Momentaufnahmen von Terrormopf ================================================================================ Kapitel 8: Gespräche -------------------- Schon den ganzen Vormittag über war er nervös und irgendwie hibbelig gewesen. Leon war still gewesen. Der versemmelte Elfmeter nagte wohl noch immer ziemlich an seinen Nerven. Eigentlich hätte Phillip für ihn da sein müssen, aber er hatte einfach nicht die Kraft und die Geduld dazu. Irgendwann hatte er sich auf den Weg machen müssen. Leon hatte mit ihm die Wohnung verlassen. Er hatte ihn zum Abschied geküsst und ihm ein paar aufmunternde Worte ins Ohr geflüstert. Während des Gehens hatte er die Hände tief in den Taschen seiner Shorts vergraben. Warum war es nur so schrecklich heiß? Viel zu kurz kam ihm der Weg vor, bis er vor dem Haus seiner Eltern stand. Am liebsten wäre er umgedreht und einfach wieder nach Hause gegangen, hätte dieses unliebsame Gespräch noch weiter hinausgezögert. Doch wie automatisch führte er seinen Finger zur Klingel. Auf dem Schildchen stand gut zu lesen: „Jener“, auf der Fußmatte stand „Herzlich Willkommen“. Ob er wohl noch immer so herzlich willkommen war, wenn er es ihnen erst gesagt hatte? Sein Bruder öffnete ihm die Tür, umarmte ihn kurz zur Begrüßung, fragte, wie es ihm so ginge. „Gut. Und selbst?“ „Schule is übelst ätzend, das Übliche halt.“ Simon grinste. Später würde ihm wohl nicht mehr nach Grinsen zumute sein. „Papa hat extra für dich gestern noch 'nen Rotweinkuchen gebacken.“ Sie gingen durch den Flur, durch das Wohnzimmer und hinaus auf die Terrasse. Der Tisch war schon gedeckt. Ja, Rotwein wäre auch eine Gute Sache gewesen – sich ein bisschen Mut antrinken, damit die Worte flüssiger kamen. Seine Mutter brachte gerade den Kuchen heraus. Auch sie umarmte ihn zur Begrüßung, küsste ihn auf die Wange und fragte: „Wie geht’s dir denn, mein Junge? In letzter Zeit meldest du dich ja kaum noch!“ Warum nur?, schoss es Phillip durch den Kopf, doch er zwang sich zu einem Lächeln und antwortete: „Mir geht es gut. Ja, tut mir leid, aber die Arbeit ist ziemlich anstrengend und dann auch noch der Fußball…“ Seine Mutter seufzte. „Du und dein Fußball! Du hast auch nie was anderes im Kopf!“ „Ich hab gehört, ihr seid aufgestiegen“, warf Simon ein und Phillip bejahte, war dankbar über den Themenwechsel. Er mochte es nicht seine Mutter zu belügen, doch es war noch zu früh um mit der Tür ins Haus zu fallen. Nun kam auch endlich sein Vater mit einer Kanne Kaffee in der Hand. Er begrüßte Phillip, setzte sich dann ans Kopfende des Tisches und reichte seiner Frau die Kanne, damit sie allen Kaffee eingoss. Phillip lehnte sich zurück. Er wollte die ungetrübte Stimmung so lange genießen wie er konnte. „Ja, wir sind aufgestiegen, das haben wir vor allem unserem Nachwuchstalent zu verdanken. Der spielt einfach genial!“, sagte er, biss sich dann aber auf die Lippe. Er hatte doch Leon erst möglichst spät erwähnen wollen. Aber jetzt war es gesagt, er konnte es nicht zurücknehmen. „Nachwuchstalent? Wer soll das sein?“, fragte nun sein Vater, tat sich einen halben Löffel Zucker und noch einen Schuss Milch in den Kaffee. Phillip schluckte und hoffte, dass man ihm seine Nervosität nicht all zu sehr anmerkte. Dann sagte er: „Leon Naumann. Er ist erst 17 geworden und macht grad sein Abi.“ „Oh, 'ne Intelligenzbestie ist er also auch noch?“, fragte sein Bruder, klang herablassend. „Mag sein, dass er intelligenter ist, als der Rest von uns, aber er lässt es nicht raushängen.“ Es hörte sich angriffslustiger an, als es geplant gewesen war und sein Bruder hob entschuldigend die Hände und sagte: „Entschuldige bitte, kann ich ja nicht wissen!