Momentaufnahmen von Terrormopf ================================================================================ Prolog: Ein nasses Paar Schuhe ------------------------------ „Jetzt beeil dich mal, Mann!“, rief Phillip in die Umkleide. Er wartete für gewöhnlich höchst ungern, aber er hatte Leon zugesagt ihn nach Hause zu fahren, also hatte er wohl keine Wahl. „Was machst du denn so lange da drinnen? Musst du dich noch hübsch machen, oder was?“ Die anderen waren alle schon weg. „’Tschuldigung, aber irgendwer meinte meine Schuhe ins Waschbecken stellen zu müssen.“ Mit noch nassen Haaren und einem Handtuch um die Schultern kam er aus der Umkleide. Über die rechte Schulter hatte er sich seine Tasche gehängt und in der linken Hand hielt er seine triefend nassen Schuhe. Ein Blick auf seine Füße verriet Phillip, dass er barfüßig war. Er lachte herzhaft auf und klopfte Leon auf die Schulter, als er sagte: „Willkommen in der Mannschaft, mein Lieber. Und jetzt komm, die Dinger kannst du ja unter die Heizung stellen, aber ich will mir das Spiel gleich anschauen und den Anpfiff nicht verpassen.“ „Na danke… läuft das jetzt jedes Mal so? Ich spiel auch gern weiterhin in der A-Jugend, ich muss nicht in der 1. spielen, aber ihr wolltet mich unbedingt, hat man mir gesagt.“ „Nun stell dich nicht so an, das war ’ne einmalige Sache.“ Sie gingen langsam über die Tribüne und dann in Richtung Parkplatz. „Und wie alt bist du jetzt genau?“ „Ich bin noch sechzehn“, erwiderte Leon. „Aber in zwei Monaten werd ich siebzehn.“ „Soso, in zwei Monaten… Schaust du dir auch nachher das Spiel an?“ „Wenn mein Vater nicht den Fernseher blockiert…“ „Komm halt mit zu mir, ich hab noch Bier zu Hause und Fußball zusammen schauen macht eh mehr Spaß. Außerdem kannste von mir aus auch nach Hause laufen.“ „Wo wohnst du denn?“ „Direkt beim Schulzentrum, gegenüber vom Edeka.“ Sie waren inzwischen an seinem Auto, einem älteren VW Golf, angelangt und er schloss auf. „Stell die Schuhe aber bitte auf die Fußmatte und nicht auf den Rücksitz.“ Brav tat Leon wie ihm geheißen und sagte, als er eingestiegen war: „Dann wohnst du ja ganz bei mir in der Nähe. Ich wohne nur ungefähr ein paar hundert Meter von dir entfernt! Dann ruf ich nur kurz zu Hause an, um Bescheid zu sagen.“ „Mach das.“ Er startete den Motor, legte den ersten Gang ein und fuhr los. Als Leon begann in sein Handy zu sprechen stellte er die Musik leise. „Hey Mama, ich bin’s… du ich wollt nur schnell Bescheid sagen, dass ich nicht gleich nach Hause komme… nee, ich geh zu 'nem Kollegen ausm Fußball und schau mit dem das Spiel an… ja, keine Sorge, ich komm schon noch nach Hause, der wohnt ganz bei uns in der Nähe… okay, danke sehr, ciao!“ Er legte auf und Phillip drehte die Musik wieder lauter. Beim Autofahren brauchte er laute Musik. „Geht also klar?“, fragte er. „Geht klar“, kam die Antwort von Leon, der über dem Handschuhfach den Beat mittrommelte. Es war sein erstes Training in der 1. Herrenmannschaft gewesen und er hatte sich gar nicht so schlecht angestellt. Aber der Trainer hatte ihn ja auch nicht ohne Grund in die 1. geholt. In der A-Jugend war Leon noch Kapitän gewesen, er spielte für gewöhnlich Libero und bei einer anderen Aufstellung den linken Außenverteidiger. Phillip hatte sich oft Spiele der A-Jugend angeschaut, da sie gut spielte und wohl bald in eine höhere Liga aufsteigen würde. Der Kapitän war ihm schon bei den Spielen aufgefallen. Er spielte genau, hatte das richtige Maß an Ehrgeiz, war gut konditioniert und besaß im Spiel viel Kreativität. Also all das, was einen guten Spieler ausmachte. Und er trug auf dem Feld stets ein breites Haarband, damit ihm seine dunkelbraune Lockenpracht nicht in die Augen fiel. Phillip wäre bei der Haarlänge schon längst ausgerastet. Er trug seine Haare immer kurz, momentan hatte er nur die Spitzen rot gefärbt, aber seine eigentliche Haarfarbe war schwarz. „Hast du eigentlich was zu Essen bei dir, oder sollen wir 'nen Abstecher zum Güldenen M machen?“ Mit dieser Frage hatte Leon ihn aus seinen Gedanken gerissen. Er schielte kurz zu ihm hinüber, um zu erkennen, dass er nachdenklich eine seiner Locken immer wieder um seinen Finger wickelte. „Zum Güldenen M!“, spottete er. „Ihr aus der A-Jugend habt sie doch nicht mehr alle! Aber wegen mir können wir auch noch beim Mäces vorbeifahren.“ So bog er beim zweiten Kreisel vor der Stadt ab und parkte direkt vor der Filiale. „Zieh dir halt kurz die Schuhe an, kannst sie ja gleich wieder ausziehen“, sagte er, als er merkte wie Leon zögerte und etwas unschlüssig auf seine nackten Füße starrte. „Hatte ich vor“, erwiderte der. „Jedenfalls wollte ich jetzt nicht barfüßig oder in Stollenschuhen reingehen…“ Phillip sah ihm die Gänsehaut an, als er in die klitschnassen und inzwischen eiskalten Schuhe schlüpfte, doch er beschwerte sich nicht, sondern ging ihm guter Dinge voraus. Sie nahmen ihr Essen mit – Phillip aß nicht gerne im McDonalnd’s selbst. So schlappten sie zurück zum Auto und Leon seufzte erleichtert, als er die Schuhe wieder ausziehen konnte. Phillip schmunzelte nur. Irgendwie war es eine dieser verkommenen und eigentlich sinnlosen Traditionen der 1. Mannschaft Frischlinge mit nassen Schuhen zu begrüßen. Er selbst hatte nur das Pech gehabt, dass er in die 1. gewechselt war, als ungefähr zehn Zentimeter Schnee lagen – und das war alles andere als angenehm gewesen, besonders weil er die nächste Woche mit eine saftigen Erkältung im Bett gelegen hatte. Das würde dem guten Leon wohl nicht passieren, da es schon relativ warm war. Als sie bei ihm ankamen, gab er Leon zwei Bögen Zeitungspapier, die er hineinstecken konnte und sagte ihm, er solle sie raus stellen, damit sie in den letzten Strahlen der Sonne noch trocknen konnten. Er selbst ging währenddessen in seine Abstellkammer und holte zwei Flaschen Bier. Danach fläzte er sich auf sein Sofa, öffnete die Flaschen und schaltete den Fernseher an. Als dann Leon wieder kam und sich neben ihn setzte, aßen sie und sahen sich schon mal die Mannschaftsaufstellungen an, die gerade gezeigt wurden. Es war ein Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und Russland. „Und? Wie lang spielst du jetzt schon Fußball?“, fragte Phillip irgendwann, als Günter Netzer und Gerhard Delling wieder ihre üblichen Späße miteinander trieben. „Oje, schon seit ich denken kann, aber im Verein bin ich erst, seit ich zehn war. Und du?“ „Ich hab, bis ich dreizehn war, in Freiburg gespielt, dann sind wir umgezogen und ich hab hier angefangen. Aber an und für sich spiel ich schon seit den Bambini im Verein. Also doch schon ganz schön lange…“ Sie schwiegen einen Moment, bis Leon dann fragte: „Meinst du, Deutschland kann das Spiel gewinnen? Ich meine, die Russen spielen in letzter Zeit ziemlich stark und der Trainer hat die Mannschaft nahezu komplett neu zusammengewürfelt.“ „Ich glaub, wir haben ’ne realistische Chance. Schließlich wäre es sonst nicht unsere Nationalelf.“ Er lächelte. Leon fuhr sich nachdenklich durchs Haar, nahm dann einen Schluck Bier. „Jetzt schau nicht so pessimistisch, die werden das Kind schon schaukeln!“ Die Russen waren zwar wirklich kein Gegner, den man so einfach auf die leichte Schulter nehmen sollte, aber so blöd wie Leon befürchtete, würden sich die Deutschen ja hoffentlich nicht anstellen „Gehst du eigentlich noch zur Schule?“ „Ja, ich mach grad mein Abi am AG“, antwortete Leon „bin in der Elften.“ „Also hast du noch zwei Jahre vor dir?“ „Nee, ich wurd früher eingeschult und bin schon G8…“ „Ach Gott! Bin ich froh, dass ich so 'nen Schwachsinn nicht mitmachen musste. Ich hab meinen Werkrealschulabschluss gemacht und dann meine Schreinerlehre.“ „Ach, du bist also Schreiner! Deswegen sind deine Hände so rau!“ Irritiert sah Phillip zu ihm. Woher wusste Leon denn, dass er raue Hände hatte? Leon allerdings lachte nur und fuhr fort: „Vorhin beim Training, da hast du mir auf die Schulter geklopft und dabei meinen Nacken gestreift, deswegen hab ich’s gemerkt.“ Auf solche kleinen Berührungen achtete Leon also? Interessant… „Und da betreten die beiden Mannschaften das Spielfeld“, hörten sie den Kommentator sagen und wandten ihre Konzentration wieder dem Fernseher zu. Aber irgendwie lenkten Phillip seine Gedanken ab. Natürlich hatte er als Schreiner rauere Hände als irgend so ein Bürohengst, aber waren sie wirklich so rau, dass sie einem sogar im Gedächtnis blieben, wenn er jemanden nur kurz und eigentlich vollkommen beiläufig streifte? Aber andererseits konnte Leon ja auch einfach nur sehr sensibel sein… Es nervte ihn das nicht zu wissen und so fragte er, während die russische Nationalhymne gesungen wurde: „Und was für Hände hat der Trainer?“ „Keine Ahnung, woher soll ich das wissen?“, kam es verwirrt von Leon zurück. Phillip trank noch einen Schluck Bier und antwortete dann: „Na er hat dir doch vor dem Training die Hand gegeben!“ „Keine Ahnung, weiß ich nicht mehr.“ Stumpf sah Leon wieder auf den Flimmerkasten. Nun kam die deutsche Hymne. Phillip war dafür ziemlich dankbar, weil Leon so sein Schweigen nicht falsch interpretieren würde, denn er wusste nicht so recht, wie er darauf nun reagieren sollte. Wieso nur konnte sich Leon noch an seine Hände erinnern, nicht aber an die des Trainers? Eigentlich war es ziemlich egal – das wollte Phillip sich auch einreden – aber es ließ ihn nicht los. Das Spiel lief nicht schlecht, aber manchmal kam es Phillip vor, als liefe die Mannschaft etwas planlos über den Platz und es mangelte ihnen an Kreativität. Wenn die Kamera auf den Trainer schwenkte, saß der nur auf der Bank, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und runzelte mürrisch die Stirn. Und so kam es, wie es kommen musste: in der 16. Minute erzielten die Russen das eins zu null. Leon und Phillip stöhnten gleichzeitig auf. Der Jüngere strich sich etwas verzweifelt die Lockenpracht zurück und der andere hätte am liebsten die Flasche gegen den Fernseher geworfen, auf dem gerade der Torwart zu sehen war und wollte dabei brüllen: „Damit du nicht so allein bist, du Flasche!“, denn den Ball hätte sogar er gehalten, auch wenn er im Tor grottenschlecht war. „Dass er den nicht gehalten hat! Der ist ihm doch schon fast in die Hände gefallen! Wie hat er das nur hinbekommen, ist er dem Ball ausgewichen, oder was? Ich brauch 'ne Wiederholung!“ Phillip lachte auf diesen Kommentar hin. Fußball schauen war eben besser, wenn man nicht allein war. „Ha, die Wiederholung! Jetzt müssen wir aufpassen!“ Gespielt konzentriert lehnte sich Leon nach vorne. „Sogar in Zeitlupe! Herrlich.“ „Die Verteidigung hat aber auch geschlafen…“, murmelte Phillip und lehnte sich zurück. „Da, da! Jetzt kommt’s… Tatsache; es ist eindeutig: er ist dem Ball ausgewichen. Seit wann hat er denn Angst vor Bällen?“ „Vielleicht hat ihn ja mal einer gebissen“, murrte Phillip und verfolgte im Fernsehen den verzweifelten Versuch der Deutschen nach vorne zu stürmen. Aber die russische Verteidigung stand zu gut. Die gesamte erste Halbzeit über wurde es nicht besser und Phillip war doch froh darüber, dass die Russen ihren Vorsprung nicht noch auf ein zwei zu null ausbauten. In der Pause zeigte er Leon kurz die Toilette und ging dann noch zwei Bier holen. Er hoffte, dass der Bundestrainer den Jungs in der Kabine mal ordentlich die Leviten lesen würde, denn so konnte es ja nicht weitergehen, das war ja eine Blamage! Als Leon wieder ins Wohnzimmer kam, ließ er sich seufzend aufs Sofa fallen und griff nach der neuen Flasche Bier. „Na hoffentlich wird der Trainer ihnen in der Kabine mal ordentlich die Leviten lesen!“, brummte er. Phillip jedoch sah ihn für einen Moment nur starr an. Er hatte doch eben genau dasselbe gedacht; was ging denn jetzt ab? „Hoff ich auch“, erwiderte er fast automatisch und starrte Leon weiterhin an. Im ersten Moment schien der das gar nicht zu bemerken, aber als er einen flüchtigen Blick auf Phillip warf, hob er die Brauen und fragte skeptisch: „Ist was? Warum starrst du mich so an?“ Kaum merklich schüttelte der Ältere den Kopf und entgegnete dann: „Nee, alles klar, ich hab mich nur grad gewundert…“ „Jaa?“, fragte Leon, als er nicht weiter sprach. „…warum… warum du dir nicht einfach die Haare kurz schneidest. Ich mein, auch mit dem Haarband stören die doch sicher beim Spielen, oder?“ Warum er sich die Haare nicht einfach kurz schneiden ließ? In Gedanken zog Phillip eine Grimasse; was sollte das denn? „Blöde Frage“, pflichtete Leon seinen Gedanken bei. „Kurze Haare stehen mir nicht, außerdem stört es nicht so sehr wie man denkt. Nur meine kleine Schwester nervt mich, wenn sie mich mit Roger Federer vergleicht. Du weißt schon, der Tennisspieler. Sie fährt total auf den ab und denkt ich würde meine Haare nur so tragen, um so auszusehen wie er.“ „Ach so… na ja, mit Tennis hab ich nicht viel am Hut, deshalb kann ich das nicht beurteilen.“ „Meine Schwester lebt ausschließlich für Tennis, sie spielt recht gut und schaut jedes Grand Slam und ATP Turnier an.“ Grand Slam und ATP Turniere? Phillip hatte keine Ahnung, was er sich darunter vorzustellen hatte, doch er vermutete, dass man es wohl mit der Bundesliga vergleichen konnte – er hatte ja keine Ahnung wie falsch er lag. Also sagte er: „Wir schau’n uns ja auch die Bundesligaspiele an… und lass mich raten: du bist VfB-Fan, oder?“ Leon schüttelte den Kopf und grinste verschmitzt. „Nein! Sag bitte nicht Bayern!“ Erneut schüttelte Leon den Kopf und sagte nun: „HSV.“ „HSV? Wie kommst du denn zu Hamburg?“, fragte Phillip erstaunt. „Meine Eltern stammen aus Hamburg und wir fahren auch oft unsere Verwandten dort besuchen. Und wenn wir schon mal da sind, dann gehen wir gern mal ein Spiel anschauen. Bist du etwa VfB-Fan?“ „Definitiv nicht“, entgegnete Phillip lachend. „Freiburg, seit ich denken kann, ist ja schließlich auch meine Heimatstadt.“ Leon fasste sich lachend an die Stirn und entgegnete: „Liegt ja irgendwie auf der Hand…“ Die Nachrichten waren gerade zu Ende und Netzer und Delling erschienen wieder. Sie analysierten die Fehler und verpatzten Torchancen und fachsimpelten wie gewohnt. Der Rest des Spiels war nun ‚eine einzige Party’, wie Phillip es ausdrücken würde. Die Deutschen waren plötzlich viel stärker als in der ersten Halbzeit, standen kompakter und schafften es drei Torchancen zu verwandeln, sodass es beim Abpfiff 3:1 für Deutschland stand. Daraufhin trank Leon zufrieden sein Bier aus und ließ sich von Phillip zur Tür geleiten, nachdem er sich seine – nun nur noch feuchten – Schuhe geholt hatte. Zum nächsten Training würde Leon gleich mit ihm hochfahren und er versprach ihm hoch und heilig, dass er auch mal fahren würde, sobald er seinen Führerschein in der Tasche hatte. Phillip lächelte nur wissend und klopfte ihm wohlwollend auf den Rücken, dann schloss er die Tür hinter ihm. Ein netter Junge war Leon auf jeden Fall, wenn auch etwas seltsam; die Sache mit den Händen verwirrte Phillip immer noch. Kapitel 1: Tribünengeflüster ---------------------------- Irgendwie war es den Beiden zur Angewohnheit geworden nach dem Training länger zu bleiben, bis alle anderen weg waren und sich dann wieder zum Spielfeld zu begeben. Sie setzten sich auf die Tribüne oder legten sich ins Gras und unterhielten sich. Heute blieben sie besonders lange da. Es war schon dunkel geworden und das Mondlicht umschmeichelte ihre Silhouetten, denn die Flutlichtanlagen waren natürlich nicht in Betrieb. In diesem Moment schwiegen sie. Leon saß auf der obersten Stufe der Tribüne. Er hatte seine Hände aufgestützt, die Füße – mit denen er nun wippte – überkreuzt und sah in den Himmel. Phillip hingegen lag neben ihm; er hatte das eine Bein aufgestellt, das andere ließ er frei baumeln und hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Inzwischen war es so kühl geworden, dass sie sich ihre Trainingsjacken übergezogen hatten, aber ohne den Wind war es noch recht lau. „Und?“, unterbrach Phillip das Schweigen. „Hm?“, machte Leon und sah zu ihm. Der Liegende konnte seinen durchdringenden Blick genau spüren, doch zwang er sich den Blick nicht zu erwidern, sondern fuhr fort: „Was willst du nach dem Abi machen?“ „Keine Ahnung“, meinte Leon und Phillip wusste, dass er die Achseln zuckte. „Das fragen mich momentan alle, aber ich hab keine Lust mir darüber Gedanken zu machen. Außerdem hab ich das Gefühl, dass sich da schon was ergibt, ganz von allein.“ Phillip schmunzelte. Das war so typisch für Leon: er lebte einfach blauäugig in den Tag hinein und dachte, irgendetwas würde sich schon ergeben. Beim Fußball war es bei ihm genau das gleiche. Er stürmte einfach mit nach vorne und schien erst dann zu überlegen, ob das sinnvoll gewesen war, doch dafür war er blitzschnell darin Chancen zu ergreifen. Wenn sich eine bot, dann brachte er das Ganze schnell zum Abschluss. Meist bekam Phillip von ihm grandiose Vorlagen, die er wunderbar vollenden konnte, oder Leon schoss selbst das Tor. Wie sollte er denn da auch lernen, dass einem im Leben nicht immer alles zugeflogen kam? „Wusstest du denn schon immer, dass du Schreiner werden willst?“, riss ihn Leon aus den Gedanken. Der Gefragte überlegte eine Weile, dann antwortete er: „Keine Ahnung, irgendwann habe ich halt beschlossen Schreiner zu werden und momentan bereue ich das auch nicht.“ „Darf ich…“, begann Leon etwas zaghaft und brach dann ab. Phillip kam es vor, als hätte er Scham in Leons Stimme vernommen. Daher setzte er sich auf, sah zu ihm und fragte: „Was?“ „Ich wollte fragen, ob ich noch einmal deine Hand berühren darf…“ Er hatte den Blick auf seine Knie gerichtet und nun schien das Schaukeln seiner Füße fast nervös. Phillip jedoch hob nur verwundert die Augenbrauen und entgegnete: „Warum?“ „Weil sie mir nicht aus dem Kopf gehen. Seit dem ersten Training muss ich ständig an sie denken und es zieht meinen Blick ständig darauf. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber es sind einerseits die groben und rauen Hände eines Handwerkers, andererseits haben sie auch etwas Sanftes an sich, was dazu im kompletten Gegensatz steht.“ „Und was heißt das jetzt?“ Phillip lachte. Allerdings nur um seine eigene Unsicherheit zu überspielen, wie er verwirrt feststellte. „Naja, ich hab mal gelesen, dass die Hände viel über einen Menschen aussagen…“ Er sprach nicht weiter. Auch er schien noch unsicherer geworden zu sein. Doch nach einigen grässlichen Sekunden des Schweigens gab Phillip sich einen Ruck und reichte Leon wortlos seine Hand. Als dieser sie ergriff, hatte er seine Augen aufblitzen sehen können, dann lenkte er seinen Blick auf Leons Hände, die seine eigene umfassten. Leon ließ sich Zeit und beider Augen waren auf ihre Hände gerichtet. Leon berührte seine Hand innen und außen, ließ seine Finger leicht über sie gleiten und berührte Phillips Fingerkuppen mit seinen. Phillip selbst wusste nicht so recht wie ihm geschah. Er ließ es geschehen und war gebannt von diesem Ereignis. Leons Hände waren so weich im Vergleich zu seinen und er kam ihm vor wie ein Künstler, der sich mit einem geliebten Objekt noch vertrauter machte, um es in all seinen Facetten zu portraitieren. Seine Hand hingegen wirkte nun fast plump. Die andere ruhte auf seinem Oberschenkel und war zu einer Faust zusammengeballt. Warum wusste er nicht. Irgendwann hörte Leon auf seine Hände zu bewegen, sondern hielt einfach nur seine. Es war ein seltsames Gefühl; irgendwie schön und gleichzeitig auch befremdlich. Ohne, dass er es bewusst wahrnahm, rutschte er ein Stück näher an Leon heran. Sollte er seine Hand nun wegziehen, oder sie ruhen lassen? Was würden die anderen aus ihrer Mannschaft denken, wenn sie sie so vorfinden würden? Wieso konnte er diesen Moment nicht einfach nur genießen? Irgendwann hatte er jedoch das Gefühl, dass Leon seine Hand lange genug gehalten hatte und zog sie weg. Das Mondlicht war in dem Moment verschwunden, da sich eine Wolke davor geschoben hatte. Er versuchte Leons Mimik zu entziffern, aber er konnte sie kaum erkennen in dem fahlen Licht. Und kaum lag seine Hand nicht mehr in Leons, da wünschte er sich, dass er sie nicht weggezogen hätte. Er fröstelte. Schon wieder schwiegen sie, aber im Gegensatz zu dem Schweigen nur einige Augenblicke zuvor, war es diesmal wieder unangenehm. Keiner der beiden konnte sich vorstellen, was im Kopf des Anderen vor sich ging. Normalerweise war es leicht zu erraten, was Leon dachte oder fühlte, da sein Gesicht offen und seine Mimik klar waren, doch auch nun, als das Mondlicht sein Antlitz wieder enthüllte, konnte Phillip keinen Deutungsansatz finden. So überwand er sich irgendwann und fragte: „Was ist?“ Leon schüttelte den Kopf. Was sollte das nun heißen? „Ist meine Hand etwa anders als beim ersten Training?“ Erneutes Kopfschütteln. Phillip musterte ihn eingehend von oben bis unten und als er zu seinen Beinen kam, erkannte er, dass Leon eine Gänsehaut hatte – er trug nur Shorts. „Du hast ja 'ne Gänsehaut! Ist dir so kalt? Sollen wir lieber fahren?“ „Nein!“, rief Leon hastig aus, zog die Beine an den Körper und rieb sich die Schienbeine. „Nein, mir ist nicht kalt… ich würde auch gern noch ein bisschen bleiben, wenn es dir nichts ausmacht.“ Nun lag wieder dieser durchdringende Blick auf Phillip. „Kein Ding“, erwiderte der und sah aufs Spielfeld, bemerkte allerdings aus den Augenwinkeln, dass Leon seine Beine wieder sinken ließ. „Spielst du eigentlich lieber auf Kunst- oder normalem Rasen?“ Irgendwie sprach er einfach nur um zu reden, nicht um etwas zu sagen. Er wollte nur von dieser Handgeschichte ablenken, denn seine eigene Wahrnehmung war ihm in der Hinsicht nicht mehr ganz geheuer. „Hat beides seine Vor- und Nachteile. Wenn der Gegner Kunstrasen nicht gewöhnt ist, hat man einen bedeutenden Vorteil, aber es dauert auch so einige Zeit, bis man sich daran gewöhnt, außerdem hab ich mir auf Kunstrasen schon ziemlich oft die Knie schier verbrannt. Der Echte ist generell zum Fallen einfach viel weicher… und bei dir?“ „Keine Ahnung, so ziemlich wie bei dir.“ Wieder Schweigen. Diese elende Stille! „Weißt du, du kommst mir gar nicht so jung vor“, meinte er abwesend und Leon erwiderte, frech grinsend: „Und du mir gar nicht so alt…“ „Na danke.“ Sie lachten kurz. Dann wollte sich Phillip wieder hinlegen, doch hatte er vergessen, dass er nun näher bei Leon saß, denn vollkommen ungewollt landete sein Hinterkopf in dessen Schoß. Sein Herz rutschte ihm für einen Moment in die Hose. Eigentlich wollte er sich sofort wieder aufsetzen und sich entschuldigen, doch in dem Augenblick schien Leon wieder eine Chance zu ergreifen und legte eine Hand auf Phillips Brust, die andere auf dessen Stirn, drückte ihn sanft zurück. Sie sagten nichts. Nur Phillip spürte, wie sein Puls unglaublich in die Höhe raste. Er wusste nicht, ob es so nun angenehm oder peinlich war. Aber er glaubte, dass es Leon nicht anders ging, denn der wagte es nicht einmal ihm in die Augen zu sehen und Phillip meinte im blassen Mondlicht einen Hauch der Röte in seinem Gesicht erkennen zu können. Leon streichelte ihm sanft durchs Haar. Da fasste der Stürmer einen Entschluss. Diesmal würde er die Gelegenheit beim Schopfe packen. Und genau das tat er praktisch wortwörtlich. Er legte seine Hände sanft in Leons Nacken und spürte, wie den bei der Berührung wieder eine leichte Gänsehaut überkam. Dann zog er ihn ganz langsam zu sich hinunter, bis Leon gezwungen war ihm in die Augen zu sehen. Nun war die Röte kaum mehr zu übersehen, sein Blick huschte rasch von der einen Seite zur anderen und tief im Grunde seiner Augen erkannte Phillip Scheu, fast schon Angst. Er selbst zwang sich zur Ruhe, versuchte seine eigene Aufregung zu verbergen, doch war er sich sicher, dass Leon sein Herz rasen spürte, mit der Hand, die immer noch auf seiner Brust lag. Für den Bruchteil einer Sekunde überkamen ihn wieder Zweifel. Sollte er das jetzt wirklich durchziehen? Oder hatte er Leons Gestiken nur vollkommen falsch interpretiert? Doch mit eiserner Disziplin zwang er sich dazu sich wieder abzuregen. Er würde es durchziehen. Selbst wenn er Leons Körpersprache falsch interpretiert hatte, würde der niemals etwas rumerzählen. Er würde Stillschweigen bewahren. Mit Sicherheit. Also ignorierte er das flaue Gefühl in seinem Magen und fragte ganz leise: „Seltsam, oder?“ Er konnte hören, wie Leon schluckte und spürte, wie er kaum merklich nickte. Im nächsten Moment schon schloss er die letzte Distanz zwischen sich und Leon und küsste ihn. Es überkam ihn wie ein kalter Schauer und in dem Moment, da sich ihre Lippen berührten, übermannte ihn eine blinde Panik. Was tat er hier eigentlich? War er denn von allen guten Geistern verlassen? Er konnte doch Leon nicht einfach auf der Tribüne ihres Fußballfeldes küssen! Wenn das ans Licht käme, wären sie beide weg vom Fenster! Dann erwiderte Leon vorsichtig den Kuss. Wirklich nur ganz zaghaft und fast schon schüchtern, doch es reichte, um Phillip wieder zu beruhigen – mehr oder weniger. Der Kuss dauerte nicht länger als ein paar Wimpernschläge und doch prasselten auf einmal alle möglichen Gedanken und Gefühle auf ihn ein. Er glaubte, sein Kopf müsste eigentlich zerspringen. Leons Körper und seine Hände bebten. „Sorry“, sagte Phillip tonlos, starrte ins Nichts. Leon schüttelte apathisch den Kopf. Nun ließ er seine Hand langsam zu Phillips Wange gleiten, streichelte sanft darüber, die andere blieb im Haaransatz des Stürmers, die Finger hatten sich in das kurze Haar gekrallt. „Ich-…“, versuchte er etwas zu sagen, doch schien er kein weiteres Wort herauszubringen. Endlich sah Phillip ihn an und ein leichtes Lächeln umspielte nun seine Lippen, als er fragte: „Noch mal?“ Leon nickte und beugte sich wieder zu ihm herab. Erneut begann der Kuss sehr vorsichtig. Sie hatten beide nach dem Training geduscht und Phillip konnte noch ganz leicht Leons Duschgel riechen – irgendwas mit Citrus. Diesmal war er länger und Phillip zog Leon noch näher zu sich, fuhr ihm durch seine lockigen und irgendwie viel zu weichen Haare – erst jetzt merkte er, wie sehr ihn das die ganze Zeit gereizt hatte – und Leon streifte sein Ohr, ließ seine Hände wiederum sanft in Phillips Nacken gleiten. Sie saßen noch lange so da und sprachen nicht; Leon hatte nur irgendwann begonnen immer wieder durch Phillips kurze Haare zu fahren. „Was…“, begann nun Leon zu sprechen. „Was war das eigentlich?“ „Keine Ahnung, ich hatte irgendwie das Gefühl, ich müsste es tun.