigtuerischer Miene auf. "Rumo von Zamonien, der schon bei seiner Namensgebung nicht durch Zurückhaltung glänzte, feierte seine größten Triumphe in Untenwelt, wo er nicht nur General Tik Tak bezwang, sondern auch für die Auslöschung einer ganzen Herde Wrahoks verantwortlich war." Er ließ das schwarze Heftchen sinken. "Keine schlechte Leistung für einen von deiner Art, das muss ich zugeben. Dennoch…" Das Heft verschwand wieder im Gürtel. "Ich fürchte, auch du bist keine echte Herausforderung für uns." Er hob die Hand neben den Kopf, legte Dauen, Zeige- und Mittelfinger aneinander und schnipste einmal. "Packt ihn." Auf dieses Zeichen hin zogen vier der Menschen je eine Armbrust aus den Holstern auf ihren Rücken. Rumo grinste innerlich. 'Zu langsam', dachte er, macht einen Satz nach links, packte einen der ihm am nächsten stehenden Kreaturen an der Robe und schleuderte ihn im hohen Bogen zu Boden. Es gab ein furchtbar knackendes Geräusch und der überraschte Mensch spuckte ächzend einen Schwall Blut. Wie der Wolpertinger es vermutet hatte - diese Rasse war zerbrechlich wie trockener Reisig. Doch um sie zu unterschätzen war es zu früh, immerhin hatten sie Atlantis sicher nicht durch eine solch mickrige Vorstellung in ihre Gewalt gebracht, wie sie sie gerade ablieferten. Vorsicht ist besser als Nachsicht, hatte Smeik immer gesagt und so hob Rumo, der nun über dem am Boden liegenden Menschen hockte, Löwenzahn leicht an und zielte mit geschultem Auge auf die exponiert daliegende Kehle. Ein kurzer schnitt und schon war es einer weniger. Dacht er. In dieser Sekunde traf ihn etwas mit voller Wucht in den Rücken. Es war ein Armbrustbolzen, der sich tief in Rumos Schulter bohrte und einen glühenden Schmerz seinen gesamten Körper hinab bis in seine Pfoten jagte, die prompt unter ihm nachgaben. Er sackte für einen fatalen Moment über seinem Opfer zusammen, den direkt zwei weitere Menschen nutzen, um ihm mit geschickten Stockschlägen die Beine vollends wegzuschlagen. Rumo machte einen ungewollten Hechtsprung ins Nichts und schlug mit der Schnauze voran auf dem nun gar nicht mehr so aufgeweicht erscheinendem Gras auf. Für einen kurzen Augenblick sah er weiße Sterne vor seinen Augen tanzen, dann kehrten seine Sinne zurück und er drückte sich knurrend mit den Vorderpfoten vom Boden ab. So nicht! Rumo wirbelte noch im Aufstehen herum, Löwenahn zwischen den Zähnen, und packte die beiden Stöcke der Menschen, um sie ihren Trägern in die Magengrube zu rammen. Das verschaffte ihm erst einmal etwas Platz. Seine Schulter schmerzte höllisch, doch dafür war im Moment keine Zeit. Der Wolpertinger sah sich um. Um ihn herum standen die zwei Stockkämpfer, etwas weiter hinten ein Menschenwesen mit einer Armbrust, die er mit geschickten Bewegungen spannte. Hinter ihm rappelte sich der zu Boden gerissene stöhnend wieder auf und verzog sich schnell einige Schritt hinter zwei seiner Kameraden, die Seile in den Händen hielten, deren Enden zu Schlaufen geknotet waren. Der Anführer hatte die Arme wieder vor der Brust verschränkt und beobachtete das ganze Spektakel aus eineiger Entfernung. Rumo ging in die Knie. "Okay, genug gespielt", knurrte er. "Ab jetzt stelle ich hier die Regeln auf." Er hob die Arme über den Kopf und ließ zu, dass die Menschen mit den Seilen in den Händen diese um seine Handgelenke warfen. Sobald er sich sicher war, dass sie seine Arme umschlangen, wickelte er sich das Seil blitzschnell einmal um jede Pfote, spannte seine Unterarme und drehte sich mit Schwung einige Male um die eigene Achse. Die Menschen am anderen Ende des Taus hatten seiner Kraft kaum etwas entgegen zu setzten, sie wurden herumgeschludert wie Fähnchen an einem Flaggenmast und nahmen auf ihrem Weg direkt noch den einen oder anderen ihrer Kumpane mit. Als er sich sicher war, dass in einem Umkreis von etwa drei Metern um ihn herum so schnell keiner mehr aufstand, ließ Rumo die Seile fallen und wandte sich den etwas weiter entfern stehenden Schützen zu. "Nun zu euch", grummelte er, dann sprintete er geradewegs auf sie zu. Er sah, wie sie ihre Waffen anlegten und den Abzug betätigten und er sah die Bolzen auf sich zufliegen, doch dieses Mal war er vorbereitet. Geschickt duckte er sich unter den fliegenden Geschossen hinweg und überwand die letzten Meter zu den verdutzten Menschen in drei langen, kraftvollen Sprüngen. WIe ein Taucher aus tiefem Wasser tauchte er direkt vor ihnen auf, griff beide gleichzeitig am Kragen, zog sie mit aller Kraft neben sich herunter und beobachtete mit grimmiger Zufriedenheit, wie sich ihre Köpfe tief in den kalten Matsch gruben. Blieben noch drei weitere Schützen… "Das reicht jetzt", donnerte mit einem Mal die Stimme des Anführers über das kleine Schlachtfeld. Prompt ließen alle Menschen ihre Waffen sinken, rappelten sich auf und zogen sich in ihre Ausgangsposition zurück. Rumo war verwirrt. Was sollte das denn nun werden? Er war noch nicht fertig mit diesen Kreaturen. Wollen sie jetzt etwa mittendrin abhauen? Der Wortführer der Menschen kam langsamen Schrittes auf ihn zugeschlendert. Er schien völlig unbeeindruckt von den Kampfkünsten des Wolpertingers, der soeben beinahe seinen gesamten Trupp auseinander genommen hatte, ja er wirkte sogar fast ein wenig gelangweilt. "Wie du eben so schön sagtest, Hündchen:", säuselte er mit provokant desinteressierter Miene, "Genug gespielt! Du willst wissen, was wir wollen? Nun, ich will es dir verraten. Wir wollen deinen Kopf!" Dann, bevor Rumo auch nur die kleinste Chance gehabt hätte zu reagieren, griff er an seinen Gürtel, zog einen der fremdartig aussehenden Gegenstände daraus hervor und richtete ihn auf den Wolpertinger. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, der Geruch von Rauch und Schwarzpulver erfüllte die Luft und Rumo fühlte mit einem Mal nur noch kalte, dürre Finger, die ihn aus der Wirklichkeit hinab in ein tiefes, dunkles Loch zogen. Dann verschwand die Welt um ihn herum. Kapitel 20: Interdimensionale Angelegenheiten --------------------------------------------- Rumo brauchte eine Weile um zu begreifen, dass er tatsächlich gezogen wurde. Jemand hatte ihn von hinten gepackt und zerrte ihn nun mit sanfter Gewalt… ja, wohin eigentlich? Um den Wolpertinger herum war alles stockfinster, nicht einmal die eigene Pfote vor den Augen konnte er erkennen, geschweige denn wohin seine unfreiwillige Reise ging. Alles, worauf er sich in diesem Augenblick konzentrieren konnte, waren die betäubenden Schmerzen, die von seiner Schulter hinab in seinen gesamten Körper strahlten. Und auch irgendwo knapp unterhalb seiner Lunge schien etwas ganz und gar nicht in Ordnung zu sein - eine warme Flüssigkeit bahnte sich den Weg durch sein Fell seinen Oberschenkel entlang, von der er den unguten Verdacht hatte, dass sie sein eigens Blut war. "Press deine Pfote auf die Wunde", befahl da plötzlich eine Stimme ganz nah an seinem Ohr und Rumo zuckte unwillkürlich zusammen. Er kannte diese Stimme, wenngleich er im Augenblick nicht wusste, woher genau. "Wenn du zu viel Blut verlierst, wirst du bewusstlos und ich habe beim besten Willen keine Lust dich zu tragen." Da er grundsätzlich fand, dass das nach einer guten Idee klang, kam Rumo der Aufforderung ohne Widerworte nach. Er tastete mit vorsichtigen Bewegungen nach der schmerzenden Stelle, fühlte die kleine, kreisrunde Wunde und begann langsam die Innenfläche seiner Pfote darauf zu drücken. Es tat höllisch weh und Rumo musste den heftigen Wunsch unterdrücken, laut aufzuheulen. "Wo bringst du mich hin?", fragte er, als die weißen Sterne aufhörten vor seinen Augen zu tanzen. "Ich war noch nicht fertig mit diesen Typen! Ich muss sie aufhalten!" Die Stimme an seinem Ohr lachte kurz und freudlos. "Glaub mir, du warst fertig. Mehr als fertig. Und jetzt schließ die Augen, wenn dir dein Verstand lieb ist." "Wieso das? Hier ist es doch sowieso…" "Mach einfach, was man dir sagt!" "Ist ja gut…" Rumo fühlte sich ein wenig eingeschüchtert von dem plötzlich deutlich aggressiveren Unterton der gesichtslosen Stimme, also kniff er schnell die Augenlieder zusammen. Es war seltsam, wie wenig das an den Sichtverhältnissen änderte. Normalerweise hätte in einem solchen Fall seine Nase die Sicht übernehmen sollen, doch dieses Mal blieb das ungewöhnliche Farbenspiel seiner Geruchswelt aus. "Sagst du mir jetzt bitte, wo du mich hinbringst? Wer bist du überhaupt? Kennen wir uns?" „Hör zu“, seufzte die Stimme hörbar genervt von der Fragerei. „Ich muss mich konzentrieren, sonst kann ich uns überhaupt nirgendwo hinbringen. Ich verspreche, ich beantworte dir all deine Fragen, sobald wir angekommen sind, aber bis dahin bitte ich dich: Halte endlich deinen Mund! Und bei allem was dir heilig ist - zappele nicht so herum!