“ „Na jetzt streitet euch doch nicht, Jungs“, warf ihre Mutter ein. Sie hatte inzwischen den Kuchen angeschnitten und legte jedem ein Stück auf den Teller. Eigentlich verlief das ganze gar nicht so schlecht. Sie lachten miteinander und unterhielten sich über alles Mögliche, doch Phillip bemerkte trotzdem die besorgten Blicke, die seine Mutter ihm ab und an zuwarf. Ahnte sie etwas? Er war nun schon fast anderthalb Stunden hier und langsam wurde es Zeit, dass er mit der Sprache herausrückte, aber er wollte einfach nicht. Doch seine Mutter machte ihm einen Strich durch die Rechnung, indem sie plötzlich ernst wurde und sagte: „So, Phillip und jetzt erzählst du uns mal, was passiert ist.“ Überrascht wurde sie von drei Männern angesehen und Phillips Vater fragte verwirrt: „Wieso sollte denn was passiert sein?“ „Weißt du, es heißt ja keine Nachricht sei keine schlechte Nachricht. Und unser Sohn hat sich in letzter Zeit kaum bei uns gemeldet, deswegen konnte ich davon ausgehen, dass es ihm gut geht. Aber dass er sich dann plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, mit uns zum Kaffee verabredet? Irgendwas muss passiert sein.“ Nun wanderten aller Blicke zu Phillip, der unruhig auf seinem Platz hin und her rutschte und auf das Karomuster seiner Shorts starrte. „Nun erzähl schon, Phillip“, drängte ihn seine Mutter und Phillip holte tief Luft, bevor er sagte: „Also… ich… ich hab mich verliebt…“ Seine Stimme schwankte. Nun war also der Augenblick gekommen. Am Besten er brachte es schnell hinter sich. Eigentlich wollte er gleich weiter sprechen, doch seine Mutter vereitelte erneut sein Vorhaben, indem sie ausrief: „Aber das ist ja wundervoll! Warum hast du das denn nicht früher gesagt, dann hätte ich mir gar keine Sorgen machen müssen. Deswegen hast du dich auch nicht gemeldet, weil sie deine ganze Zeit in Anspruch genommen hat!“ Phillip seufzte innerlich. Er schüttelte den Kopf und entgegnete: „Naja, es gibt da ein Problem…“ „Hast du sie geschwängert?“, unterbrach ihn sein Vater. Mit offenem Mund sah Phillip zu ihm, wie er ihm da vollkommen ruhig gegenüber saß und diese Worte wie selbstverständlich aussprach. „Nein!“ Er stotterte. „Nein, so was ist es nicht, ich habe niemanden geschwängert.“ Wie kam sein Vater nur auf die Idee? „Was ist es dann?“, fragte nun Simon, sah ihn gespannt an. „Naja… ich…“ Er wollte es endlich hinter sich bringen. Also ballte er die Fäuste zusammen, sammelte sich den letzten Rest Mumm, der ihm in den Knochen steckte und fuhr fort zu sprechen: „Ich bin nicht in ein Mädchen oder eine Frau verliebt, sondern… in Leon.“ Schweigen. Sekundenlanges, ewiges, schreckliches Schweigen. Wieso war es schon wieder so heiß? „Leon?“, fragte sein Bruder langsam. „War das nicht das Nachwuchstalent von dem du vorhin gesprochen hast?“ Phillip nickte. „Aber das ist doch…“ „Ein Junge“, beendete Phillip den Satz für ihn. Er wagte es nicht aufzusehen. „Ja, ich bin mit einem Jungen zusammen.“ Schon wieder schweigen. Und diese unerträgliche Hitze, die auf ihn drückte! „Also willst du uns damit sagen, dass… dass du…“ Seine Mutter beendete ihren Satz nicht. Er übernahm es auch für sie: „Dass ich schwul bin. Ja.“ Er wartete, doch wieder sagte niemand etwas. Er durchbrach dieses entsetzliche Schweigen. „Es tut mir leid. Jetzt könnt ihr mich rauswerfen und mich anbrüllen und enterben und was weiß ich. Es ist in Ordnung.“ „Aber Phillip…“, versuchte es seine Mutter versöhnlich, doch er hörte, wie sein Vater seinen Stuhl zurückschob und sich erhob. Kommentarlos ging er ins Haus hinein und die Treppen rauf. „Phillip… warum?“, fragte seine Mutter nun, ihre Stimme zitterte. Es brach ihm das Herz. „Ich weiß es doch auch nicht!