“ „Aha.“ „Es hat dich ja nicht gestört, oder?“ „Nein! Nein, das nicht, aber es kam irgendwie so unerwartet…“ „Unerwartet? - Jetzt nimm endlich mal deine Hand aus meinen Haaren! - Wieso denn bitte unerwartet? Du hast doch die ganze Zeit meine Hand begrabbelt und meinen Kopf festgehalten, als ich mich aus Versehen etwas zu nah bei dir ausgestreckt hab!“ Er fühlte sich auf den Arm genommen und als hätte Leon ihm nun einen Vorwurf gemacht. „Aus Versehen? Erzähl mir doch nichts! Das war ja wohl alles berechnet! Außerdem habe ich ja nicht gemeint, dass ich es scheiße fand, ich habe nur gesagt, dass es unerwartet kam.“ „Aber wieso denn unerwartet? Das check ich nich.“ „Naja, ich dachte nicht, dass du so früh…“, er hielt inne und biss sich auf die Lippe. Phillip hingegen schüttelte den Kopf. „Dann wusstest du also die ganze Zeit, dass ich es irgendwann tun würde?“ „Natürlich! Du hast ja genug Anzeichen dafür geliefert. Die ganze Zeit!“ „Na das ist mir jetzt aber neu, ich hatte eher das Gefühl, dass du dauernd Anspielungen gemacht hast…“ Leon zuckte erneut mit den Achseln. „Wenn, dann war es nicht beabsichtigt.“ „Ich bitte dich! Schon als du das erste Mal bei mir warst, hab ich was geahnt! Warum konntest du dich nur an meine Hände erinnern und nicht an die des Trainers?“ „Ach lass mich doch in Ruhe!“ Er klatschte seine Handflächen gegen Phillips Backen. Der sah dies als Zeichen und richtete sich auf. Er griff in seine Jackentasche, holte seinen Autoschlüssel daraus und sagte: „Wir sollten langsam gehen, schließlich muss ich morgen früh arbeiten und du musst in die Schule.“ Leon nickte. Auf dem Weg zum Auto schnappten sie sich noch ihre Taschen, die sie neben der Tribüne hatten stehen lassen. „Wird das jetzt eigentlich öfter passieren?“, fragte Leon leise, als sie am Ortsschild vorbeifuhren. Phillip antwortete nicht. Von ihm aus natürlich, aber er wusste nicht wie Leon der Sache gegenüberstand. Doch da fuhr der schon fort: „Also ich hätte nichts dagegen.“ „Na dann seh’ ich kein Problem. Wir müssen nur aufpassen, dass die anderen aus der Mannschaft nichts mitbekommen, sonst sind wir ganz schnell weg vom Fenster.“ Leon nickte. Phillip selbst nervte es. Er hatte schon als Kind das Versteckspiel aus tiefstem Herzen gehasst und nun begann er selbst eine Runde von der er nicht wusste, wie lange er in seinem Versteck kauern konnte – oder musste – bis man ihn entdeckte. Als er vor Leons Türe hielt, schielte der kurz zu seinem Haus rüber, dann lehnte er sich zu Phillip und küsste ihn noch einmal flüchtig, bevor er sein Zeug nahm und ausstieg. Wie immer wartete Phillip, bis Leon das Haus betreten hatte und fuhr dann erst weiter, noch die letzten paar hundert Meter bis zu sich. Er war hundemüde. Er wollte ins Bett. Jetzt. Kapitel 2: Des Nachts --------------------- Noch kurz vorneweg: Was wäre eine Geschichte über Fußballer ohne Nutella? xD _______________________________________________________________________________ War er nicht noch eine Viertelstunde früher todmüde gewesen? Nun jedenfalls lag Phillip hellwach auf seinem Rücken in seinem Bett. Er hatte nur Boxershorts und ein T-Shirt an, sich nicht zugedeckt und das Fenster aufgerissen. Er hatte vergessen die Jalousien runterzulassen, als er am Morgen das Haus verlassen hatte, und nun war es bullenheiß; auch nicht gerade zuträglich, wenn man eigentlich schlafen wollte. Er setzte sich auf. Neben seinem Bett stand wie gewöhnlich eine Flasche Wasser nach der er griff, doch er trank nicht mehr als einen Schluck, denn es war genauso warm geworden wie der Raum selbst und so ziemlich eklig. Eigentlich wollte er nicht über das nachdenken, was zuvor auf der Tribüne passiert war, aber je mehr er diese Gedanken verdrängen wollte, desto weniger ließen sie sich vertreiben. Wie war es nur noch mal zu diesem Kuss gekommen? Leon hatte seine Hand gehalten. Eigentlich ja nicht nur gehalten – Phillip sah sie an und spürte, wie das Blut in ihr pulsierte, als er sich an Leons Berührungen erinnerte. Und dann? Er hatte sich wieder hinlegen wollen, aber irgendwie war sein Kopf in Leons Schoß gelandet. Es war wirklich nicht beabsichtigt gewesen. Er konnte sich nicht daran erinnern, so nahe an Leon gerutscht zu sein. Oder war Leon ihm auch näher gekommen? Der Rest stand außer Frage. Naja, das wohl auch nicht ganz. Bisher hatte er sich von Männern noch nie wirklich angezogen gefühlt. Den ein oder anderen hatte er zwar als attraktiv empfunden, aber er hätte niemals einen angemacht, geschweige denn ihn geküsst. Warum also Leon? Vielleicht hatte er das Bedürfnis ihn zusätzlich unter seine Fittiche zu nehmen? Aber andererseits sah Leon so liebesbedürftig und so liebenswert aus, dass es kein Wunder war. Schon sein Blick war meist zum Dahinschmelzen. Wirklich Gedanken hatte er sich um seine Sexualität nie gemacht; er war Fußballer – und wie viele Fußballer waren denn schon schwul? Aber anscheinend war er es. Seltsamerweise regte es ihn selbst gar nicht auf. Wenn er es den Leuten in seiner Umgebung, seinen Eltern und allen beichten müsste, dann sähe die Sache wohl noch mal anders aus, aber es mit sich selbst auszumachen, das war kein Problem für ihn. Eigentlich hatte er gedacht, dass Schwule und Lesben immer erst einen Kampf mit sich selbst schlagen mussten und eine harte Zeit hatten, bis sie die Tatsachen akzeptierten. Aber er empfand sich selbst ohnehin als relativ unkompliziert… vielleicht auch, weil er nicht gerade der Schlauste war. Langsam erhob er sich und ging in der Küche an den Kühlschrank. Als er ihn öffnete, drang grässlich hell das Licht auf ihn ein, aber gleichzeitig kam ihm eine angenehme Kühle entgegen. Er griff nach der Milchtüte und stellte sie auf die Anrichte, dann holte er sich ein Glas. Gerade wollte er die Milch einschenken, da klopfte es an der Wohnungstür. Phillip starrte einen Moment lang ungläubig auf die Anzeige des Backofens, auf deren Uhr es schon viertel vor eins war. Wer zur Hölle kam um diese Zeit zu ihm? Und warum benutzte derjenige nicht die Klingel, sondern klopfte? Ein erneutes Klopfen. War das erste noch etwas zaghaft gewesen, so war es diesmal schon fester. Sich mit der Hand durch die Haare fahrend, begab er sich schließlich doch zur Tür und öffnete diese. Vor ihm stand kein Geringerer als Leon. „Was willst du denn um die Uhrzeit hier? Bist du bescheuert? Du solltest schon längst schlafen!“ „Ich hab Licht in der Küche gesehen. Darf ich reinkommen?“ Leon sprach leise und aus seinem Tonfall konnte Phillip keine Stimmung herauslesen. „Alter, geh nach Hause in dein Bett, wo du hingehörst, du bist noch nicht mal annährend achtzehn!“ „Darf ich?“, fragte Leon unbeirrt und sah Phillip aus unergründlichen Augen an. „Bevor du jetzt auf die Idee kommst 'nen Sitzstreik zu starten“, seufzte Phillip und machte den Weg in seine Wohnung frei. Leon ließ es unkommentiert stehen, sondern ging einfach ins Wohnzimmer. Phillip schloss die Tür und folgte ihm dann – die Milch war vergessen. Er lehnte sich in den Türrahmen und betrachtete Leon eine Zeit lang schweigend. Dann setzte er sich neben ihn und fragte: „Also? Was willst du um diese Uhrzeit hier? Ist irgendwas passiert?“ Leon legte ihm eine Hand auf den Oberschenkel, sah ihn an und antwortete: „Ich konnte nicht schlafen.“ „Willkommen im Club“, murmelte Phillip daraufhin, allerdings mehr an sich selbst gerichtet. Leon reagierte aber auch gar nicht darauf, sondern rutschte näher an Phillip heran und fragte: „Bin ich der erste Kerl, den du geküsst hast?“ Etwas perplex fiel dem Stürmer der Mund auf. Für die Frage war er nun hergekommen? Mitten in der Nacht? Theoretisch hätte er ihn aus dem Schlaf reißen können! „Sag schon!“, drängte er nun. Immer noch irritiert nickte Phillip. „Du bist nicht mein erster“, gluckste Leon. Irgendwie hatte sich Phillip das fast schon gedacht. „Aber du hast ziemlich schnell die Initiative ergriffen. Bist du sicher, dass ich der Erste war?“ Erneut konnte Phillip nur nicken. Diese Situation hatte irgendwie etwas Skurriles an sich. Und als sich Leon nun rittlings auf seinen Schoß setzte, da wurde es nur noch surrealer. „Wieso genau hast du mich eigentlich geküsst?“, fragte er nun, legte seine Hände in Phillips Nacken, streichelte ihn leicht mit den Daumen. Er konnte nur mit den Achseln zucken und war froh nun wenigstens ein paar Wörter wieder zu finden, als er antwortete: „Mir war halt irgendwie danach, keine Ahnung warum.“ Leon küsste ihn. Doch gerade als er es erwidern wollte, waren dessen Lippen auch schon wieder von seinen verschwunden. „Vielleicht weil du mich attraktiv findest? Oder weil ich so genial Fußball spiele? Oder weil mein Charakter so einzigartig ist?“ „Keine Ahnung, aber ich hab’s doch getan, ist der Rest nicht eigentlich egal?“ Nun lehnte sich Leon nach vorne, berührte Phillips Stirn mit seiner. Er schloss die Augen und antwortete: „Eigentlich schon, aber es interessiert mich trotzdem. Dich habe ich geküsst, weil du gut aussiehst, fast alle meine Vorlagen verwandelst und weil wir uns irgendwie gut verstehen.“ Er küsste ihn erneut, diesmal etwas länger. Seine Lippen blieben nicht einmal fünf Zentimeter von Phillips entfernt und der spürte den warmen Atem auf seiner Haut. Phillip fühlte sich unwohl. Er drückte sich so weit es ging in die Lehne des Sofas zurück und sagte dann, sich mit der Hand Luft zufächelnd: „Mir ist übelst warm… und du funktionierst wie 'ne Wärmflasche…“ Er kam nicht dazu auszureden, denn Leon küsste ihn erneut. Er ließ seine Hände über Phillips Brust streichen, schob sie dann unter sein T-Shirt und als er seinen Bauch berührte, zuckte dieser zusammen. Ihn überkam eine Gänsehaut. Eigentlich berührte der Jüngere ihn kaum, sondern streifte seine Haut lediglich. Doch genau das fühlte sich irgendwie seltsam gut an. An seinen Flanken ließ Leon seine Hände liegen, kniff leicht in die letzten kleinen Speckreserven und grinste in den Kuss hinein, als er merkte, dass Phillip erneut zusammengezuckt war. Der Ältere hingegen erwiderte den Kuss zwar, aber blieb sonst regungslos sitzen. „Bin ich dir eigentlich zu schnell?“, fragte Leon plötzlich, schmiegte seine Wange an Phillips. Der fuhr sich nur gähnend durch die Haare und entgegnete: „Überleg mal, Junge, es ist fast ein Uhr Nachts, was erwartest du von mir?“ „Aber du warst doch eh wach, oder?“ Es hörte sich etwas unsicher an, wie er das sagte. Der Stürmer ließ jedoch nur den Kopf in den Nacken fallen und bestätigte die Aussage durch ein Brummen. „Soll ich wieder gehen?“, fragte Leon nun, hatte immer noch Zweifel in der Stimme. „Was zu trinken?“, fragte Phillip nur und schob Leon von sich um aufzustehen. „Was hast du denn da?“ Der Jüngere hob fragend die Augenbrauen, streckte sich auf dem Sofa aus. „Wasser, Milch und Bier.“ „Wie immer nicht unbedingt die größte Auswahl“, murrte er, entschied sich dann allerdings für ein Glas Wasser. Phillip nickte zur Bestätigung und ging in die Küche. Zuerst schenkte er sich die zuvor stehen gelassene Milch in sein Glas, dann füllte er noch eines mit Leitungswasser. Müde fuhr er sich mit den Händen übers Gesicht. Was zur Hölle wollte der Junge um die Uhrzeit bei ihm? War er nur gekommen, um mit ihm rumzumachen? Ein komischer Kauz… Mit den beiden Gläsern in der Hand kam er zurück ins Wohnzimmer und fand Leon immer noch gemütlich auf dem Sofa ausgestreckt liegend vor. Er hielt ihm das Wasser kommentarlos hin und Leon leerte das Glas in einem Zug. Warum hatte er nichts gesagt, wenn er so durstig gewesen war? Irgendwie war es heiß und stickig in dem Raum. Er hatte natürlich mal wieder nicht daran gedacht die Türen und Fenster auch im Rest der Wohnung aufzumachen. Wieso war es auch plötzlich so schrecklich heiß geworden? Von einem Tag auf den anderen. Verfluchte Globale Erwärmung! „Mach mir mal Platz da“, murmelte er und Leon hob prompt seine Beine an, sodass Phillip sich auch noch auf das Sofa setzen konnte. Doch kaum saß er, landeten Leons Beine schon wieder auf seinem Schoß. „Sind wir jetzt eigentlich zusammen?“, fragte der plötzlich unverblümt und Phillip sah ihn einen Moment lang erstaunt an, bis er fragte: „Wie meinst du das denn jetzt?“ „Na ich hab dich ja im Auto gefragt, ob wir uns jetzt öfter küssen werden und du hast nicht verneint. Heißt das, dass wir jetzt zusammen sind? So ein richtiges Pärchen?“ Er lächelte spitzbübisch und Phillip musste schlucken. Was sollte er ihm darauf antworten? Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. „Jetzt sag schon!“, drängte Leon, winkelte sein Bein etwas an, damit er ihm mit dem großen Zeh in den Bauch pieken konnte. „Keine Ahnung.“ Er hob die Schultern, sah seinen Mitspieler etwas hilflos an. „Also ich wäre ja dafür“, grinste der weiter, schien gar nicht müde zu sein, obwohl das Zimmer nur durch die entfernte Straßenlaterne erleuchtet wurde und ansonsten im Halbdunkel lag. Phillip fuhr sich erneut durch die Haare, fühlte sich etwas verlegen, als er antwortete: „Müssen wir es dann nicht allen sagen?“ Leon schüttelte den Kopf. „Wird es dann nicht zu stressig?“ Erneut schüttelte Leon den Kopf. „Du hast offensichtlich Erfahrung in solchen Dingen…“, stellte er resignierend fest, aber Leon schüttelte wieder den Kopf und grinste nur. „Aber ich dachte…“, setzte Phillip an, wurde jedoch von Leon unterbrochen: „Ich hab gesagt, dass du nicht der erste Typ warst, den ich geküsst habe, aber das muss noch lange nicht heißen, dass ich schon mal mit einem zusammen war.“ Da hatte er allerdings Recht. „Aber du musst dir klar machen, dass die anderen aus der Mannschaft wirklich nichts davon mitbekommen dürfen, sonst haben wir nämlich ein Problem und…“ Erneut ließ Leon ihn nicht ausreden, sondern setzte sich auf, küsste ihn sanft und flüsterte: „Lass doch mal dieses bescheuerte ‚Aber’. Sind wir zusammen oder nicht? Ja oder Nein. Aber gibt’s nicht!“ Einen Moment lang überlegte Phillip noch, dann nickte er schlussendlich. Was hatte er schon zu verlieren? Er mochte Leon und fühlte sich auch zu ihm hingezogen. Und wenn er ihm damit eine Freude bereiten sollte, dann war es auch nicht das Schlechteste „Mein erster Freund!“, lachte Leon glücklich, packte Phillip beim Kragen seines Shirts und zog ihn mit sich in die Horizontale, sodass er jetzt unter dem Schreiner lag. Er küsste ihn glücklich und ignorierte geflissentlich, dass Phillip das Blut in den Kopf schoss. Unbeirrt streichelte Leon ihm durchs Haar; küsste ihn immer wieder. Phillip hingegen fühlte sich dazu nicht wirklich imstande, sondern zwirbelte lieber Leons dunkle Locken, die in diesem Zwielicht mehr schwarz wirkten. „Und was sollen wir jetzt machen?“, fragte Leon nach einer Weile. Phillip zuckte mit den Schultern, entgegnete trocken: „Wie wär’s mit Schlafen gehen?“ „Gute Idee, ich bin auch schon ziemlich müde. Dein Bett ist ja groß genug für zwei, ne?“ Phillip hob die Augenbrauen. Das war jetzt nicht sein Ernst? „Jetzt laber nicht dumm rum, deine Eltern haben keine Ahnung wo du bist und kriegen wahrscheinlich 'nen Herzinfarkt, wenn sie dein Bettchen morgen leer auffinden. Geh lieber mal brav nach Hause.“ „Das passt schon, die sind das von mir gewöhnt, außerdem hab ich ihnen 'nen Zettel geschrieben“ Erneut sein spitzbübisches Lächeln. „Du spinnst doch.“ Er erhob sich endlich vom Libero, trank seine Milch aus und ging ins Schlafzimmer. Wenn er unbedingt wollte. Leon folgte ihm unbeirrt. Als sie im Schlafzimmer waren, ließ Phillip sich in sein Bett fallen und sah zu Leon. Der zog sich die kurze Hose und sein T-Shirt aus und stieg dann – nur in Boxershorts – zu ihm ins Bett. „Gute Nacht“, murmelte Phillip und schloss die Augen, öffnete sie allerdings sofort darauf wieder, als er Leons Lippen auf seinen spürte. Der Kuss wollte nicht abbrechen und so überwand er sich dazu ihn sanft zu erwidern. Dann hörte er auch Leon sagen: „Gute Nacht, schlaf gut“ und spürte, wie er sich an ihn kuschelte. Na da hatte er sich ja was eingefangen… Behutsam legte er seine Arme um Leon und legte sein Kinn auf dessen Haarschopf. Erst jetzt fiel ihm auf, wie gut seine Haare eigentlich rochen. Langsam und gleichmäßig spürte er Leons Atemzüge in seiner Umarmung, wurde dadurch selbst endlich schläfrig. Und kurz bevor er in den Schlaf abdriftete, gab er seinem Freund noch einen sanften Kuss auf den Haarschopf. Sein Wecker klingelte. Glücklicherweise verfiel er nur in den Snooze-Zustand, wenn man drauf schlug, denn genau das tat Phillip und drehte sich noch einmal um. Er wusste, dass Leon in seinem Bett lag, doch hatte er ihn wohl in der Nacht aus dem Griff verloren, denn nun hatte er keinen Libero in den Armen, der sich an ihn schmuste. Aber dafür spürte er jetzt, wie sich die Matratze bewegte, hörte das Laken rascheln. „Morgen“, murmelte Leon. Phillip drehte sich zu ihm um und sah gerade noch, wie er sich müde über die Augen rieb und gähnte. Er musste lächeln. Ja, da hatte er sich auf was eingelassen. Er erwiderte den Gruß. Am liebsten hätte er Leon einige verstrubbelte Haarsträhnen aus der Stirn gestrichen, aber soviel Vertrautheit widerstrebte ihm doch noch. Obwohl es wirklich sehr verlockend war. Leon jedoch kam ihm zuvor, indem er sich selbst mit der Hand durch die Haare fuhr. Er ließ sich auf den Rücken fallen – davor hatte er auf der Seite gelegen – setzte sich schließlich auf. Mit verschlafenen Augen blickte er sich um, schmatzte etwas. „Hast du eigentlich irgendwo hier 'ne Ersatzzahnbürste?“ Er sah sich weiter um, als vermutete er diese irgendwo im Zimmer. „Ja, im Bad, ich hol sie dir nachher.“ „Wie viel Uhr haben wir eigentlich?“ „Halb sieben.“ Phillip setzte sich ebenfalls auf, doch nun verdeckte der Libero das Gesicht mit den Händen und ließ sich schwerfällig zurück ins Bett fallen. Er stöhnte und Phillip meinte verstehen zu können: „Viel zu früh, ich will noch schlafen!“ „Los, jetzt steh schon auf.“ Er klatschte dem Jüngeren mit der flachen Hand auf den Bauch und der hob erschrocken Oberkörper und Beine. Zufrieden grinsend beobachtete Phillip, wie sich sein Handabdruck rot auf dem Bauch abzeichnete. Dann stellte er seinen Wecker ganz aus und schwang die Beine aus dem Bett, um ins Bad zu gehen. Er duschte schnell, machte sich die Haare und putzte sich die Zähne. Bevor er jedoch das Bad verließ, legte er noch die verpackte Ersatzzahnbürste und ein Handtuch für Leon heraus, dann ging er im Bademantel zurück ins Schlafzimmer, wo Leon noch immer im Bett lag und wieder eingeschlafen zu sein schien. Er schüttelte den Kopf, ließ ihn aber liegen, zog sich stattdessen frische Unterwäsche aus dem Schrank, zog sie sich an und fischte dann seine Arbeitsklamotten vom Stuhl, zog auch die noch über. Jetzt erst beugte er sich über Leon, fasste ihn an der Schulter, rüttelte ihn sanft. „Los, jetzt steh schon auf. Ich hab dir 'ne Zahnbürste und ein Handtuch im Bad rausgelegt. Jetzt komm, ich hab auch nicht ewig Zeit, ich muss bald los!“ Murrend erhob sich Leon, fuhr sich noch einmal durch die Haare – er machte das oft. Doch er zog nun Phillip zu sich und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen und sagte lächelnd: „Noch mal guten Morgen, mein Lieber.“ Abrupt ließ er den Stürmer wieder los und ging aus dem Schlafzimmer, wohl um ins Bad zu gehen. Phillip seufzte nur und folgte ihm. Er klopfte an die verschlossene Badezimmertür und rief hinein: „Willst du Cornflakes oder Toast?“ „Hast du Nutella?“ „Ja.“ „Dann Toast!“ Na wenn er meinte. Er selbst ging nun in die Küche, setzte Kaffee auf und deckte den kleinen Tisch, der in einer Ecke stand. Zwei Tassen, zwei Gläser, ein Teller, eine Schüssel, Besteck, Milch, Wasser, Nutella, Cornflakes und Toast. Anschließend schaltete er das Radio an und lauschte der tollen Musik, die ihm da entgegenschallte. Er entschloss sich es wieder auszuschalten, setzte sich also still an den Tisch und wartete. Leon brauchte gar nicht so lange, bis er zu ihm kam. Er streifte seine Schulter im Vorbeigehen mit seiner Hand, setzte sich ihm dann gegenüber. „Danke sehr, 'ne Dusche tat gut, du hast es doch ziemlich warm hier…“, stellte er fest, schob die ersten beiden Toasts in den Toaster, der ebenfalls auf dem Tisch stand. „Sorry, ich hab vergessen die Jalousien runterzulassen und die Fenster aufzumachen. Normalerweise hab ich’s nich so heiß, ich kann Hitze eh nicht ausstehen.“ Er füllte seine Schüssel mit Cornflakes, dann mit Milch und begann zu essen. Leon wartete noch. „Sag mal“, begann Phillip, schluckte den letzten Bissen runter. „Ist das wirklich nicht wahnsinnig nervig mit den Haaren? Die sind ja immer noch nicht trocken. Und beim Spielen?“ Nachdenklich fuhr Leon sich wieder durch die Haare, behielt seine Hand am Hinterkopf und verwuschelte die noch feuchte Haarmähne zusätzlich. Dann sagte er: „Nö, das passt schon, ich muss sie ja nich extra föhnen oder so, die sehen eh am besten aus, wenn ich sie lufttrocknen lasse. Und beim Spielen trag ich ja immer ein Haarband.“ „Also mich würde das verrückt machen“, erwiderte er und schob sich den nächsten Löffel Cornflakes in den Mund. „Ich meine mich erinnern zu können, dass wir das Thema schon mal hatten… Weißt du noch? Bei Deutschland gegen Russland. Und mich würden eher so kurze Haare verrückt machen, ich häng an meinen Locken“ Er grinste verschmitzt, beugte sich vor und fuhr Phillip über den Kopf. „Wie 'ne Fußmatte“, kommentierte er und sein Grinsen wurde noch breiter. Der Schreiner überhörte das geflissentlich und wies ihn nur freundlich darauf hin, dass sein Toast fertig sei. „Bist du jetzt beleidigt?“, fragte Leon, wirkte kein Stück schuldbewusst, wie er da saß und immer noch grinsend seinen Toast mit einer dicken Schicht Nutella überzog. „Wenn dich meine Haare stören, ist das dein Problem. Ich mag sie so.“ „Ich doch auch!“ Nun lachte er. „Hast du nachher Schule?“ Ein ziemlich abrupter Themenwechsel, aber er mochte Komplimente – und alle Dinge in der Art – nicht sehr, wusste nie genau wie er damit umgehen sollte. Mit vollem Mund nickte Leon und verzog das Gesicht um seinen Unwillen kund zu tun. Das Frühstück verlief nun schweigend und auch für den Rest des Morgens sprachen sie nicht viel miteinander. Phillip überflog irgendwann kurz die Artikel in der Zeitung, trank seinen Kaffee. Leon trank auch Kaffee, aber hatte so viel Milch und Zucker reingekippt, dass er unmöglich noch nach Kaffee schmecken konnte. Aber jeder wie es ihm passt, dachte sich Phillip, er trank ihn eben lieber schwarz. „Ich muss jetzt los, sonst komm ich zu spät. Dir wünsch ich viel Spaß in der Schule.“ Nun konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Haha“, kam es ihm etwas beleidigt entgegen und Leon knuffte ihn in die Seite. „Dann werd ich mich wohl auch mal auf den Weg machen, ich muss ja noch von daheim meine Schulsachen holen. Wir sehen uns.“ Er stand auf und erneut spürte Phillip Leons Lippen auf seinen. Irgendwie war ihm diese ganze Küsserei zu viel. Dennoch wuschelte er dem Schüler noch mal durch die Haare, bevor der das Haus verließ. Er ging ein letztes Mal ins Bad, um seine Frisur zu überprüfen. Eigentlich streifte sein Blick dabei nur beiläufig den Becher in dem seine Zahnbürste stand, doch er blieb daran hängen. Nun hatte sich eine zweite dazugesellt. Als er in sein Auto stieg und den Motor startete, wurde es ihm erst wirklich bewusst: Er war nun in einer Beziehung. Er hatte jetzt einen Freund. Kapitel 3: Blutgrätsche ----------------------- Das Training war hart gewesen und die Mannschaft total durchgeschwitzt. Eigentlich wollte Phillip nun fast sofort in sein Auto springen, nach Hause fahren und da erstmal duschen. Doch als sie vom Platz gingen, spürte er, wie Leon seine Hand ergriff und ihn damit dazu bewog, stehen zu bleiben. Auch er hatte geschwitzt. Sein Gesicht war rot und er atmete noch etwas flach. Doch er schielte zu den anderen, die nur die Umkleiden im Blick hatten. Schließlich ließ er seine Hand ganz in Phillips gleiten, kam seinem Ohr nahe und flüsterte: „Bleiben wir heute wieder etwas länger?“ Warum nicht? Er nickte langsam, dann ließen sie voneinander ab und folgten den anderen in die Umkleide. Sie warteten, bis alle anderen gegangen waren, sahen dann noch einmal auf die Spielfelder und gingen zurück aufs Feld. Dort ließ sich Leon ins Gras fallen, schloss die Augen und atmete die milde Luft ein. Phillip setzte sich neben ihn, zupfte ein paar Grashalme aus und ließ sich schließlich auch zurück ins Gras sinken. Es war schön kühl. Leon rutschte näher an ihn heran, bettete seinen Kopf auf seiner Brust. Der Stürmer legte seinen Arm um ihn, fuhr ihm sanft mit den Fingerkuppen über den Oberarm. „Ich find’s gut, dass wir zusammen sind, Phlip.“ Phlip! Irgendwann hatte Leon damit angefangen ihn Phlip zu nennen. Es störte ihn zwar nicht, aber es war dennoch ungewohnt, weil er davor immer nur mit vollem Namen angesprochen worden war. Er brummte zustimmend, zog den jungen Verteidiger noch etwas näher an sich. Die Zeit mit Leon war eigentlich immer gut. Er kam auf die dämlichsten Schnapsideen, aber wenn es drauf ankam, konnte er genauso ernst sein wie sonst albern. Das Gras um sie herum duftete angenehm. Langsam ging es auf das Ende der Saison zu. Aber erst kürzlich hatten sie erfahren, dass sie irgendwann in der nächsten Saison ein Freundschaftsspiel gegen die B-Mannschaft des SC Freiburg zu bestreiten hatten. Phillip glaubte ja nicht wirklich daran, dass sie gegen diese Mannschaft eine Chance hatten, aber wer konnte das im Voraus bestimmen? Vielleicht geschah ja ein Wunder. Er wusste auf jeden Fall, dass die Mannschaft sich voll reinhängen und kämpfen würde. Und mit Leon bei ihnen würde es ihnen noch leichter fallen. Der junge Spieler hatte ihnen neuen Elan verpasst, spornte sie zusätzlich an. „Denkst du wieder an das Spiel gegen Freiburg?“ Leon hob den Kopf und sah seinen Freund kritisch an. Der nickte nur. „Jetzt mach dir doch nicht dauernd Gedanken darüber, wir schaffen das schon. Und selbst wenn wir verlieren sollten – was wir nicht werden! – können wir immer noch sagen, dass wir gegen eine Mannschaft verloren haben, deren Verein in der 1. Bundesliga spielt. Außerdem sollten wir uns jetzt erst mal um das Spiel am Sonntag kümmern, wir wollen doch die Saison gewinnen!“ Er lächelte zuversichtlich und legte seinen Kopf wieder auf Phillips Brust, spielte mit der Hand mit dem Stoff am unteren Saum des T-Shirts, streifte hin und wieder seine Haut. Es dämmerte schon. Sie lagen wohl doch schon ziemlich lange hier. Als Phillip sich langsam erhob, damit Leon seinen Kopf von seiner Brust nehmen konnte, spürte er, dass sein Shirt feucht vom Gras an seinem Rücken klebte. „Willst du schon gehen?