“ „Ich hoffe für dich, dass deine Erklärung eine gute ist“, grummelte Rumo mehr zu sich selbst als zu der Gestalt auf seinem Rücken, ließ dann resignierend und auch irgendwie erschöpft Arme und Beine schlaff herab hängen. Plötzlich fiel ihm etwas auf. „Uah!“, machte er und verstieß dabei gewaltig gegen die Anweisung nicht zu zappeln. „Wir schweben!“ Mit einem Mal von einer Woge der Panik überwältig, begann Rumo wie wild mit den Armen zu wedeln und mit den Beinen unter sich ins Nichts zu treten. „Wir schweben!“, wiederholte er dabei. „Wieso schweben wir!? Lass mich nicht fallen! Ich will nicht fallen!“ Wolpertinger waren für festen Boden gemacht. Vielleicht auch für Wasser. Aber ganz sicher nicht für die Luft. Hätte die Natur gewollte, dass sie flögen, hätten sie doch wohl Flügel! „Hör verdammt noch mal auf damit, du dummer Hund!“, brüllte die Stimme so laut, dass es unangenehm in Rumos empfindlichen Ohren stach. „Wenn du nicht sofort still hältst, strecken wir beide bald knietief in Schwierigkeiten! Ja, du schwebst! Nein, du kannst nicht runter fallen! Alles ist gut, solange du mich jetzt endlich meine Arbeit machen lässt!“ Rumos Herz pochte wie ein Vorschlaghammer gegen seine Rippen und trieb das Blut damit immer gewaltsamer aus seinen Wunden, von denen er die unter seinen Rippen nun wieder hektisch mit der Pfote bedeckte. ‚Beruhige dich!‘, ermahnte er sich selber und zwang sich tief durchzuatmen, um seinen Puls zu verlangsamen. ‚Die Stimme hat Recht, ohnmächtig zu werden hilft mir jetzt auch nicht weiter!‘ „Ich fühle mich komisch“, jammerte Löwenzahn. „Alles ist so dumpf und irgendwie schwummerig. Ich glaube, mir wird schlecht!“ „Dann danke ich den Göttern dafür, dass wir keinen Magen haben!“, kommentierte Grinzold ohne die geringste Spur von Mitleid und erlaubte sich sogar einen kurzen Lacher. „Aber Spaß beiseite, der Weichkeks hat Recht, irgendwie werd ich so‘n flaues Gefühl auch nicht los. Und wer weiß, wo wir landen! Vielleicht werden wir hier gerade entführt! Hey Boss! Mach mal was!“ Rumo lauschte seinen Freunden aufmerksam, froh darüber, dass sie offenbar noch bei ihm waren, auch wenn er sich nicht erinnerte, sein Schwert zurück in die Scheide geschoben zu haben. ‚Ich glaube, wir sollten für den Moment einfach tun, was man uns sagt‘, sandte er ihnen schließlich gedanklich zu. ‚Ich weiß nicht woher, aber diese Stimme kommt mir bekannt vor. Ich werde ihr für den Moment einfach vertrauen.‘ „Na gut, du bist der Chef.“ Eine ganze Weile passierte aus Sicht des Wolpertingers gar nichts. Er hing irgendwo wie schwerelos im Raum, die Augen geschlossen und eine Pfote auf seine blutende Wunde gedrückt, von der er nicht wusste, was sie verursacht haben könnte. Eine unbekannte Gestalt hatte ihn von hinten gepackt und zog ihn rückwärts einem unbekannten Ziel entgegen, um sie herum herrschte Totenstille und eine seltsame, beinahe drückende Stimmung hatte von Rumo Besitz ergriffen, die etwas undefinierbar Bedrohliches hatte, wie nächtliche Schatten auf kahlen Wänden. Hoffentlich waren sie bald da - wo auch immer „da“ war. „Zweiundvierzig“, sagte die Stimme. „Was?“, machte Rumo, aufgeschreckt von dem plötzlichen Laut inmitten des Nichts. „Pscht! Zweiundvierzig, siebzehn, drehundertdreiundfünfzig, eins, acht, siebentausend....“ Was sollte das denn werden? Rumo lauschte, wie die Stimme nacheinander eine endlose Zahlenreihe aufsagte, die keinem bestimmten System zu folgen schien. Mal waren es sehr große, dann wieder sehr kleine Zahlen, mal gerade, mal ungerade, mal Primzahlen und ab und an sogar Brüche. Er versuchte sich einen Reim darauf zu machen, doch wann immer er glaubte einen roten Faden erkennen zu können, folgte die nächste Zahl und machte seine Überlegungen wieder zunichte. „Null!“, rief die Stimme schließlich, als Rumo schon lange aufgegeben hatte, nach dem Sinn zu suchen. „Wir sind da! Beinmuskulatur anspannen, Knie leicht anwinkeln, wir landen!“ Es gab ein deutlich vernehmbares „fump“, ein Geräusch, als würde etwas mir Gewalt durch eine enge Öffnung geschossen, und dann spürte der Wolpertinger, wie die Schwerkraft mit aller Macht an ihm riss. Sie erfasste seine Glieder mit eisernem Griff und zog ihn unkontrolliert zu Boden, sodass er zwar zunächst auf seinen Hinterpfoten aufkam, dann aber sofort das Gleichgewicht verlor und der Länge nach auf etwas aufschlug, das eindeutig nach Gestein schmeckte. Um Rumo herum erhob sich mehrstimmiges Gelächter. Er ächzte und drehte sich unter einiger Anstrengung auf den Rücken. Mehr war im Moment nicht drin. „Darf ich meine Augen jetzt wieder aufmachen?“ „Ich bitte sogar darum.“ Na endlich! Rumo blinzelte und wartete darauf, dass das Bild vor seinen Augen wieder klar wurde. Jemand hatte sich über ihn gebeugt und sah besorgt auf ihn herunter, eine Gestalt mit jugendlichem Gesicht, blaugrauem Haar und durchdringenden honigfarbenen Augen... Echo! Aber wie war das möglich? Er war nicht derjenige, der ihn an diesen Ort gebracht hatte, da war sich der Wolpertinger sicher. Die Stimme des kleinen Alchimisten hätte er sofort wieder erkannt. Und sowieso: Wollte der nicht nach Buchhaim? Befand er sich in Buchhaim? „Bleib so liegen, Rumo“, sagte Echo ruhig und hob sanft dessen Pfote von seiner Wunde. „Du hast viel Blut verloren. Ich werde dir jetzt etwas Kochsalzlösung geben und das hier flicken, dann solltest du dich schnell besser fühlen.“ Er fischte einen mit einer Flüssigkeit gefüllten Lederbeutel aus den Tiefen einer Tasche, befestigte einen dünnen Schlauch an dem dafür vorgesehenen Ventil und steckte das andere Ende an eine Spritze, die er daraufhin ohne Vorwarnung in Rumos Arm versenkte. „Au!“, protestierte der eher aus Überraschung als aus Schmerz - der war an anderen Körperstellen eindeutig penetranter. Echo grinste entschuldigend. „Tut mir Leid, geht nicht anders. Wenn das Zeug erst mal in deinem Blutkreislauf ist, wirst du mir danken.“ Dann machte er mit einer Hand eine Geste des Heranwinkens. „Blaubär? Kannst du den Beutel kurz hochhalten?“ Rumo widerstand dem Impuls mit dem Oberkörper hochzufahren, um sich umsehen zu können. Blaubär war hier? Das vertraute Gesicht seines königsblauen Freundes erschien in seinem Sichtfeld und grinste ihm verschmitzt entgegen. „Na Kumpel, wie ist die Lage? Nette Landung übrigens! Ich gebe neun von zehn Punkten mit Abzügen in der B-Note für die fehlenden Flüche. Da hatte Mythenmetz dir eindeutig was voraus!“ „Mythenmetz lebt?“, fragte Rumo und als Blaubär nickte überkam ihn eine Woge unendlicher Erleichterung. „Allerdings ist er schwer verletzt“, erklärte der Buntbär mit nun eindeutig ernsterem Gesicht. „Echo hat ihn so gut es eben ging versorgt, jetzt schläft er. Mit etwas Glück erholt er sich in ein paar Tagen. Das gilt übrigens auch für dich.“ „Aber wo sind wir?“, wollte Rumo wissen. „Und wie sind wir hierhergekommen? Wenn Echo hier ist, ist das hier Buchhaim? Und was machst du hier? Wolltest du nicht zu den Finsterbergen? Was ist mit Nachtigaller? Was sollen wir...“ „Jetzt beruhige dich erst mal!“, fiel ihm Blaubär ins Wort. „Ich kann ja verstehen, dass du viele Fragen hast - die habe ich auch, das kannst du mir glauben. Aber jetzt solltest du dich erst mal ausruhen!“ Rumo dachte für einen Moment, er habe sich verhört. „Ausruhen? Ich kann mich nicht ausruhen! Da draußen rennen Rudelweise wahnsinnige Kreaturen rum, die meine Heimat zu zerstören drohen! Ich muss sie aufhalten! Sie haben Wolperting schon fast erreicht! Und wer weiß, was sie sonst noch angestellt haben!“ Nun lächelte Blaubär wieder, allerdings war es dieses Mal eine beinahe mitleidige Geste. „Du hast alle Zeit der Welt, Rumo. Und außerdem bleibt dir nicht wirklich eine Wahl...“ Er wedelte leicht mit dem Lederbeutel, den er von Echo in die Hand gedrückt bekommen hatte. „Weißt du, hier ist, ehrlich gesagt, nicht nur Kochsalz drin.“ „Was? Nein!“ Plötzlich bemerkte Rumo, wie seine Zunge begann träge an seinem Gaumen zu kleben. „Die Menschen... Zamonien... Rala...“ Dann verließen ihn seine Kräfte. Das letzte, was er sah, war Echo, der sich über ihn beugte, ein Skalpell in der vermenschlichten Hand, und mit für Rumos Geschmack etwas zu fröhlicher Stimme sagte: „Dann wollen wir uns mal auf die Suche nach der Kugel machen...“ Als Rumo wieder zu sich kam, fühlte er sich erstaunlich gut. Er hatte keine Schmerzen und auch sonst schien sein gesamter Körper von Grund auf entspannt, ein Zustand, den er schon viel zu lange nicht mehr erlebt hatte. Mit dieser Erkenntnis kam das schlechte Gewissen. Er hatte geschlafen! Sein Dorf, seine Heimat, sein Kontinent und vor allem seine Verlobte waren in Gefahr und er hatte geschlafen! Was für ein unverzeihliches Verhalten für jemanden, der sich selbst einen Helden schimpfte. Zamonien ging unter und er ruhte sich währenddessen aus! „Uugh!