“, brüllte er. „Ich hab’s mir auch nicht ausgesucht! Es tut mir leid!“ „Ich muss mit Papa sprechen“, sagte seine Mutter, erhob sich ebenfalls und schlich ins Haus. Hatte sie beim Aufstehen geschwankt? Nun saß er mit seinem Bruder allein am Tisch. Er war der erste, dem er ins Gesicht sah. Finster hatte Simon die Augenbrauen zusammengezogen, musterte ihn missbilligend. Schließlich sagte er: „Wär wohl besser, wenn du gehst, oder?“ Phillip nickte. Aus dem oberen Stockwerk konnte er seinen Vater brüllen hören. Wieso nur hatte er es ihnen sagen müssen? Langsam machte er sich auf den Weg in Richtung Haustür, doch seine Mutter, die wieder runterkam, hielt ihn am Arm fest und flehte: „Geh doch noch nicht, Schatz, bleib doch noch ein bisschen.“ Er drehte sich zu ihr um und erkannte, dass ihr Tränen über die Wange liefen. Was hatte sein Vater ihr nur an den Kopf geworfen? „Mama, es tut mir leid.“ Er schluckte hart, hatte einen Kloß im Hals und hätte am liebsten mitgeheult. Sie schloss ihn in ihre Arme, drückte ihn an sich, als wolle sie ihn nie wieder gehen lassen und flüsterte mit brüchiger Stimme: „Ist doch in Ordnung. Ich liebe dich immer noch, mein Schatz.“ Sein Handy klingelte. Ausgerechnet jetzt! Gab es einen unpassenderen Augenblick? Er löste sich vorsichtig aus der Umarmung seiner Mutter und griff in seine Hosentasche, zog sein Handy heraus, sah auf sein Display: Leon. Was wollte der denn jetzt schon wieder von ihm? Er wusste doch ganz genau, was er hier gerade tat – tun musste; für ihn! Trotzdem klappte er das Ding auf, hielt es sich ans Ohr und fragte heiser: „Ja?“ „Hallo? Ist da Phillip Jener?“ Er erkannte Leons Mutter. Was war passiert? Er wurde nervös. Warum sollte Leons Mutter ihn anrufen? Sie würde es nicht tun, wenn nicht etwas wirklich Schlimmes passiert war. Sofort tauchten in Phillips Kopf tausend Horrorszenarien auf: Leon, wie er auf dem Heimweg von einem Auto erfasst wurde; Leon, wie er die Treppe hinabstürzte und sich das Genick brach; Leon, wie er von einem tollwütigen Hund angefallen wurde und ihm dann gesagt wurde, dass man sein Bein amputieren müsse. Um nur ein paar zu nennen. „Ja, ich bin dran“, eilte er sich zu sagen. „Was ist passiert?“ „Ich weiß es auch nicht genau. Er hat einen Brief bekommen und als er nach Hause gekommen ist, hat er ihn geöffnet. Dann ist er in sein Zimmer gestürmt, hat sich darin eingeschlossen und kommt nicht mehr heraus. Außerdem brüllt er die ganze Zeit sich selbst an. Wir wissen nicht mehr weiter, deswegen habe ich Sie angerufen. Damit Sie vorbei kommen.“ „Ich…“ Er zögerte. Er konnte doch jetzt nicht einfach weggehen. Seine Mutter brauchte ihn doch! Er warf einen Blick zu ihr. Sie saß zusammengesunken auf dem Sofa, Simon saß neben ihr, hatte ihr einen Arm um die Schultern gelegt. Konnte er sie in seiner Obhut lassen? „Ich bitte Sie“, flehte Leons Mutter am Telefon. Leon brauchte ihn. „Warten Sie bitte einen Augenblick“, sagte er leise. Dann nahm er das Telefon vom Ohr und sagte zu seiner Mutter: „Ich muss gehen!“ „Warum?“, fragte sie ihn, blickte ihn mit geröteten Augen an. „Leon“, hörte er sich sagen. „Er braucht mich.“ „Dann geh doch zu deinem scheiß Freund! Und komm am besten nicht mehr wieder!“, brüllte sein Bruder. Er schluckte hart. „Simon! Sei still!“, fauchte seine Mutter ihn an, dann lächelte sie Phillip zugewandt und sagte leise: „Geh nur. Und meld dich mal öfter, damit wir wissen, wie es dir geht.“ Er nickte dankbar, nahm den Hörer wieder ans Ohr. „Ich komme gleich vorbei.“ „Ich danke Ihnen!