“, fragte Leon. Phillip wusste, dass er nur noch bleiben wollte, um nicht nach Hause zu müssen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien er mehr als ungern zu Hause zu sein, aber immer wenn Phillip ihn danach fragte, zuckte er nur die Schultern und versuchte schnellstmöglich wieder von dem Thema wegzukommen. Phillip akzeptierte das und die Tatsache, dass Leon des Öfteren zu den unmöglichsten Zeiten bei ihm mit gesenktem Kopf vor der Tür stand und um Einlass bat. Dann murmelte er immer was von er habe keine Lust mehr auf Zuhause. Eigentlich machte er sich schon Sorgen um den Jüngeren, doch was sollte er tun, außer ihn bei sich aufzunehmen und ihn wieder aufzumuntern? Er konnte sich noch genau an Einmal erinnern, sie waren vielleicht ein paar Tage zusammen gewesen: Er sah gerade Fernsehen, da klingelte es. Schwerfällig erhob er sich und schlurfte zur Tür, während weiter sturmgeklingelt wurde. Als er die Tür öffnete, fiel Leon ihm praktisch um den Hals, drückte sich an ihn. Perplex fragte er, was vorgefallen sei, doch Leon schien nicht fähig zu sprechen, sondern schüttelte nur den Kopf an seiner Schulter. Einen Moment lang standen sie in der Tür und Phillip fühlte sich etwas verloren, mit diesem todunglücklichen Jungen in seinen Armen, der sich einfach nur an ihn schmiegte, Schluckauf bekommen hatte und unregelmäßig und flach atmete. „Was ist denn los?“, fragte er wieder, doch erneut bekam er keine Antwort, außer einem erstickten Hicksen. „Jetzt komm erst mal rein, ich hol dir ein Glas Wasser.“ Etwas unwillig löste sich Leon von ihm und schlich, noch immer mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern ins Wohnzimmer. Phillip hingegen schloss die Türe, ging in die Küche, füllte ein Glas mit Wasser und reichte es Leon, nachdem er zu ihm ins Wohnzimmer gegangen war. Der trank hastig und verschluckte sich. Phillip seufzte, nahm ihm das Glas aus der Hand und schlug ihm leicht auf den Rücken, damit er aufhörte zu husten. „Danke“, murmelte Leon und sah das erste Mal zu ihm auf. Phillip erstarrte bei dem Anblick. Die Wangen des Schülers waren stark erhitzt und seine Augen gerötet und geschwollen. Hatte er geweint? In seinen Augen stand Verzweiflung. „Jetzt erzähl mir doch endlich was passiert ist, Leon!“, drängte er, setzte sich zu ihm aufs Sofa und legte ihm den Arm um die Schultern. Doch erneut war die Antwort ein Schütteln des Kopfes. Leon ließ sich gegen ihn fallen und atmete tief durch. Der Schluckauf war verschwunden und seine Atmung wurde langsam wieder normal. Phillip seufzte. Er streichelte ihm über den Arm und küsste sein Haupt. Was konnte nur vorgefallen sein, dass er es ihm nicht erzählen wollte, aber dennoch so vollkommen aufgelöst hier bei ihm auftauchte? Er hatte den Grund dafür nie erfahren, aber er würde auch nicht mehr danach fragen. Wenn Leon mit ihm reden wollte, dann sollte er auf ihn zugehen. Der Stürmer selbst würde ihn zu nichts zwingen. „Ich will noch nicht gehen“, sagte er. „Es wird nur langsam unbequem.“ Er log. Am liebsten wäre er jetzt wirklich nach Hause gefahren, hätte geduscht und sich dann ins Bett gelegt. „Oh, okay. Sorry.“ „Passt schon.“ Er wuschelte ihm durch die Haare. Sie waren noch immer etwas verschwitzt, aber es störte ihn wenig. Leon rümpfte die Nase. „Meine Eltern nerven grad wieder übelst…“ Phillip wusste, worauf das hinauslaufen würde. Leon wollte wieder die Nacht bei ihm verbringen, doch er sagte nichts, sondern wartete ab, ob er wirklich richtig lag. „Ich weiß einfach nicht, was die dauernd von mir wollen. Du hast es so gut, dass du alleine wohnen kannst!“ Phillip zuckte die Achseln. So eine Mutter, die sich ums Essen, die Wäsche und den Hausputz kümmerte wäre schon manchmal nett. „Ich hab momentan echt keine Lust mehr auf die beiden. Und meine Schwester nervt auch nur. Blödes Streberkind…“ Er hielt inne, kratzte sich am Kinn. Wartete er jetzt etwa darauf, dass Phillip ihn zu sich einlud? „Weißt du? Ich bräuchte einfach mal wieder Abstand von denen, nur ein oder zwei Nächte.“ Er sah Phillip hoffnungsvoll an, doch der schwieg eisern. „Könnte ich vielleicht…“ Er stockte, überlegte wohl, wie er es am galantesten formulieren sollte. „Könnte ich vielleicht die nächsten paar Tage bei dir bleiben? Ich putz auch und mach die Küche und das Bad und alles sauber!“ Phillip musste sich ein Grinsen verkneifen und nickte. Er sagte nie nein, wenn Leon ihn fragte, ob er für ein paar Tage bei ihm wohnen durfte. Ihn störte es ja nicht. Er war fast den ganzen Tag bei der Arbeit und abends, wenn sie kein Training hatten, machte Leon seine Hausaufgaben, während er sich irgendeinen Film im Fernsehen ansah oder im Internet surfte. Und vor allem nach diesem einen Mal konnte er nicht nein sagen. Er hatte ja keine Ahnung, was bei Leon Zuhause abging und wie ernst es war. Doch bevor es etwas Schlimmes war, nahm er ihn lieber ein paar Tage bei sich auf. „Dann fahren wir gleich noch bei dir vorbei, damit du dein Zeug holen kannst“, schlug er vor, wollte dadurch wissen, ob Leon wirklich nur deswegen nicht hatte gehen wollen. „Müssen wir nicht mal, ich hab schon alles dabei“, lächelte Leon und deutete auf die Tasche, die verlassen mit Phillips zusammen vor den Umkleiden stand. Der Schreiner schüttelte daraufhin nur den Kopf. Er hatte es also schon geplant, dass er zu ihm kommen würde. „Dann lass uns gehen“, sagte er schließlich und steuerte die Kabinen an, um ihre Taschen zu holen. Leon folgte ihm und ergriff seine Hand. Phillip störte das nicht. Im Gegenteil: er schloss seine Hand noch etwas fester um Leons, um ihm zu bedeuten, dass er sich auf ihn verlassen konnte, dass er ihn nicht im Stich lassen würde. Bevor sie ins Auto einstiegen, küsste Leon ihn noch mal auf die Wange und hauchte ihm ein Dankeschön zu. Phillip hätte ihn auch ohne all das aufgenommen. Er mochte es, wenn in der Nacht noch jemand bei ihm war, der ihm nahe war, sich an ihn schmiegte, seine Nähe brauchte und ihm Nähe gab. Die Tage bis zum Spiel vergingen schnell und Leon hatte die ganze Zeit bei Phillip gewohnt. Das Spiel war herrlich! Sie dominierten klar, das einzige Problem war, dass sie es noch nicht geschafft hatten, ein Tor zu erzielen. Aber nun waren sie auf dem besten Wege dazu. Die gegnerische Mannschaft hatte es geschafft in ihren Strafraum einzudringen, aber Leon wiederum hatte dem Stürmer den Ball abgenommen und war selbst nach vorne gestürmt. Es hatte einen herrlichen Doppelpass mit einem Mittelfeldspieler gegeben und Leon kam weiterhin ohne Probleme durch. Phillip stürmte mit ihm auf einer Linie, wartete nur darauf, dass Leon ihm den Ball passte oder eine seiner traumhaften Flanken vollführte; gleichzeitig musste er aber aufpassen, dass er nicht direkt ins Abseits rannte, das passierte ihm nämlich viel zu oft. Jetzt war einer der anderen Mannschaft an Leon dran. Er hatte ihn schon das ganze Spiel über gedeckt und war hin und wieder doch etwas hart zur Sache gegangen – aber so war Fußball eben. Der Libero schaffte es allerdings den Verteidiger auszudribbeln und spielte dann auf Phillip. Der hatte ab diesem Moment nur noch Augen für den Ball. Er stürmte nach vorne, dribbelte den ersten Verteidiger aus, sprang fast schon über den Zweiten. Und dann war nur noch der Torwart zwischen ihm und dem eins zu null. Blitzschnell entschied er sich für die linke obere Ecke, zog an und schoss. Was für ein Tor! Überglücklich drehte er sich um und wartete nur darauf, dass seine Mannschaftskameraden über ihn herfielen, doch keiner kam. Verwirrt sah er sich um und sah dann eine Traube von Spielern am Rande des Strafraums stehen. Langsam ging er auf sie zu. Von dort aus hatte Leon ihm den Pass gespielt. Was war passiert? Ein Schweißtropfen fiel ihm von der Nasenspitze, als er an dem Pulk ankam. Und dann bekam er eine Gänsehaut. Er hatte zuvor nichts gehört, war so auf das Tor versessen gewesen und hatte alles andere ausgeblendet. Und nun hörte er Leon vor Schmerzen schreien. Leben kam wieder in ihn und er boxte sich durch die Menge, bis er zu ihm durchdrang. Er lag auf dem Boden, wälzte und krümmte sich vor Schmerz, schrie und hielt sich die linke Schulter. Phillip ließ sich auf die Knie fallen, legte Leon die Hand auf die Stirn und fragte irgendeinen aus seiner Mannschaft, der grade am nächsten stand: „Was ist passiert?“ „Das Arschloch hat ihn gefoult!“ Er deutete auf einen Spieler der anderen Mannschaft, der mit gehobenen Brauen auf den am Boden liegenden Leon sah. Es war derjenige, der es schon das ganze Spiel über auf ihn abgesehen hatte. Langsam erhob sich Phillip. Er wollte auf den anderen Spieler zugehen, doch seine Mannschaftskameraden hielten ihn zurück. Er brüllte, warf ihm irgendwelche Schimpfwörter an den Kopf. Zum Glück war der Schiedsrichter zu dem Moment nicht in Hörweite, sonst hätte er bestimmt rot gesehen, aber er konnte nicht anders. Er musste seinem blinden Zorn Ausdruck verleihen. Leon stöhnte wieder auf und keuchte. Die Schmerzen schienen kaum erträglich zu sein. Der Stürmer ließ sich wieder zu ihm aufs Gras fallen und ergriff seine Hand, murmelte beruhigende Worte. Leon packte zu. Phillip hatte bis dato nicht gewusst welche Kraft in diesen Händen steckte, doch nun hatte er Angst, dass Leon ihm die eigene Hand zerquetschen würde. Er sog im ersten Moment scharf die Luft ein, dann biss er die Zähne aufeinander und legte die andere Hand noch auf Leons. Endlich kam der Schiedsrichter wieder, löste die Menge auf – er hatte sich darum gekümmert, dass jemand einen Krankenwagen rief. Nur Phillip blieb bei Leon. Er wollte irgendwas tun, doch er hatte keine Ahnung was. Er fühlte sich so hilflos wie noch nie in seinem Leben. Wann kam denn der scheiß Krankenwagen endlich? Irgendjemand musste Leon doch was gegen die Schmerzen geben! Das Spiel blieb weiterhin unterbrochen, sie hatten keine Trage da und Leon könnte auch beim besten Willen nicht aufstehen, um den Platz zu räumen. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte Phillip endlich die Sirenen. Aber die Sanitäter liefen nicht aufs Feld, sie trotteten. Und hätte Leon nicht noch immer seine Hand fest im Griff gehabt, hätte er sie schon längst angeschoben. Konnte man nicht sehen und hören, dass Leon Schmerzen hatte? Als sie endlich auf dem Feld ankamen, sprachen sie zuerst mit dem Schiedsrichter und kamen dann auf sie zu. Die anderen Spieler machten ihnen Platz. Sie legten die Trage ab, knieten sich ebenfalls nieder, stellten sich vor. „Du bist also gestürzt?“, fragte die Frau, der Mann kramte in seiner Tasche. Leon nickte, biss die Zähne noch fester zusammen; Phillip spürte es daran, dass der Druck auf seine Hand größer wurde. „Auf den Arm?“, fragte sie weiter, erneut nickte Leon. Warum sollte er sonst den Arm so nahe am Körper halten, als wolle er ihn schützen? Nun griff sie ihm behutsam an den linken Arm, hob ihn vorsichtig an. Leons Bein zuckte und dann schrie er. Er jaulte wieder vor Schmerz auf und auch Phillip konnte es sich nicht verkneifen aufzukeuchen, als der Verletzte seine Hand schier zerquetschte. „Ich würde 'ne Clavikulafraktur vermuten, die müssen ihn nachher röntgen. Hast du die Spritze?“ Der Mann nickte, stach durch den Deckel in ein kleines Glas und sog die Flüssigkeit daraus in die Spritze. Dann hielt er sie mit der Nadel nach oben, presste die letzte Luft heraus, schnippte noch ein- zweimal mit dem Finger dagegen, spritzte dann noch etwas heraus, bis keine Luftbläschen mehr übrig waren. Die Frau hatte inzwischen Leons Arm gerade gelegt, sodass die Armbeuge gut sichtbar und erreichbar war. Sie desinfizierte sie kurz, dann setzte sie die Nadel an und stach zu. Mitten in die Vene. Leon winselte inzwischen nur noch, zitterte dafür aber beinahe unkontrolliert. Phillip hätte so gerne etwas für ihn getan! Nachdem sie die Nadel wieder herausgezogen hatte und den Einstich mit einem Pflaster überklebt hatte, wurde Leon ruhiger. Der Druck auf Phillips Hand ließ nach. Sie warteten noch einen Moment ab. Wahrscheinlich bis die Spritze ihre Wirkung entfaltete und es dauerte nicht lange, bis das der Fall war. Leon hielt Phillips Hand nur noch schwach, sein Gesicht wirkte entspannter. „Danke sehr“, sagte er nun wieder ruhiger an die beiden Sanitäter gewandt und Phillip grinste er an, wenn auch noch immer sehr blass um die Nase und fragte: „Hast du das Tor gemacht?“ Er nickte. „War es ein schönes Tor?“ „Herrlich!“ „Und ich hab dir die Vorlage gegeben. Wir sind ein gutes Team. Wart nur, das Zwei Null baller ich denen rein!“ Fassungslos sah Phillip ihm dabei zu wie er sich aufsetzte. Was sollte das denn jetzt? Er konnte doch nicht weiterspielen! Die Frau hatte doch irgendwas von einer Fraktur und Röntgen gesagt. Hilflos sah er eben die an. Sie lächelte. „Jetzt fährst du erstmal mit uns ins Krankenhaus.“ War sie solche Szenen etwa gewöhnt? Phillip verstand gar nichts mehr. Auch warum die Freundin des Trainers jetzt aufs Feld rannte, war ihm schleierhaft. Das durfte sie doch gar nicht. Er sah sich um. Es standen nicht mehr all zu viele Spieler um sie herum. Der Hauptteil war zur Trainerbank gegangen, um etwas zu trinken und ihr Kapitän kam nun auch mit einer Wasserflasche auf sie zu, reichte sie Phillip und sagte: „Da, trink was, es ist heiß. Schönes Tor übrigens.“ Perplex bedankte er sich und trank wirklich ein paar Schlucke. Dann spürte er, wie Leon sich erhob. Durfte er das schon? Anscheinend, denn nun löste der Sanitäter ihn ab und stützte Leon, während er vom Platz schlich. Die Freundin vom Trainer folgte ihnen. Sie schien wohl mit ins Krankenhaus zu fahren. Sie hatte Leons Handy in ihrer Hand, tippte aufgeregt auf den Tasten herum, bis sie es sich ans Ohr hielt. Dann waren sie außer Sichtweite. Phillip saß im Auto und fuhr viel zu schnell. Nur bei den fest montierten Blitzern ging er vom Gas runter. Den Rest des Spiels über waren seine Gedanken die ganze Zeit bei Leon gewesen. Er hatte sich nicht konzentrieren können, hatte die ganze Zeit gepatzt, schlechte Pässe gespielt und einmal der anderen Mannschaft eine wunderbare Torchance zugespielt, die diese, Gott sei Dank, versemmelt hatten. Schlussendlich hatten sie Zwei zu Null gewonnen, durch ein Tor, dass ihr Kapitän geschossen hatte, nachdem Phillip schon längst auf der Bank saß. Der Trainer hatte ihn ziemlich schnell ausgewechselt. Er war gerade in die Kabine gekommen, da hatte er sein Handy klingeln gehört. Er war hingehechtet und hatte es aufgeklappt, es sich ans Ohr gehalten und ziemlich atemlos „Hallo?“ gefragt. Am anderen Ende hatte sich eine Frau gemeldet. „Ja hallo? Ist da Phillip? Phillip Jener?“ „Ja“, hatte er skeptisch geantwortet. Wer war diese Frau? „Gut… wir hatten ja bisher noch nicht das Vergnügen…“ Sie hatte gestockt und Phillip abwartend geschwiegen. „Ich bin Leons Mutter…“ Wieder Schweigen. „Er fragt die ganze Zeit nach Ihnen und ich habe Ihre Nummer in seinem Handy gefunden und wollte Sie bitten, ob Sie bei uns vorbeikommen könnten, Leon gibt wohl sonst keine Ruhe.“ „Ja!“, hatte er hastig gerufen. „Ja, ich komme sofort vorbei. Geht es ihm denn gut?“ Nun war Leben in ihn gekommen. Er hatte seine Klamotten und all sein restliches Zeug achtlos in seine Tasche geworfen und war los zu seinem Auto gesprintet. „Ja… nein. Also er hat sich das Schlüsselbein gebrochen, aber wir sind schon wieder zu Hause und es geht ihm schon etwas besser.“ „Danke sehr. Ich bin gleich bei Ihnen. Auf Wiederhören“ Dann hatte er das Handy zugeklappt und es auf den Beifahrersitz geworfen. Und nun endlich kam er vor Leons Haus an. Wohl etwas zu heftig betätigte er die Klingel. Leons Mutter, eine kleine, gut aussehende Frau mittleren Alters machte ihm auf und bat ihn herein. Sie fragte, ob er etwas trinken wolle, doch er verneinte, fragte nur seinerseits, wo Leon sei. Sie deutete mit der Hand auf die nach oben führende Treppe und meinte: „Am Ende des Ganges.“ Er bedankte sich artig und eilte sich nach oben zu kommen, riss die Tür auf und fand sich in Leons Zimmer wieder. Rechts neben der Tür befand sich dessen Bett, in dem er lag, eine dicke Daunendecke bis zum Kinn über sich gezogen. „Hi“, murmelte Leon. Phillip erwiderte den Gruß, schloss behutsam die Tür hinter sich und trat näher an das Bett. „Setz dich“, sagte Leon und rückte ein Stückchen näher zur Wand, damit Phillip Platz hatte. Der ließ sich auf der Kante nieder, beugte sich zu Leon, küsste ihn auf die Stirn. Dann fragte er, ihm die Haarsträhnen aus dem Gesicht streichend: „Wie geht’s dir?“ „Jetzt etwas besser.“ Leon grinste ihm entgegen. Er wirkte trotzdem noch ziemlich blass und seine Augen waren matt. Phillip lächelte schwach und küsste sanft Leons Lippen. Er stützte sich mit der Hand neben Leons Kopf auf, mit der anderen hielt er sich am Rahmen fest. „Was ist eigentlich passiert? Ich hab gar nichts gesehen, weil ich so sehr auf das Tor fixiert war.“ Er senkte schuldbewusst den Blick. „Haben wir gewonnen?“, entgegnete Leon und ging so in keiner Weise auf Phillips Frage ein. Der nickte und sagte: „Zwei zu Null.“ „Siehst du, Phlip? War doch besser so. Mir geht’s soweit ganz gut. Das Schlüsselbein ist halt am Schaft durchgebrochen.“ Er machte ein knackendes Geräusch und Phillip verzog mitfühlend das Gesicht. „Jetzt muss ich halt für die nächsten paar Wochen so 'nen behinderten Rucksackverband tragen. Und ich darf 'ne halbe Ewigkeit nicht mehr Fußball spielen! Das überleb ich nicht!“ Lächelnd schüttelte Phillip den Kopf, sah in Leons feixendes Gesicht. „Du spinnst doch“, entfuhr es ihm – der Libero grinste nur. Dann zog eben der mit einem Ruck der rechten Hand die Decke runter und legte seinen nackten Oberkörper frei. „Außerdem sieht das total scheiße aus mit diesem riesigen Bluterguss!“ Phillip erwiderte nichts, sondern beugte sich zu ihm hinunter und berührte die Stelle sanft mit seinen Lippen. Er hielt kurz inne, falls er Leon wehtat, doch als der nur ein wohliges Seufzen von sich gab, fuhr er weiter mit den Lippen über das Hämatom. Er streifte die Haut nur, berührte sie zuweilen gar nicht und trotzdem konnte er die Hitze spüren, die von diesen Hautpartien ausging. Doch der Träger des Verbandes verdeckte den Hauptteil der Schulter. „Hat es sehr wehgetan?“, fragte Phillip schließlich, legte sich vorsichtig neben Leon, küsste ihn auf die Wange. „Ach, ein bisschen schreien, ein kleines Ziepen, höllische Schmerzen, aber sonst ging’s.“ Er grinste wieder. „Schade nur, dass du nicht da warst, ich hätt dir deine Hand wohl noch ganz zertrümmert gebracht. Tut mir leid, dass ich so fest zugedrückt hab, die Sanitäter meinten, dass du auch nicht sehr gesund ausgesehen hättest.“ „Nicht der Rede wert.“ Seine Hand pochte immer noch. „Ich hab mir nur Sorgen um dich gemacht“, setzte er etwas kleinlaut hinzu. „Komm mal etwas näher“, befahl Leon und Phillip tat wie ihm geheißen. „Noch näher“ Wollte er ihm etwas zuflüstern? Zögerlich kam er Leons Gesicht noch näher. Doch der lehnte sich nun so weit es ging nach vorne und küsste ihn. Mit der rechten Hand streichelte er ihm durch das immer noch verschwitzte Haar. „Jetzt musst du mir entgegenkommen, wenn ich dich küssen will.“ Er grinste. „Weißt du, Hauptsache du hast das Tor gemacht und wir haben gewonnen. Die haben einfach scheiße gespielt und wenn der Kerl meint, dass er es nötig hat mich zu foulen, heißt das doch nur, dass ich ihm haushoch überlegen war, oder?“ „Stimmt“, entgegnete Phillip, lächelte ebenfalls schwach. Er wünschte sich fast, dass Leon schlechter spielte, dann wären ihm dieses üble Foul und die Folgen erspart geblieben. „Und jetzt“ er hob bedeutungsvoll die Augenbrauen. „muss ich pinkeln. Hilfst du mir?“ Phillip erwiderte nichts, sondern erhob sich, half Leon beim Aufstehen. „Au, au, au!“, jammerte er und der Stürmer hätte ihn fast fallen gelassen vor Schreck, doch Leon hob sich mit der rechten Hand an ihm fest, rang sich ein schmerzverzerrtes Lächeln ab und sagte: „Es geht schon, es tut immer ein bisschen weh…“ Er tat ihm so unendlich leid! „Kannst du allein gehen?“, fragte Phillip dann und Leon nickte, doch fügte noch hinzu: „Du müsstest mir nur dabei helfen die Hose runterzukriegen.“ Die Momentane Blässe im Gesicht wurde durch eine leichte Röte ersetzt. Auch Phillip spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Doch er sagte nichts dazu, sondern folgte dem Jüngeren ins Bad. Phillip trug inzwischen eine graue, schlabberige Jogginghose. Hinter ihnen schloss er die Tür ab und folgte Leon vors Klo. Dort ging er vor ihm in die Knie und öffnete mit unsicheren Handgriffen die Schlaufe. Dann hielt er einen Moment inne. Er schielte noch einmal kurz zu Leon hinauf, der ihn gebannt anstarrte. Schließlich küsste er sanft seinen Bauchnabel und zog dann behutsam, als hätte Leon sich das Becken verletzt, die Hose samt Boxershorts hinunter. Leon setzte sich. Sie vermieden den Blickkontakt. Sie hatten sich schon nackt gesehen, spätestens nach den Spielen in der Kabine unter der Dusche, aber diese Situation hatte doch noch etwas anderes an sich. Und das nicht zuletzt, weil Phillip unter der Dusche nicht vor Leon kniete und ihm die Hosen runterzog. Mit geneigtem Blick wartete Phillip, bis Leon fertig war und aufstand, dann zog er ihm die Hose wieder hoch, verknotete hastig die Bändchen. Dieser ging dann zum Waschbecken, wusch sich die bewegliche rechte Hand. „Danke sehr“, flüsterte er, schloss die Tür auf und machte sich wieder auf den Weg in sein Zimmer. Phillip folgte ihm schweigend, machte hinter sich die Zimmertür wieder zu. Er beobachtete Leon, wie er sich langsam auf das Bett sinken ließ und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder hinlegte. Nun kam Phillip wieder in die Gänge. Er ging auf ihn zu und zog ihm die Decke über den Körper. Er setzte sich wieder neben ihn und sagte, den Augenkontakt tunlichst vermeidend: „Kein Ding.“ Kapitel 4: Von Prügeleien, Schmerzen und Sommerregen ---------------------------------------------------- Das Kapitel is mal ein bisschen länger =) Ich hoffe, es gefällt euch und wünsche euch hier noch mal viel Spaß beim Lesen! ___________________________________________________________________________________ Leon hatte den Rucksackverband glücklicherweise nur vier Wochen tragen müssen und hatte sofort danach mit der Physiotherapie begonnen. Er fehlte Phillip im Training und auch in den Spielen misste ihn die ganze Mannschaft. Aber er sollte den Bruch erst richtig verheilen lassen, bevor er das Training wieder aufnehmen konnte. Nun waren sie mit einigen anderen Mannschaftskameraden auf einer dieser Bauernpartys der Dörfer in der näheren Umgebung. Eigentlich waren diese Festivitäten immer die besten. Man konnte trinken, sich verhalten wie man wollte und sich einfach nur gehen lassen. Phillip stand gerade mit Leon an der Bar, trank einen Jacky-Cola – Leon hatte er illegalerweise auch einen ausgegeben, da dieser ja inzwischen auch schon 17 geworden war, da ging das schon – da kam ein Typ an ihnen vorbei, der ihm sehr bekannt vorkam. „Hey du!“ Der Typ blinzelte ihn verwirrt an, schien nicht sicher zu sein, ob er wirklich ihn gemeint hatte. „Ja, ich mein dich. Du spielst doch Fußball, oder?“ Der Kerl nickte und kam näher. Er schien angestrengt zu überlegen woher er die Beiden kannte. „Wir haben vor fast fünf Wochen gegen euch gespielt“, fuhr Phillip unbeirrt fort. „Und du hast meinen Freund hier ziemlich heftig gefoult, erinnerst du dich?“ „Lass doch.“ Leon fasste ihm an den Oberarm, doch Phillip ließ nicht locker: „Weißt du auch noch, dass er mit dem Krankenwagen abtransportiert wurde? Er hat sich das Schlüsselbein gebrochen.“ Der Kerl sah ihm gleichgültig in die Augen. „Phillip, ich bitte dich, lass es doch gut sein!“ Leons Bitte wurde eindringlicher, doch erneut ergriff Phillip das Wort: „Eigentlich könnte man ja sagen so was passiert nun mal hin und wieder beim Fußball; ist Berufsrisiko, was weiß ich. Aber normalerweise entschuldigt man sich dann.“ Es war eine Tatsache, dass sich weder der Trainer im Namen der Mannschaft, noch der Spieler selbst in irgendeiner Form entschuldigt hatten. Er hatte sich kein einziges Mal danach erkundigt, wie es Leon ging. „Willst du dich nicht wenigstens jetzt entschuldigen, wenn sich die Gelegenheit schon bietet?“ „Wozu denn?“ Der Typ zuckte die Achseln. „Is ja jetzt eh gelaufen. Und wenn er wieder saufen kann, scheint’s ihm ja nicht mehr so schlecht zu gehen.“ „Alter, du hast ihn gefoult!“, brauste Phillip auf. Er konnte nicht glauben, was er da hörte, ballte die Faust in seiner Hosentasche. „Und zwar so heftig, dass er sich was gebrochen hat! Ein kleines Wort der Entschuldigung wäre doch wohl nicht zu viel verlangt, oder?“ Sein Gegenüber lachte nur geringschätzig. Ihr Kapitän – Tobias – war inzwischen auf die Szene aufmerksam geworden und kam langsam auf sie zu. „Was kann ich denn dafür, wenn seine Knochen so schnell brechen? So heftig war das Foul ja auch wieder nicht. Und wie du vorhin schon gesagt hast, mit so was muss man beim Fußball rechnen. Wenn er damit nicht klarkommt, soll er lieber den Sport wechseln und Ballett tanzen oder so. Das passt besser zu so Mimosen.“ „Sag das noch mal“, knurrte Phillip und sog scharf die Luft ein. „Er sollte anfangen Ballett zu tanzen, da wird man nicht gefoult“, wiederholte der Kerl den Satz langsam. Und zum Glück war nun Tobias bei ihnen, denn der musste mit Müh und Not verhindern, dass Phillip dem Kerl eine runter schlug. Er musste vollen Körpereinsatz zeigen, damit ihm Phillip nicht entglitt. „Jetzt komm mal wieder runter, Phillip, lass das Arschloch doch labern! Nachher wirst du noch gesperrt wegen Unsportlichkeit!“, brüllte Tobi ihn an. Langsam beruhigte sich Phillip wieder, seine Gegenwehr ließ nach. „Süß!“, lachte daraufhin der andere Spieler. „Tatsächlich so eine Mimose, dass er schon Leute braucht, die für ihn in den Ring steigen! Hat wohl selbst nicht genug Mumm in den Knochen, um seinen Mann zu stehen?