“, machte es da irgendwo links neben ihm und Rumo ließ sich für einen Moment von seinem spontanen Selbsthass ablenken. Er drehte den Kopf und erspähte Mythenmetz, der einige Meter entfernt auf einem Feldbett lag. Sie beide befanden sich in einem kleinen, spartanisch eingerichteten Zimmer, das allem Anschein nach zu einem Bauernhaus gehört, welches seine besten Zeiten allerdings lange hinter sich hatte. Das wenige Tageslicht, das durch ein schmales Fenster herein fiel, beleuchtete alte Holzdielen, neben den beiden wenig luxuriösen Krankenbetten noch zwei Nachttische, auf denen je eine erloschene Kerze stand, und in einer Ecke ein furchtbar mit Spinnenweben überzogenes Regal, in dem ein einzelnes Buch sein freudloses Dasein fristete Sonst gab es nichts zu sehen. Mythenmetz hatte sich in seinem Lager aufgerichtet und hielt sich stöhnend die in dicke Mullbinden verpackte Brust. Schweiß stand ihm auf der schuppigen Stirn und seine Augen waren weit aufgerissen und blutunterlaufen. Es war kaum zu übersehen, dass die Schmerzmittel, von denen Rumo vermutete, dass Echo sie ihnen verabreicht hatte, bei ihm weit weniger gut wirkten als bei dem Wolpertinger. „Vielleicht solltest du dich nicht bewegen“, schlug er gut gemeint vor. Das erste Mal seit Beginn der Reise spürte er so etwas wie Sympathie für die sonst so arrogante Echse. Mythenmetz schien aus weit entfernten Sphären zu schrecken, so ruckartig zuckte er zusammen, als er Rumos Stimme in der Stille ihrer kleinen Kammer vernahm. Er drehte den Kopf in Richtung des anderen Bettes und sah dem Wolpertinger mit fahrigem Blick in die Augen. „Sie haben die Lindwurmfeste“, sagte er dann mit kaum hörbarer, zittriger Stimme. „Ich wollte es nicht glauben, bis ich es selbst gesehen habe. Sie haben sie komplett in ihrer Gewalt. So viele sind tot, so viele verletzt. Und ich konnte nichts tun. Ich kam zu spät.“ Rumo wandte sich betreten der Zimmerdecke zu, die Angst in den Augen des Lindwurms war im Angesicht des Selbstzweifels zu schwer zu ertragen. „Das tut mir Leid...“ „Ich wollte helfen“, fuhr Mythenmetz fort, ohne auf die Worte zu reagieren. „Ich war bereit sie eigenhändig auseinander zu nehmen! Es waren doch nur so wenige! Ich bin rein, bin auf sie zu - es war wie ein Spiel für sie! So etwas habe ich noch nie erlebt! Ihre Waffen... sie sind nicht von hier, sie gehören nicht hier her!“ Rumo erinnerte sich an seinen eigenen Kampf, wie die Menschen ihn zunächst in dem Glauben gelassen hatten, er hätte eine reelle Chance. Und wer weiß, vielleicht hätte er die auch gehabt, wäre er nicht gegen seinen Willen vom Schlachtfeld hier her gezerrt worden. Doch er erinnerte sich auch an das Ding, diese seltsame Apparatur, die der Anführer auf ihn gerichtet hatte, er erinnerte sich an den lauten Knall, den Geruch von Schwarzpulver und glühendem Metall, der die Luft erfüllt hatte. Was war das für ein Ding gewesen? Der Wolpertinger wusste nur eines: Was auch immer es war, es hatte ihn und offenbar auch Mythenmetz binnen weniger Sekunden sehr schwer verletzt. Und das konnte nur bedeuten, dass es eben jenes Ding war, das den Menschen ihren scheinbar so unüberwindbaren Vorteil gegenüber den Zamoniern verschaffte. Mythenmetz fasste schließlich in Worte, was auch Rumo nicht umhin kam zu denken. „Du bist doch ein Krieger“, sagte er und erschreckende Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit. „Sag mir, wie wir gegen etwas kämpfen sollen, von dem wir nicht wissen, was es ist!“ Auf diese Frage wusste der Wolpertinger beim besten Willen keine Antwort und so war er überaus froh, als genau in diesem Moment jemand an die Tür ihrer kleinen Kammer klopfte. Die beiden Verletzten hoben den Kopf und Mythenmetz versuchte ganz offensichtlich sich ein wenig zu sammeln. „Herein!“ Die mit Eisenscharnieren beschlagene Holztür schwang knarzend auf und Blaubär streckte seinen Kopf durch den Spalt, wurde dann von Echo, der direkt hinter ihm stand, in den Raum gedrängelt. Der junge Alchimist sah furchtbar müde und erschöpft aus, doch das optimistische Lächeln war ihm nicht vergangen. „Ah, ihr seid wach“, sagte er. „Wie sieht es mit euren Schmerzen aus? Wirken die Schmerzmittel?“ „Mir geht es sehr gut, danke“, antwortete Rumo wahrheitsgemäß und hievte seinen Rücken am Kopfende des kargen Bettes empor, bis er halbwegs aufrecht saß. „Aber ich glaube, unser Schreiberling hier hat ganz schön zu kämpfen. Vielleicht gibst du ihm besser noch ein bisschen von... was auch immer du uns gegeben hast.“ Echo nickte, dann kramte er eine bereits aufgezogene Spritze hervor. Mythenmetz streckte ihm wortlos und doch sichtlich dankbar den schuppigen Arm entgegen. „Das ist Morphium. Starkes Zeug, aber eure Verletzungen sind nicht ohne, also hielt ich es für angebracht.“ Blaubär hatte sich unterdessen am Fußende von Rumos Bett niedergelassen. „Wie sieht es aus, fühlt ihr euch fit genug für eine Lagebesprechung?“ Mythenmetz und Rumo bejaten - keiner von ihnen wollte weitere wertvolle Stunden für ein Nickerchen opfern. Außerdem gab es eindeutig zu viele ungeklärte Fragen. „Direkt vorweg:“, begann Blaubär und hob abwehrend die Pfoten. „Ich weiß genau so wenig wie ihr. Ich wurde aufgegriffen und das nächste, was ich weiß, ist, dass ich hier gelandet bin. Echo war schon da und stellte fest, dass ich unverletzt bin. Ja und dann kamst auch schon du, Mythenmetz, und du, Rumo.“ Echo schwieg und hantierte auffällig beschäftigt mit ein paar Phiolen in einem Lederbeutel. Mythenmetz, der mit der zurückkehrenden Farbe in seinem Gesicht auch wieder mehr und mehr zu seinem alten Selbst fand, schlug seine Decke beiseite und schwang die Beine über die Bettkante. „Drängt sich also zunächst einmal eine Frage auf: Wer hat uns hier her gebracht?“ „Das wäre dann wohl ich!“ Alle im Raum außer Echo zuckten beim Klang der schneidenden Stimme, die von irgendwo außerhalb des Zimmers zu ihnen herein drang, zusammen. Ja, dachte Rumo. Das war die Stimme, die ihn her gebracht hatte, ohne Zweifel. Und jetzt war da auch ein Geruch. Es war der Geruch von Blut und Tod, der Geruch von Alchimie und Okkultismus, von Bitterkeit und Schmerz. Doch was viel wichtiger war: Es war ein Geruch, den er kannte. Und nun wusste er auch woher. Er gehört zu jemanden, der vor gar nicht langer Zeit versucht hatte, ihn umzubringen. Unregelmäßige, klappernde Schritte näherten sich der kleinen Gruppe, die Tür schwang ein weiteres Mal auf und herein trat niemand anderes als der Schattentod, Succubius Eißpin. Echo machte sich nicht einmal die Mühe von seinen Gerätschaften aufzusehen. „Du hast lange gebraucht“, bemerkte er kühl. „Hat was nicht geklappt?“ Rumo war der Unterkiefer herunter geklappt. „Was macht der denn hier?“, rief er und wedelte fassungslos mit den Armen. „Reicht es nicht, dass wir den Menschen da draußen haarscharf entkommen sind? Müssen wir uns direkt den nächsten dieser Verrückten ins Haus holen?“ Eißpin wandte sich ihm zu und fixierte ihn mit seinem einen sehenden Auge. “Ein Dankeschön dafür, dass ich euch allen in letzter Sekunde den Allerwertesten gerettet habe, würde es auch tun, Wolpertinger.“ Doch Rumo ließ sich nicht beirren. „Gerettet? Schön, vielleicht bin ich in Sicherheit, aber Wolperting ist es nicht. Wenn du Dank dafür willst, dann sollst du ihn haben! Danke! Danke, dass du meine Freunde und Familie in Gefahr gebracht hast!“ „Rumo, jetzt warte doch mal“, versuchte Blaubär zu beschwichtigen und Mythenmetz stimmte prompt mit ein. „Richtig“, erklärte der Lindwurm. „Wilde Anschuldigungen bringen uns jetzt gar nichts. Was wir brauchen, ist eine vernünftige Erklärung, von Anfang an und ohne irgendwelche Ausflüchte oder dergleichen. Wo sind wir, wie kommen wir hier her, warum sind wir hier? Und vor allem: Was hast du mit alldem zu tun? Das letzte, was ich von dir weiß, ist, dass du uns niemals wieder sehen wolltest, oder irre ich da? Raus damit, Succubius. Du kannst doch sonst so gut erzählen!“ Eißpin ließ diese Spitze gegen ihn unkommentiert und durchquerte stattdessen das Zimmer, bis er an dem kleinen Fenster angelangt war, neben das er sich nun lehnte. „Also gut“, sagte er, als er sich sicher war, dass er allgemeine Aufmerksamkeit bekam. Nur Echo kramte weiter teilnahmslos in seinen Sachen. „Ich schätze, ich bin euch eine Erklärung schuldig. Beginnen wir dort, wo ihr mich achtlos irgendwo in die Tiefen der Katakomben von Buchhaim geworfen habt.“ Rumo entging der unverhohlene Vorwurf nicht, doch er hütete sich, einen bissigen Kommentar abzugeben. Das war mal eine Geschichte, die er wirklich hören wollte. Und er hoffte für die alte Vogelscheuche, dass sie gut war. „Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast, Hildegunst“, fuhr Eißpin fort, „aber diese Hypnose - das war es doch, nehme ich an - war gut! Ich wachte völlig orientierungslos auf und stellte fest, dass ihr weg wart. Nun, es sollte mir recht sein, auch wenn ich nicht bekam, was man mir versprach.