“, sie hörte sich vollkommen aufgelöst an. Dann legte sie auf und Phillip tat es ihr nach. Seine Mutter erhob sich, nahm ihn noch einmal in den Arm und küsste ihn auf die Wange. Dann ging er. Er schrie innerlich. In diesem Moment war alles schlecht! Er verfluchte sich und die Welt, während er zu Leon rannte. Er konnte kaum denken. Die Landschaft rauschte an ihm vorbei und er hoffte für Leon, dass er wenigstens einen triftigen Grund hatte, um sich ins Zimmer einzuschließen und ihn dadurch so zu zerreißen. Wem sollten seine Gedanken jetzt gelten? Leon oder seiner Familie? Wieso musste er sich entscheiden? Er hasste gerade alles und jeden, aber am meisten sich selbst. Als er endlich bei Leon ankam, öffnete dessen Mutter ihm die Tür und führte ihn hinauf in den ersten Stock. Schon im Treppenhaus konnte Phillip Leon brüllen hören. Er führte offensichtlich ein ziemlich lautes Selbstgespräch. Er konnte kaum etwas verstehen, nur einzelne Satzfragmente und irgendwelche Schimpfwörter. Als er vor seiner Tür stand, atmete er tief durch. Dann klopfte er und sagte: „Leon, ich bin’s, Phillip, lass mich rein.“ Das Gebrüll stoppte abrupt und nur einige Augenblicke später wurde die Tür aufgeschlossen, Leon öffnete sie einen Spalt breit, linste heraus und fragte dann erstaunt, als er die Tür etwas weiter öffnete: „Was willst du denn hier? Solltest du nicht bei deinen Eltern sein?“ Er war heiser. „Deine Mutter hat mich angerufen, sie macht sich Sorgen. Was ist denn los?“ Leon schob die Tür noch ein Stück weiter auf, warf seiner Mutter einen vorwurfsvollen und gleichzeitig vernichtenden Blick zu, dann murmelte er: „Komm rein.“ Hinter ihm schloss er die Tür wieder ab und Phillip sah sich um. Der Raum war ein einziges Chaos. Leon hatte die Jalousien zur Hälfte heruntergelassen, die Sonne damit ausgesperrt; er schien alles Mögliche durchs Zimmer geworfen zu haben und auf seinem zerwühlten Bett sah Phillip den Brief von dem seine Mutter wohl gesprochen hatte. „Tut mir leid, ist ein ziemliches Chaos hier“, entschuldigte Leon sich, hob ein paar Gegenstände vom Boden auf um sie zu verräumen. Phillip achtete gar nicht auf ihn, sondern ging zum Bett, nahm den Brief und las ihn durch. Dann noch ein zweites Mal. Leon rührte sich nicht, sondern starrte Phillip nur an und wartete wohl auf seine Reaktion. Er setzte sich, erwiderte Leons Blick finster. „Was?“, fragte der, hörte sich unsicher an. „Deswegen habe ich meine Mutter weinend zu Hause gelassen, bei meinem Vater und meinem Bruder, die mich jetzt beide hassen?“ Er hob den Brief um zu verdeutlichen, was er sagte. „Ich wollte doch gar nicht, dass du kommst“, erwiderte Leon kleinlaut, hörte sich schuldbewusst an. Er ließ die Sachen fallen, wo er stand, setzte sich neben Phillip, ergriff seine Hand. Doch Phillip zog sie zurück. In diesem Brief stand, dass der SC Freiburg fast alles tun würde, damit Leon bei ihnen spielte. In der ersten Mannschaft. Auch wenn normalerweise nicht während der Saison gewechselt wurde, aber sie hatten wohl spitz gekriegt, dass man bei ihnen in den unteren Ligen keine Verträge abschloss. Sie boten ihm eine horrende Summe Geld nur dafür, dass er bei ihnen anfing und von dem folgenden Gehalt könnte Phillip nicht mal wagen zu träumen. „Wo liegt dein Problem?“, fuhr Phillip ihn an. „Du hast das Angebot, was sich jedes Kind wünscht, wovon jeder Normalsterbliche nur träumen kann! Gott, Leon! Wo liegt dein verdammtes Problem?“ „Ich…“, setzte Leon an, wirkte verunsichert. „Ich kann nicht bei Freiburg spielen…“ „Warum? Weil du HSV-Fan bist? Bist du jetzt eigentlich vollkommen durchgedreht?