“ Phillip hatte sich nun jedoch schon wieder so weit beruhigt, dass er diesen Kommentar an sich vorbeiziehen ließ. Er schnaubte nur verachtend, wollte sich zu Leon umdrehen und ihm sagen, dass bei dem Kerl Hopfen und Malz verloren sei, doch da sah er, wie der blöde Kerl eins auf die Schnauze bekam. Und zwar von Leon. Tobi und Phillip starrten ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Das hätten sie ihm nicht zugetraut. Der Typ, den die Faust hart ins Gesicht getroffen hatte, hielt sich die Hände vor den Mund und taumelte zurück. „Mit so was muss man bei so 'ner großen Klappe rechnen, sonst sollte man lieber mal Ahnung haben, wenn man schon nicht die Fresse halten kann!“ Er wirkte eiskalt und doch sah Phillip ihm an, dass diese ruckartige Bewegung und der harte Rückstoß ihm erneut Schmerzen bereiteten. „Ihr spinnt ja alle beide!“, brüllte nun Tobi, dann wandte er sich an den vierten Spieler im Bunde, der noch immer seine Hände auf seinen schmerzenden Kiefer presste. „Tut mir leid, entschuldige bitte.“ Und an seine Mannschaftskameraden gewandt fügte er hinzu: „Und jetzt langt’s. Ich fahr euch jetzt nach Hause, bevor noch was passiert.“ Er packte Phillip beim Kragen und zog ihn hinter sich her. Leon folgte ihnen schnaubend. Als sie schweigend in Tobis Auto saßen, durchbrach Leon die Stille, als er sagte: „Du kannst mich bei Phlip rauslassen, ich lauf dann Heim, das ist kein Problem.“ „Sicher?“, fragte ihr Kapitän, sah kritisch zu ihm durch den Rückspiegel. „Jaja, das passt schon. Sorry übrigens wegen vorhin, aber mir ist bei dem Typen einfach 'ne Sicherung durchgebrannt.“ Er seufzte. Tobi hingegen schmunzelte, so wie Phillip das von der Seite her beurteilen konnte, und entgegnete: „Der Vollidiot hatte es aber auch verdient. Nur deine Schulter hättest du vielleicht schonen sollen.“ Leon bewegte sie vorsichtig. „Jaa, stimmt schon“, sagte er lang gezogen. „Aber ich hab doch extra mit der rechten Hand zugeschlagen.“ „Dummbatz“, brummte Phillip dazwischen. Natürlich war seine linke Schulter verletzt, aber selbst Leon musste schon mal was von Kraftübertragung gehört haben. „So, da wären wir“, sagte Tobias, inzwischen wieder bester Dinge, als er vor Phillips Wohnungstür hielt. Die Beiden bedankten sich artig, wünschten ihm noch eine gute Nacht und stiegen aus. Sie warteten, bis er außer Sichtweite war, dann gingen sie gemeinsam in Phillips Wohnung. Der ging als erstes an seinen Kühlschrank, holte die Flasche Wasser, die er extra kalt gestellt hatte, heraus und trank gierig. Alkohol trocknete viel zu sehr aus. „Gib mir auch 'nen Schluck“, hörte er Leon sagen, der in der Tür aufgetaucht war. „Hier.“ Er hielt ihm die Flasche hin. Für einen Moment war nichts zu hören, außer Leons Schlucken, seinem eigenen Atem und dem monotonen Surren des Kühlschranks. Leon hielt seinen linken Arm wieder auffällig in einer Schutzhaltung. Hatte er sich doch so sehr wehgetan bei dem Hieb? Blöde Frage; die Wucht des Schlages hatte er ja eigentlich an dem Typen gesehen. „Wie geht’s deiner Schulter?“, durchbrach er die subtile Geräuschkulisse. Leon setzte die Flasche ab, holte zufrieden Luft und entgegnete dann: „Super und deiner?“ „Lüg nicht, ich seh doch, dass sie dir wieder wehtut.“ Er blieb nüchtern, verzog keine Miene. „Dich kann man auch nie belügen.“ Leon lächelte schwach, reichte ihm die Flasche wieder, damit er sie zuschraubte. „Du zumindest nicht.“ Er nahm die Flasche mit ins Schlafzimmer. Dort entledigte er sich seiner Klamotten, zog sich eine Jogginghose über, ließ seinen Oberkörper unbedeckt. Leon sah ihm zu, wartete, bis er fertig war. Er brauchte noch immer Hilfe beim An- und Ausziehen – zumindest gab er das vor, wenn er bei Phillip war. Aber vielleicht genoss er auch einfach die Aufmerksamkeit und die Fürsorge, die ihm somit zuteil wurden. Dem Stürmer war es gleich. Ihn störte es nicht, sich um Leon zu kümmern. Er war eher froh, dass er ihm helfen durfte; er wusste ganz genau, dass Leon dazu neigte, alles viel zu schnell anzugehen. „So, jetzt helf ich dir“, sagte er, kam auf Leon zu. Bereitwillig hob Leon die Arme, holte jedoch fast zeitgleich pfeifend Luft. „Ich wusste doch, dass es wieder weh tut!“ Sein Triumph bereitete ihm keine Freude. „Jetzt mach schon!“, drängte Leon. Es schien ihm wirklich wehzutun. „Wann hast du eigentlich den nächsten Termin zum Röntgen?“, fragte Phillip, während er dem Jüngeren das T-Shirt über den Kopf zog. Sein schlanker Oberkörper und der riesige, inzwischen gelb-grünliche Bluterguss über Schulter und Brust kamen zum Vorschein. Leon atmete geräuschvoll aus, hielt sich den linken Arm vor der Brust und entgegnete, während Phillip ihm die Hose öffnete – er bleib stehen und sah ihm in die Augen, inzwischen hatte er Übung - „Nächste Woche, das wird dann hoffentlich die letzte sein. Röntgenstrahlen sind ja auch nicht unbedingt gesund…“ Phillip ließ von der Hose ab, küsste sanft Leons Schulter und sein Schlüsselbein – er spürte die knubbelige Stelle, an der es gebrochen gewesen war sofort – dann flüsterte er: „Na dann hoffen wir mal, dass du jetzt nicht noch mal was kaputt gemacht hast.“ Leon lächelte, zog Phillips Gesicht zu sich und küsste ihn innig. Und als er von ihm abließ, sagte er mit roten Backen: „Wird schon nichts passiert sein, Phlip, du machst dir nur immer zu viele Sorgen!“ Doch er schien sich nicht zu viele Sorgen zu machen, denn mitten in der Nacht rüttelte Leon ihn wach. Müde und mürrisch öffnete Phillip seine Augen, sah Leon aufrecht im Bett sitzen, sich seinen linken Arm halten. Er schwitzte stark, obwohl seine Hand eiskalt war. „Phlip, bist du wach?“, flüsterte er und seine Stimme zitterte. „Ja, was ist denn los?“ Er setzte sich ebenfalls auf, rieb sich über die Augen und sah auf seinen Wecker. Viertel nach drei. „Ich kann nicht schlafen. Es tut so weh.“ Leons Stimme war kaum mehr vernehmbar. Gott! – schoss es Phillip durch den Kopf. Und die ganze Zeit hatte er sich mit den Schmerzen gequält? „Warum hast du mich nicht früher geweckt?“, zischte er, schwang die Beine aus dem Bett und ging hastig zum Bad, schlug sich aber auf dem Weg noch heftig den Zeh am Bettpfosten an und fluchte wild auf. Er schaltete das Licht an und musste einen Moment warten, bis seine Augen sich an das so plötzliche, grelle Licht gewöhnt hatten. Dann ging er an einen Schrank, holte einen Karton mit allen möglichen Mittelchen, Medikamenten und Verbänden hervor und kramte hastig darin herum. Leon erschien im Türrahmen. Er sah richtig mies aus. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, nur seine Augen waren stark gerötet. „Hier, ich hab die Schmerzmittel gefunden.“ Er zog eine Schachtel mit Tabletten heraus, stellte den Karton zurück und knipste das Licht aus, während er das Bad verließ. Im Schlafzimmer griff er nach der Wasserflasche neben dem Bett. Er schraubte sie auf, holte eine Tablette aus der Schachtel und gab beides Leon. Der hatte sich zurück ins Bett gesetzt und nahm nun die Tablette, trank danach gierig. „Du hättest mich wirklich früher wecken sollen, du siehst grad so unglaublich scheiße aus.“ „Tut mir leid.“ Seine Stimme klang erstickt und heiser. Er legte sich noch nicht wieder hin und Phillip meinte im schalen Mondlicht, das durch die geöffneten Fenster ins Zimmer fiel, erkennen zu können, dass ihm Tränen die Wangen hinab liefen. „Weinst du?“, fragte er etwas verwirrt. Leon verneinte, machte aber keine Anstalten sie wegzuwischen. „Lüg doch nicht schon wieder. Tut es so weh?“ Leons Körper erbebte und unterdrückt schluchzte er auf, während er nickte. „Tut mir leid“, sagte er noch einmal, kaum verständlich unter dem Schwall Tränen, der ihm nun aus den Augen floss. Bestürzt setzte Phillip sich neben ihn und legte seine Arme um ihn. Wieso hatte er ihn auch nicht schon früher geweckt? Wusste Leon nicht, dass er alles für ihn tun würde? Egal um welche Uhrzeit? Leon lehnte sich an ihn. Sein Körper zitterte nun noch heftiger. Immer wieder wurde er vom Schluchzen geschüttelt. Es kam ganz tief aus ihm heraus. „Ich will wieder Fußball spielen!“ Phillip verstand ihn kaum, doch er küsste ihn auf die tränennasse Wange, schmeckte die salzige Flüssigkeit auf seinen Lippen und flüsterte: „Bald kannst du wieder spielen.“ „Ich will, dass diese scheiß Schmerzen endlich aufhören! Es kotzt mich so an! Ich kann nicht mehr!“ „Die Tablette wirkt bestimmt gleich.“ Er wusste nicht, was er sonst sagen oder tun sollte. Er hielt seinen Freund nur im Arm, versuchte ihm Trost zu spenden, legte seine Wange an Leons. Er war wohl vollkommen fertig und noch dazu übermüdet. Er weinte so bitterlich. Und doch hatte es für Phillip einen zarten Beigeschmack. Er hatte das Privileg Leon im Arm zu halten und ihn zu trösten. Wenn er doch nur nicht so untröstlich gewesen wäre! Leons Nase war verstopft; er atmete ungleichmäßig und abgehackt, durch das Schluchzen. Seine Tränen hatten auch Phillips Haut benetzt, auf der sie nun trockneten und begannen zu spannen. Langsam beruhigte er sich aber. Die Tablette schien zu wirken. „Ich habe die Tabletten auf den Nachttisch gelegt und die Wasserflasche steht daneben“, erklärte er ihm, falls er erneut solche unbändigen Schmerzen bekommen sollte. Doch bis Leon sich endgültig beruhigt hatte und eingeschlafen war, hielt Phillip ihn im Arm. Unbewusst hatte er begonnen ihn hin und her zu wiegen. Als Leon dann endlich eingeschlafen war und seine Atmung sich normalisiert hatte, bettete ihn Phillip vorsichtig neben sich, legte sich selbst wieder hin und schloss die Augen. Ein letzter Blick auf die Uhr hatte ihm verraten, dass es schon fast halb fünf war. Über eine Stunde hatte er Leon so im Arm gehalten und ihn beruhigt. Sanft auf ihn eingesprochen, ihm über den Kopf gestreichelt, ihn zart geküsst. Und nun endlich konnte er wieder schlafen. Und bis er wieder eingeschlafen war, dauerte es nicht lange. Am nächsten Tag, es war Samstag, schliefen sie aus bis mittags. Sie aßen nicht großartig etwas, da sie am Abend noch bei einem Mannschaftskameraden zum Grillen eingeladen waren. Phillips erste Frage an Leon war gewesen, ob es ihm besser ginge und er hatte bejaht. Zwar hatte er trotzdem noch eine Schmerztablette genommen, aber solange er nicht wieder so fix und fertig war wie in der Nacht, war Phillip fast alles Recht. „Tut mir übrigens leid wegen heute Nacht“, murmelte Leon, als er sich auf dem Sofa ausstreckte. Sie sahen fern. „Is schon okay.“ Phillip merkte, dass es Leon recht peinlich war, wie er sich in der Nacht aufgeführt hatte. Deswegen setzte der noch nach: „Weißt du, ich war halt immer noch nicht ganz nüchtern und dann hat es so verdammt wehgetan und ich war eigentlich übelst müde…“ „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Aber du hättest mich ruhig früher wecken können. Ich reiß dir ja nicht den Kopf ab.“ „Ich hab auch ewig überlegt, ob ich dich aufwecken soll, aber ich wollte dich nicht stören. Außerdem hast du so friedlich geschlafen. Es tut mir wirklich leid, ich wollte nicht so rumheulen.“ Das letzte Wort nuschelte Leon ziemlich. Es konnte auch daran liegen, dass er mit dem Kinn nach dem Kragensaum seines T-Shirts geangelt hatte und ihm das nun über der Unterlippe hing. Phillip lächelte und entgegnete: „War bei dir wahrscheinlich wie bei kleinen Kindern: wenn die übermüdet sind, dann heulen die auch wegen allem. Muss dir nicht peinlich sein.“ Leon wurde rot. Er zog den Kopf noch etwas weiter ein und sprach noch undeutlicher. „Super, jetzt vergleichst du mich schon mit 'nem Kleinkind.“ Er zog eine Schnute. „Du weißt doch, wie ich das meine“, lachte Phillip. Leon nickte daraufhin immer noch etwas beleidigt, flüsterte dann aber, kaum hörbar: „Danke sehr.“ Der Stürmer beugte sich zu ihm und küsste ihn sanft. Es war herrlich, wenn sie zu Hause waren. Sie konnten sich immer so nahe kommen wie sie wollten und mussten auf nichts achten. Wenn sie unter Menschen und vor allem unter Mannschaftskameraden waren, dann mussten sie stets darauf achten, dass sie nicht zu sehr aufeinander hingen. Aber andererseits durften sie sich auch nicht zu wenig berühren oder unterhalten, sonst würde gleich nachgehakt, ob sie Streit hätten. Es war so mühsam! Leon griff nach seiner Hand und verschränkte ihre Finger. Sie würden wahrscheinlich nicht mehr über diese Nacht sprechen. „Hmm“, überlegte er dann jedoch laut. Leon sah ihn fragend an. „Was?“ „Eigentlich wollten wir ja heute noch joggen gehen“, stellte Phillip fest. Sie hatten beschlossen, dass sie zusammen laufen gehen würden, damit Leon seine Kondition wieder aufbauen konnte und damit er das nicht alleine machen musste, hatte Phillip sich dazu bereit erklärt, mit ihm zu trainieren. Er seufzte affektiert traurig: „Das müssen wir dann wohl leider auf morgen verschieben.“ Der Libero lachte. „Ja, das macht dich natürlich traurig. Das glaub ich. Aber wir können ja trotzdem ein bisschen laufen gehen, meiner Schulter geht’s so weit ganz gut und solange wir’s nicht übertreiben, wird sie ja beim Joggen auch nicht zu sehr beansprucht.“ Phillip rollte mit den Augen. Leons Disziplin müsste man haben. „Gut, dann gehen wir nachher eben doch laufen. Aber dann achten wir am Besten drauf, dass wir noch genug Zeit haben zum Duschen, bevor wir zu Mark fahren.“ „Na das sowieso“, erwiderte Leon grinsend, hob anzüglich die Augenbrauen. Phillip tat das mit einem müden Lächeln ab. Sie hatten in letzter Zeit mehr als einmal zusammen geduscht. Leon hatte immer auf Phillips Hilfe bestanden und irgendwann hatte der beschlossen, dass es das ganze erheblich vereinfachte, wenn er einfach mit ihm unter die Dusche kam. Leon hatte es nicht gestört. Vorerst blieben sie jedoch faul auf dem Sofa liegen. Es war ohnehin viel zu heiß um sich in irgendeiner Weise zu bewegen. Das Maß aller Dinge war, wenn sie sich erhoben um eine neue Flasche Wasser zu holen oder zur Toilette zu gehen. Später würde es hoffentlich kühler werden. Und es wurde kühler. Der Himmel bewölkte sich zusehends und Phillip befürchtete schon, dass ihre Trainingseinheit aufgrund eines plötzlichen Regenfalls ausfallen müsste, doch als sie die Turmuhr in der Ferne durch die geöffnete Balkontür fünf schlagen hörten, erhob sich Leon, strahlte seinen Freund an und erklärte glücklich: „So, jetzt wird’s aber mal Zeit, jetzt ziehen wir uns um und dann laufen wir los.“ „Du meinst wohl eher: ich ziehe uns um. Außerdem glaub ich, dass es gleich anfängt zu regnen“, brummte Phillip, hatte keine Lust sich zu erheben. „Nun komm schon, nicht so pessimistisch! Im Fernsehen kommt doch eh nur Mist und verdummt haben wir uns damit jetzt schon genug.“ Leon lachte und streckte ihm die Hände entgegen, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Missmutig ergriff der Angesprochene die dargebotene Hilfe. „Und wenn wir jetzt gehen, sind wir noch vor dem Regen zurück. Ich kann ja eh nicht so lange, weißt ja, meine Kondition ist momentan gleich null und ich darf meine Schulter nicht überstrapazieren.“ Leon war einfach viel zu sehr eine Frohnatur. Er strahlte ihm entgegen und ungewollt musste Phillip das Lächeln erwidern, folgte dem Jüngeren ins Schlafzimmer. Dort half er ihm dabei sich eine kurze Trainingshose und ein Sportshirt anzuziehen, die schon bei ihm lagerten. Dann zog er sich selbst um. Die Laufschuhe musste er Leon ebenfalls zubinden. Und er war sich nicht sicher, ob Leon einfach nur bequem war, oder ob er es wirklich selbst nicht schaffte, gerade nach dieser Szene in der vergangenen Nacht. Der Ältere packte sich noch seinen Schlüssel ein, dann joggten sie los. Ihr Ziel war ein Sportplatz, der nicht all zu weit von ihnen entfernt war. Sie liefen bis dahin – es war doch schon eine ziemliche Strecke – und dehnten sich dort erst einmal. Besorgt richtete Phillip seinen Blick gen Himmel, während er seine Oberschenkel dehnte. Graue Wolken bedeckten ihn und es roch schon nach Regen. In den letzten Tagen war es ziemlich warm gewesen; auf der Arbeit war er fast vergangen vor Hitze. Auch jetzt war es noch ziemlich schwül und sie waren die einzigen auf dem Sportplatz. Eigentlich nicht das Schlechteste, so mussten sie weniger aufpassen. Es wehte ein unheimlicher Wind, den man auf der Haut kaum spürte, weil er so warm war. Das Rascheln der Blätter an den Bäumen war das einzige Geräusch, das man wahrnehmen konnte. Phillip fühlte sich wie in einer dieser Geisterstädte aus alten Wild-West-Streifen. „Also, laufen wir los?“, riss Leon ihn lächelnd aus seinen Gedanken. Er nickte nur und hoffte, dass der Regen wirklich warten würde, bis sie wieder zu Hause ankamen. Sie liefen relativ zügig los. Warm gemacht hatten sie sich ja schon mit dem Lauf zum Sportplatz. Still joggten sie nebeneinander her – Phillip überließ Leon die innere Bahn. Eigentlich war das Laufen gar nicht so übel. Wenn man den ganzen Tag auf dem Sofa rumgehockt hatte, war das genau das Richtige. Aber aufgrund der immer noch vorherrschenden Hitze, lief ihnen bald der Schweiß über die Stirn. Und auch der Wind brachte ja keine Kühlung. In der Ferne konnte Phillip den Donner bedrohlich grollen hören. „Sieht aus, als würde es bald anfangen zu gewittern“, sagte er zu Leon, richtete seinen Blick wieder besorgt der dicken, dunklen Wolkendecke zu. Und wie zur Bestätigung seiner Worte folgte der nächste Donner in der Ferne und ein Tropfen traf ihn am Oberarm. „Siehst du? Ich hab schon den ersten Regentropfen abbekommen.“ Und kaum hatte er das gesagt, da traf ihn der nächste und kaum eine Sekunde später begann ein regelrechter Platzregen. „Jaja, du hattest Recht“, erwiderte Leon atemlos, blieb stehen und hielt sich die Seite. Sie waren gerade bei der Hälfte der über dreihundert Meter langen Laufbahn. Phillip packte sich Leons rechten Arm und zog ihn hinter sich her, während er quer über das Feld zu den Umkleideräumen sprintete, die zwar nicht geöffnet, aber dafür überdacht waren. Doch auch das Unterstellen brachte nun nichts mehr, denn als sie ankamen, waren sie schon vollkommen durchnässt. Der Stürmer lehnte sich missmutig an die Hauswand und atmete tief durch. Ihn hatte der Lauf weniger angestrengt, er war noch im Training. Leon hingegen stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab, hatte den Oberkörper nach vorne gebeugt, ließ den Kopf baumeln und atmete ziemlich flach. „Super, jetzt sind wir total durchnässt“, murrte Phillip, bedachte Leon mit einem strafenden Blick. Als der jedoch aufblickte, traf den Stürmer ein strahlendes Lächeln. Leons Locken hingen schwer an seinem Kopf, Tropfen lösten sich aus ihnen und fielen zu Boden. Sein T-Shirt klebte ihm am Körper, genauso wie die Hose und überall lief der Regen an ihm herunter. Dennoch sagte er: „Eben!“ Er packte sich Phillips Hand und zog ihn mit sich unter der Überdachung weg, bis sie wieder im strömenden Regen standen. „Bist du bescheuert?“, fuhr der Ältere ihn an, doch Leon ließ sich nur glücklich auf den Boden fallen, legte sich auf den Rücken, schloss die Augen zufrieden und entgegnete: „Wieso? Jetzt sind wir eh nass, da können wir den Sommerregen auch genießen.“ Phillip schüttelte den Kopf über so viel Optimismus. Aber andererseits hatte Leon Recht. Nass waren sie sowieso und warum sollte man es nicht machen wie in Kindertagen und den Regen genießen, durch alle Pfützen springen und die Abkühlung dankbar entgegennehmen. Er ließ sich neben Leon nieder, sah sich um und ergriff dessen Hand, während er in den Himmel starrte. Die schweren Tropfen prasselten auf sie herab, trafen sie und den Boden neben ihnen. Das Geräusch, das es machte war unverkennbar und als Phillip ein Tropfen in den Mund lief, da wusste er auch wieder wie Regen schmeckte – er hatte es fast vergessen gehabt. Es war ein herrliches Gefühl mit Leon zusammen auf dem noch warmen Boden zu liegen und sich vom kühlen Regen duschen zu lassen. Die Wassertropfen liefen ihm über das Gesicht und den Körper; auch seine Klamotten klebten an ihm, das weiße T-Shirt wurde sicherlich durchsichtig, aber wen störte es? Auch die Gänsehaut, die er bekam, als ihn ein nun kühler Windhauch streifte, störte ihn nicht, im Gegenteil, er empfand es als äußerst angenehm. „Und?“, hörte er Leon sanft fragen. „Bist du jetzt froh, dass wir doch gegangen sind?“ Er wandte ihm den Kopf zu und erkannte auf seinen Gesichtszügen ein zufriedenes und entspanntes Lächeln. „Es ist schön“, antwortete er, drückte Leons Hand, die er noch immer hielt, leicht. Er wünschte sich, dass dieser Moment ewig währen würde, oder zumindest auf ewig in seiner Erinnerung bleiben würde. Er nahm sich fest vor, dieses Gefühl, diese Szenerie, dieses Glück niemals zu vergessen. Er fühlte sich hier, klatschnass, neben Leon im Regen liegend und seine Hand haltend, so wohl wie nie zuvor und er glaubte, dass es der schönste Augenblick seines Lebens sein musste. Aber dann kam das Gewitter näher. Der Abstand von Blitz zu Donner verringerte sich zunehmend und er bekam ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Bei Gewittern war er ungern draußen, außerdem waren auf ihrem Heimweg einige Bäume, unter denen sie durch mussten und der Spruch ‚Vor Eichen sollst du weichen, Buchen musst du suchen’ war ja schon lange widerlegt. „Wir sollten gehen, bevor das Gewitter ganz da ist“, flüsterte er, fragte sich, ob Leon es überhaupt vernommen hatte, doch der antwortete: „Ja, du hast Recht… Schade, es war grad so schön.“ Phillip nickte langsam und erhob sich. Er war komplett durchnässt und die Romantik des Augenblicks war verflogen. Sein Rücken war nun widerlich pisswarm und die Frontseite war eiskalt. Es war eklig und er wünschte sich nun nichts sehnlicher als schnell nach Hause in seine Dusche zu kommen; mit oder ohne Leon. „Hilfst du mir auf?“, fragte der, streckte ihm die rechte Hand entgegen. Phillip ergriff sie und zog Leon behutsam zu sich. Er drückte ihm noch einen Kuss auf die Lippen, dann verfielen sie wieder in einen leichten Trab auf dem Weg nach Hause. Bevor sie dort allerdings ankamen, war das Gewitter bei ihnen angekommen. Die Blitze zuckten eindrucksvoll über den Himmel, erhellten ihn, der sonst fast komplett dunkel war. Gleichzeitig schlug der Donner ihnen ohrenbetäubend um die Ohren. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass sie nach Hause kamen. Doch kaum hatte Phillip seine Wohnungstür aufgeschlossen, da hielt sich Leon wieder die Schulter. Besorgt zog der Ältere die Tür hinter ihnen zu und fragte: „Tut es wieder sehr weh? Hast du dich überanstrengt?“ Leon lächelte beschwichtigend und schüttelte den Kopf. Dann sagte er: „'ne Schmerztablette und dann geht das wieder.“ „Es sollte aber langsam auch ohne so viele Schmerztabletten funktionieren, Leon. Hoffentlich verheilt deine Schulter wirklich gut, nicht dass gestern Nacht irgendwas passiert ist und sie dich doch noch operieren müssen.“ Leon sog geräuschvoll die Luft ein und schluckte hart. Anscheinend hatte Phillip damit einen Nerv getroffen. Der Libero gab sich immer so stark und zuversichtlich, aber vor einer OP schien er doch ziemlich Schiss zu haben. „Ich hoffe mal nicht“, brachte er langsam und tonlos hervor. „Ich auch nicht. Aber jetzt sollten wir erst einmal unter die Dusche, dass wir uns keine Sommergrippe einfangen.“ „Duschen wir zusammen?“, fragte Leon und da war das schelmische Lächeln wieder auf seinen Lippen. Seine Augen blitzten Phillip herausfordernd an. „Wenn du willst.“ Er zuckte mit den Achseln, bückte sich, um seine Schuhe und Socken auszuziehen. Leon schlüpfte aus seinen Schuhen einfach heraus, zog sich auch die Socken geschickt mit dem jeweils anderen Fuß aus. Sie zogen sich gleich größtenteils im kleinen Vorraum aus, damit sie nicht die ganze Wohnung voll tropften, dann tapsten sie schlotternd in Boxershorts ins Bad, zogen sich diese auch noch aus und quetschten sich in die relativ kleine Duschkabine. Das heiße Wasser tat gut und Phillip konnte gar nicht genug davon kriegen. „Hey! Hier ist Phillip“, meldete er sich am Telefon, als er seinen Kollegen aus dem Fußball anrief, bei dem sie zum Grillen eingeladen waren. Er hatte sich für die Zeit nur eine Jogginghose angezogen, um seine nackten Schultern baumelte sein Handtuch, mit dem er sich über die noch feuchten Haare fuhr. „Hey Phlip!“ Der Rest der Mannschaft hatte auch angefangen ihn so zu nennen. „Was gibt’s?“ „Ich wollt nur mal fragen, wie’s nachher mit Grillen aussieht, weil’s bei uns grad ziemlich heftig gewittert.“ Wie zur Bestätigung leuchtete draußen der Himmel auf und ein Donner krachte nahezu zeitgleich. Er setzte sich zu Leon aufs Sofa, lehnte sich nach hinten. Keine gute Idee, denn Leon rutschte nun zu ihm und begann an seinem Ohrläppchen zu knabbern. Wo er doch da so empfindlich war – und Leon wusste das genau! Er musste sich zusammenreißen um nicht lachen zu müssen und versuchte Leon mit der Hand wegzuscheuchen – wie eine lästige Fliege. „Ach so, ja das ist bei uns schon durch und ich hab ja immer noch sturmfrei. Also von mir aus findet es statt. Hast du Leon schon gefragt, ob er auch kommt?“ Der eben genannte machte Phillips Handbewegung nach, um ihm zu zeigen, wie lächerlich das war und fuhr dann fort ihm schlabbernd den Hals zu küssen, sodass Phillip unwillkürlich die Schulter hochzog. „Ja… ja, ich hab ihn gefragt, er kommt auch, ich nehm ihn mit, wir fahren dann so in 'ner Stunde los. Passt das?“ Nun schob er Leon bestimmter von sich. Doch der ließ es sich nicht nehmen, nun seine Zehen über Phillips Bauch krabbeln zu lassen. „Jap, das läuft. Also bis dann!“ „Ja, bis dann.“ Er legte auf und wandte sich dann an Leon: „Lass das doch, wenn ich telefoniere!“ Doch sein Lachen ließ diese Rüge gleich viel unglaubwürdiger erscheinen. Leon grinste nur und erwiderte: „Ich kann eben die Finger nicht von dir lassen, Phlip“ Er warf ihm einen Luftkuss zu. „Wohl eher die Füße“, murmelte der und blickte auf Leons frisch gewaschene Füße, die nun ruhig in seinem Schoß lagen. Er begann sie zu massieren. „Als ginge es dir anders“, lachte Leon und nickte ihm zu. Draußen prasselte der Regen gegen die Scheiben. Phillip ließ Leons Füße los, legte sich nun über ihn, sah ihm in die Augen. „Du hast angefangen“, flüsterte er. Leon haschte nach seinen Lippen, erwischte sie aber nicht, was dem Stürmer ein Lächeln auf die Lippen zauberte. „Na und?“, fragte der Jüngere, schob die Unterlippe vor. Phillip streichelte ihm durch die nassen Locken, lehnte seine Stirn gegen die des Jungens unter ihm. Der legte seine Hände auf dessen Rücken. Er hatte einen weiten Kapuzenpulli von Phillip über, der ihm viel zu groß war, weshalb er nur seine Fingerspitzen auf seiner Haut spürte. Aber allein das bereitete ihm eine prickelnde Gänsehaut. Dann vergrub er sein Gesicht an Leons rechter Halsbeuge, küsste ihn immer wieder sanft. Leons Hände fuhren über seinen ganzen Rücken, vom Kreuz zum Nacken und wieder zurück. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig, wirkte beruhigend auf Phillip. Er spürte, wie Leons warmer Atem sein Ohr streifte, das Leon hin und wieder küsste. Es war ein angenehmes Gefühl zu wissen, dass er Leon hatte, der für ihn da war; der ihn immer aufzumuntern wusste, andererseits aber auch einfach nur mit ihm daliegen, wie vorhin oder jetzt, und den Augenblick genießen konnte. Der Fernseher flimmerte noch, doch sie hatten den Ton ausgestellt, bevor Phillip telefoniert hatte. Leon griff zum Tisch. „Was machst du da?“, brummte Phillip unverständlich an seiner Halsbeuge, war zu träge den Kopf zu heben. „Ich stell 'nen Wecker, falls wir einschlafen sollten“, sagte Leon und Phillip konnte vor seinem geistigen Augen sehen, wie er sanft lächelte. Er küsste ihn erneut in die Halsbeuge. Dann legte Leon das Handy zurück auf den Tisch, schloss seine Arme wieder um Phillip. Der wurde zunehmend träger. Er würde wohl bald endgültig einschlafen, doch kurz bevor er abdriftete, hörte er Leon noch leise sagen: „Ich liebe dich, Phillip.“ Hatte er sich verhört? Hatte Leon ihm das wirklich gerade eben gesagt? Er war zu müde und entkräftet, um sich darüber nun Gedanken zu machen. Er drückte sich noch einmal näher an seinen Freund, dann schlief er ein. Er wurde von dem nervtötenden Lied geweckt, das Leon als Handywecker eingestellt hatte und fand sich, eng an jenen gedrängt, auf der Innenseite des Sofas wieder. Leon schien weiterzuschlafen. Das war mal wieder typisch: er hatte das schrecklichste Lied als Wecker, damit er auch ja wach wurde, hörte es aber selbst nicht. Phillip brummte, gab Leon einen Stoß mit dem Bein, damit er wach wurde, er hatte nämlich kaum Platz sich zu bewegen, schließlich hatte Leon ihn zwischen sich und der Sofalehne komplett eingequetscht. „Leon, mach den scheiß Wecker aus!“, stöhnte er schließlich, versetzte ihm noch einen Tritt, diesmal etwas härter. Doch der Schüler drängte sich nur noch näher an ihn, verbarg sein Gesicht an Phillips Brust „Leon, bitte! Ich werd noch aggressiv bei dem behinderten Lied! Leon!“ Er verlieh seiner Stimme mehr Nachdruck. Langsam wurde er richtig wach. Das Lied hörte abrupt auf. Gerade wollte der Schreiner aufatmen, da begann das grässliche Stück von vorne. „Leon!“ Jetzt brüllte er fast und bemerkte, wie Leon an seiner Brust erschrocken zusammenzuckte. Er hob den Kopf, blinzelte ihn verschlafen an und fragte: „Was? Was ist denn? Ist was passiert?“ „Nein, aber gleich passiert was, wenn du deinen scheiß Wecker nicht augenblicklich ausstellst!“ Dieses Lied machte ihn wirklich aggressiv, genauso dass Leon nie davon wach wurde. Ächzend griff Leon nach dem Handy und schaltete es aus, sodass Stille entstand. Dankbar seufzte Phillip auf. „Wir müssen gleich los“, gähnte der Jüngere, setzte sich auf, machte so auch Phillip wieder Platz, damit der aufstehen konnte. Sein Bein war eingeschlafen und kribbelte nun entsetzlich, so stampfte er ein paar Mal fest auf und ging dann ins Schlafzimmer an seinen Schrank, um sich etwas anzuziehen. Durch das Gewitter war es wahrscheinlich schon etwas abgekühlt, deswegen zog er sich eine lange Jeans an und holte sich noch einen Pulli. „Hast du vorhin noch gehört, was ich gesagt habe?“ Leon stand in der Tür, er hatte sich schon direkt nach der Dusche was Gescheites angezogen. Phillip überlegte, was er meinte. ‚Ich liebe dich, Phillip’, kam es ihm wieder in den Sinn. Hatte er sich nicht verhört? Langsam nickte er und schluckte. Leons Miene blieb ernst, er beobachtete sein Gegenüber aufmerksam. „Ich…“, setzte Phillip an, wusste nicht, was er sagen sollte. Der Schüler blickte ihn weiterhin auffordernd an. „Wir sollten los“, sagte der Schreiner nach einer Weile, warf nervös einen Blick auf die Uhr. Leon seufzte. Wahrscheinlich hatte er sich eine andere Reaktion erhofft. Warum hatte Phillip seine Frage nicht einfach verneint? Auf der anderen Seite hatte er allerdings zu lange gezögert, Leon hätte gewusst, dass er log. Nun quetschte er sich an Leon, der immer noch im Türrahmen zum Schlafzimmer stand, vorbei und griff nach seinem Schlüsselbund und seinem Geldbeutel, die auf der Kommode lagen, holte noch kurz sein Handy aus dem Wohnzimmer, schaltete den Fernseher endlich aus. An Leon gewandt fragte er: „Bist du soweit?“ Der drehte sich nun zu ihm um, hatte ein falsches Lächeln aufgesetzt, man sah es auf Anhieb, und nickte nur. Während der Fahrt schwiegen sie. Wie hatte die Stimmung so schnell von wunderschön auf unangenehm springen können? Hatten sie nicht noch diesen Nachmittag auf dem Sportplatz im Platzregen gelegen und das Leben in vollen Zügen genossen? Und jetzt saßen sie nebeneinander im Auto und sprachen kein Wort miteinander. Als sie ankamen und Phillip aussteigen wollte, packte Leon ihn beim Arm, wich seinem Blick aus und sagte leise: „Vergiss, was ich vorhin gesagt habe. Lass uns einfach 'nen netten Abend mit den Jungs verbringen, okay?“ Phillip nickte missmutig. Dann stiegen sie aus und wurden von denen, die schon da waren, fröhlich im Garten begrüßt. Der Abend war schon vorangeschritten, sie hatten gut gegessen und die letzten Sonnenstrahlen, die zuvor noch vereinzelt zaghaft hinter dem Horizont hervorgelugt hatten, waren nun auch verschwunden und es war dunkel. Die anderen waren drinnen und spielten Playstation. Leon machte einen Streifzug durch den Garten, Phillip folgte ihm. Er hatte während des gesamten Essens über Leons Aussage nachgedacht. Eigentlich war die Antwort darauf ja nicht schwer, er selbst war sich sicher, nur irgendwie schienen die Worte nicht über seine Lippen kommen zu wollen. „Leon?“, fragte er leise, bekam ein „Hm?“ zurück, ohne dass der Angesprochene sich zu ihm umdrehte. Phillip war aufgefallen, dass er heute Abend unterdurchschnittlich gelächelt hatte. „Ich wollte dir noch was sagen.“ Er gab sich Mühe so laut zu sprechen, dass Leon ihn verstand, die Stimme aber dennoch gedämpft zu halten. „Ja?“ Noch immer sprach er nur mit seinem Rücken. „Schaust du mich dabei bitte an?“ Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als Leon sich langsam und trotzig zu ihm umdrehte. „Hey! Wollt ihr auch mal spielen?“, rief Mark ihnen vom Haus aus zu. Die Frage bezog sich auf seine Playstation, die bei der Mannschaft heiß begehrt war. „Ja, nachher, wir kommen gleich!“, antwortete ihm Phillip, bevor Leon noch den Mund aufmachen konnte und wartete, bis Mark wieder im Haus verschwunden war. Sie schwiegen, sahen sich in die Augen. „Also?“, durchbrach nun Leon kühl die Stille. Phillip trat etwas näher an ihn heran, darauf bedacht ihn nicht zu berühren, falls einer der anderen sie beobachtete. „Ich…“, setzte er an, wie schon einige Stunden zuvor bei sich im Schlafzimmer. „Ich meine, ich will sagen…“ Er geriet immer wieder ins Stottern und damit ins Stocken. Innerlich verfluchte er sich für seine Unsicherheit, wischte sich die schweißnassen Handinnenflächen an seiner Jeans ab. „Ich…“ Er verringerte die Lautstärke noch einmal. Dann allerdings holte er tief Luft, sah Leon fest in die Augen und sagte: „Ich liebe dich auch.“ Leons Mundwinkel zuckten. „Nur weil ich es dir gesagt habe?“, fragte der Libero nach einer Weile; Traurigkeit lag in seiner Stimme. „Was?“, fragte Phillip perplex. Die Frage war eher rhetorisch gemeint gewesen, dennoch antwortete ihm Leon: „Du musst mir nicht sagen, dass du mich liebst, nur weil ich es dir gesagt habe, das ist doch schwachsinnig, wie alt sind wir denn?“ Er schien wütend zu werden. Mit einem unsicheren Seitenblick auf die hell erleuchtete Terrassentür legte Phillip ihm die Hand in die Seite und sagte besänftigend: „Nein, nicht nur deswegen. Ich muss zugeben, dass du mich heute Nachmittag etwas überrumpelt hast.“ Leon schnaubte verächtlich. „Aber ich hab die ganze Zeit nachgedacht. Und wenn ich dich nicht liebe, dann weiß ich nicht, wie man dieses Gefühl sonst beschreiben sollte. Wirklich Leon, glaub mir, ich liebe dich von ganzem Herzen.“ Er kam sich dämlich vor. Er hätte nie gedacht, dass er sich mal in einer so kitschigen Klischeeszene wieder finden würde, doch genau das war jetzt der Fall und er meinte jedes einzelne Wort wie er es sagte. „Sicher?“ Noch immer schwang Unsicherheit und etwas Misstrauen in Leons Stimme mit, doch Phillip nickte nur, lächelte liebevoll. Dann konnte er sehen, wie Leons Augen aufblitzten und seine Mimik sich aufklärte. „Das ist super!“, strahlte er nun und kam Phillip noch etwas näher. Der erkannte Leons Absicht ihn zu küssen, duckte sich unter ihm weg und lief ihm einige Schritte voraus in Richtung Haus. Er hatte wohl vergessen, wo sie waren. Still formte er mit den Lippen das Wort ‚Zuhause’ und sagte dann laut: „Na komm, jetzt mach ich dich fertig, ich werd dir zeigen, wer von uns beiden der bessere Spieler ist!“ Leon lachte auf, nickte und entgegnete: „Na ich natürlich!“ Glücklich gingen sie zurück zum Haus und zu den anderen hinein, um ebenfalls eine Runde zu zocken. Die Szene von eben schwebte noch einmal vor Phillips geistigem Auge. So was Kitschiges!, dachte er lächelnd und schüttelte den Kopf. Kapitel 5: Grünes Licht oder rot? --------------------------------- Kurze Anmerkung der Autorin: Ich hab mir noch nie das Schlüsselbein gebrochen (generell noch nie irgendeinen Knochen...) Aber mein Bruder hat das schon mal hingekriegt... allerdings ist das auch schon ein Weilchen her. Sollte ich also hier irgendeinen kompletten Schwachsinn verzapfen, sagt mir Bescheid xD (ach und ich weiß, dass Röntgenstrahlung relativ schädlich ist...) __________________________________________________________________________ Zur nächsten Röntgenaufnahme begleitete Phillip ihn. Er wartete vor der Tür mit einer Schwester. Leon hatte sich auf eine metallene Liege legen müssen, den Oberkörper unbedeckt. Über die Lenden hatte ihm die Schwester eine Art Bleischürze gelegt – eine Schutzmaßnahme. Es dauerte gar nicht so lange, dann war die Aufnahme gemacht, und sie warteten auf den Arzt. „Hoffentlich gibt er mir grünes Licht, dass ich wieder ins Training kommen darf“, seufzte Leon, schlürfte seinen Kaffee, den Phillip ihm und sich geholt hatte. Er selbst starrte nur auf den Becher in seinen Händen und erwiderte: „Hoffen wir lieber, dass bei dem Zwischenfall am Wochenende nichts passiert ist. Eine Operation würd ich dir nämlich nicht wünschen.“ „Nicht? Mensch, das ist aber nicht sehr großzügig von dir!“ Er lachte und Phillip hörte, dass er es nur tat, um seine Nervosität zu überspielen. „Sie können jetzt mitkommen, Herr Naumann.“ Es war die Schwester von zuvor, die ihn nun aufrief und Leon sprang regelrecht auf, warf Phillip einen nervösen Blick zu, während der sich schwerfällig erhob und seinen Nacken knacksen ließ – diese Krankenhausstühle waren wirklich alles andere als bequem. Sie folgten der Schwester in einen der Behandlungsräume, sie ließ sie wieder allein. Leon setzte sich auf die Liege, Phillip nahm auf einem Stuhl neben ihm Platz, nahm seine Hand und sagte sanft: „Es wird schon alles in Ordnung sein. Du hattest die letzten Tage ja viel weniger Beschwerden.“ „Und wenn nicht?“, fragte Leon tonlos, drückte seine Hand. „Dann musst du halt noch ein bisschen warten, bis wieder alles in Ordnung kommt. Und jetzt mach dir keine Sorgen mehr.“ Leon nickte unsicher. Sie warteten ewig, bis endlich der Arzt eintrat. Sie standen auf und gaben ihm die Hand, dann klemmte er die Aufnahmen vor ein Lichtbrett und schaltete das Licht an. Er sah sich die Bilder einen Moment lang an, kratzte sich dann am Kinn. Schließlich wandte er sich den Beiden wieder zu und sagte: „Nun, Herr Naumann. Man kann immer noch die Bruchstelle auf dem Bild erkennen“ Er deutete auf der Aufnahme darauf. Leon sog scharf die Luft ein und Phillip wusste, was ihm durch den Kopf ging: war das jetzt ein schlechtes Zeichen? „Aber ansonsten scheint das Ganze gut zu verheilen. Sie sollten auf jeden Fall noch drei bis vier Wochen die Physiotherapie weiterführen, dann dürften Sie in Zukunft keine Probleme mit ihrer Schulter haben.“ „Und Fußball?“, rutschte es Leon heraus. „Warum nicht? Sie sollten allerdings gut aufpassen, dass Sie nicht wieder so unglücklich stürzen.“ Phillip schnaufte innerlich. Was war denn das für eine Aussage? Als hätte Leon es das erste Mal absichtlich getan! „Werd ich tun!“, sagte nun allerdings Leon und sprang von der Liege auf, auf die er sich zwischenzeitlich wieder gesetzt hatte. „Vielen Dank.“ Er reichte dem Arzt die Hand – Phillip tat es ihm nach – dann sprang er schon beinahe aus dem Krankenhaus. „Ja herrlich!“, rief er, als sie draußen waren und zu Phillips Auto gingen. „Endlich kann ich wieder gescheit trainieren!“ Es war kurz vor Ende der Saison, als sie wieder zusammen auf der Tribüne lagen. Ihre Köpfe lagen nebeneinander, die Füße ragten in entgegengesetzte Richtungen und sie hielten die Hand. Leon hatte am Wochenende seit langem wieder sein erstes Spiel bestritten und etwas eifersüchtig hatte Phillip festgestellt, dass er genauso gut spielte wie immer. Er hatte sogar ein Tor gemacht. Tobias hatte es vorbereitet. Nun lagen sie da und sahen in den blauen Himmel. Leon hatte sich das T-Shirt ausgezogen; er wollte braun werden, hatte er ihm erklärt. Phillip hatte nur geschmunzelt, sich aber ebenfalls das T-Shirt ausgezogen – es war einfach entschieden zu warm. „Alter, haltet ihr Händchen?“ Er kannte diese Stimme. Er wusste, dass Mark vor ihnen stand und sie ungläubig musterte. Er war wie gelähmt. Einen Moment herrschte Stille und er spürte, dass Leons Hand sich fester um seine schlang. „Was zur Hölle geht denn ab? Seid ihr tot, oder was?“ Jetzt kam wieder Leben in Phillip. Er ließ augenblicklich Leons Hand los, setzte sich auf, warf dem Libero einen hilfesuchenden Blick zu, doch der sah nur zur Seite. Die Sekunden in denen Mark sie nur verwirrt musterte, vergingen quälend langsam. „Was ist? Habt ihr nix zu sagen?“ Sie beide schwiegen, vermieden Marks Blick. Dem klappte der Mund auf. „Wollt ihr etwa… heißt das… seid ihr etwa ernsthaft Schwuletten?“ Phillip schluckte hart. Was für eine freundliche Art es auszudrücken. „Warum bist du eigentlich noch da?“, fragte er nun und seine Kehle war staubtrocken. „Warum ich noch da bin ist doch scheißegal! Alter, ich fass es nich! Ihr seid echt schwul! Wie behindert ist das denn? Boah, ist das eklig!“ Er tat einen Schritt zurück, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Leon schwieg weiter. Die Luft stand, die Sonne brannte auf sie herab. Die Hitze war nun noch unerträglicher als zuvor. Phillip jedoch erhob nun die Stimme: „Und wenn schon. Was soll denn bitte daran eklig sein? Immerhin machen wir nicht auf jeder Party mit fünf verschiedenen Weibern rum! Ja, wir sind zusammen, na und? Wir spielen ja deshalb nicht schlechter Fußball!“ „Und wenn ich auf jeder Party mit zehn Mädchen poppen würde, ihr fickt euch in den Arsch! So was widerliches!“ Ihr Mitspieler wandte sich ab und lief über den Platz zurück zu den Umkleiden. Phillip sah ihm schnaufend nach. „So ein Arsch!“, brüllte er. „Was geht bei dem eigentlich im Kopf ab? Ich weiß echt nicht, wo sein Problem liegt!“ Er war aufgestanden. „Phillip“ Hörte er Leon zaghaft sagen, spürte wie seine Hand sich in seine eigene schob. „Hast nicht du am Anfang gesagt, dass wir aufpassen müssen, dass die anderen nichts mitbekommen?“ Der Angesprochene hielt inne. Er sah auf Leons geneigten Kopf. Dann sagte er: „Ja klar, aber er muss ja nicht gleich so 'nen Aufstand machen! Als würden wir die Mannschaft gefährden oder so was, dabei bist du unser wertvollster Spieler. Wir steigen nächste Saison nur dank dir auf.“ „Aber wie hättest du an seiner Stelle reagiert? Wenn du ihn vor drei Monaten mit mir hier vorgefunden hättest?“ „Bestimmt nicht so!“, schnaufte Phillip. Er hätte sich nie so affig angestellt! „Ach komm schon! Du hättest doch ganz genauso reagiert. Jetzt kannst du das so leichthin behaupten, aber auch nur, weil du in der Situation bist. Es reagieren doch immer alle gleich.“ Er wirkte verzweifelt, tieftraurig, fast schon verbittert. Phillip setzte sich wieder zu ihm, streichelte ihm durch die Locken. „Tut mir leid“, flüsterte er, doch Leon sah ihn nicht an, sondern erhob sich und sagte dann bitter: „Fährst du mich nach Hause?“ Normalerweise quengelte er immer, dass er nicht nach Hause, sondern bei ihm bleiben wollte. Trotzdem bejahte er. Schließlich lag er alleine auf seinem Bett im Dunklen, hörte wie der Regen draußen gegen die Scheiben klopfte. Es hatte Leon wohl wirklich getroffen wie Mark reagiert hatte. Hatte er so was schon öfter erlebt? Er tat ihm leid. Und was erwartete sie nun überhaupt? Mark würde wohl kaum sein geschwätziges Maul halten. Spätestens beim nächsten Training würden es alle wissen, einschließlich des Trainers. Wie würde der Rest der Mannschaft reagieren? Genauso wie Mark? Was für ein scheiß Tag! Und er wusste, dass die nächste Zeit genauso beschissen werden würde. Und es kam, wie er es vermutet hatte. Die folgende Zeit wurde der absolute Horror. Die anderen Mitspieler wechselten kein Wort mehr mit ihnen, kooperierten im Training nicht mit ihnen und im Spiel bekamen sie keinen einzigen Pass von den anderen. Der einzige, der wenigstens eine Stufe über den anderen stand, war Tobi. Wenn sich wirklich keine andere Möglichkeit ergab und bevor ihm der Ball abgenommen wurde, passte er entweder Leon oder Phillip zu, wenn sie frei standen. Und auch Leon distanzierte sich von ihm. In dieser Zeit hasste er sein Leben abgrundtief. Wieso musste gerade ihm das passieren? Er fühlte sich verlassen. Von der ganzen Welt und vor allem von Leon. Warum wandte der sich plötzlich so von ihm ab? Sie saßen gerade nach dem Training im Auto und Phillip sollte Leon eigentlich nach Hause fahren, da fasste er einen Entschluss. Er fuhr nicht zu ihm, sondern zu sich nach Hause. „Du solltest mich doch nach Hause fahren“, sagte Leon müde. „Wir müssen reden“, erwiderte Phillip daraufhin nur kühl und holte seine Tasche hinten aus dem Auto, schloss es ab, nachdem Leon es ihm nachgetan hatte. „Worüber denn bitte?“, fragte Leon nun, wirkte genervt. „Alles.“ Er ging in seine Wohnung und als erstes in Richtung Kühlschrank. Er hatte Hunger. „Was alles?“ Leon lehnte sich gegen den Küchentisch, beobachtete seinen Freund. „Die Mannschaft, die Spiele“, zählte Phillip auf und beim letzten Wort drehte er sich zum Libero um, sah ihn durchdringend an. „Uns.“ Leon schluckte. Nervös fuhr er sich durchs Haar und fragte: „Wieso willst du denn über uns reden?“ „Nachher“, vertröstete Phillip ihn. „Ich hab übelst Hunger, wir essen erst was.“ Nachdem er jedoch nichts im Kühlschrank fand, was man hätte kochen können, warf er einfach nur zwei Pizzen in den Ofen, stellte den Wecker. Sie warteten und schwiegen sich an, während sie sich am Tisch gegenüber saßen. „Jetzt mach doch endlich mal ’ne Ansage, das nervt tierisch!“, brauste Leon plötzlich auf. Phillip holte tief Luft, sah Leon in die Augen. „Dir geht die ganze Sache ziemlich zu Herzen, oder?“ „Dir etwa nicht?“, fragte Leon kleinlaut, vermied den Blickkontakt. „Nur bedingt. Was die anderen aus der Mannschaft von mir denken ist mir inzwischen so ziemlich egal. Sollen sie mich doch als Arschficker und was weiß ich was beschimpfen; ist mir gleich.“ „Schön für dich“, murmelte Leon, nestelte mit den Fingern an seiner Hose. „Was mir allerdings nicht egal ist“, sagte er schließlich und ergriff Leons Hand, zog sie zu sich. „Ist, wie du dich verhältst. Ich dachte, gerade jetzt sollten wir zusammenhalten, aber du wendest dich nur von mir ab. Was soll das, Leon? Hängt das damit zusammen, dass du glaubst dadurch wieder mehr in die Mannschaft integriert zu werden? Vergiss es! Die haben jetzt das Bild von dir und mir und dabei werden sie vorerst bleiben. Und irgendwann werden sie sich mit Sicherheit wieder einkriegen.“ Er versuchte sich an einem Lächeln, doch Leon zog seine Hand zurück und entgegnete: „Daran liegt es doch gar nicht. Ich weiß nicht, warum ich das tue, aber eigentlich will ich ja jede Minute mit dir verbringen, aber... Ich kann es nicht sagen und es tut mir leid, aber…“ Er brach ab, schluckte hart. Nun schob er seine Hand wieder Phillip zu, der sie ergriff. „Stört dich was an mir?“, versuchte es Phillip, doch Leon schüttelte den Kopf. „Liebst du mich nicht mehr?“, fragte er tonlos. Er wollte am liebsten gar keine Antwort auf diese Frage. Sollte Leon es nicht mehr tun, wusste er nicht, wie er reagieren sollte. „Doch!“, rief Leon allerdings hastig aus, sah auf. „Ich liebe dich wie immer, wenn nicht sogar noch mehr, aber mich zieht die ganze Sache so wahnsinnig runter und ich will dich nicht mitziehen.“ Beschämt sah er wieder zur Seite, doch Phillip musste unwillkürlich lächeln. „Und ich dachte immer, dass es zu 'ner Beziehung dazugehört, auch in schweren Zeiten zusammenzuhalten… Leon glaub mir, jetzt grad mögen die sich aufspielen und den Schulhofrowdy raushängen lassen, aber spätestens zu Beginn der nächsten Saison ist alles wieder beim Alten, wenn sich alle beruhigt haben.“ „Bist du sicher, Phlip?“ Er hatte ihn schon lange nicht mehr so genannt. Phillip streichelte ihm mit dem Daumen über den Handrücken, lächelte und sagte: „Ganz sicher.“ Dann ließ er die Hand los, lehnte sich über den Tisch und zog mit seinem Daumen Leons Mundwinkel nach oben. Die Geste brachte den Schüler wirklich zum Lachen und Phillip stimmte mit ein. Hoffentlich war nun wenigstens diese Krise überwunden. Nachdem sie gegessen hatten, hatten sie sich vor den Fernseher gesetzt und begonnen einen Film zu schauen. Phillip fand ihn langweilig, doch Leon wollte ihn unbedingt zu Ende gucken. So hatte der Stürmer seinen Kopf gegen Leons Schulter gelegt und döste vor sich hin, gab hin und wieder dumme Kommentare von sich, die Leon fast zur Weißglut trieben. Gerade kam Werbung. „Sag mal, weißt du eigentlich inzwischen wenigstens 'ne Richtung in die du dich nach dem Abi orientieren willst?“, fragte Phillip und Leon stöhnte auf. „Jetzt mal ernsthaft, du solltest dich langsam entscheiden…“ „Ich werd Profifußballer!“, brauste Leon plötzlich auf. Phillip hob erschrocken den Kopf von seiner Schulter und sah ihn perplex an. Dann fragte er: „Profifußballer? Bist du jetzt komplett bescheuert? Wie stellst du dir das denn vor? Glaubst du, der DFB ruft dich demnächst an und fragt dich, ob du in die Nationalmannschaft willst oder Bayern klingelt bei dir durch, weil sie da noch einen bräuchten?“ Leon stöhnte erneut. „Das war doch nur ein Spaß!“ Er schwieg. Warum war Leon denn plötzlich so angepisst? Doch er lieferte ihm prompt die Antwort: „Ey du bist wie meine Mutter! ‚Konzentrier dich auf die Schule!’ ‚Kümmre dich mal um deine Zukunft!’ ‚Lass doch das blöde Fußballspielen bleiben, das lenkt dich viel zu sehr ab!’. Ich hasse es! Fußball ist neben dir das einzige in meinem Leben, das ich wirklich liebe! Ich lebe für den Fußball! Wozu brauch ich denn Mathe, Physik, Kunst und Musik und den ganzen Schrott? Ich will doch nur Fußball spielen! Ich bin doch noch jung, ich bin noch nicht mal volljährig und schon soll ich meine ganze Zukunft vorausplanen und am besten schon mal 'nen Rentenfond anlegen! So ein Rotz! Ich hör ganz bestimmt nicht auf Fußball zu spielen, ihr spinnt doch alle! Und dass ich nicht so einfach Fußballprofi werden kann, weiß ich doch selbst. Für wie bescheuert haltet ihr mich eigentlich alle? Ich weiß doch, dass ich mir Gedanken um meine Zukunft machen muss und ich tue es ununterbrochen, aber weißt du, wie viel Zeug man studieren und lernen kann? Ich wünschte, ihr würdet mich alle in Ruhe und mich wenigstens jetzt noch Fußball spielen lassen; jetzt, wo ich noch die Zeit dazu habe.“ Das lag dem Ganzen also zu Grunde. Seine Mutter hätte es also am liebsten, wenn er mit dem Fußballspielen aufhörte, weil es ihn anscheinend von der Schule und den wichtigen Dingen des Lebens ablenkte. Nur Leon konnte das natürlich nicht nachvollziehen. Phillip hingegen konnte beide Seiten verstehen. Er selbst war früher genauso gewesen wie Leon. Er hatte immer nur Fußball spielen wollen. Den Werkrealschulabschluss hatte er nur auf das Drängen seiner Eltern hin gemacht und irgendwann war er dann einsichtig geworden. Er hatte verstanden, dass man vom Fußballspielen allein keine Miete bezahlen konnte, kein Essen, keinen Strom und kein Wasser. Wenn man nicht in einer der höheren Ligen spielte, verdiente man einfach nichts und dafür war ihre Mannschaft bei weitem zu schlecht – wenn, dann mussten sie bezahlen, wenn der Schiri ihnen eine Karte gab. Leon schnaubte. Er bemühte sich wohl sich wieder zu beruhigen. Phillip beobachtete ihn von der Seite. Schließlich wandte er ihm aber wieder das Gesicht zu und sagte, nun ruhiger: „Tut mir leid, dass ich so ausgerastet bin, aber du hast dich echt so angehört wie meine Mutter. Und die sagt mir ständig, dass ich aufhören soll Fußball zu spielen. Ich ertrag es einfach nicht, wenn sie das tut. Meine Schwester darf Tennis spielen, wie es ihr passt. Die wird zu jedem Turnier gefahren, egal wie weit es ist. Ich muss selbst schauen, wie ich zu meinen Spielen komme. Sie kriegt auch jedes Jahr neue Tennisschuhe, ich muss meine ausgelatschten von vor drei Jahren immer noch tragen, bis ich genug gespart hab um mir neue Stollenschuhe zu leisten. Und wirklich jedes Mal, wenn ich mit meiner Mutter länger als fünf Minuten zusammen bin, will sie mir den Fußball wieder ausreden…“ Er überlegte einen Moment. „Naja gut, seit ein paar Wochen will sie mir noch was ausreden. Von unserer Beziehung ist sie nämlich auch nicht wirklich angetan. Und aus dem Grund will ich eigentlich nie nach Hause, sondern zu dir.“ Er barg sein Gesicht an Phillips Schulter, der seine Arme schweigend um ihn schloss. „Du verstehst mich. Du liebst das Fußballspielen auch. Und du liebst mich. Du willst mir nichts ausreden oder mich verbiegen. Du magst mich einfach so wie ich bin. Das ist so angenehm. Ich war so was gar nicht mehr gewöhnt. Deswegen will ich immer bei dir sein. Du bist der einzige, der mich versteht. Der mich verstehen kann.“ Leon atmete tief durch. Phillip küsste sanft sein Haupt. „Aber jetzt ist da auch noch die Sache mit der Mannschaft. So kann man doch nicht gescheit spielen und gewinnen schon gar nicht. Ich frag mich, warum der Trainer uns nicht einfach auf die Bank setzt. Wahrscheinlich, weil er uns auch nicht mehr leiden kann, weil wir zusammen sind.