“ Dieser Satz galt Echo, der weiterhin beharrlich schwieg. „Ich schickte mich also an den Rückweg zu meinem Lager in den Katakomben zu suchen, als mir plötzlich einige Bücherjäger begegneten. An sich nichts ungewöhnliches dort unten, doch anstatt mich vergleichsweise kleinen Kerl wie sonst für leichte Beute zu halten, verfielen sie bei meinem Anblick in helle Panik und flohen in alle Himmelsrichtungen. Von den Bürgern Sledwayas war ich so ein Verhalten ja gewohnt, aber ein baumhoher Blutschink, der vor mir Reißaus nimmt, ohne mich zu kennen - das war dann doch etwas merkwürdig. Ich beschloss zu tun, was ich die letzten fünf Jahre nicht für nötig befunden und wovor ich mich, um ganz ehrlich zu sein, auch ein wenig gefürchtet hatte: Ich ging an die Oberfläche, um der Sache auf den Grund zu gehen. Dort fand ich, wie ihr höchstwahrscheinlich auch, Buchhaim nahezu vollkommen verlassen vor, ein derart seltsamer Anblick, dass ich kurzzeitig dachte, ich sei aus Versehen in einer völlig fremden Stadt gelandet. Als ich mir dann jedoch Zugang zu einigen Buchhandlungen und Cafés verschaffte und die dort verschanzten Besitzer befragte, erfuhr ich noch viel Unglaublicheres: Zamonien sei im Krieg, so sagte man es mir. Im Krieg mit niemand geringerem als meiner Rasse, den Menschen! Nun begannen die Dinge einen Sinn zu ergeben. Deshalb also floh man vor mir. Man hielt mich für einen der Feinde! Offenbar hatten meine Artgenossen ganze Arbeit geleistet, als es darum ging, Angst und Schrecken zu verbreiten. Das rang mir beinahe ein wenig Respekt ab!“ Er lachte meckernd, doch niemand stimmte ein. „Wie auch immer. Natürlich habe ich noch einige Kontakte zu den Menschen, wenngleich es wenige sind - diese Rasse ist so furchtbar langweilig in ihrem gesamten Wesen. Ich suchte also einen Freund auf, der zufällig in der Nähe Buchhaims lebt, und konfrontierte ihn mit den Gerüchten. Wie sich herausstellt, war die Wahrheit noch viel schlimmer als befürchtet. Mein Freund ist Bauer und daher nicht in das Kriegsgeschehen verwickelt, doch er berichtete mir voller Stolz, dass es den Menschen gelungen sei, Atlantis, die Finsterberge und die Lindwurmfeste in ihre Gewalt zu bringen. Nun seien sie auf dem Vormarsch nach Wolperting, Sledwaya, Bauming und setzten sogar schon auf die Tatzeninsel über, sodass sie bald alle strategisch wichtigen Punkte des Kontinents besetzt hätten. Ich verließ meinen Freund, nachdem ich ihn glauben machte, dass ich das Vorhaben meiner Artgenossen voll und ganz unterstützte, doch innerlich war ich entsetzt, so viel könnt ihr mir glauben! Zamonien ist meine Heimat, mit all seinen Wundern und Absonderlichkeiten. Ich habe diesen Kontinent studiert, ich lebe und atme ihn, ich kann mir ein Dasein ohne ihn einfach nicht vorstellen. Wer weiß, wie die Menschen leben, weiß auch, dass es so was von eintönig und uninteressant ist! Sie sind in ihrer Welt die einzige hoch entwickelte Spezies, kann man sich das vorstellen? Will man sich das vorstellen? Und das wollten sie nun auch Zamonien antun? Nein nicht mit mir! Und dann fiel mir etwas auf. Was hatte mein Freund gesagt, welche Städte hatten die Menschen eingenommen? Konnte es da wirklich ein Zufall sein, dass mir nur kurze Zeit zuvor ein Lindwurm, ein Wolpertinger, ein Buntbär und nicht zuletzt Echo über den Weg gelaufen waren? Und nicht irgendein Lindwurm, nicht irgendein Wolpertinger, nicht irgendein Buntbär! Nein! Die bekanntesten, die berühmtesten, die gefährlichsten ihrer Art! Konnte es sein, dass man sie fortgelockt hatte? Ich musste der Sache auf den Grund gehen. Euch folgen schied aus - immerhin hatte ich keine Ahnung, wohin ihr auf dem Weg wart. Doch etwas anderes konnte ich tun. Vor fünf Jahren bediente ich mich eines einfachen Mittels, um Echo daran zu hindern, vor dem mit mir geschlossenen Vertrag einfach davon zu laufen: Ein Bannfluch. Ein posthypnotischer Befehl, eine Art geistige Bindung zu mir, dich ich so formulierte, dass er, wann immer ich daran dachte, zu mir zurückkehren würde, egal, wo ich mich befand. Eine solche Bindung kann nur durch eine bestimmte, vorher festgelegte Formel des Urhebers oder den Tod einer der beiden Parteien gebrochen werden. Beides war nicht geschehen, als Echo mich verließ, und so wusste ich dass der Befehl noch bestand. Ich ließ meine Gedanken ihn aktivieren und hoffte inständig, Echo würde brav mit euch im Schlepptau an getrottet kommen, doch enttäuschenderweise fand ich ihn einige Tage später allein und völlig verwahrlost am Buchhaimer Stadttor.“ ‚Aha‘, dachte Rumo. Deshalb also hatte Echo sich in den Bergen derart merkwürdig verhalten. Eißpin hatte ihn manipuliert, die Entscheidung nach Buchhaim zurück zu reisen war gar nicht die seine gewesen! „Nachdem ich ihn wieder aufgepäppelt hatte, berichtete er mir, dass ihr auf dem Weg in eure Heimatorte wart und somit drauf und dran in eurer Ahnungslosigkeit den dort wartenden Henken direkt in die Arme zu laufen. Was für ein Desaster! Wie also verhindern, dass die einzigen Personen, die vielleicht den Hauch einer Chance hatten, dieses ganze Chaos aufzuhalten, durch ihre eigene Idiotie ins offene Messer liefen? Die einzelnen Orte nacheinander zu bereisen, wäre völlig sinnlos, es würde viel zu viel Zeit kosten. Oder etwa doch nicht? Gab es vielleicht eine Methode, von einem Ort zum anderen und wieder zurück zu kommen, ohne auch nur eine Sekunde Zeit zu verlieren?“ Mythenmetz stöhnte genervt auf. „Nun mach schon hinne, Succubius! Das ist kein Roman!“ „Na du musst es ja wissen!“, gab Eißpin zurück und fuhr dann fort: „Ja, es gibt eine Methode. Es gab sie schon immer. Nur dass sie sich ein gewöhnlicher Zamonier kaum zu Nutze machen kann.“ Plötzlich sprang Blaubär wie von der Tarantel gestochen auf. „Nein!“, rief er. „Du meinst doch nicht...? Das ist völlig unmöglich! Man kann es nicht steuern! Es ist rein zufällig!“ Eißpin grinste dämonisch. „Ach wirklich? Lass mich dir etwas über die Naturgesetzte sagen, Blaubär. Sie sind niemals zufällig. Alles folgt einem Plan, man muss ihn nur verstehen.“ Rumo sah vom einen zum anderen, in der Hoffnung in den Gesichtern seiner Gefährten lesen zu können, was denn so unmöglich oder eben doch nicht war, doch im Gegensatz zu Blaubär und, dem entgeisterten Blick nach zu urteilen, auch Mythenmetz, verstand er nicht. „Was ist denn nun?“, fragte er ungeduldig. „Wie sind wir hier her gekommen? Hier gibt es immer noch einige Unwissende, falls ihr Genies das vergessen habt.“ „Ganz einfach“, erklärte Eißpin und das selbstgefällige Lächeln auf seinen dünnen Lippen wurde noch ein wenig breiter. „Ich habe nichts Geringeres getan, als durch Dimensionslöcher zu reisen.“ „Halt, halt, halt!“, fuhr Blaubär dazwischen und ging mit ausgestecktem Zeigefinger auf Eißpin zu. „Da passt mir zu vieles nicht! Punkt eins: Der Geruch! Dimensionslöcher riechen ganz extrem nach Gennf, aber ich habe absolut gar nichts gerochen. Punkt zwei: Die saloppe Katatonie! Jeder, der in ein Dimensionsloch stürzt, verfällt in diesen Zustand der Ekstase, aber ich war während der ganzen Zeit absolut klar! Und der dritte und vielleicht entschiedenste Punkt: Dimensionslöcher sind keine Portale! Sie öffnen sich nicht nach Belieben mal hier mal dort! Sie sind da, wo sie eben sind und nirgendwo sonst! Und du wirst uns ja wohl kaum weismachen wollen, dass wir alle gerade zufällig neben einem Dimensionsloch standen, als du uns abgefischt hast!“ „Nein“, antwortete der ehemalige Schrecksenmeister vollkommen unbeeindruckt. „Das will ich nicht, denn so war es nicht.“ „Wie dann?“ „Soll ich euch jetzt wirklich mit allen wissenschaftlichen Details langweilen?“ „Worauf du deinen lächerlichen Pferdeschwanz verwetten kannst!“ „Meinen....?“ Eißpin griff kurz irritiert mit der Hand nach den dünnen Strähnen in seinem Nacken, dann besann er sich. „Also schön. Ich erkläre es euch. Dazu müsst ihr zunächst einmal wissen, was Dimensionlöcher überhaupt sind.“ Blaubär verschränkte die Arme vor der Brust. „Löcher. Tunnel zwischen den einzelnen Dimensionen. Wie es der Name sagt.“ „So weit, so gut. Und woher kommen sie? Warum gibt es sie?“ „Äh...“, machte Blaubär. „Äh...“ Er machte ein Gesicht, als versuche er sich verzweifelt an etwas zu erinnern, kam aber nicht drauf. Eißpin ging zu ihm herüber und klopfte ihm mit dem langen Fingernagel seines Zeigefingers gegen die Schläfe. „Dazu haben wir keinen Lexikoneintrag, wie? Das liegt daran, dass selbst Nachtigaller darauf noch keine Antwort gefunden hat. Dabei liegt die so nahe.“ Lexikon? Rumo horchte auf, nachdem er bei dem Wort „wissenschaftlich“ ein wenig geistig abgedriftet war. Was hatte es mit diesem Lexikon auf sich, von dem immer wieder die Rede war? Er beschloss, das beizeiten in Erfahrung zu bringen. „Nachtigallers Fehler war anzunehmen, dass es bei Dimensionslöchern um Zeit geht, doch das ist falsch. Es geht um Energie. Energie im Verhältnis zur Zeit!