“ „Nein, das ist es nicht“, murmelte Leon, ließ sich zurück aufs Bett fallen, drehte sich auf den Bauch und umarmte sein Kissen. „Was dann? Leon, jetzt bin ich schon da, also rede doch bitte mit mir. Was ist denn so schlimm an der Vorstellung, dass du Profifußballer werden könntest?“ „Ich will doch erst mein Abi fertig machen“, nuschelte Leon in das Kissen hinein. „Scheiß doch aufs Abi! Diese Möglichkeit ist einmalig! Und geplant, was du danach machen willst, hast du doch auch noch nicht! Nimm das Angebot an, du Vollidiot!“ „Aber ich brauch mein Abi! Was mach ich denn, wenn ich nicht gut genug bin und sie mich wieder rauskicken? Und auch wenn nicht, ewig kann man nicht Fußballer sein, was mach ich dann? Wenn ich wenigstens mein Abi hab, kann ich noch was vorweisen, aber ohne…“ „Zu schlecht bist du bestimmt nicht, sonst hätten die dir nicht so einen Brief geschrieben. Und wenn du irgendwann mal zurücktrittst, kannst du dir jeden Job kaufen, den du willst. Und sonst kann man das Abi auch nachmachen. Außerdem bringt dir ein Abitur ohne Ausbildung oder Studium eh nichts.“ „Aber woher willst du wissen, dass ich nicht zu schlecht bin?“ „Leon, ich hab mit dir gespielt.“ Leon presste das Kissen dichter an sich. Sein Freund seufzte schließlich und warf seine Wut über Bord. Es brachte ja doch nichts. So legte er sich zu ihm, küsste sanft seine Stirn und fragte dann: „Was hält dich wirklich ab, Leon, das ist doch alles Schwachsinn, was du mir erzählst. Ich bitte dich, sag mir doch die Wahrheit.“ Irgendwie hatte er die Ahnung, dass die Wahrheit eine weitere unliebsame Nachricht an diesem grässlichen Tag werden würde. Doch er verbannte diesen Gedanken in den hintersten Winkel seines Gehirns und beobachtete Leon, der verzweifelt wirkte. Seine Lippen bebten, seine Augen huschten unstet durchs Zimmer und er wackelte mit dem Bein. Nun legte ihm Phillip die Hand auf den Arm, versuchte ihm Ruhe zu geben. Aber Leon ergriff sie, sah ihm nun endlich in die Augen und flüsterte: „Wie viele Fußballprofis sind schwul?“ „Keine Ahnung“, meinte Phillip und zuckte mit den Achseln. Er wusste nicht worauf Leon hinauswollte. „Eben!“, rief der allerdings aus, als hätte Phillip sich seine Frage damit schon selbst beantwortet. „Hä?“ „Wahrscheinlich gibt es schwule Profifußballer, aber keiner kann es in der Öffentlichkeit zugeben, weil sie von den Medien zerfleischt würden. Phillip, überleg doch mal! Ich müsste dich verleugnen! Man würde es mir verbieten zu dir zu stehen, wenn ich meine Karriere nicht frühzeitig beenden wollte.“ Seine Stimme bebte und Phillip konnte sehen, wie seine Augen wässrig wurden. Erst jetzt fiel ihm auf, wie geschwollen sie überhaupt waren. Leon begann zu zittern. Was sollte er darauf sagen? Leon hatte Recht! „Aber du kannst deine Zukunft nicht für mich wegwerfen!“ „Oh Gott, halt doch die Klappe!“, brüllte Leon, machte sich von ihm los, sprang auf und stampfte im Zimmer auf und ab. „Es ist doch meine Entscheidung, was ich mit meiner Zukunft anstelle! Phillip, ich liebe dich! Ich kann dich nicht aufgeben! Und ich will es auch nicht!“ Phillip erinnerte sich zurück, als Leon ihm gesagt hatte, was die beiden Pfeiler in seinem Leben waren: Er und Fußball. Und nun sollte er sich für eines von beiden entscheiden? Das war nicht fair! „Phillip!“, jammerte Leon leise, seine Beine schienen ihn nicht mehr tragen zu wollen und er sackte auf den Knien zusammen. Er hockte da auf dem Boden inmitten des riesigen Chaos wie ein Häufchen Elend. Phillip schluckte hart. Er wollte Leon auch nicht verlieren. Aber was konnte er noch von sich halten, wenn er nur für ihn seine ganze Zukunft und mögliche Karriere aufgab? Leon musste an sich denken! Er konnte keine Rücksicht auf ihn nehmen! Er durfte es nicht! „Phillip!