“ Er seufzte. Phillip hörte ihm zu und streichelte ihm über den Rücken. Er wusste gar nicht, was er darauf erwidern sollte, aber er hatte das Gefühl, als bräuchte Leon gar keinen Ratschlag oder sonst irgendwas von ihm. Er brauchte nur jemanden, dem er sich anvertrauen konnte, der ihm zuhörte. Und das konnte Phillip ihm bieten. Leon sprach weiter: „Als mein Schlüsselbein gebrochen war, war ich auch so froh, dass du für mich da warst. Wenn ich dich nicht gehabt hätte, wär ich wahrscheinlich total eingegangen. Vor dir hab ich immer nur den Fußball geliebt und nur dafür gelebt. Hin und wieder hatte ich mal was mit irgendeinem Typen, aber ich war nie verliebt. Wenn dann war ich nur besoffen und hab halt mit einem rumgemacht, weil es sich angeboten hat. Aber seit ich dich hab, geht es mir irgendwie besser. Ich hab einen Pol in meinem Leben dazubekommen. Irgendwie ist es wie mit Stelzen. Früher war mein einziger Halt der Fußball und dadurch hab ich immer gefährlich geschwankt. Hätte ich damals länger aussetzen müssen, wäre ich abgestürzt. Jetzt hab ich noch dich und du gibst mir zusätzlich Sicherheit. Und wenn ich falle, dann fängst du mich auf. Wenn ich meine Launen hab, dann lächelst du nur und lässt mich spinnen. Wenn ich wieder irgendwas total Bescheuertes mache, dann machst du einfach mit und teilst meine Freude. Und wenn ich nachts rumheule und vor Schmerzen und Übermüdung nicht schlafen kann, dann hältst du mich im Arm, tröstest mich und würdest Himmel und Hölle in Bewegung setzen, nur damit es mir besser geht.“ Er drängte sich näher gegen Phillip. Der hatte inzwischen seine Wange auf Leons Kopf abgelegt und ihm gebannt gelauscht. „Und jetzt laber ich dich hier voll und du hörst mir zu, unterbrichst mich nicht, sondern hältst mich im Arm. Ich hab dich eigentlich gar nicht verdient.“ Er lachte, hob den Kopf an und sah Phillip melancholisch lächelnd entgegen. Der fragte sich nun wer hier wen nicht verdient hatte. Doch er lächelte seinen Freund aufmunternd an, küsste ihn sanft und sagte dann: „Ich liebe dich.“ Er wusste nicht, was er ihm anderes hätte sagen sollen. Und nicht einmal das reichte in dem Moment eigentlich aus um seine Gefühle zu beschreiben. „Ich dich auch.“ Leon blinzelte glücklich, küsste ihn auch. Dann legte er ihm den Kopf in den Schoß, sah zum Fernseher und rollte sich auf dem Sofa zusammen. Sie schwiegen. Vom Film hatten sie einiges verpasst, aber Phillip störte das ja nicht. Er kraulte Leon durchs Haar, genoss die Nähe zu ihm und dachte noch einmal über das Gesagte nach. Deshalb wollte Leon immer zu ihm. Und er hatte seiner Familie, also zumindest seiner Mutter, von ihrer Beziehung erzählt. Das hatte er selbst noch vor sich und es graute ihm davor. Besonders seine beiden Brüder würden wohl ziemlich brüsk reagieren. Aber jetzt hatte ihm Leon sein Herz ausgeschüttet. All das hatte er zuvor mit sich rumgeschleppt, all die Worte hatten auf seinem Herzen gelastet und er hatte alle gesagt, als hätte er Steine aus einem Rucksack genommen. Es war unglaublich! Als der Film zu Ende war, war Leon schon eingeschlafen. Es war Samstagabend, also konnten sie am nächsten Morgen ausschlafen. Dennoch stellte Phillip den Fernseher aus und weckte Leon sanft. Der meldete sich nur mit einem Brummen und bedeutete Phillip so, dass er wach war und ihn hörte. „Los, steh auf, der Film ist vorbei und wenn du schlafen willst, solltest du das lieber im Bett tun, sonst hast du morgen nämlich 'ne Genickstarre.“ „Aber ’s is doch so bequem“, nuschelte der Angesprochene kaum verständlich, umfasste zur Bestätigung Phillips Bauch – er hatte sich inzwischen auf die andere Seite gelegt – und drückte sich noch näher an ihn. „Ich will aber auch schlafen gehen und zumindest für mich ist es hier ziemlich unbequem. Jetzt steh schon auf, du musst doch nur kurz rüber ins Schlafzimmer gehen und dich ins Bett legen, dann kannst du weiterschlafen.“ „Ich mag aber nich!“, murrte der Jüngere nun und Phillip griff zu drastischeren Maßnahmen. Er zwickte ihm wiederholt in die Seite und zog ihm leicht an einzelnen Haarsträhnen. „Oh Phillip!“, stöhnte Leon schließlich. Aber es wirkte. Er erhob sich langsam und träge. Als er vor ihm stand, warf er ihm noch einen Blick zu, der ihn hätte töten können, dann schlurfte er in Richtung Schlafzimmer weg. Phillip lächelte nur, schaffte noch wenigstens oberflächlich Ordnung und folgte ihm dann. Leon hatte sich – Bauch voran – einfach aufs Bett fallen lassen und ratzte da nun friedlich weiter. Phillip packte seine Beine, die noch weit über die Bettkante herausragten und verfrachtete sie zum Rest von Leons Körper aufs Bett. Dann legte er sich auch hin, legte einen Arm um ihn, schloss die Augen und schlief schnell ein. Kapitel 6: Tennis, Verlierer und Poignées d’amour ------------------------------------------------- So... eigentlich hatte ich gehofft, dass das Finale der US Open jetzt schon fertig ist, aber... Pustekuchen! Wurde schon das zweite Mal wegen Regen nach hinten verlegt. So ein Rotz! Das wird wieder ne lange Nacht! Das jetzt nur kurz am Rande, weil es in diesem kapitel auch ein wenig (mehr) um Tennis geht xD Viel Spaß auf jeden Fall! EDIT: Super und jetzt wurde es auf Montag verschoben >__>" „Hey, Phlip!“, meldete sich Leon am Telefon. Phillip wunderte sich. Seit wann rief Leon ihn an und kam nicht einfach spontan bei ihm vorbei? „Hi!“, brachte er irritiert hervor. „Wieso rufst du mich an?“ Er sah aus dem Fenster. Das hörte sich jetzt irgendwie abweisend an, obwohl ihn eigentlich wirklich nur der Grund interessierte. Normalerweise hätte Leon nicht mal ein gebrochenes Bein davon abgehalten zu ihm zu humpeln. „Willst du etwa nicht mit mir telefonieren? Stör ich dich? Darf ich dich nicht anrufen?“ „Nein! – Ich meine ja. Ach, mich wundert’s nur, dass du nicht direkt vorbeikommst.“ Leon lachte, dann sagte er: „Wär grad zu umständlich gewesen.“ Dann schien er sich vom Telefon abzuwenden und sprach mit einer anderen Person: „Jetzt lass mich in Ruhe telefonieren! Geh endlich weg!“ Aber anstatt, dass Leon alleingelassen wurde, hörte Phillip nun ein Mädchen rufen: „Hi Phillip!“ „Wer ist das denn?“, fragte er, doch Leon erwiderte nur: „Warte kurz!“ Dann wurde der Hörer beiseite gelegt und Phillip konnte das Mädchen vergnügt kreischen hören. Und Leon rief: „Jetzt verschwinde endlich aus meinem Zimmer, du kleine Mistkröte! Ich telefoniere mit meinem Freund, das geht dich gar nichts an!“ Doch das Mädchen rief zurück: „Lass mich doch zuhören! Ich hab ihn noch nie gesehen, ich will ihn auch kennenlernen! Au! Du Arsch!“ „Nimm nicht solche Wörter in den Mund und jetzt raus!“ Eine Tür knallte und nur noch sehr gedämpft konnte Phillip das Mädchen Leons Namen rufen hören. Dann wurde das Telefon wieder aufgenommen und Leon meldete sich: „Phillip? Bist du noch dran?“ Er bestätigte es und Leon fuhr fort: „Sorry, das war meine kleine Schwester. Die kann mich auch nie in Ruhe lassen. Ich hab jetzt die Tür abgeschlossen, dann kann sie wenigstens nur noch halb so viel nerven. Tut mir echt leid.“ „Kein Problem“, antwortete Phillip, immer noch ziemlich perplex. Dann aber berappelte er sich wieder und fragte: „Also, wieso rufst du an?“ „Ja“, sagte Leon gedehnt und Phillip merkte, dass es ihm peinlich war. „Ich hätte da 'ne Bitte an dich…“ Es war früher Samstagvormittag und Phillip hatte bisher nicht wirklich viel gemacht. Er hatte nur mal endlich wieder die Wohnung durchgesaugt und begonnen das Bad zu putzen, da hatte sein Telefon geklingelt. Nun stand er vor der Balkontür und sah hinaus in den herrlich blauen Himmel. „Was brauchst du denn?“, fragte er, verstand nicht, warum Leon sich so anstellte. „Also meine Eltern sind nicht da“, begann der und aus dem Hintergrund hörte er wieder Leons kleine Schwester rufen. Der Libero stöhnte genervt und sagte: „Sorry, du musst noch mal kurz 'nen Moment warten.“ Er wurde wieder weggelegt und hörte, wie Leon zur Tür ging, diese aufriss und seine Schwester anbrüllte: „Jetzt sei doch endlich mal still! Ich mach das nicht für mich, sondern für dich! Also lass mich bitte in Ruhe telefonieren, du wirst ihn schon noch kennenlernen!“ Dann war Stille und Leon kam wieder ans Telefon. „Boah, die kann echt so nerven!“, beklagte er sich. Phillip schmunzelte. Er hatte sich auch oft genug mit seinen Geschwistern gezofft. „Wo war ich stehen geblieben?“ „Du wolltest mir sagen, was du von mir brauchst.“ „Ach ja, genau: Hast du heute schon was vor?“ Phillip überlegte einen Moment, verneinte dann. „Gut, wie schon gesagt, sind meine Eltern nicht da. Und meine Schwester hat ein Turnier auswärts…“ Er zögerte. „Tja und meine Eltern haben mir gesagt, ich solle irgendwie dafür sorgen, dass sie zu diesem Turnier kommt, weil es sehr wichtig für sie ist…“ Wieder eine Pause. Da nahm Phillip ihm das Reden ab und sagte: „Aber du hast keine Ahnung wie du das machen sollst und weil ich ein Auto hab, dachtest du, dass ich euch dahin fahren kann.“ „Ja, genau das.“ Er klang schuldbewusst und fügte noch hastig hinzu: „Ich zahl auch das Benzin, aber es wäre echt super, wenn du mit uns dahin gehen könntest, ich hab außerdem auch keine Lust da die ganze Zeit allein rumzuhocken, während sie spielt.“ „Kann ich schon machen“, sagte er. „Ich hab allerdings absolut keine Ahnung von Tennis.“ „Das ist kein Problem!“, eilte sich Leon zu sagen. „Mann, du bist echt meine Rettung!“ „Wann soll ich euch denn dann abholen?“, fragte Phillip und Leon antwortete: „Wenn du in 'ner halben Stunde da sein könntest?“ Das war wieder typisch für Leon: auf den letzten Drücker noch irgendwas organisiert. „Gut, dann komm ich bei euch vorbei. Weißt du, wo wir langfahren müssen?“ „Ja, das ist kein Problem. Wirklich, Phlip, du bist meine letzte Rettung! Ich liebe dich!“ „Ich dich auch.“ „Also dann bis später! Ciao.“ „Tschö.“ Damit war das Telefonat beendet. Phillip warf einen Blick ins Bad. Den Rest kriegte er wohl grad noch so hin, dass er auch noch kurz duschen konnte und dann rechtzeitig bei den Beiden ankam. Als er bei Naumanns klingelte war er irgendwie etwas nervös. Er wusste selbst nicht genau wieso, aber er konnte es auch nicht einfach abstreifen. Doch da öffnete Leon ihm die Tür, lächelte ihn an und begrüßte ihn mit einem flüchtigen Kuss. Phillip wollte im ersten Moment schon zurückschrecken, bis ihm wieder einfiel, dass ihr Geheimnis ja nun schon längst raus war. Aus dem Hintergrund konnte man ein lang gezogenes „Iieh!“ vernehmen und Leon verdrehte daraufhin die Augen, trat einen Schritt beiseite. Zum Vorschein kam ein ungefähr 14- oder 15-jähriges Mädchen mit aschblondem Haar, das es sich zu einem Zopf gebunden hatte. „Darf ich vorstellen?“, fragte Leon, wirkte leicht genervt. „Das ist meine kleine, nervige Schwester Cäcilia, aber du kannst sie ruhig Zilli nennen.“ „Hi, Zilli, ich bin Phillip.“ Er reichte ihr die Hand und sie ergriff sie, grinste und erwiderte: „Weiß ich.“ Ihr Grinsen erinnerte ihn an Leon. Der hatte sich ihre Tasche geschnappt, aus der der Griff eines Tennisschlägers herausragte, und trug diese zum Auto, zog hinter sich die Haustür zu. Seine Schwester ging ihm hinterher und fragte an Phillip gewandt: „Ist das dein Auto?“ „Jap“, antwortete der und beobachtete, wie Leon die Tasche auf den Rücksitz lud. Dann fragte er: „Wo müssen wir denn eigentlich hin?“ Leon sagte ihm ihr Ziel. Bis dahin war es eine gute Dreiviertelstunde Fahrt. „Na dann packen wir’s mal lieber, nicht dass wir irgendwo im Stau stecken bleiben.“ Leon nickte, setzte sich auf den Beifahrersitz, seine Schwester nahm hinter ihm Platz. Dann fuhren sie los. Durch den Rückspiegel konnte Phillip sehen, dass das Mädchen ihn unentwegt anstarrte. Er wurde wieder nervös. Passte er ihr etwa nicht? War er ihr unsympathisch? „Du hast nie gesagt, dass er so gut aussieht!“, wandte sie sich dann aber an ihren großen Bruder. Der antwortete allerdings nur genervt: „Ich hab aber auch nie gesagt, dass er hässlich ist! Und natürlich sieht er gut aus, ist ja schließlich mein Freund.“ „Deine anderen Freunde sind aber alle hässlich!“ „Und du bist nervig und deine ganzen Freundinnen sind pubertierende Pickelgesichter.“ Sie überging diesen Kommentar, grinste ihrerseits wieder und schlug vor: „Wenn du noch mehr so hübsche Freunde hast, dann bring mal mehr mit nach Hause.“ „Wieso? Für dich interessiert sich von denen eh keiner, du bist viel zu jung für die. Du bist generell viel zu jung für 'nen Freund.“ „Bin ich nicht! Wir Mädchen sind eh viel früher viel weiter als ihr Jungs. Ich bin also geistig schon mindestens auf deinem Niveau. Ich würd aber eher vermuten, dass ich dir noch mal zwei Jahre voraus bin, so kindisch wie du dich immer anstellst!“ Phillip lachte. Da hatte sie allerdings Recht! Leon konnte wahnsinnig kindisch sein. Aber durch sein Lachen erntete er nur einen missbilligenden Seitenblick von Leon. Seine Schwester hingegen lachte ebenfalls triumphierend auf und sagte gehässig: „Siehst du? Sogar dein Freund findet dich kindisch! An deiner Stelle würde ich mir Gedanken machen.“ „Und an deiner Stelle wär ich jetzt lieber mal still, schließlich ist es mein Freund, der dich zu deinem Turnier fährt. Und wenn ich will, dann dreht er um und fährt einfach wieder zurück.“ „Das würde er nicht machen!“, rief sie aus, doch Leon grinste süffisant, legte Phillip seine Hand auf den Oberschenkel, streichelte sanft darüber und sagte: „Ich hab Mittel und Wege ihn dazu zu bringen…“ „Aber Mama und Papa…“ „Können mir gar nichts und jetzt halt endlich die Klappe!“ Damit war sie dann wirklich still. Leon nahm allerdings seine Hand nicht von Phillips Schenkel, sondern lächelte ihn nur an. Inzwischen waren sie auf der Autobahn und da sein alter Golf auch nicht mehr die höchsten Geschwindigkeiten verkraftete, hatte er die Möglichkeit eine Hand vom Lenkrad zu nehmen und sie auf Leons zu legen. Er hatte beschlossen, dass er sich aus Geschwisterstreitereien raus hielt. Das konnte schließlich nur schief gehen und meistens waren es ohnehin nur gegenstandslose Kabbeleien. So hatte er die Beiden größtenteils reden lassen. Aber es war trotzdem merkwürdig, wenn Leon von ihm als seinen Freund sprach. Seine Schwester allerdings schien damit kein Problem zu haben sie schien es einfach zu akzeptieren. Für sie war es wohl schon vollkommen normal, dass Leon von seinem Freund erzählte. „Hab ich dich vorhin eigentlich geweckt?“, fragte Leon ihn nach einiger Zeit, schien sich etwas schuldig zu fühlen. „Normalerweise schläfst du ja etwas länger aus, wenn du frei hast.“ „Nee, keine Sorge, ich war eh schon wach, wollte eigentlich die Wohnung mal wieder auf Vordermann bringen, aber jetzt hab ich’s halt doch nur geschafft zu saugen und das Bad zu putzen. Dann muss ich den Rest halt morgen machen.“ „Tut mir echt leid. Ich komm morgen vorbei und helf dir dabei.“ Phillip musste sich auf die Unterlippe beißen um nicht zu lachen, denn jedes Mal versprach Leon ihm beim Putzen zu helfen, schlussendlich setzte Phillip ihn aber jedes Mal auf die Couch vor den Fernseher, weil er mehr Unordnung und Dreck machte, als er beseitigte. Doch er riss sich zusammen und entgegnete: „Lass mal, das passt schon. Das krieg ich grad noch so hin.“ „Aber ich könnte dir wirklich…“, setzte Leon an, aber Cäcilia unterbrach ihn: „Sei doch froh, dass du drumrum kommst, zuhause drückst du dich doch auch immer!“ „Halt du dich da raus!“, fauchte er in ihre Richtung und sie zog beleidigt eine Schnute. „Wirklich, Leon, das passt schon. Jetzt mach dir mal keine Gedanken. Außerdem schadet’s ja nichts, sich mal eine andere Sportart anzuschauen. Sonst hab ich ja wenn dann vielleicht mal ein Handball- oder ein Eishockeyspiel angeschaut, aber das war’s dann auch. Plus: ich bin schon ewig nicht mehr aus der Stadt rausgekommen, ist also 'ne willkommene Abwechslung.“ Gott sei Dank hatten sie relativ zügig einen Parkplatz gefunden, als sie angekommen waren; und der war noch nicht mal all zu weit von den Plätzen weg. Wie selbstverständlich trug Leon seiner kleinen Schwester die Tasche und Phillip ging ihnen hinterher. Nun warteten sie vor den Umkleiden, bis Cäcilia wieder herauskam. Leon ergriff vorsichtig Phillips Hand, stellte sich etwas näher zu ihm – sie lehnten nebeneinander an der Wand neben der Tür zu den Umkleideräumen. Etwas erschrocken zog Phillip seine Hand zurück. Sie waren in der Öffentlichkeit! Doch Leon schien seinen Gedankengang zu erahnen, lächelte sanft und flüsterte ihm zu: „Hier kennt uns niemand. Außerdem haben wir uns in dem Sinn ja auch schon geoutet – mehr oder weniger freiwillig.“ „Aber ist es deiner Schwester nicht peinlich?“, fragte Phillip, warf einen Blick auf die Tür, durch die ständig Mädchen rein oder rausspazierten. „Die hat das hinzunehmen, außerdem ist es ihr nicht peinlich, sie weiß schon lange, dass ich schwul bin.“ Er lächelte wieder, griff erneut nach Phillips Hand. Dessen Handinnenfläche wurde nun allerdings feucht und schwitzig, ziemlich eklig, deswegen zog er sie zum zweiten Mal zurück und trocknete sie an seiner Hose. Leon seufzte. Doch er nahm es hin und fragte, wohl um das Thema zu wechseln, weil er doch bemerkt zu haben schien, dass sich Phillip damit ziemlich unwohl fühlte: „Hast du dir eigentlich 'ne Kopfbedeckung mitgenommen?“ Er verneinte, doch Leon grinste nur und sagte dann: „Na dann hab ich meine zweite Käppi wohl doch nicht umsonst eingepackt. Ich hab sie einfach bei Zilli in die Tasche geworfen.“ „Danke sehr.“ Es erstaunte Phillip, dass Leon an so etwas gedacht hatte. Er schien ja doch minimales Talent fürs Organisieren zu haben. „Krieg ich dafür wenigstens 'nen Kuss?“ Er drehte ihm sein Gesicht zu, doch Phillip hatte noch immer Skrupel. Er konnte das einfach nicht; nicht in aller Öffentlichkeit. Doch er überwand sich wenigstens bis zu einem gewissen Grad und küsste Leon so auf die Wange. Der Libero verzog das Gesicht. Dann fragte er: „Bin ich dir peinlich?“ „Nein!“, sagte Phillip hastig. „Nicht doch du, aber irgendwie… hier sind so viele Leute“, fügte er kleinlaut hinzu, sah sich um. Doch da nahm Leon sein Gesicht zwischen seine Hände, wandte es sich zu und grinste ihm entgegen, indem er sagte: „Pech.“ Dann küsste er ihn. Nur auf die Lippen, nicht sehr innig, er war sich sehr wohl bewusst, dass sie in der Öffentlichkeit standen. Aber dennoch schaffte er es, dass Phillip das Blut in den Kopf schoss. Und dann kam Cäcilia und maulte: „Weißt du? Ehrlich, Leon! Dass du so was immer in aller Öffentlichkeit durchziehst!“ Doch als Phillip zu ihr sah, erkannte er, dass ihre Lippen ein Lächeln umspielte. Er bewunderte sie für so viel Toleranz. Das war schließlich nicht der Normalfall, wie er in der Mannschaft am eigenen Leib hatte erfahren müssen. Die Saison war nun zum Glück vorbei und die nächsten Wochen hatten sie kein Training mehr. Doch relativ zu Beginn der neuen Saison stand ihnen das Spiel gegen Freiburg bevor. Phillip konnte nur hoffen, dass sich die Wogen bis dahin geglättet hatten. Aber Cäcilia hatte sich wahrscheinlich schon längst damit abgefunden, schließlich wusste sie es ja scheinbar schon eine ganze Weile. „Halt doch die Klappe“, murrte Leon, wandte sich von Phillip ab und fragte sie dann: „Hast du dir eigentlich was zu trinken eingepackt?“ „Nö“, antwortete sie, zuckte gleichgültig mit den Achseln. „Du bist doch so dämlich! Ich hab dir doch extra noch gesagt, dass du dir 'ne Flasche Wasser einstecken sollst. Jetzt müssen wir dir was kaufen. Super!“ „Lädst du mich ein?“, fragte sie, ignorierte sein Geschimpfe, hatte lediglich ein süffisantes Lächeln auf den Lippen. „Wenn du zu blöd bist dir was mitzunehmen, soll ich dir auch noch was spendieren? Ich zieh dir gleich die Ohren lang!“ Leon schien gar nicht angetan von der Idee, dennoch nahm er Phillip bei der Hand, hängte sich Cäcilias Tasche über die andere Schulter und ging los in Richtung Getränkeverkauf. Die Schlange war gar nicht mal so lang, doch Leon sagte trotzdem: „Also, am besten ihr wartet hier und ich hol die Getränke. Was wollt ihr?“ „Bring mir Wasser mit, das andere Zeugs is alles nix bei der Hitze“, stellte Cäcilia fest und sah zum wolkenlosen Himmel, wie zur Bestätigung ihrer Worte. „Und du?“, fragte Leon an Phillip gewandt, stellte die Tasche ab. Der überlegte einen Moment, dann jedoch sagte er: „Bring mir auch 'ne Flasche Wasser mit. Wie viel kostet das denn?“ Er wollte schon seinen Geldbeutel zücken, da legte Leon ihm die Hand auf den Arm und sagte: „Lass mal, das machen wir nachher.“ Damit ging er zur Schlange und stellte sich an. „Wie lange seid ihr jetzt eigentlich wirklich zusammen? Leon erzählt nie was.“ Sie war also genauso direkt wie ihr Bruder. Phillip überlegte einen Moment, dann antwortete er: „Viereinhalb Monate müssten es jetzt sein.“ Es überraschte ihn selbst ein wenig, dass es doch schon so lange war und dass sie immer noch so gut miteinander auskamen, obwohl Leon zeitweise fast schon bei ihm eingezogen war. „Und was arbeitest du? Leon hat gesagt, dass du Geselle bist.“ „Ich bin Schreiner.“ „Schreiner? Musst du dann auch an so riesen Maschinen arbeiten? Habt ihr auch Kreissägen und so was?“ „Klar“, antwortete er und sie zögerte mit ihrer nächsten Frage: „Hat sich bei euch schon mal jemand 'nen Finger oder 'ne Hand abgesägt?“ Etwas perplex blickte Phillip sie an, wie sie da in ihrem Tennisdress stand und ihn interessiert ansah. „Nicht als ich dabei war.“ „Aber das ist schon mal passiert?“ Sie machte große Augen. „Wahrscheinlich. Berufsrisiko und man geht meistens etwas zu lässig mit den Sicherheitsvorkehrungen um.“ Er zuckte mit den Achseln. „Krass, wie eklig! Du musst aber aufpassen, sieht nicht gut aus, wenn einem ein Glied fehlt.“ Er musste lachen. Sie sagte es auf eine Weise, dass es irgendwie sehr naiv klang. Wenn man täglich mit Maschinen wie der Band- oder der Kreissäge arbeitete, verlor man irgendwann die Angst davor und wenn man nur eben etwas zurechtsägen wollte, dann war es einfach zu anstrengend alles zu beachten. Sie schwiegen, bis irgendwann Phillip sie fragte: „Hast du eigentlich einen Lieblingstennisspieler?“ „Roger Federer!“, kam es wie aus der Pistole geschossen und Phillip erinnerte sich daran, dass Leon mal so etwas erwähnt hatte. „Stimmt, Leon hat mir erzählt, dass du ihn immer mit ihm vergleichst, weil sie sich so ähnlich sehen.“ Er lächelte, doch sie entgegnete ernst: „Aber ich mag ihn nicht deswegen.“ „Schon klar. Bist du auch aufm Gymi?“ „Jap, ich bin in der Neunten. Aber ich bin nicht so ein Überflieger wie Leon. Der braucht ja nix zu lernen und schreibt trotzdem übelst gute Noten. Ich muss ewig viel lernen, damit ich auch gute Noten bekomme.“ Sie seufzte. Hatte Leon sie nicht als Streberkind bezeichnet, weil sie in der Schule so gut war? Oder hatte er damit ihre Disziplin gemeint? „Ich war nie gut in der Schule“, gestand Phillip. „Ich war immer zu faul. Ich hatte nur Fußball im Kopf.“ „Das wirft meine Mama Leon auch ständig vor, dabei schreibt er im Prinzip keine schlechten Noten. Soll er doch Fußball spielen so viel er will.“ War sie etwa auch genervt von ihrer Mutter? „Redet ihr über mich?“ Leon war wieder zu ihnen gestoßen, drei Flaschen Wasser im Arm und packte gerade seinen Geldbeutel weg. „Du bist viel zu langweilig, als dass man über dich reden könnte“, stichelte seine Schwester, zog eine Grimasse. Leon tat es ihr gleich, piekste ihr mit dem Finger in die Seite. Dann gab er ihr und Phillip je eine Flasche Wasser. „Wie viel schulde ich dir jetzt?“, fragte Phillip, wollte wieder nach seinem Portemonnaie greifen, doch Leon küsste ihn sanft und sagte: „Das passt schon, die Runde geht auf mich. Du bist ja schon gefahren. Die nächste Runde darfst du dann zahlen.“ Phillip seufzte. Eigentlich verdiente er doch Geld und Leon war nur ein armer Schüler, aber er wusste, dass diskutieren nichts brachte, wenn Leon sich mal entschieden hatte. Also ließ er es bleiben. Stattdessen begleiteten sie Cäcilia zu dem Court auf dem ihr erstes Match stattfinden würde. Die Spielerinnen hatten noch die Möglichkeit sich warm zu machen und ein paar Bälle zu schlagen bevor es losging. Leon und Phillip wünschten ihr viel Glück und suchten sich einen Platz auf der Tribüne. Zuvor hatte der Schüler noch die zweite Mütze aus ihrer Tasche geholt und sie Phillip in die Hand gedrückt. Nun da sie saßen, betrachtete dieser sie mit gekräuselter Nase. „Ed Hardy?“, fragte er, konnte nicht fassen, dass Leon so etwas Grässliches besaß. „Hat mir meine Oma zum Geburtstag geschenkt. Ich find’s ehrlich gesagt auch nicht so prickelnd. Aber wenigstens ist sie weiß und nicht pink oder so was. Und besser als 'n Sonnenstich ist sie auch.“ „Jaja, hast ja Recht“, gab Phillip zu und setzte sie auf. Sie beobachteten Cäcilia, wie sie ein paar Runden lief. Sie hatte einen weißen Rock an mit ebenso weißen Shorts drunter; dazu ein blau gestreiftes Top und einer ebenfalls komplett weißen Käppi. „Wusstest du, dass wir jetzt schon viereinhalb Monate zusammen sind?“, fragte Phillip irgendwann, musterte Leon von der Seite; er trug ein orangefarbenes Polo-Shirt – orange stand ihm gut. Der allerdings sah nur erstaunt zu ihm und nickte, bevor er fragte: „Und was ist damit?“ „Naja, hättest du am Anfang gedacht, dass das so lange hält?“, fragte Phillip, wurde etwas nervös. Leon jedoch lachte herzhaft auf und entgegnete: „Natürlich! Und ich hoffe, dass es noch viel länger halten wird, oder willst du mir irgendwas sagen?“ Sein Gesicht wurde mit einem Mal ernst und seine Stirn legte sich etwas besorgt in Falten. Der Stürmer schüttelte den Kopf und sagte schließlich: „Nein. Ich hoffe auch, dass es noch lange hält; beziehungsweise ich glaube, dass es noch lange hält. Aber das ist jetzt. Vor viereinhalb Monaten hätte ich das nicht für möglich gehalten.“ „Hast du uns so wenig Chancen gegeben?“ „Versteh mich nicht falsch, aber du weißt ja, dass du der erste Junge bist mit dem ich… na ja, den ich geküsst habe, mit dem ich zusammen bin, mit dem ich… geschlafen habe.