“ Der alte Alchimist begann nun im Raum auf und ab zu laufen, während er sich sichtlich in eine Art erzählerische Rage redete. „Betrachten wir unsere Dimension einmal als ein einziges, großes, geschlossen System. Wie eine Mini-Biosphäre unter einer hermetisch verriegelten Kuppel. Wie wir nun sicher alle wissen, ist die verfügbare Energie in einem geschlossenen System stets konstant - sie kann weder gebildet noch verbraucht werden. Sie wird lediglich umgesetzt, von Bewegung zu Reibung zu Wärme wieder zu Bewegung - und so weiter eben.“ Nun blieb Eißpin stehen, sah seine drei aufmerksamen Zuhörer an und hob verschwörerisch eine Augenbraue. „Was passiert aber, wenn irgendetwas in einem System mehr Energie braucht, als das System aus den verfügbaren Quellen bereitstellen kann? Dasselbe, was passiert, wenn ich, sagen wir, aus einem sehr dünnen Glaskolben immer mehr und mehr Luft heraus sauge. Er wird versuchen sich zu verformen, doch seine Oberfläche ist zu starr und lässt nur eine sehr geringe Bewegung zu. Also ist er dazu verdammt“ - Eißpin legte seine Fingerspitzen aneinander und zeichnete eine kleine Explosion in die Luft - „zu zerbersten. Und genau das passiert auch mit unserem Universum, nur dass es, sehr zu unserem Glück, nicht direkt zerbirst, sondern lediglich Risse, Löcher bekommt. Durch diese Kanäle kann es sich Energie aus anderen Dimensionen, Zeiten und Galaxien beschaffen, den eigenen Mangel ausgleichen und seine innere Stabilität wieder herstellen. Betrachtet man diese Fakten, liegt die Idee nahe, dass es doch irgendwie möglich sein muss, sich diesen Umstand zu Nutze zu machen, die Dimensionslöcher ganz bewusst zu erschaffen, um sie als Portale zu anderen Sphären zu gebrauchen. Ich muss zugeben, dass mir eine sehr lange Zeit nicht klar war, wie man das würde bewerkstelligen können. Es war ein Jammer, ich errechnete alle theoretischen Aspekte des Reisens im Interdimensionalen Raum - die Algorithmen der dimensionalen Verbindungen, die Metaphysik der Raum-Zeit-Fluktuation, die Warp-Krümmung und die transmateriellen und transenergetischen Wellenbewegungen. Ich war mir zu einhundert Prozent sicher zu wissen, wann ich den leeren Raum verlassen musste, um exakt dort zu landen, wo ich heraus kommen wollte, doch frustrierenderweise kam ich gar nicht erst hinein. Natürlich hätte ich ganz Zamonien nach einem Dimensionsloch ablaufen können, doch das hätte Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern können, und so entschied ich schließlich mich doch wieder anderen, ebenso faszinierenden Frage der Alchimie zuzuwenden - früher oder später würde sicher ein Dimensionlochfund publik werden, ich brauchte nur zu warten. Schließlich verlor ich meine Theorien über meine restliche Forschung aus den Augen. Doch die Dinge sollten sich mit einem Mal wieder drastisch ändern, nämlich dann, als ich Echo an den Toren Buchhaims auflas.“ Echo schnaubte aus seiner Ecke heraus, wo er inzwischen einen Lappen hervor gezogen hatte, um seine Ausrüstung zu polieren. „Auf der Suche nach einem Weg euch zu retten, fragte ich ihn, was genau ihr denn nun eigentlich in Schloss Schattenhall suchtet und nach einigem Drängen war er schließlich bereit mir die Wahrheit zu sagen. Und die hätte mich beinahe noch mehr erzürnt als das gesamte Vorhaben der Menschen zusammen!“ Eißpins Stimmung war schneller umgeschlagen als das Wetter in den Bergen. Vorher noch der talentierte, unterhaltsame Erzähler, schien er nun vor Wut beinahe zu kochen. „Wie blöd kann man eigentlich sein?“, rief er, während er sich die verbliebenen Haare raufte. „Nicht nur, dass ihr offenbar glaubtet, ein Jahre, ja Jahrzehnte vorbereitetes Werk können binnen Stunden wieder hergestellt und vervollständigt werden! Nein, ihr wärt, ihr seid mit dem Ergebnis in der Tasche auch noch mir nichts, dir nichts durch den halben Kontinent gestiefelt! Was, wenn man es euch abgenommen hätte? Was wäre dann?“ Rumo, der das Gefühl hatte auch mal wieder etwas beitragen zu wollen, verschränkte abwehrend die Arme vor der mittlerweile wieder etwas schmerzenden Brust. „Also zunächst einmal hat Echo es ja wohl geschafft, oder? Er hat einen Weg gefunden Leben zu erschaffen und das Ergebnis aufgeschrieben. Nach allem, was ich weiß, hast du das nicht. Und zweitens: Wir hätten uns die Formel niemals abnehmen lassen, dazu ist sie mir… uns viel zu wichtig.“ Er hatte sich hastig korrigiert und hoffte inständig, dass seine Begleiter diesen Versprecher nur für übersteigerten Egoismus halten würden. „Und überhaupt: Selbst wenn man sie uns abnehmen würde, welchen Schaden kann man denn bitte mit etwas anrichten, das Leben spendet?“ Mythenmetz verzog auf dem anderen Bett gequält lächelnd das Gesicht. „Also theoretisch betrachtet eine ganze Menge...“ „Nicht hilfreich, Lindwurm! Auf wessen Seite stehst du?“ Eißpin massierte sich die Schläfen. „Hört auf zu zanken! Himmel, ihr seid ja schlimmer als kleine Kinder! In Ordnung, lassen wir die Anschuldigungen - passiert ist passiert - und kehren zurück zu den Fakten. Du hast nur zur Hälfte Recht, Wolpertinger. Das, was Echo dort im Labor zusammen gemixt und gebastelt hat, ist ziemlich beeindruckend, das muss ich neidlos anerkennen. Doch es hat nicht mehr viel mit dem zu tun, was ich vor fünf Jahren zu erreichen versuchte. Mein Ziel war es, Leben zu erhalten, zu verlängern und zwar aus der eigenen Lebenskraft heraus. Ich wollte die in jedem Wesen vorhandene Vis Vitalis stimulieren, sie zu einer niemals versiegenden Quelle umformen, das Perpetuum Mobile Leben sozusagen. Echo hingegen hat eine ganz neue Lebensenergie generiert und sie einem Körper eingepflanzt, auf dass dieser selbige übernehmen und für sich nutzen konnte. Er und ich haben dieses Prinzip bereit einmal erlebt, auch wenn er seine Versuch sicher nicht mit diesem speziellen Ereignis in Verbindung gebracht hat.“ Nun sah Echo zum ersten Mal seit dem Beginn von Eißpins Ausführungen von seinen alchimistischen Geräten auf. Als hätte ihn soeben eine große Erkenntnis ereilt, riss er die Augen auf und starrte seinen ehemaligen Meister an. „Die gekochten Gespenster!“, hauchte er selbst fast ein wenig geisterhaft. „Natürlich! Warum habe ich daran nicht früher gedacht?!“ „Die gekochten Gespenster!“, wiederholte Eißpin nickend und grinste nun wieder breit. „Echo hat euch wahrscheinlich verschwiegen, dass er zum Abschied in meinem Schloss ein ziemliches Feuerwerk veranstaltete - weswegen es, nebenbei bemerkt, heute nicht mehr existiert. Ohne ins Detail zu gehen: Er beschwor eine Dutzendschaft gekochter Gespenster aus meinem Fettkessel, die daraufhin anfingen, ausgestopfte Kreaturen in meinem Schloss wieder zu beleben. Hässliche Angelegenheit. Hätte uns beide um ein Haar den Kopf gekostet. Aber sei es drum! In dem Moment, in dem Echo mir seine Aufzeichnungen zeigte, zählte ich eins und eins zusammen. Was beschwor man, wenn man gekochte Gespenster rief? Lebensenergie! Vis Vitalis! Aus einer anderen Dimension! Das war der Schlüssel! Nur die Lebenskraft selbst war mächtig genug, die Wände zwischen den Dimensionen zu sprengen! Folglich war alles, was man brauchte, um ein Dimensionsloch zu erschaffen, ein Gerät, das Vis Vitalis in reiner Form - also ohne die Gespenster-Hülle - aus dem leeren Raum generiert! Und siehe da: Das hatte Echo soeben erfunden!“ Echo glitt sein Putzlappen aus der Hand. „Deshalb also wolltest du meine Aufzeichnungen! Das Gerät an deinem Arm! Es ist eine Miniaturversion meiner Energiefalle! Die hast du in diesem Keller in Buchhaim, in dem du tagelang verschwunden warst, gebaut!“ Nun fiel Rumo zum ersten Mal etwas an Eißpins linkem Arm auf, das ein wenig aussah, wie eine Uhr, nur war es an einem Lederband von etwa doppelter Breite befestigt und ihr achteckiges „Ziffernblatt“ erinnerte von Weitem an ein winziges, im schwachen Licht der Kammer golden schimmerndes Labyrinth. Dann und wann glomm es weißlich auf, sodass es schien, als pulsiere in ihm ein unregelmäßiger Herzschlag. Der ehemalige Schrecksenmeister hob sein Handgelenk. „Genauso ist es! Und ich muss sagen, es funktioniert einwandfrei. Danke dafür, Echo!“ Echo schien zu perplex, um zu registrieren, dass ihm gerade eine der wohl bedeutendsten Erfindungen der zamonischen Geschichte gestohlen worden war. Er blickte mit großen Augen auf das glimmende Oktaeder, als hypnotisiere ihn dessen Anblick noch weit mehr als der Bannfluch. „Und ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie du es gemacht hast“, flüsterte er kaum hörbar. Auch Blaubär beäugte das kleine Gerät, allerdings eher misstrauisch als verwundert. „Und lass mich raten“, sagte er mir deutlicher Skepsis in der Stimme. „Dieses kleine Wunderding hilft auch gegen die saloppe Katatonie?“ „Eher durch Zufall“, gab Eißpin zurück, als sei das das normalste der Welt. „Springt man durch das frisch geöffnete Dimensionsloch, umhüllt einen die Vis Vitalis wie eine Blase, bis man die andere Dimension erreicht. Keine saloppe Katatonie, kein Geruch nach Gennf. Praktisch, nicht?