“, kam es erneut brüchig von Leon. Mechanisch stand der auf, kniete sich zu ihm auf den Boden und nahm ihn in den Arm. Schweigend streichelte er ihm über den Rücken, schmiegte seine Wange an seinen Haarschopf. Leons Finger krallten sich in den Stoff seines T-Shirts und er zitterte unkontrolliert. Er atmete flach, doch weinte nicht. Der Schreiner hingegen war ganz ruhig. In ihm war es leise und leer geworden. Er sah nur abwesend auf ein Regal. Leons Haare streiften seine Nase, er spürte es kaum. Ebenso wenig spürte er, dass auch Leon sich langsam wieder beruhigte. Inzwischen war es still im Zimmer geworden. Was war das für ein Leben? Er spürte nicht, wie seine Beine einschliefen, alles an ihm war taub und auch Leon, der begann seinen Hals zu küssen, bemerkte er kaum. Erst als der begann seine Lippen zu liebkosen, erwachte er aus seiner Starre. Wieso küsste Leon ihn denn nun? Eigentlich war es ihm egal. Er machte mit. So erwiderte er den Kuss, irgendwann zog er Leon das T-Shirt aus. Würde es Abschiedssex werden? Es war ihm egal. Mit zitternden Händen fuhr er Leon über die blanke Brust, küsste ihn weiter. Seine Haut war so weich! Er wollte ihn nicht aufgeben! Innerlich schrie er. Leon lag in seinem Arm. „Ich liebe dich“, flüsterte er, drängte sich näher an ihn. „Warum haben wir jetzt miteinander geschlafen?“, fragte Phillip emotionslos, sah zu Leon. Der zuckte die Achseln. „War das eine Art Abschied?“ Er hielt den Atem an. Es konnte doch noch nicht alles vorbei sein! „Was?“, keuchte Leon, setzte sich auf und starrte den Stürmer entsetzt an. „Oh Gott! Willst du jetzt mit mir Schluss machen?“ „Nein!“, rief Phillip hastig, richtete ebenfalls den Oberkörper auf. „Ich… ich dachte nur, wegen Freiburg und…“ „Ich werd dich nicht verlassen“, sagte nun Leon. Seine Stimme war fest. „Wirf doch nicht alles weg“, murmelte Phillip traurig. Dann schwiegen sie, legten sich wieder hin. Nach einer quälend langen Zeit in der keiner etwas gesagt hatte und beide ihren Gedanken hatten nachhängen müssen, durchbrach Leon die Stille: „Du hast es deinen Eltern also gesagt. Wie haben sie reagiert?“ Und Phillip begann zu erzählen. Leon hatte sich schlussendlich doch dazu entschlossen das Angebot anzunehmen. Aber nur unter der Bedingung, dass er zuerst seinen Abschluss machen konnte. Phillip hatte es das Herz gebrochen, aber er war froh über Leons Entscheidung und sie hatten nicht Schluss gemacht. Doch auch wenn keiner etwas sagte, sie wussten beide, dass mit Freiburg ihre Trennung kommen würde. Vielleicht war ihre Beziehung aufgrund dessen ziemlich sinnlos geworden, doch sie wollten noch die Zeit genießen, bis es endgültig vorbei war. Sie hatten niemandem von dem Angebot erzählt, es war besser fürs Mannschaftsklima, reichte ja, dass Leon schon schwul war. Im Großen und Ganzen war die Zeit, die sie noch miteinander verbringen konnten, eine schöne Zeit, doch es gab immer wieder Augenblicke, in denen sie an die Zukunft dachten. Sie warf einen bedrohlichen Schatten über jene Momente. Der Tag des Abschieds war viel zu schnell gekommen. Phillip hätte Leon am liebsten gar nicht gesehen. Es tat so übel weh. Doch Leon war zu ihm gekommen. Er hatte ihn umarmt, ihn geküsst und ihm dann ins Ohr geflüstert: „Ich liebe dich. Ich werd dich vermissen, Phlip.“ Phillip musste an sich halten um nicht beginnen zu heulen. Er drückte Leon ganz fest an sich und flüsterte gebrochen: „Ich dich auch.“ Dann war Leon gegangen. Wahrscheinlich für immer. Phillip hatte ihm nicht hinterher gesehen. Er hatte die Tür zugemacht, war an ihr hinab gesunken und hatte geweint. Der Schmerz war zu groß. Unerträglich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)