“ Er hatte die Stimme immer weiter gesenkt, flüsterte nun nur noch. „Irgendeiner ist immer der Erste“, flüsterte Leon lächelnd, drückte ihm einen Kuss auf die Wange, sodass der Schirm sein Käppi etwas hochschob. Phillip liebte es Leon so ausgelassen zu sehen. Es gab eigentlich viel zu viele Momente in denen Leon sich unbeobachtet fühlte und in denen er sein Lächeln ablegte und gegen eine ernste, nachdenkliche und irgendwie auch bekümmerte Miene austauschte. Er machte sich wahrscheinlich viel zu viele Gedanken um alles. Eigentlich war er ja eher der spontane Typ und wahrscheinlich schlauchte ihn deshalb die Frage nach seiner Zukunft besonders. Er plante fast nie, ließ die Sachen auf sich zukommen und plötzlich sollte er den Rest seines Lebens planen und wissen, was er bis zu seinem Lebensabend arbeiten wollte. Phillip verstand, dass ihm diese Vorstellung Angst machte und am liebsten hätte er Leon all diese Lasten abgenommen, aber er konnte es nicht. „Gleich geht’s los!“, riss Leon ihn nun allerdings frohgemutes aus den Gedanken. Er sah auf den Platz. Er würde alles tun, damit Leon immer so ausgelassen und glücklich wäre. Die beiden Spielerinnen reichten einander und dem Schiedsrichter die Hand, der dann auf seinem Hochstuhl Platz nahm. Die Seitenwahl war wohl schon gewesen, denn nun gab er das Spiel frei. Cäcilia hatte Aufschlag. Leon beteuerte ihm immer wieder, dass sie gut spielte und das Spiel insgesamt sehr gut war, doch Phillip verstand von dem ganzen Zeug nur Bahnhof. Ein Break, ein Tie-Break, die Zählweise, ein Spiel, ein Satz, ein Match, wer dachte sich solche komischen Sportarten nur aus? Für ihn schlug man einfach nur den Ball hin und her und das war doch relativ unspektakulär. Und gegen das hier waren die Fußballregeln ja wirklich mehr als einfach. Das Komplizierteste war wohl noch die Abseitsregelung, aber wirklich schwer verständlich war die ja auch nicht. So lauschte er Leons Fachsimpeleien, applaudierte, wenn der applaudierte. Natürlich hatte Leon auch versucht ihm das Spiel zu erklären, doch Phillip war wohl einfach zu dumm dafür. So war er erleichtert, als das Spiel zu Ende war und Cäcilia wohl als Siegerin vom Platz ging. Es ging den ganzen Tag so weiter und Phillip war inzwischen wirklich froh darüber, dass er eine Mütze auf dem Kopf hatte, denn die Sonne brannte gnadenlos auf sie herab. Cäcilia kam weit, doch im Viertelfinale unterlag sie knapp ihrer Gegnerin. Zuvor auf dem Platz, hatte sie ihr noch die Hand gereicht und ihr gratuliert, hatte sich auch noch beim Schiedsrichter bedankt, doch als sie mit den Jungs zusammen auf einem relativ ruhigen, abgelegenen Fleck Erde im kühlen Schatten eines Baumes saß, da stand ihr die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. „Ach Mensch, Zilli! Kopf hoch, du hast doch trotzdem gut gespielt“, versuchte Leon sie aufzuheitern, doch sie rupfte nur das Gras um sie herum aus, warf es hinter sich. „Ja, aber die dumme Gans war besser. So ein Mist! Aber der scheiß Schiedsrichter war auch definitiv parteiisch! Mindestens die Hälfte meiner Bälle, die er als Aus gewertet hat, war bestimmt drinnen gewesen. Wahrscheinlich ein Cousin dritten Grades von der Tusse!“, entgegnete sie miesepetrig, sah nicht einmal auf. „Jetzt sei doch keine schlechte Verliererin“, versuchte Leon es erneut, aber Cäcilia fuhr ihm über den Mund und brüllte ihn an: „Halt du doch die Fresse! Nach dem Spiel hat die behinderte Schlampe mich dermaßen süffisant angegrinst! Ich würd ihr am liebsten mal richtig eine reinschlagen, dass ihr das dämliche Grinsen endgültig vergeht! So ein drecks Miststück!“ Leon klappte der Mund auf und auch Phillip traute seinen Ohren kaum. Solche Worte hatte er dem Mädchen gar nicht zugetraut, doch nun setzte Leon an: „Spinnst du jetzt? Wo hast du eigentlich schon wieder solche Ausdrucksweisen her? Wie kannst du dich nur so unsportlich verhalten? Gut, du hast verloren. Na und? Das gehört beim Sport dazu. Man kann nicht immer nur gewinnen. Außerdem hat sie wirklich besser gespielt als du. Und das ist ja wohl keine Schande, Zilli! Es wird immer Leute geben, die besser sind als du. Du wirst nie in irgendwas die absolut Beste sein. Jetzt reiß dich gefälligst zusammen. Und ich will nie wieder so einen Schwachsinn von dir hören. Gott, du bist so eine schlechte Verliererin!“ „Aber…!“, setzte sie an, brach dann aber ab. Sie starrte ihren Bruder fassungslos und gleichzeitig wutentbrannt an. Sie blickte wieder auf ihre Beine und murmelte dann: „Du brauchst mir gar nichts zu erzählen, du bist eh voll das Genie im Fußball. Du weißt es doch gar nicht, wie es ist, wenn man verliert und ein echter Versager ist.“ Ihre Stimme hörte sich etwas rau an und man hatte sie kaum verstehen können, so sehr hatte sie genuschelt. Aber nun setzte Leon sich neben sie, umarmte sie und sagte ihr: „Du bist doch kein Versager, nur weil du verloren hast. Du hast den ganzen Tag über so gut gespielt und jetzt war sie eben besser als du. Das wertet dich doch nicht ab!“ Er lachte. „Gott, du bist ja noch dümmer, als ich immer dachte! Außerdem weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn man verliert. Ich hab beim Fußball auch mehr als ein paar Spiele verloren. Und mehr als einmal haben wir nur wegen meiner Patzer verloren. Und dann musste ich nicht nur mit meinem Zorn auf mich, sondern auch noch mit der Missbilligung die mir die anderen entgegenbrachten, leben.“ Er streichelte ihr über die Haare. „Außerdem bin ja immer noch ich da und im Tennis könntest du mich mit Leichtigkeit schlagen, egal was ich versuchen würde. Und: Ich hab dich lieb.“ Er küsste sie auf die Wange. Phillip hatte sehen können, wie ein Lächeln über ihr Gesicht gehuscht war, doch schon einen Wimpernschlag später verzog sie angeekelt das Gesicht, entfernte sich von ihm, rieb sich über die Backe, die Leon geküsst hatte und sagte: „Ieh! Lass doch so was! Das is so peinlich! Mann!“ Phillip musste unwillkürlich lächeln. Irgendwie hatte Leon eine Gabe dafür Leute aufzumuntern. Es war faszinierend. Sie blieben noch bis zum Finale, sahen sich aber die Siegerehrung nicht mehr an, sondern fuhren dann gleich. Das war nicht die dümmste Idee, weil sie dadurch relativ zügig vom Gelände runterkamen. Und auch schnell auf die Autobahn Richtung Zuhause kamen. Leon saß wieder neben ihm auf dem Beifahrersitz, ergriff seine Hand und küsste seinen Handrücken, drehte die Musik auf. Sang mit. Die Rückfahrt kam ihm irgendwie kürzer vor als die Hinfahrt und schon bald standen sie vor Leons Haustür. Seine Schwester schloss auf. Leon nahm Phillips Hände, schob seine Finger zwischen seine, lächelte ihn an. „Willst du noch mit reinkommen? Meine Eltern kommen erst morgen wieder.“ „Eigentlich wollte ich gleich erstmal duschen gehen, ich hab dermaßen geschwitzt…“ „Du kannst ja hier duschen, das ist kein Problem.“ „Also…“ „Jetzt komm halt noch mit“, warf Cäcilia ein, war aber gleich still, als Leon ihr einen mahnenden Blick zuwarf. „Von mir aus“, lächelte Phillip dann. Er schloss noch sein Auto ab, folgte den Geschwistern dann hinein. „Willst du auch was Essen?“, rief Leon aus einem der Räume und Phillip vermutete, dass es die Küche sein musste, folgte seiner Stimme, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Er war das letzte Mal hier gewesen, als Leon sich das Schlüsselbein gebrochen hatte. Seitdem nicht mehr. „Gerne“, sagte er. „Ich sterbe fast vor Hunger.“ Cäcilia und Leon standen in der Küche, starrten beide in den Kühlschrank. „Mama hat doch gestern extra mehr gekocht, damit wir das heute noch mal aufwärmen können, das müsste auch für uns drei reichen“, sagte sie an Leon gewandt und der holte eine große Schüssel mit Käsespätzlen heraus. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht und er sagte: „Das dürfte grad so reichen.“ Dann wandte er sich zur Küchenzeile um und stellte die Schüssel in die Mikrowelle, während seine Schwester den Tisch in der Küche deckte. Phillip kam sich etwas verloren und nutzlos vor. Er war es nicht mehr gewöhnt, dass er sich um nichts kümmern musste, doch es dauerte wirklich nicht lange, da saßen sie zu dritt am Tisch und aßen schweigsam. Als sie fertig waren, überließ Leon die Küche seiner Schwester mit den Worten: „Ich zeig Phillip die Dusche und leg ihm ein Handtuch raus, du kannst ja den Rest machen.“ „Ich hab dich auch lieb, Brüderchen!“, rief sie ihm noch hinterher, doch besagtes Brüderchen ignorierte das geflissentlich. Lediglich Phillip beugte sich zu ihm und flüsterte: „Sollen wir ihr nicht noch schnell helfen?“ „Ach was!“, antwortete Leon und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Sie muss ja nur das Zeug in die Spülmaschine räumen, dann ist das erledigt.“ Eine Spülmaschine! Was für ein Luxus! Er selbst musste immer per Hand spülen, aber für eine Person lohnte sich eine Spülmaschine auch einfach nicht. Bis er die endlich voll hatte und laufen lassen konnte, würde ihm der Restbelag auf den Tellern zuwinken. Er war schon einmal in Leons Bad gewesen. Der ging an einen Hängeschrank, zog Handtücher heraus und sagte währenddessen: „Also die Handtücher hier sind frisch und in der Dusche kannst du alles benutzen.“ Phillip begann schon damit sich zu entkleiden, stand nur noch in Boxershorts vor seinem Freund, da zog der sich das T-Shirt aus. „Was machst du denn da?“, fragte der Stürmer etwas irritiert, hielt in seinen Bewegungen inne und beobachtete Leon, der nun seine Hose auszog und ihm antwortete: „Na ich zieh mich aus. Macht dir doch nichts aus, dass wir zusammen duschen, oder?“ Er hob skeptisch die Augenbrauen und Phillip schüttelte langsam den Kopf, fragte aber schließlich: „Und was ist mit deiner Schwester?“ Nun stand Leon vollkommen entblättert vor ihm, küsste ihn sanft auf die Lippen und flüsterte: „Kann der doch egal sein, außerdem weiß sie ja, dass wir zusammen sind, dann dürfen wir ja wohl auch zusammen duschen.“ Dann stieg er in die Duschkabine und machte das Wasser an. Phillip eilte sich ihm hinterherzukommen. Er duschte liebend gerne mit Leon zusammen. Er liebte es, wenn seine Finger sanft seine Haut berührten, ihn schon beinahe massierten, wenn er ihn einschäumte. Es war ein seltsam schönes Gefühl, wenn ihnen das Wasser übers Gesicht strömte, während sie sich küssten und sie kamen sich so wunderbar nahe. Leons Haare durfte nur er shampoonieren und er genoss es. Es war jedes Mal ein Erlebnis mit den Fingern durch diese weichen, nassen Locken zu fahren, wenn er die zarte Kopfhaut darunter spürte und Leons Kopfform ertastete, die sonst so gut unter der Masse an Haaren verborgen war. Und Leon schien es auch zu genießen, denn er legte den Kopf in den Nacken, lächelte verwöhnt und seufzte entspannt. Nachdem er ihm das Shampoo ausgewaschen hatte, küsste er seinen Nacken und seine Schultern. Er liebte Leons Körper einfach. Er war durchtrainiert und dennoch hatte er an den Seiten gerade noch soviel Speck, dass man gut hinein kneifen konnte. Wie hieß diese Körperstelle noch mal bei den Franzosen? ‚Poignées d’amour’ – eine der wenigen Vokabeln, die aus dem Französischunterricht hängen geblieben waren. Konnte es einen schöneren Ausdruck dafür geben? Er bezweifelte es. Leon drehte sich wieder zu ihm um und legte ihm die Arme um die Schultern, zog ihn nahe an sich und küsste ihn innig. Phillip lächelte in den Kuss hinein und Leon löste sich von ihm, fragte misstrauisch: „Woran denkst du?“ „Poignées d’amour“, antwortete er ihm wahrheitsgemäß und Leon zog die Augenbrauen hoch, fragte dann: „Was ist das denn?“ Phillip grinste, schob Leon ein Stück von sich weg, griff ihm in die Seite und sagte erklärend: „Das hier.“ Der Libero hingegen schien ihn zu missverstehen, lief rot an und erwiderte leise, etwas beschämt und beleidigt: „Sag’s doch einfach, wenn du findest, dass ich dick geworden bin.“ Der Stürmer lachte daraufhin nur, zog Leon wieder an sich, küsste ihn und sagte: „Schlag mal nach, was das heißt. Ich liebe das jedenfalls an dir. Genau wie den gesamten Rest.“ Er küsste seine Halsbeuge und spürte an seinem Ohr wie Leon lächelte, dann flüsterte der: „Ich liebe dich auch.“ Den Rest des Abends verbrachten sie wie so oft mit Fernsehen, beziehungsweise DVDs. Leons Schwester hatte sich mit ihrem Laptop zu ihnen gesellt und sich auf dem Sessel breit gemacht, sah hin und wieder mal vom einen zum anderen Bildschirm und wieder zurück. Leon hatte über sie nur den Kopf geschüttelt. Dafür war ihr Kommentar zu ihnen gewesen, als sie das Wohnzimmer betreten hatte: „Bäh! Diese Romantik! So was widerliches!“ Leon hatte daraufhin nur gegrinst und den Kopf gewandt um Phillip, zwischen dessen Beinen er saß und dessen Bauch er als Lehne benutzte, einen zärtlichen Kuss gegeben. Der hatte sich irgendwann ein Kissen auf die Brust gelegt, damit Leon bequemer lag. Er hatte nämlich ständig den Kopf gedreht und gewendet und anders hingelegt und auch wenn er nichts gesagt hatte, war es eindeutig gewesen. Er hatte ihm also einfach das Kissen unter den Kopf geschoben und geflüstert: „Meine Brust ist halt einfach zu stählern, nicht wahr?“ „Dafür ist der Bauch umso bequemer, Dickerchen“, hatte Leon gegrinst und sich wieder gemütlich zurückgelehnt. Sie sahen sich einen Actionfilm an und als irgendeine Liebesszene kam, da richtete sich Leon abrupt auf und sagte: „Zilli, wenn du grad das Internet an hast, dann schau mal bitte schnell für mich nach was ‚Poignées d’amour’ heißt!“ Spitzbübisch grinste er Phillip an, der daraufhin nur den Kopf schüttelte. Cäcilia allerdings brauchte das Internet dafür gar nicht zu bemühen, sondern dachte einen Moment nach und sagte dann zögernd: „Poignées d’amour? Das sind doch Liebesgriffe, oder?“ Langsam wandte Leon seinem Freund daraufhin das Gesicht zu und errötete. Doch Phillip fiel nichts anderes ein, als ihm noch einmal in die Poignées d’amour zu greifen und ihm ins Ohr zu flüstern: „Ich liebe sie.“ Prompt wurden sie allerdings von Cäcilia unterbrochen, die mit trockener Stimme verkündete: „Ja, wir wissen jetzt, dass ihr euch und alles an euch liebt. Jetzt können wir dieses romantische Gehabe auch wieder lassen. Danke sehr.“ Kapitel 7: Überheblichkeit -------------------------- Hey! Entschuldigt bitte, dass das Kapitel heute so spät kommt, aber ich hab gestern noch einer Freundin geholfen ihr Gesellenbuch zu schreiben und das hat bis um drei Uhr nachts gedauert. Dann bin ich tot ins Bett gefallen und jetzt erst aufgewacht. Ich wünsche euch trotzdem viel Spaß beim Lesen! _________________________________________________________________________________ Er hatte erst mit Tobi, dann mit Leon telefoniert. Tobi hatte ihn angerufen, er dann Leon. Sie wollten sich treffen. Und das taten sie in einem Café in der Stadt. Als Leon und Phillip dort ankamen, war Tobias bereits da, erhob sich, als sie an den Tisch traten und gab ihnen die Hand zur Begrüßung. Sie setzten sich, Phillip bestellte Kaffee, Leon Eiskaffee. „Also?“, fragte Phillip schließlich, durchbrach die Stille. „Wieso willst du dich mit uns treffen? Sind wir dir nicht peinlich? Ekeln wir dich nicht an?“ Leon ergriff unterm Tisch seine Hand. Tobias hingegen lehnte sich zurück und entgegnete: „Darum geht es jetzt nicht. Ich will einfach nur mit euch sprechen.“ „Und worüber?“, fragte Phillip und wusste, dass sein Tonfall mehr als unterkühlt war. Tobi hingegen lachte nur auf, schüttelte den Kopf und fragte dann: „Worüber wohl? Es geht um die Mannschaft. Und um euch.“ „Ja, worum auch sonst“, knurrte Phillip. Der Kaffee kam. Tobi hatte schon eine Tasse vor sich stehen. Phillip legte schweigend die Kaffeesahne von der Untertasse auf den Tisch, ließ den Zucker unangerührt. Dafür schnappte sich Leon seine zwei Päckchen Zucker, kippte sie sich auf die Sahne – er war unverbesserlich. „Hört zu: Ihr wisst genauso gut wie ich, dass wir jetzt in einer höheren Liga spielen werden. Und dass die Mannschaft von eurer Beziehung – oder was auch immer ihr miteinander habt – nicht begeistert ist.“ „Beziehung trifft es schon ganz gut, es geht schließlich nicht nur ums Ficken“, meldete sich nun Leon zu Wort und Phillip sah, wie Tobi kaum merklich zusammenzuckte, als er es sich wahrscheinlich gerade vorstellte. Doch er schüttelte den Kopf und fuhr fort: „Ist mir ja eigentlich auch egal. Aber auf jeden Fall beeinträchtigt das unser Spiel. Wir können nicht auf euch verzichten, das wissen auch die anderen, aber sie wissen dafür nicht, wie sie mit euch umgehen sollen. Ich muss auf jeden Fall mit ihnen reden, aber ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll…“ Er stockte, sah die beiden abwechselnd an. Phillip ließ Leons Hand los, trank einen Schluck seines Kaffees und sagte dann: „Und deshalb wolltest du uns das fragen?“ Tobi nickte. „Wie wär’s, wenn du ihnen sagst, dass wir noch immer Menschen sind und nicht irgendeine einzigartige Tierart vor der man sich in Acht nehmen muss? Und dass so was definitiv nicht unser Verhalten auf dem Platz beeinträchtigt. Schließlich habt ihr es die ersten paar Monate doch auch nicht gemerkt.“ „So lange schon?“, fragte Tobi, wirkte doch verblüfft. „Ja, so lange. Bis Mark uns geoutet hat.“ Leon rührte mit dem Strohhalm in seinem Eiskaffee herum und trank dann einen Schluck. Tobi schien zu überlegen, bis er schließlich sagte: „Das ist allerdings ein Argument. Ist es euch denn recht, wenn ich mit den anderen spreche?“ „Wenn sie dann aufhören so beschissen zu spielen“, lachte Leon, zeichnete mit dem Finger Muster in das Kondenswasser, das an dem Glas abperlte. Phillip rang sich ebenfalls ein Lächeln ab, Tobi nickte nur. Während sie ihren Kaffee austranken, sprachen sie kaum miteinander und erst als sie sich voneinander verabschiedeten, ließ Phillip Tobis Hand nicht gleich wieder los, sondern sah ihm fest in die Augen, als er sagte: „Ich find’s echt ziemlich edel von dir, dass du das machst. Ich danke dir.“ „Kein Ding.“ Er lächelte, fühlte sich augenscheinlich immer noch ziemlich unwohl. „Ich bin ja schließlich Kapitän, da muss man sich ja auch um das Klima in der Mannschaft kümmern. Ich werd dann morgen vor dem Training mit den Jungs reden.“ „Danke sehr.“ Nun ergriff Leon Tobis Hand, lächelte ihm entgegen. „Wir wissen das zu schätzen. Bist echt 'n guter Kapitän.“ „Hoffentlich klappt’s auch“, erwiderte Tobi nur. Sie verabschiedeten sich endgültig voneinander und gingen dann auseinander. Als Phillip und Leon ungefähr die Hälfte des Weges nach Hause zurückgelegt hatten, brach Leon das Schweigen, indem er fragte: „Glaubst du, dass es was bringt?“ „Wäre wünschenswert“, entgegnete Phillip. „Schließlich waren die letzten Spiele nicht unbedingt der Burner. Und wenn wir nicht gleich wieder absteigen wollen, sollten sie mal zu Vernunft kommen. Sie müssen uns ja nicht gleich beglückwünschen oder aufgesetzt die Freundschaft wieder aufnehmen; sie sollen sich einfach nur zusammenreißen und gescheit spielen. Mehr wird und kann Tobi von ihnen auch nicht verlangen.“ Leon nickte. Phillip wusste, dass es ihn immer noch schmerzte, dass die anderen es nicht schafften ihn so zu akzeptieren, aber wenn sie ihn wenigstens wieder aktiv ins Spiel aufnehmen würden, würde es ihn schon wieder aufmuntern. Und bis dahin musste er doppelt für ihn da sein. Er hoffte wirklich, dass Tobis Gespräch morgen mit der Mannschaft erfolgreich verlaufen würde. Phillip hatte es zwar gehofft, aber kaum geglaubt, deswegen erstaunte ihn die Mannschaft, denn sie schafften es tatsächlich sich zusammenzureißen und auf dem Platz mit ihm und Leon zu kooperieren. Die nächsten Trainingseinheiten verliefen mehr als gut, die Spiele die sie bestritten liefen traumhaft für sie und das Spiel gegen Freiburg rückte immer näher. Sie schwammen auf einer Welle des Erfolges und hatten schon längst vergessen wie es sich anfühlte zu verlieren und sie waren töricht genug davon auszugehen auch gegen Freiburg zu gewinnen. Einzig Leon schien den Boden unter den Füßen nicht verloren zu haben, denn am Abend vor dem großen Spiel hatte er zu Phillip gesagt: „Die anderen unterschätzen Freiburg gewaltig. Wir hatten in letzter Zeit einfach unglaubliches Glück. Wir haben nicht überragend gut gespielt sondern die anderen überraschend schlecht. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass wir gewinnen, denn dann beginnen wir nicht einmal zu kämpfen.“ Phillip hatte Leons mahnende Worte mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan und sich wieder dem Abendessen zugewandt. Aber nun standen sie fassungslos auf dem Platz und lagen mit Zwei zu Null im Rückstand. Sie hatten nicht mehr viel Zeit übrig und irgendein Wunder müsste geschehen. Aber nichts geschah. Die gegnerische Verteidigung stand perfekt, ließ ihre Stürmer einfach nicht durch. Sie hingegen waren wie erstarrt. Doch dann passierte es: Phillip hatte es geschafft sich durchzukämpfen. Er stürmte also nach vorne, sah sich um, wer mit ihm kam und erblickte Mark. Er wartete noch einen Moment, dann spielte er ihn an. Doch noch bevor der richtig am Ball war, wurde er übel gefoult. Im 16er. Der Schiedsrichter entschied für eine Gelbe Karte gegen den Freiburger und für einen Strafstoß für ihre Mannschaft. Leon würde ihn durchführen, doch er stand nur etwas hilflos mitten auf dem Platz. Zuvor war er der einzige gewesen, der nicht aufgegeben hatte, der gekämpft hatte. Er war gesprintet, hatte sich in Zweikämpfe gestürzt und alles versucht um die Tordifferenz zu schmälern. Und nun stand er da und wirkte wie zur Salzsäule erstarrt. Phillip lief auf ihn zu. Er packte seinen Kopf, zog seine Stirn gegen seine eigene, sah ihm tief in die Augen. „Ich kann nicht“ Leon sagte es kaum, er formte nur stumm die Worte, doch Phillip verstand ihn. Er schüttelte langsam den Kopf und sagte dann: „Ich weiß, dass du es kannst. Du bist der einzige von uns, der von Anfang an gekämpft hat. Du kannst es! Und nur du allein hast es verdient diesen Elfmeter zu versenken. Baller ihnen den rein! Und wenn es nur Ergebniskosmetik ist, ein Tor hauen wir ihnen rein. Nein, du haust ihnen ein Tor rein. Damit sich dein Kampf gelohnt hat. Ich glaub an dich.“ Leons Blick wurde langsam selbstsicherer. Er biss die Zähne aufeinander, klopfte Phillip noch einmal auf die Flanken, dann gingen sie auseinander. Leon ging in Richtung Ball, der schon positioniert war. Der Torwart stand spannungsgeladen im Tor. Ob er sich wohl schon für eine Ecke entschieden hatte? Die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben und Schweiß perlte auf seiner Stirn – Phillip war nicht sicher, ob es wegen der Konzentration oder der Sonne war. Leon hatte die Augen geschlossen, die Hände in die Hüfte gestemmt, schien sich zu sammeln und zu konzentrieren. Dann öffnete er schlagartig die Augen und ein angriffslustiges Funkeln war in sie getreten. Er fixierte den gegnerischen Torwart und grinste ihn an. Sie warteten nur noch auf den Pfiff, der den Schuss frei gab. Phillip schwitzte. Er stand bei Tobi und Mark. Sie sprachen nicht miteinander, sahen alle nur gebannt zu Leon. Er musste den Elfmeter einfach verwandeln. Die Sekunden vergingen quälend langsam und mit jeder strebte die Anspannung weiter gegen eine unermessliche Höhe. Aber eigentlich war es nicht schlecht, dass der Schiedsrichter so lange brauchte. Ihre Mannschaft hatte Zeit sich wieder neu zu sammeln und ihren Kampfgeist neu zu entfachen. Je länger der Pfiff auf sich warten ließ, desto höher loderte das Feuer ihres Willens in ihnen auf. Ihr Wille zu gewinnen. Sich zu beweisen. Und dann gellte der Pfiff. Leon starrte den Torhüter noch einige Sekunden lang an, dann startete er seinen Anlauf. Er beschleunigte und kurz bevor er beim Ball war, holte er aus mit seinem starken linken Bein. Dann schoss er. Mit einer unglaublichen Wucht traf er den Ball und der flog in Richtung Tor. Phillip sah es wie in Zeitlupe, obgleich es eigentlich nur eine Sache von Sekunden war. Leon hatte in die untere, rechte Ecke gezielt. Zielstrebig bahnte sich der Ball den Weg. Nichts schien sie mehr vom Zwei zu Eins zu trennen und Phillip biss sich auf die Unterlippe. Doch dann kam der Torwart ins Spiel. Er hatte sich für die richtige Ecke entschieden. Er hielt bravourös. Die Freiburger stürmten zu ihrem Torwart, fielen über ihn her. Leon hingegen fiel auf die Knie. Er vergrub das Gesicht in seinen Händen. Phillip konnte seine Enttäuschung, seine Scham und seine Wut auf sich selbst beinahe spüren. Wie hatte er diese Chance nur vergeben können? Das war die Frage, die Leon wohl gerade durch den Kopf schoss. Langsam ging er zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter. „Was soll’s?“, fragte er, lächelte unwillkürlich. „Der Torwart hat richtig getippt. Kann passieren. Immerhin hast du nicht meilenweit danebengeschossen. Hätte er sich anders entschieden, wäre es ein Tor gewesen.“ „Ich hasse mich!“, murmelte Leon, sah nicht auf. „Ich dich nicht“, entgegnete Phillip, griff ihm unter die Arme und hievte ihn auf die Beine. Sie hatten das Spiel verloren. Vier zu Null. Nun wussten sie wieder wie schmerzhaft sich eine Niederlage anfühlen konnte. Besonders weil sie so überheblich an die Sache herangegangen waren. Hätten sie von Anfang an wirklich gekämpft und alles gegeben, hätten sie ihre Talente, Fähigkeiten und Erfahrungen genutzt und wären dann geschlagen worden, wäre es anders gewesen. Doch es war eine Tatsache, dass sie schon vor Beginn des Spiels davon ausgegangen waren, es schon gewonnen zu haben. Dadurch hatten sie sich nicht vollkommen konzentriert. Sie hatten schlampige Pässe gespielt, die Zweikämpfe nur halbherzig ausgetragen und waren sich beinahe zu schade gewesen, um sich schmutzig zu machen. Leon war der einzige gewesen, der alles gegeben hatte, aber alleine konnte man ein Spiel nun mal nicht gewinnen. Und deshalb war die Niederlage doppelt niederschmetternd. Einerseite war da dieses Gefühl der Leere in ihnen. Sie hatten verloren. Und wer verlor gerne? Aber erschwerend kam hinzu, dass sie nicht wussten, wie das Spiel ausgegangen wäre, hätten sie sich vollkommen reingehängt und hundertzehn Prozent gegeben. Sie schwiegen in der Kabine und unter der Dusche. Und mit hängenden Köpfen trotteten sie zum Parkplatz. Als Leon und Phillip im Auto saßen, sagte schließlich Phillip: „Du hattest Recht.“ „Womit?“, fragte Leon. Ihm schien nicht nach Reden zumute zu sein. „Wir sind die Sache zu halbherzig angegangen. Wir waren viel zu überheblich und jetzt haben die Freiburger uns auf den Teppich zurückgeholt. Und um ehrlich zu sein war die Landung ziemlich schmerzhaft.“ „Seit wann redest du so metaphorisch?“ Leon seufzte genervt. „Was? Wie rede ich?“ „Metaphorisch: Bildhaft.“ Er schien wirklich gereizt zu sein. „Sorry, ich kenn halt nicht so viele tolle Fremdwörter wie du!“, blaffte Phillip zurück „Hab halt nicht so 'ne super Schulbildung wie du. Ich bin halt einfach dümmer.“ „Lass das doch.