“ „Praktisch?“, rief Mythenmetz aus und warf die Arme in die Luft, was er jedoch offensichtlich sofort wieder bereute, als ihn erneut der Schmerz durchfuhr. „Das ist absolut unglaublich! Das ist eine Revolution! Eine neue Ära! Das ist, als hätte plötzlich jemand heraus gefunden, wie man Blei zu Gold macht!“ Der ehemalige Schrecksenmeister lehnte sich nun wieder lässig neben das kleine Fenster. Ein seltsames Lächeln, das völlig anders schien als das selbstgefällige Grinsen zuvor, umspielte seine Lippen. „Nun mal nicht übertreiben, Hildegunst. So weit sind wir noch lange nicht.“ Erstauntes, verwirrtes, skeptisches und süffisantes Schweigen erfüllte den Raum - sehr abhängig davon, in welches Gesicht man gerade schaute - und konzentrierte sich zu einer seltsamen Mischung, die Rumo alsbald auf die Stimmung schlug. „Also sind wir hier in einer anderen Dimension, oder wie darf ich das verstehen?“, fragte er und sah vom einen zum anderen. „Nein“, antwortete Eißpin, deutete dann mit dem Daumen über seine Schulter aus dem Fenster. „Das da draußen ist immer noch Zamonien, nur einige Hundert Jahre vor unserer Zeit. Ich sagte doch, dass in Dimensionslöchern der Raum mit der Zeit verbunden ist. Das heißt, dass ich frei wählen kann, ob ich in einer anderen Dimension oder aber in meiner eigenen Dimension zu einem anderen Zeitpunkt wieder aus dem Interdimensionalen Raum aussteigen möchte.“ „Super!“ In Rumos Kopf begannen die Dinge langsam aber sicher einen Sinn zu ergeben. „Dann reisen wir jetzt einfach zurück in unsere Zeit, nur eben einige Wochen früher, finden die Menschen, die hinter dem ganzen Durcheinander stecken und geben denen mal ganz systematisch einen auf den Deckel. Problem gelöst!“ Echo hatte inzwischen seine Phiolen, Spritzen und Tiegelchen wieder verstaut und erhob sich nun, um aus seiner Ecke heraus in den Raum zu treten. „Netter Plan, Rumo“, sagte er dabei und wirkte fast ein wenig mitleidig. „Aber nach allem, was ich über die Raumzeit weiß, wird es so einfach wohl leider nicht sein.“ Kapitel 21: Fünf ---------------- Natürlich ist es nicht so einfach‘, dachte Rumo. ‚Es ist ja nie so einfach. Warum denn auch? Wäre ja langweilig!‘ Er lehnte sich in seinem Bett zurück und verschränkte seufzend die Arme hinter dem Kopf. „Und ich dachte, wir ziehen jetzt so einen abgefahrenen Zeitreise-Trick ab, bringen alles wieder in Ordnung und hinterher sind alle überwältigt von der Cleverness, mit der wir Zamonien gerettet haben...“ „Das hier ist nicht irgendein Buch, Rumo“, sagte Echo ernst. „Das alles passiert wirklich. Wir spielen hier mit Naturgesetzen, das kann sehr schnell sehr gefährlich werden.“ „Er hat Recht“, bestätigte Eißpin. „Es gibt einen Grund dafür, dass wir uns direkt mehrere Jahrhunderte in der Vergangenheit befinden. Zeit im Allgemeinen ist eine sehr instabile Angelegenheit - schlimm genug, dass wir hier sind; unseren eigenen Zeitstrahl zu kreuzen, währe purer Wahnsinn! Wir würden ein Paradoxon erschaffen und glaubt mir, das Universum reagiert da überaus empfindlich. Wir können nicht einfach nach Belieben hin und her hüpfen und die Dimensionen durchlöchern wie hutzenberger Höhlenkäse! Unbedenklich sind eigentlich nur jene Zeitpunkte nach unserem Verschwinden, idealerweise sogar nur wenige Sekunden später. Alles andere könnte noch wesentlich mehr Schaden anrichten, als die Menschen es je könnten. Und dann ist da noch etwas...“ „Noch etwas?“ Blaubär ließ sich wieder auf das Fußende von Rumos dünner Matratze fallen, dem Gesichtsausdruck nach immer noch äußerst Skeptisch. „ Was?“ Eißpin sah in die Runde. „Das Motiv der Reise durch die Zeit ist eines der wohl beliebtesten und, nebenbei gesagt, auch eines der überstrapaziertesten in der zamonischen, ja der weltweiten Literatur. Wir alle haben wohl schon einmal darüber gelesen, oder auch -“,er fixierte Mythenmetz, „ - darüber geschrieben. Und nun die Preisfrage: Was darf der Protagonist einer solchen Geschichte niemals tun?“ „Seine eigene Mutter schwängern?“, fragte Mythenmetz ungerührt und erntete postwendend vier entsetzte Blicke. „Äh, was? Nein! Also doch! Ich meine: Nein, das sollte er auch auf gar keinen Fall!“ Sogar Eißpin schien diese Vorstellung ein wenig zu verstören. „Das war nicht ganz das, worauf ich hinaus wollte, Hildegunst!“ Rumo hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Er hatte eine Idee, eine Theorie, was die Antwort auf die Frage des alten Alchimisten sein konnte. Ja, er war sich sogar ziemlich sicher. „Der Protagonist darf die Vergangenheit nie so verändern, dass er keinen Grund mehr hätte, überhapt in die Vergangenheit zu reisen. Ist es das?“ „Ha!“, rief Eißpin und deutete mit dem dürren Finger auf den Wolpertinger. „Exakt das ist es! Und dieses Gesetz gilt nicht nur in der Literatur, es gilt noch viel mehr für uns! Wir können, wir dürfen den Krieg nicht verhindern, weil er uns erst hier her gebracht hat! Alles, was ich tun konnte, ist uns etwas Zeit zum Überlegen zu erkaufen, bevor wir genau an die Stelle zurückkehren müssen, wo wir Zamonien, unser Zamonien, verlassen haben.“ Blaubär ließ den Kopf hängen. „Wir können also Nachtigallers Hinrichtung nicht verhindern?“ „Ich fürchte nicht. Genau so wenig, wie wir die Übernahme der Städte und der Lindwurmfeste verhindern können. All das wird passieren, weil es für uns bereits passiert ist.“ Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen unter den Gefährten. Echo hatte einige Minuten zuvor die Kerze auf Mythenmetz‘ Nachttischchen beiseitegeschoben und sich darauf nieder gelassen. „Wisst ihr, was ich nicht verstehe?“, fragte er schließlich. „Nach allem, was wir bis jetzt erahnen können, wollten uns die Menschen aus dem Weg haben. Der Grund dafür ist klar - Mythenmetz‘ Einfluss in Zamonien ist größter als der aller Politiker zusammen, Rumo ist einer unserer tapfersten Helden und, ebenso wie Blaubär, ein überaus gefährlicher Gegner im direkten Gefecht. Und ich zähle, bei aller Bescheidenheit, zu den besten derzeit lebenden Alchimisten. Dass man nicht auf uns treffen möchte, wenn man auf einem Eroberungszug ist, kann ich mir gut vorstellen! Aber woher haben die Menschen gewusst, dass wir alle ausgerechnet in diesen Tagen unsere Heimat verlassen? Wie haben sie es inszeniert, dass wir alle gleichzeitig von der Bildfläche verschwinden? Wir haben noch nie zuvor etwas miteinander zu tun gehabt - oder zumindest nur sehr wenig. Keiner von uns hat den anderen in seiner Geburtstagsgrußkarten-Liste, wenn ihr versteht, worauf ich hinaus will.“ Mythenmetz legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Da ist etwas dran...“ Er überlegte eine Weile, dann hellte sich sein Gesicht auf, als habe er soeben eine entscheidende Eingebung gehabt. „Das Experiment!“, rief er aus. „Sie müssen irgendwie Wind davon bekommen haben, dass Nachtigaller die Prima Zateria für seine Experimente benötigt, und da brauchten sie nur noch eins und eins zusammen zählen. Er schickt Blaubär mit Rumo als Leibwächter, die sich daraufhin natürlich sofort auf den Weg zu mir machen, der wiederum die Verbindung zu Echo herstellt!“ „Klingt logisch“, nickte Echo. „So könnte es gewesen sein.“ Blaubär begann unruhig auf seinem Platz hin und her zu rutschen. „Äh...“, machte er, verstummte dann wieder und scharrte betreten mit den Hinterpfoten auf dem Holzboden herum. Rumo rutschte das Herz in die nicht vorhandene Hose. Nein! Das konnte doch nicht sein! Nicht jetzt! Nicht dann, wenn ganz Zamonien darauf angewiesen war, dass sie sich verstanden! Er schloss die Augen und begann zu zufällig ausgewählten Göttern zu beten, dass er noch ein letztes Mal mit dem Schrecken davon kommen möge. Nur noch ein einziges Mal... Er versprach im Geiste hoch und heilig, nach diesem Abenteuer niemals wieder zu lügen, wenn er nur jetzt nicht auffliegen würde. „Hm?“, machte Mythenmetz. „Was ist los, Blaubär? Habe ich was übersehen?“ „Na ja...“ Der Buntbär sah nun ernstlich verzweifelt aus und Rumo hätte sicherlich Mitleid mit ihm gehabt, hätte er nicht in diesen Sekunden selber Todesängste auszustehen gehabt. Doch was sollte Blaubär tun? Sie wussten beide, dass Mythenmetz‘ Theorie schlichtweg nicht stimmen konnte, aber machte es wirklich einen Unterschied? Wen kümmerte, wie die Menschen sie dazu bewegt hatten, ihre Wohnorte zu verlassen - es war nun einmal passiert! Sie sollten es einfach auf sich beruhen lassen und sich dem zuwenden, was nun kommen würde. ‚Bitte, Blaubär, sei einfach still! Sag einfach gar nichts!‘ Leider schien das Schicksal in diesen Tagen nicht unbedingt auf Rumos Seite zu sein und so konnte er nur zusehen, wie Blaubär tief durchatmete und dann vom Boden des kleinen Zimmers aufsah. „So kann es nicht gewesen sein“, erklärte er dann mit fester Stimme. „Die Wahrheit ist... es gab nie ein Experiment.“ „Oha!“, feixte Eißpin von seiner etwas abseitigen Position neben dem Fenster voller Schadenfreude. „Jetzt wird’s lustig!“ „Was soll das heißen - es gab kein Experiment?“, fragte Mythenmetz und kniff die Augen zusammen. „Wofür habe ich dann bitte dieses ganze Theater veranstaltet?“ Blaubär knickte nun vollends ein. „Das Ganze - die Prima Zateria – war für Rumos Verlobte Rala. Sie ist schwer krank und wird wahrscheinlich sterben.“ „Bitte was?“ Mythenmetz fuhr ungeachtet seiner Verletzungen wie vom Blitz getroffen hoch. „Wollt ihr mir etwas weis machen, dass ich eines meiner wertvollsten, am besten gehüteten Geheimnisse - Schloss Schattenhall - verraten habe für einen einzigen - ich wiederhole: einen einzigen! - sterbenden Wolpertinger?“ „So geheim ist es nun auch wieder nicht - du hast immerhin in ganzes Buch darüber geschrieben“, versuchte Blaubär einzulenken, doch der Schriftsteller ließ ihm keine Chance. „Aber ich habe niemanden dorthin geführt! Und mal ganz abgesehen davon: Allein das ganze herum Gereise! Die Gefahren! Ich hätte sterben können! Und wofür? Damit ein einziger Hund seine kleine Freundin nicht verliert?!“ Er rauschte auf Rumo zu und bohrte ihm seine Zeigekralle in die pelzige Brust. „Ich will dir jetzt mal etwas sagen! Jeden Tag sterben in Zamonien Leute, das ist der Lauf der Dinge! Es tut mir zwar sehr Leid für dich, aber das ist etwas, womit wir uns alle abfinden müssen! Und es rechtfertigt beim besten Willen nicht, dafür drei andere Leben aufs Spiel zu setzen!“ „Darüber kann man streiten...“, murmelte Rumo, der nicht so recht wusste, was er darauf sagen sollte. Immerhin stimmte es nicht einmal! Aber die Wahrheit sagen? Nein! Die war sicherlich in den Augen des Lindwurms noch um ein Vielfaches schlimmer. Und dann würde er nicht nur dessen Zorn auf sich ziehen sondern wahrscheinlich auch noch Blaubär sehr wütend machen. Das durfte er nicht zulassen! Echo glitt vom Nachttisch herunter und machte ebenfalls ein paar, relativ planlos wirkende Schritte durch den Raum. „Ich muss zugeben, Rumo, dass ich auch nicht allzu begeistert von diesen Neuigkeiten bin“, sagte er leise. „Ich dachte, ich gebe meine Informationen an einen qualifizierten Wissenschaftler für ein höheres Ziel weiter. Aber das...“ Er verstummte kurz. „Es tut mir wirklich leid um deine Verlobte“, erklärte er dann. „Aber das Privileg des Lebens darf nicht derart egoistisch verwendet werden. Es ist zu mächtig, als dass es in den Händen derer landen sollte, die so wenig damit anzufangen wissen. Nichts für ungut.“ Rumo schwieg. Ihm waren die Worte ausgegangen, außerdem war ihm nicht wohl dabei sich für etwas zu rechtfertigen, was er nicht getan hatte. Er hatte beschlossen, dass es das Beste für sie alle war, wenn er die Anschuldigungen einfach aussaß und sie dann, nachdem die Wut verraucht war, dort weiter machten, wo sie aufgehört hatten. Mythenmetz ging zurück zu seinem Bett und ließ sich darauf fallen, was das dünne Möbelstück bedrohlich zum Knarzen brachte. Dort fuhr er sich mit beiden Klauen über das Gesicht. „Am liebsten würde ich euch jetzt auf der Stelle hier sitzen lassen, das könnt ihr mir glauben!“ „Das ist doch keine Lösung“, sagte Blaubär hastig. „Wir sitzen alle im selben Boot, oder etwa nicht? Ist doch jetzt egal, was ursprünglich einmal hätte sein sollen - unser Problem ist zurzeit ein weit größeres! Und zu streiten ist im Augenblick wirklich keine gute Idee.“ „Wahre Worte“, seufzte Echo, schüttelte dann den Kopf und sah auf. „In Ordnung, vergessen wir das. Viel wichtiger ist, dass damit unsere gesamte Theorie hinfällig ist. Woher wussten die Menschen also dann, dass wir zu diesem exakten Zeitpunkt zu unserer Reise aufbrechen würden?“ Eißpin, der die Auseinandersetzung der Gefährten überaus amüsiert beobachtet hatte, hob nun Zeige- und Mittelfinger und präsentierte sie der Runde. „Zwei Möglichkeiten“, erklärte er dazu. „Entweder, sie wussten es nicht und alles war nur ein einziger riesiger Zufall, oder der Wolpertinger lügt. Ich persönlich tendiere ja zu Letzterem...“ ‚Du verdammter Dämon‘, dachte Rumo und schenkte dem ehemaligen Schrecksenmeister einen Blick, in dem eine deutliche Todesdrohung mitschwang. Dafür, dass er sie angeblich zusammen gebracht hatte, um mit ihnen gemeinsam gegen die menschliche Bedrohung zu kämpfen, delektierte er sich gerade eindeutig zu sehr an ihren Zwistigkeiten. Was sollte das? Was bezweckte er damit? „Ist es nicht seltsam“, stichelte Eißpin weiter, „dass unser Freund hier zwar sonst immer der Erste ist, der das Maul aufreißt, wenn ihm etwas gegen den Strich geht, aber gerade dann, wenn es um die Verteidigung seiner eigenen Verlobten geht, kein Wort mehr heraus bringt?“ „Ich brauche mich hier nicht zu rechtfertigen“, zischte Rumo ihm durch zusammengebissene Zähen entgegen. „Es ist, wie Blaubär gesagt hat, und damit ende! Und jetzt sollten wir vielleicht endlich besprechen, was als nächstes zu tun ist!“ „Dafür bin ich allerdings auch!“, erklärte Echo laut und stellte sich demonstrativ zwischen die Fronten. „Schluss mit den Provokationen, Succubius! Wir sind hier alle aufeinander angewiesen.“ Das süffisante Grinsen verschwand aus Eißpins Gesicht und er ließ sich mit verschränkten Armen zurück gegen die Wand neben dem Fenster fallen, wobei er ein bisschen aussah wie ein bockiges Kleinkind. Rumo kam nicht umhin ein wenig beeindruckt zu sein: Echo konnte, wenn er denn wollte, ziemlich überzeugend auftreten. Blaubär schlug sich mit beiden Pfoten auf die Oberschenkel. „Gut, dann los! Womit haben wir es zu tun und was haben wir zu bieten, um uns dagegen zu wehren?“ Mythenmetz lachte freudlos auf. „Womit wir es zu tun haben? Das wissen wir nicht! Und was wir zu bieten haben? Nichts! Wir sind fünf, die sind hunderte. Vielleicht mehr. Wir können uns eigentlich genauso gut direkt ergeben. Spart Zeit!“ Rumo gab es vor sich selbst nicht gerne zu, doch im Grunde war ihm genau das auch schon durch den Kopf gegangen. Ihr kleiner Ausflug in die Vergangenheit gab ihnen Zeit, doch abgesehen davon? Falls es ihnen nicht gerade gelang, mit einer Hundertschaft an Zamoniern zurück in ihre Gegenwart zu reisen, glich all dies lediglich einem kurzen Aufschub. Für sie, nicht für den Kontinent. Eißpin war unterdessen wieder ernst geworden. „Doch, wir haben etwas. Etwas, womit sie nicht rechnen.“ „Und das wäre?“, wollte Mythenmetz wissen. „Mich.“ Rumo hob eine Augenbraue und warf dem alten Alchimisten aus dem Augenwinkel einen abschätzigen Blick zu. „Fantastisch“, sagte er zynisch. „Wir haben einen Psychopathen auf unserer Seite. Ich weiß nicht, wie wir jetzt noch verlieren können.“ Eißpin ignorierte ihn. „Punkt eins:“, erklärte er, „Ich bin offiziell tot, was bedeutet, dass sie mit vier Leuten rechnen, die sich gegen sie verschwören, nicht aber mit fünf. Punkt zwei: Ich bin einer von ihnen. Ich war einer von ihnen. Ich kenne ihre Methoden, ich kenne ihre Waffen und“, er machte eine Kunstpause, „ich kenne ihr Problem.“ „Wirklich?“ Blaubär sprang auf. „Was ist es?“ „Das wäre tatsächlich gut zu wissen“, stimmte Rumo zu und lehnte sich aufmerksam nach vorne. Vielleicht war dieses Problem, von dem der Alte sprach, ihre Chance auf einen Gegenschlag. „Nun“, begann Eißpin, der sich sichtlich in der Rolle der ‚einzigen Hoffnung‘ gefiel, „genau genommen sind es mehrere kleine Probleme. Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen haben.“ „Egal, raus damit!“ „Also -“ Er begann in dem kleinen Raum auf und ab zu laufen, während er erzählte „ - zunächst einmal ihre Waffen. Die Dinger, die sie benutzt haben, um euch zwei, Hildegunst und Rumo, zu verletzten. Radschlosspistolen werden sie genannt. Im Grunde nichts weiter als eine Vorrichtung, um kleine Metallkugeln mithilfe von Schwarzpulver abzufeuern und auf eine tödliche Geschwindigkeit zu bringen. Gut sowohl im Nah- als auch im Fernkampf, sehr schwer zu stoppen und auf den ersten Blick absolut übermächtig gegenüber allem, mit dem wir aufwarten können. Aber es gibt drei große Makel. Diese Waffen sind extrem ungenau - es braucht sehr viel Übung, um mit ihnen vernünftig umgehen zu können. Dann dauert das nachladen nach einem Schuss viel zu lange. Man muss neues Schwarzpulver in eine winzige Öffnung füllen und die Kugel in den Lauf schieben, genug Zeit für einen Schwertkämpfer, den Schützen zu filetieren. Und dann noch das dritte Problem, das weniger mit der Waffe selbst als mit der Logistik zu tun hat. Nach allem, was ich von meinem Freund weiß, haben die Menschen große Nachschub-Schwierigkeiten. Sie konnten ihre Bewaffnung nicht in Zamonien herstellen - dazu werden sie hier viel zu sehr überwacht. Also importieren sie alles, was sie haben, aus der restlichen Welt. Ihrer Welt. Doch das ist nicht so einfach, denn wie ihr wissen solltet, kann man sich nicht einfach in ein Schiff setzen und nach Zamonien segeln. Dank einer Anomalie der dimensionalen Strömungen kann unser schöner Kontinent nicht mit einem schnöden Kompass gefunden werden - man brauch dazu ganz bestimmte navigatorische Systeme, die nur hier entwickelt und hergestellt werden, was im Endeffekt bedeutet, dass nur jemand zu uns finden kann, der bereits hier war. Und selbst wenn man über diese Systeme verfügt, bedarf es eines Seglers, der in der Lage ist, die Dimensionsstrudel zu durchschiffen, die uns umgeben, und glaubt mir, davon gibt es nur eine Handvoll. Blaubär hier ist übrigens einer von ihnen.“ Der Buntbär fuhr sich mit der Hand verlegen an den Hinterkopf und grinste breit. „Das ist zugegebenermaßen wahr. Allerdings habe ich es bis jetzt eher zum Spaß gemacht - es ist eine ziemliche Herausforderung - und bin noch nie auf die anderen Kontinente übergesetzt.“ Mythenmetz hatte das Kinn in beide Klauen gestützt. „Deshalb also versuchen sie uns so schnell wie möglich zu überrennen“, überlegte er. „Sie sind wie ein Quelltaler Glasgepard - schnell, wendig und aggressiv, aber nicht sehr ausdauernd.“ Rumo griff seinen Gedankengang auf. „Das bedeutet, dass wir sie zermürben müssen. Wir müssen ihre Versorgung abschneiden und versuchen ihnen so lange Stand zu halten, bis ihre Ressourcen versiegen. Dann können wir mit voller Kraft zurückschlagen und sie zum Aufgeben zwingen.“ „Das ist unsere einzige Möglichkeit“, stimmte Eißpin zu. „Und sie muss um jeden Preis funktionieren. Wenn ihre Schiffe erst einmal an unseren Küsten landen, haben wir verloren. Was Zamonien an Artenvielfalt zu bieten hat, machen sie durch pure Masse wieder wett - selbst wenn wir für jeden von uns einen von ihnen über die Klinge springen lassen, warten auf der anderen Seite des Ozeans noch hundert Mal so viele.“ Rumo versuchte sich die Welt der Menschen vorzustellen, wo es angeblich so viele Kreaturen geben sollte, die aber im Endeffekt allesamt dieseleben waren. Er war mit mehr Diversität und Lebensvielfalt aufgewachsen, als sein eigener Kopf hatte fassen können und das, fand er, war wunderbar, auch wenn es zuweilen noch so gefährlich sein mochte. Würde man ihn fragen, ob er glücklicher wäre, wenn es vom nächsten Tag an nur noch Wolpertinger als intelligente Lebensform geben sollte, er hätte entsetzt den Kopf geschüttelt. Wolpertinger waren gute Kämpfer, viele von ihnen waren sehr belesen und clever, doch die meisten waren bei näherer Betrachtung auch ziemliche Idioten. Blaubär nahm seine Unterlippe zwischen die Zähne und begann darauf herum zu kauen. „Aber wie sollen wir das anstellen?“, fragte er. „Wie sollen wir eine Streitmacht zusammen kratzen, die groß genug ist, um eine Unbekannte Zahl Schiffe aufzuhalten, die von irgendwo her auf Zamonien zusteuert? Ganz zu schweigen davon, sie zu mobilisieren und an die Küsten oder sogar raus aufs Meer zu bekommen. Du sagtest, dass wir nur zu dem Zeitpunkt zurückkehren können, von dem wir gekommen sind. Und da war es schon zu spät, jeglichen Versuch, Truppen aus den besetzen Gebieten zu bewegen, würden sie sofort zunichtemachen.“ „Du denkst zu militärisch, Blaubär“, antwortete Echo, der bis jetzt nur stumm gelauscht hatte. „Wir schlagen sie mit unseren eigenen Waffen, indem wir für uns nutzen, was unser Kontinent ihren voraus hat.“ Rumo horchte auf. „Das klingt, als gäbe es bereits einen konkreten Plan?“ Eißpin trat grinsend neben Echo. „Natürlich gibt es den! Warum hätte ich mir sonst die Mühe machen sollen, euch hier her zu verfrachten?“ Der Wolpertinger stöhnte gequält auf. „Und das sagt ihr uns erst jetzt? Hätten wir das ganze Gequatsche nicht einfach überspringen und direkt zum wesentlichen Teil kommen können?“ „Nein“, antwortete Eißpin kühl. „Es ist wichtig, dass ihr wisst, womit wir es zu tun haben. Gerade du, Wolpertinger, solltest wissen, wie wichtig es ist, seinen Feind zu kennen, bevor man sich ihm stellt.“ Rumo schwieg. Da war etwas dran, das konnte er kaum leugnen. Trotzdem fand er, dass es für seine Nerven um einiges schonender gewesen wäre, wenn den ganzen Erklärungen der Satz „Und am Ende komme ich zu einem perfekten, all unsere Probleme lösenden Plan“ voran gegangen wäre. Er hob den Kopf und blickte zwischen Echo und seinem Meister hin und her. „Na gut, was ist es? Was haben wir vor?“ Die beiden Alchimisten sahen sich kurz an, dann trat der jüngere vor und begann mit den Erklärungen. „Zunächst einmal“, sagte Echo, „werden wir hier warten, bis eure Wunden vollständig verheilt sind. Es ist wichtig, dass ihr fit seid für das, was kommt.“ ‚So weit, so gut‘, fand Rumo. Damit konnte er sich anfreunden. „Danach bringt Succubius euch zurück, jeden an einen anderen Ort. Rumo, dich setzen wir in Wolperting ab, für dich, Blaubär, geht es nach Bauming. Diese beiden Gebiete sind noch nicht besetzt - dort mobilisiert ihr alle verfügbaren Kämpfer. Bewaffnet euch, bereitet eure Freunde auf das vor, womit wir es zu tun haben. Und dann schlagt ihr euch zur Lindwurmfeste durch.“ „Was?“, rief Blaubär dazwischen. „Wieso die Lindwurmfeste? Wir sollen unsere Dörfer unbewacht lassen? Ist das in Anbetracht der Lage nicht eine verdammt dämliche Idee?“ „Nun lass mich doch erst einmal ausreden“, beschwichtigte ihn Echo. „Im Moment haben wir es nur mit einer verhältnismäßig geringen Zahl Belagerer zu tun, was bedeutet, dass ihre Überwachung nicht lückenlos sein kann. Ihr werdet unbemerkt verschwinden.“ Rumo zog eine Augenbraue hoch. „Unbemerkt? Ich weiß ja nicht, ob du schon mal eine Horde Wolpertinger in Bewegung gesehen hast, aber „unbemerkt“ wäre nicht wirklich das erste Wort, womit ich es beschreiben würde.“ „Wir haben keine Wahl, Rumo“, seufzte Echo. „Ich weiß, es klingt riskant, mehr als das, aber wir müssen es versuchen. Jetzt lasst mich weiter erklären.“ „Bitte“, antwortete Rumo, machte dabei aber keinen Hehl aus seiner Skepsis. Echo fuhr fort. „Mythenmetz wird derweil tief im Inneren der Lindwurmfeste ankommen und versuchen, die Lage dort von innen heraus zu stabilisieren, bestenfalls ebenso unbemerkt. Wenn Rumo und Blaubär dann mit den Wolpertingern und den Buntbären angekommen sind, schlagen wir zu und holen uns die Lindwurmfeste zurück.“ „Wieso sollten wir das tun?“, fragte Mythenmetz gerade heraus. „Ich fühle mich ja geschmeichelt, dass ausgerechnet meine Heimat unser erstes Ziel sein soll, aber wäre es nicht wesentlich effektiver zum Beispiel Atlantis wieder unter zamonische Kontrolle zu bringen? So könnten wir versuchen, unsere Regierung wieder aufzubauen oder derartiges.“ Echo schüttelte den Kopf. „Atlantis ist viel zu groß. Dort werden die Menschen die Majorität ihrer Streitkräfte verschanzt haben, eine Handvoll Wolpertinger und Buntbären bringen uns da nicht weiter. Außerdem brauchen wir die Lindwurmfeste für das, was danach folgt. Den eigentlichen Plan.“ „Und der wäre?“ Nun trat auch Eißpin vor. Er hielt seinen Arm mit dem daran befestigen Dimensionslochtransporter - so hatte Rumo beschlossen, das seltsame Ding zu nennen - hoch, sodass alle es sehen konnten. „Ich habe euch vorhin erklärt, wozu dieses kleine Gerät imstande ist“, sagte er. „Es reißt Löcher in unsere Dimension, die groß genug sind, um einen ausgewachsenen Lindwurm hindurch zu befördern.“ „Hat er gerade gesagt, ich sei fett?“, fragte Mythenmetz mit entsetztem Blick an Blaubär gewandt, doch der schüttelte nur lachend den Kopf. „Ich glaube, er wollte eher auf deine Körpergröße hinaus, keine Sorge.“ Eißpin tat, als hätte er nichts gehört, was Rumo sehr gut nachvollziehen konnte. „Was also, wenn man genau dieselbe Apparatur noch einmal bauen könnte, nur in sehr, sehr viel größer. Sagen wir.... Lindwumfesten-groß?“ Rumo legte die Stirn in Falten und wälzten den Gedanken in seinem Kopf. „Das Dimensionsloch wäre wahrscheinlich auch um ein Vielfaches größer“, schlussfolgerte er schließlich. „Aber was dann? Sollen wir alle durch ein riesiges Loch in eine andere Dimension abhauen?“ Das diabolische Grinsen kroch wie der Schatten eines Dämons zurück auf Eißpins Gesicht. „Gewaltiger“, sagte er gefährlich leise. „Viel gewaltiger.“ Die Schuppen um Mythenmetz‘ Schnauze herum wurden mit einem Mal kreidebleich, etwas, das Rumo noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Er fuhr hoch und entfernte sich schnell ein paar Schritte von dem ehemaligen Schrecksenmeister. „Du willst doch nicht etwa...?“ Eißpin sah ihn geradewegs an. „Ich will und ich werde.“ „Aber das ist Wahnsinn!“, reif der Lindwurm. „Absoluter Wahnsinn!“ Echo ging zu Mythenmetz herüber und legte ihm beruhigend eine Hand auf den Unterarm - an seine Schulter kam er auch in seiner zweibeinigen Gestalt nicht heran. „Ich weiß, dass es verrückt klingt“, gab er zu. „Aber so wie ich das sehe, ist es unsere einzige Chance.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)