“ Nun klang Leon wieder kleinlaut. „Das wollte ich doch gar nicht damit sagen. Ich find dich nicht dumm.“ „Oh, danke sehr.“ Es hörte sich so sarkastisch an wie es klingen sollte. Leon schwieg. Dann atmete Phillip tief ein und aus und sagte, wieder etwas ruhiger: „Ich wollte dir eigentlich sagen, dass du der einzige bist, der sich nichts vorzuwerfen hat, weil du die ganze Zeit über topp gespielt hast.“ „Mir nichts vorzuwerfen?“, keuchte Leon ungläubig. „Ich hab den behinderten Strafstoß verschossen! Ich hätte ihn einfach versenken müssen! Wie konnte ich die Chance nur so einfach vergeben?“ Er klang verzweifelt. Phillip jedoch fuhr ihn an: „Oh Gott, Leon! Du hast ihn nicht verschossen, der Torwart hat sich einfach für die richtige Ecke entschieden und gut gehalten. Du hast nichts falsch gemacht, er nur alles richtig.“ „Hätte ich nichts falsch gemacht, hätten wir jetzt wenigstens ein Tor auf unserem Konto“, murrte Leon, blickte aus dem Fenster der Beifahrerseite, sodass Phillip sein Gesicht nicht sehen konnte. „Ach Leon. Es nimmt dir doch keiner übel. Hätten wir nicht so schlecht gespielt, hätte auf dir gar nicht so ein Druck gelastet.“ „Jaja.“ Für ihn war das Gespräch damit wohl beendet. Natürlich verstand Phillip ihn nur zu gut. Aus der Mannschaft nahm ihm wirklich niemand übel, dass er den Elfmeter nicht verwandelt hatte. Niemand war ihm böse. Aber sein größter Feind war momentan er selbst. Die Messlatte, die er sich selbst gehängt und über die er es nicht geschafft hatte. „Kommst du mit zu mir?“ Phillip blickte Leon fragend an, der zuckte nur mit den Achseln und murmelte: „Weiß nicht, soll ich?“ „Ich hätt dich gern bei mir.“ „Von mir aus.“ Der Stürmer schüttelte den Kopf. Er wusste einfach nicht, was er tun konnte um Leon aufzumuntern. Er selbst war ja auch enttäuscht und traurig, aber gegen Leons Frustration war das nichts. Der Rest der Fahrt verlief schweigend und auch als sie die Wohnung betraten, sprachen sie nicht miteinander. Leon ließ sich aufs Sofa fallen wie ein Sack, Phillip setzte sich neben ihn. Sie saßen im Dunklen und schwiegen. Aber irgendwann schmiegte sich Leon an ihn und murmelte: „Wie konnte ich das nur verpatzen? Ich hätte der Held sein können und was mach ich? Versau es ohne mit der Wimper zu zucken. Ich hasse mich wirklich.“ Phillip lächelte mild, schloss ihn in seine Arme und flüsterte: „Das glaub ich dir, aber da bist du der einzige. Du bist nicht der Erste und wirst auch nicht der Letzte bleiben, der einen Elfmeter nicht verwandelt hat. Und beim nächsten Spiel wirst du dafür 'nen Hattrick hinlegen.“ Leon lachte und Phillip spürte, wie sich seine Brust dabei hob und senkte. „Übertreib mal nicht, das hab ich noch nie hinbekommen.“ „Dann wird es jetzt mal allerhöchste Zeit dafür. Im nächsten Spiel erzielst du 'nen Hattrick, okay?“ „Du spinnst doch! Du hast doch selber noch nie einen geschafft! Und du bist Stürmer!“ „Na und? Dafür kriegst du es für mich hin und als Libero kommt so was noch besser.“ „Oh Phlip, was erwartest du von mir?“ „Dass du aufhörst dich selbst zu hassen. Wie heißt es so schön? Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Und mal ehrlich: Wie hoch standen unsere Chancen gegen sie zu gewinnen? Ich würde mal schätzen gleich null.“ „Du hast doch keine Ahnung von Wahrscheinlichkeitsberechnungen!“, lachte Leon, legte sich nun mit dem Rücken über Phillips Schoß, lächelte ihm entgegen. „Wozu auch?“, fragte er. „Es gibt Wichtigeres im Leben.“ „Zum Beispiel?“, fragte Leon, genoss es augenscheinlich, dass Phillip sein T-Shirt etwas hochgeschoben hatte und ihm nun über den flachen Bauch strich. „Deinen Hattrick im nächsten Spiel“, grinste er, küsste die weiche Haut, die sich über Leons Bauch spannte. Er spürte Leons Lachen mit seinen Lippen und hörte ihn sagen: „Was du wieder für Erwartungen an mich hast. Wenn das so weiter geht, kann ich’s dir niemals Recht machen. Was erwartest du als nächstes?“ Was er erwartete? Erwartungen waren ein gutes Stichwort. Leon hatte ihm vor ein paar Tagen gesagt, dass er von ihm erwartete, dass er seiner Familie endlich von ihrer Beziehung erzählte. Und eigentlich war diese Forderung gerechtfertigt, aber er wusste einfach nicht, wie er die Sache angehen sollte. Sollte er nach Hause gehen und seinen Eltern einfach knallhart ins Gesicht sagen, dass er schwul war und seit einigen Monaten in einer Beziehung zu einem Jungen lebte? Oder sollte er solange Andeutungen machen, bis sie von selbst darauf kamen? Er spürte, wie Leon ihm mit dem Finger gegen die Backe schnippte und hörte ihn vorwurfsvoll seinen Namen sagen. Er blickte der Jüngeren entschuldigend an, fragte dann aber: „Wie hast du’s eigentlich deinen Eltern gesagt?“ Leon wurde ernst. Konnte er etwa ahnen, was in Phillip vorging? „Ich hab einfach beim Abendessen gesagt: ‚Ich hab euch doch von Phillip erzählt, gell?’ – ‚Ja, dein Kollege aus dem Fußball, nicht wahr?’ – ‚Genau der. Ich bin jetzt mit ihm zusammen.’“ Ungläubig wartete Phillip ab, ob da noch etwas kam, doch als Leon schwieg, fragte er perplex: „So hast du es ihnen gesagt?“ „Naja, meine Eltern wissen ja schon länger, dass ich schwul bin. Aber bei deinen Eltern würd ich dir das nicht unbedingt empfehlen. Am besten, du erzählst ihnen einfach, dass du verliebt bist. Und wenn sie dann interessiert sind und sich für dich freuen, dann kommst du immer mehr mit der Wahrheit raus.“ Er hatte sich schon morgen bei seinen Eltern zum Kaffee angemeldet. Sein großer Bruder würde wohl nicht kommen, weil er doch etwas weiter weg wohnte, aber sein kleiner Bruder wohnte noch zu Hause, der würde zwangsläufig da sein. Er nickte, formulierte schon mal die Worte vor. „Oh Mann!“ Erneut riss Leon ihn aus seinen Gedanken. „Du bist so mies! Da bin einmal ich wichtig und dann denkst du schon wieder die ganze Zeit an was Anderes! Ich will dich für mich, wenn ich bei dir bin! Du bist so unfair.“ Er zog einen Schmollmund. „Tut mir leid“, seufzte Phillip. Eigentlich wollte er ja für Leon da sein, aber die Sache mit seinen Eltern stresste ihn ungemein. „Lass uns schlafen gehen“, sagte Leon, setzte sich auf, schob sich sein Shirt zurecht und fuhr sich durch die Haare. Phillip sah ihn entgeistert an. Er hatte auf einmal todmüde und fix und fertig ausgesehen. Doch er erhob sich schon im nächsten Augenblick und ging ins Bad um sich die Zähne zu putzen und sich Bettfertig zu machen. Phillip blieb noch einen Moment verdutzt sitzen, bis er ihm folgte, sich neben ihn vor das Waschbecken stellte und sich ebenfalls die Zähne putzte. Als sie im Bett lagen war Phillip absolut nicht mehr müde. Was war auf einmal mit Leon los gewesen? Er lauschte dessen gleichmäßigen Atemzügen. Wahrscheinlich schlief er schon längst. Doch plötzlich hörte er, wie die Decke raschelte, spürte, wie Leon sich auf der Matratze bewegte und im nächsten Moment lag dessen Kopf auf seiner Brust. „Ich kann dein Herz schlagen hören“, murmelte Leon leise. Also hatte er gewusst, dass er nicht schlief? „Na zum Glück.“ Phillip lächelte schief. „Wär blöd, wenn es das nicht mehr tun würde, oder?“ Er spürte, dass Leon nickte. Dann schwiegen sie wieder. Phillip starrte in die Dunkelheit. Irgendwann ergriff aber wieder Leon das Wort: „Bist du wirklich nicht böse auf mich? Liebst du mich immer noch?“ Verwundert lehnte sich Phillip auf die Unterarme, starrte Leon durch die Dunkelheit hindurch an, konnte nur dessen Silhouette ausmachen. „Wieso fragst du mich denn so was?“, fragte er dann erschüttert. „Wegen dem Elfer“, gab Leon kleinlaut zu, suchte nach Phillips Hand, der seine ergriff. „Um Gottes Willen, Leon! Natürlich bin ich nicht böse auf dich. Und natürlich liebe ich dich noch. Nur weil der Torwart einen Elfmeter gehalten hat… Du spinnst doch!“ „Tu ich nicht!“, sagte er entschlossen, fügte aber noch leise hinzu: „Ich hab nur Angst.“ „Nur weil du dich grad selbst nicht leiden kannst, muss das nicht heißen, dass ich dich auch nicht mehr leiden kann. Damit das passiert, muss schon einiges mehr schief gehen. Nicht nur so ein dämlicher Elfmeter. Und nun vergiss den endlich und schlaf! Du Vollidiot!“ Er ließ sich wieder fallen. Leon legte sich nahe zu ihm, legte ihm einen Arm quer über die Brust und ein Bein über seines. Kapitel 8: Gespräche -------------------- Schon den ganzen Vormittag über war er nervös und irgendwie hibbelig gewesen. Leon war still gewesen. Der versemmelte Elfmeter nagte wohl noch immer ziemlich an seinen Nerven. Eigentlich hätte Phillip für ihn da sein müssen, aber er hatte einfach nicht die Kraft und die Geduld dazu. Irgendwann hatte er sich auf den Weg machen müssen. Leon hatte mit ihm die Wohnung verlassen. Er hatte ihn zum Abschied geküsst und ihm ein paar aufmunternde Worte ins Ohr geflüstert. Während des Gehens hatte er die Hände tief in den Taschen seiner Shorts vergraben. Warum war es nur so schrecklich heiß? Viel zu kurz kam ihm der Weg vor, bis er vor dem Haus seiner Eltern stand. Am liebsten wäre er umgedreht und einfach wieder nach Hause gegangen, hätte dieses unliebsame Gespräch noch weiter hinausgezögert. Doch wie automatisch führte er seinen Finger zur Klingel. Auf dem Schildchen stand gut zu lesen: „Jener“, auf der Fußmatte stand „Herzlich Willkommen“. Ob er wohl noch immer so herzlich willkommen war, wenn er es ihnen erst gesagt hatte? Sein Bruder öffnete ihm die Tür, umarmte ihn kurz zur Begrüßung, fragte, wie es ihm so ginge. „Gut. Und selbst?“ „Schule is übelst ätzend, das Übliche halt.“ Simon grinste. Später würde ihm wohl nicht mehr nach Grinsen zumute sein. „Papa hat extra für dich gestern noch 'nen Rotweinkuchen gebacken.“ Sie gingen durch den Flur, durch das Wohnzimmer und hinaus auf die Terrasse. Der Tisch war schon gedeckt. Ja, Rotwein wäre auch eine Gute Sache gewesen – sich ein bisschen Mut antrinken, damit die Worte flüssiger kamen. Seine Mutter brachte gerade den Kuchen heraus. Auch sie umarmte ihn zur Begrüßung, küsste ihn auf die Wange und fragte: „Wie geht’s dir denn, mein Junge? In letzter Zeit meldest du dich ja kaum noch!“ Warum nur?, schoss es Phillip durch den Kopf, doch er zwang sich zu einem Lächeln und antwortete: „Mir geht es gut. Ja, tut mir leid, aber die Arbeit ist ziemlich anstrengend und dann auch noch der Fußball…“ Seine Mutter seufzte. „Du und dein Fußball! Du hast auch nie was anderes im Kopf!“ „Ich hab gehört, ihr seid aufgestiegen“, warf Simon ein und Phillip bejahte, war dankbar über den Themenwechsel. Er mochte es nicht seine Mutter zu belügen, doch es war noch zu früh um mit der Tür ins Haus zu fallen. Nun kam auch endlich sein Vater mit einer Kanne Kaffee in der Hand. Er begrüßte Phillip, setzte sich dann ans Kopfende des Tisches und reichte seiner Frau die Kanne, damit sie allen Kaffee eingoss. Phillip lehnte sich zurück. Er wollte die ungetrübte Stimmung so lange genießen wie er konnte. „Ja, wir sind aufgestiegen, das haben wir vor allem unserem Nachwuchstalent zu verdanken. Der spielt einfach genial!“, sagte er, biss sich dann aber auf die Lippe. Er hatte doch Leon erst möglichst spät erwähnen wollen. Aber jetzt war es gesagt, er konnte es nicht zurücknehmen. „Nachwuchstalent? Wer soll das sein?“, fragte nun sein Vater, tat sich einen halben Löffel Zucker und noch einen Schuss Milch in den Kaffee. Phillip schluckte und hoffte, dass man ihm seine Nervosität nicht all zu sehr anmerkte. Dann sagte er: „Leon Naumann. Er ist erst 17 geworden und macht grad sein Abi.“ „Oh, 'ne Intelligenzbestie ist er also auch noch?“, fragte sein Bruder, klang herablassend. „Mag sein, dass er intelligenter ist, als der Rest von uns, aber er lässt es nicht raushängen.“ Es hörte sich angriffslustiger an, als es geplant gewesen war und sein Bruder hob entschuldigend die Hände und sagte: „Entschuldige bitte, kann ich ja nicht wissen!“ „Na jetzt streitet euch doch nicht, Jungs“, warf ihre Mutter ein. Sie hatte inzwischen den Kuchen angeschnitten und legte jedem ein Stück auf den Teller. Eigentlich verlief das ganze gar nicht so schlecht. Sie lachten miteinander und unterhielten sich über alles Mögliche, doch Phillip bemerkte trotzdem die besorgten Blicke, die seine Mutter ihm ab und an zuwarf. Ahnte sie etwas? Er war nun schon fast anderthalb Stunden hier und langsam wurde es Zeit, dass er mit der Sprache herausrückte, aber er wollte einfach nicht. Doch seine Mutter machte ihm einen Strich durch die Rechnung, indem sie plötzlich ernst wurde und sagte: „So, Phillip und jetzt erzählst du uns mal, was passiert ist.“ Überrascht wurde sie von drei Männern angesehen und Phillips Vater fragte verwirrt: „Wieso sollte denn was passiert sein?“ „Weißt du, es heißt ja keine Nachricht sei keine schlechte Nachricht. Und unser Sohn hat sich in letzter Zeit kaum bei uns gemeldet, deswegen konnte ich davon ausgehen, dass es ihm gut geht. Aber dass er sich dann plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, mit uns zum Kaffee verabredet? Irgendwas muss passiert sein.“ Nun wanderten aller Blicke zu Phillip, der unruhig auf seinem Platz hin und her rutschte und auf das Karomuster seiner Shorts starrte. „Nun erzähl schon, Phillip“, drängte ihn seine Mutter und Phillip holte tief Luft, bevor er sagte: „Also… ich… ich hab mich verliebt…“ Seine Stimme schwankte. Nun war also der Augenblick gekommen. Am Besten er brachte es schnell hinter sich. Eigentlich wollte er gleich weiter sprechen, doch seine Mutter vereitelte erneut sein Vorhaben, indem sie ausrief: „Aber das ist ja wundervoll! Warum hast du das denn nicht früher gesagt, dann hätte ich mir gar keine Sorgen machen müssen. Deswegen hast du dich auch nicht gemeldet, weil sie deine ganze Zeit in Anspruch genommen hat!“ Phillip seufzte innerlich. Er schüttelte den Kopf und entgegnete: „Naja, es gibt da ein Problem…“ „Hast du sie geschwängert?“, unterbrach ihn sein Vater. Mit offenem Mund sah Phillip zu ihm, wie er ihm da vollkommen ruhig gegenüber saß und diese Worte wie selbstverständlich aussprach. „Nein!“ Er stotterte. „Nein, so was ist es nicht, ich habe niemanden geschwängert.“ Wie kam sein Vater nur auf die Idee? „Was ist es dann?“, fragte nun Simon, sah ihn gespannt an. „Naja… ich…“ Er wollte es endlich hinter sich bringen. Also ballte er die Fäuste zusammen, sammelte sich den letzten Rest Mumm, der ihm in den Knochen steckte und fuhr fort zu sprechen: „Ich bin nicht in ein Mädchen oder eine Frau verliebt, sondern… in Leon.“ Schweigen. Sekundenlanges, ewiges, schreckliches Schweigen. Wieso war es schon wieder so heiß? „Leon?“, fragte sein Bruder langsam. „War das nicht das Nachwuchstalent von dem du vorhin gesprochen hast?“ Phillip nickte. „Aber das ist doch…“ „Ein Junge“, beendete Phillip den Satz für ihn. Er wagte es nicht aufzusehen. „Ja, ich bin mit einem Jungen zusammen.“ Schon wieder schweigen. Und diese unerträgliche Hitze, die auf ihn drückte! „Also willst du uns damit sagen, dass… dass du…“ Seine Mutter beendete ihren Satz nicht. Er übernahm es auch für sie: „Dass ich schwul bin. Ja.“ Er wartete, doch wieder sagte niemand etwas. Er durchbrach dieses entsetzliche Schweigen. „Es tut mir leid. Jetzt könnt ihr mich rauswerfen und mich anbrüllen und enterben und was weiß ich. Es ist in Ordnung.“ „Aber Phillip…“, versuchte es seine Mutter versöhnlich, doch er hörte, wie sein Vater seinen Stuhl zurückschob und sich erhob. Kommentarlos ging er ins Haus hinein und die Treppen rauf. „Phillip… warum?“, fragte seine Mutter nun, ihre Stimme zitterte. Es brach ihm das Herz. „Ich weiß es doch auch nicht!“, brüllte er. „Ich hab’s mir auch nicht ausgesucht! Es tut mir leid!“ „Ich muss mit Papa sprechen“, sagte seine Mutter, erhob sich ebenfalls und schlich ins Haus. Hatte sie beim Aufstehen geschwankt? Nun saß er mit seinem Bruder allein am Tisch. Er war der erste, dem er ins Gesicht sah. Finster hatte Simon die Augenbrauen zusammengezogen, musterte ihn missbilligend. Schließlich sagte er: „Wär wohl besser, wenn du gehst, oder?“ Phillip nickte. Aus dem oberen Stockwerk konnte er seinen Vater brüllen hören. Wieso nur hatte er es ihnen sagen müssen? Langsam machte er sich auf den Weg in Richtung Haustür, doch seine Mutter, die wieder runterkam, hielt ihn am Arm fest und flehte: „Geh doch noch nicht, Schatz, bleib doch noch ein bisschen.“ Er drehte sich zu ihr um und erkannte, dass ihr Tränen über die Wange liefen. Was hatte sein Vater ihr nur an den Kopf geworfen? „Mama, es tut mir leid.“ Er schluckte hart, hatte einen Kloß im Hals und hätte am liebsten mitgeheult. Sie schloss ihn in ihre Arme, drückte ihn an sich, als wolle sie ihn nie wieder gehen lassen und flüsterte mit brüchiger Stimme: „Ist doch in Ordnung. Ich liebe dich immer noch, mein Schatz.“ Sein Handy klingelte. Ausgerechnet jetzt! Gab es einen unpassenderen Augenblick? Er löste sich vorsichtig aus der Umarmung seiner Mutter und griff in seine Hosentasche, zog sein Handy heraus, sah auf sein Display: Leon. Was wollte der denn jetzt schon wieder von ihm? Er wusste doch ganz genau, was er hier gerade tat – tun musste; für ihn! Trotzdem klappte er das Ding auf, hielt es sich ans Ohr und fragte heiser: „Ja?“ „Hallo? Ist da Phillip Jener?“ Er erkannte Leons Mutter. Was war passiert? Er wurde nervös. Warum sollte Leons Mutter ihn anrufen? Sie würde es nicht tun, wenn nicht etwas wirklich Schlimmes passiert war. Sofort tauchten in Phillips Kopf tausend Horrorszenarien auf: Leon, wie er auf dem Heimweg von einem Auto erfasst wurde; Leon, wie er die Treppe hinabstürzte und sich das Genick brach; Leon, wie er von einem tollwütigen Hund angefallen wurde und ihm dann gesagt wurde, dass man sein Bein amputieren müsse. Um nur ein paar zu nennen. „Ja, ich bin dran“, eilte er sich zu sagen. „Was ist passiert?“ „Ich weiß es auch nicht genau. Er hat einen Brief bekommen und als er nach Hause gekommen ist, hat er ihn geöffnet. Dann ist er in sein Zimmer gestürmt, hat sich darin eingeschlossen und kommt nicht mehr heraus. Außerdem brüllt er die ganze Zeit sich selbst an. Wir wissen nicht mehr weiter, deswegen habe ich Sie angerufen. Damit Sie vorbei kommen.“ „Ich…“ Er zögerte. Er konnte doch jetzt nicht einfach weggehen. Seine Mutter brauchte ihn doch! Er warf einen Blick zu ihr. Sie saß zusammengesunken auf dem Sofa, Simon saß neben ihr, hatte ihr einen Arm um die Schultern gelegt. Konnte er sie in seiner Obhut lassen? „Ich bitte Sie“, flehte Leons Mutter am Telefon. Leon brauchte ihn. „Warten Sie bitte einen Augenblick“, sagte er leise. Dann nahm er das Telefon vom Ohr und sagte zu seiner Mutter: „Ich muss gehen!“ „Warum?“, fragte sie ihn, blickte ihn mit geröteten Augen an. „Leon“, hörte er sich sagen. „Er braucht mich.“ „Dann geh doch zu deinem scheiß Freund! Und komm am besten nicht mehr wieder!“, brüllte sein Bruder. Er schluckte hart. „Simon! Sei still!“, fauchte seine Mutter ihn an, dann lächelte sie Phillip zugewandt und sagte leise: „Geh nur. Und meld dich mal öfter, damit wir wissen, wie es dir geht.“ Er nickte dankbar, nahm den Hörer wieder ans Ohr. „Ich komme gleich vorbei.“ „Ich danke Ihnen!“, sie hörte sich vollkommen aufgelöst an. Dann legte sie auf und Phillip tat es ihr nach. Seine Mutter erhob sich, nahm ihn noch einmal in den Arm und küsste ihn auf die Wange. Dann ging er. Er schrie innerlich. In diesem Moment war alles schlecht! Er verfluchte sich und die Welt, während er zu Leon rannte. Er konnte kaum denken. Die Landschaft rauschte an ihm vorbei und er hoffte für Leon, dass er wenigstens einen triftigen Grund hatte, um sich ins Zimmer einzuschließen und ihn dadurch so zu zerreißen. Wem sollten seine Gedanken jetzt gelten? Leon oder seiner Familie? Wieso musste er sich entscheiden? Er hasste gerade alles und jeden, aber am meisten sich selbst. Als er endlich bei Leon ankam, öffnete dessen Mutter ihm die Tür und führte ihn hinauf in den ersten Stock. Schon im Treppenhaus konnte Phillip Leon brüllen hören. Er führte offensichtlich ein ziemlich lautes Selbstgespräch. Er konnte kaum etwas verstehen, nur einzelne Satzfragmente und irgendwelche Schimpfwörter. Als er vor seiner Tür stand, atmete er tief durch. Dann klopfte er und sagte: „Leon, ich bin’s, Phillip, lass mich rein.“ Das Gebrüll stoppte abrupt und nur einige Augenblicke später wurde die Tür aufgeschlossen, Leon öffnete sie einen Spalt breit, linste heraus und fragte dann erstaunt, als er die Tür etwas weiter öffnete: „Was willst du denn hier? Solltest du nicht bei deinen Eltern sein?“ Er war heiser. „Deine Mutter hat mich angerufen, sie macht sich Sorgen. Was ist denn los?“ Leon schob die Tür noch ein Stück weiter auf, warf seiner Mutter einen vorwurfsvollen und gleichzeitig vernichtenden Blick zu, dann murmelte er: „Komm rein.“ Hinter ihm schloss er die Tür wieder ab und Phillip sah sich um. Der Raum war ein einziges Chaos. Leon hatte die Jalousien zur Hälfte heruntergelassen, die Sonne damit ausgesperrt; er schien alles Mögliche durchs Zimmer geworfen zu haben und auf seinem zerwühlten Bett sah Phillip den Brief von dem seine Mutter wohl gesprochen hatte. „Tut mir leid, ist ein ziemliches Chaos hier“, entschuldigte Leon sich, hob ein paar Gegenstände vom Boden auf um sie zu verräumen. Phillip achtete gar nicht auf ihn, sondern ging zum Bett, nahm den Brief und las ihn durch. Dann noch ein zweites Mal. Leon rührte sich nicht, sondern starrte Phillip nur an und wartete wohl auf seine Reaktion. Er setzte sich, erwiderte Leons Blick finster. „Was?“, fragte der, hörte sich unsicher an. „Deswegen habe ich meine Mutter weinend zu Hause gelassen, bei meinem Vater und meinem Bruder, die mich jetzt beide hassen?“ Er hob den Brief um zu verdeutlichen, was er sagte. „Ich wollte doch gar nicht, dass du kommst“, erwiderte Leon kleinlaut, hörte sich schuldbewusst an. Er ließ die Sachen fallen, wo er stand, setzte sich neben Phillip, ergriff seine Hand. Doch Phillip zog sie zurück. In diesem Brief stand, dass der SC Freiburg fast alles tun würde, damit Leon bei ihnen spielte. In der ersten Mannschaft. Auch wenn normalerweise nicht während der Saison gewechselt wurde, aber sie hatten wohl spitz gekriegt, dass man bei ihnen in den unteren Ligen keine Verträge abschloss. Sie boten ihm eine horrende Summe Geld nur dafür, dass er bei ihnen anfing und von dem folgenden Gehalt könnte Phillip nicht mal wagen zu träumen. „Wo liegt dein Problem?“, fuhr Phillip ihn an. „Du hast das Angebot, was sich jedes Kind wünscht, wovon jeder Normalsterbliche nur träumen kann! Gott, Leon! Wo liegt dein verdammtes Problem?“ „Ich…“, setzte Leon an, wirkte verunsichert. „Ich kann nicht bei Freiburg spielen…“ „Warum? Weil du HSV-Fan bist? Bist du jetzt eigentlich vollkommen durchgedreht?“ „Nein, das ist es nicht“, murmelte Leon, ließ sich zurück aufs Bett fallen, drehte sich auf den Bauch und umarmte sein Kissen. „Was dann? Leon, jetzt bin ich schon da, also rede doch bitte mit mir. Was ist denn so schlimm an der Vorstellung, dass du Profifußballer werden könntest?“ „Ich will doch erst mein Abi fertig machen“, nuschelte Leon in das Kissen hinein. „Scheiß doch aufs Abi! Diese Möglichkeit ist einmalig! Und geplant, was du danach machen willst, hast du doch auch noch nicht! Nimm das Angebot an, du Vollidiot!“ „Aber ich brauch mein Abi! Was mach ich denn, wenn ich nicht gut genug bin und sie mich wieder rauskicken? Und auch wenn nicht, ewig kann man nicht Fußballer sein, was mach ich dann? Wenn ich wenigstens mein Abi hab, kann ich noch was vorweisen, aber ohne…“ „Zu schlecht bist du bestimmt nicht, sonst hätten die dir nicht so einen Brief geschrieben. Und wenn du irgendwann mal zurücktrittst, kannst du dir jeden Job kaufen, den du willst. Und sonst kann man das Abi auch nachmachen. Außerdem bringt dir ein Abitur ohne Ausbildung oder Studium eh nichts.“ „Aber woher willst du wissen, dass ich nicht zu schlecht bin?“ „Leon, ich hab mit dir gespielt.“ Leon presste das Kissen dichter an sich. Sein Freund seufzte schließlich und warf seine Wut über Bord. Es brachte ja doch nichts. So legte er sich zu ihm, küsste sanft seine Stirn und fragte dann: „Was hält dich wirklich ab, Leon, das ist doch alles Schwachsinn, was du mir erzählst. Ich bitte dich, sag mir doch die Wahrheit.“ Irgendwie hatte er die Ahnung, dass die Wahrheit eine weitere unliebsame Nachricht an diesem grässlichen Tag werden würde. Doch er verbannte diesen Gedanken in den hintersten Winkel seines Gehirns und beobachtete Leon, der verzweifelt wirkte. Seine Lippen bebten, seine Augen huschten unstet durchs Zimmer und er wackelte mit dem Bein. Nun legte ihm Phillip die Hand auf den Arm, versuchte ihm Ruhe zu geben. Aber Leon ergriff sie, sah ihm nun endlich in die Augen und flüsterte: „Wie viele Fußballprofis sind schwul?“ „Keine Ahnung“, meinte Phillip und zuckte mit den Achseln. Er wusste nicht worauf Leon hinauswollte. „Eben!“, rief der allerdings aus, als hätte Phillip sich seine Frage damit schon selbst beantwortet. „Hä?“ „Wahrscheinlich gibt es schwule Profifußballer, aber keiner kann es in der Öffentlichkeit zugeben, weil sie von den Medien zerfleischt würden. Phillip, überleg doch mal! Ich müsste dich verleugnen! Man würde es mir verbieten zu dir zu stehen, wenn ich meine Karriere nicht frühzeitig beenden wollte.“ Seine Stimme bebte und Phillip konnte sehen, wie seine Augen wässrig wurden. Erst jetzt fiel ihm auf, wie geschwollen sie überhaupt waren. Leon begann zu zittern. Was sollte er darauf sagen? Leon hatte Recht! „Aber du kannst deine Zukunft nicht für mich wegwerfen!“ „Oh Gott, halt doch die Klappe!“, brüllte Leon, machte sich von ihm los, sprang auf und stampfte im Zimmer auf und ab. „Es ist doch meine Entscheidung, was ich mit meiner Zukunft anstelle! Phillip, ich liebe dich! Ich kann dich nicht aufgeben! Und ich will es auch nicht!“ Phillip erinnerte sich zurück, als Leon ihm gesagt hatte, was die beiden Pfeiler in seinem Leben waren: Er und Fußball. Und nun sollte er sich für eines von beiden entscheiden? Das war nicht fair! „Phillip!“, jammerte Leon leise, seine Beine schienen ihn nicht mehr tragen zu wollen und er sackte auf den Knien zusammen. Er hockte da auf dem Boden inmitten des riesigen Chaos wie ein Häufchen Elend. Phillip schluckte hart. Er wollte Leon auch nicht verlieren. Aber was konnte er noch von sich halten, wenn er nur für ihn seine ganze Zukunft und mögliche Karriere aufgab? Leon musste an sich denken! Er konnte keine Rücksicht auf ihn nehmen! Er durfte es nicht! „Phillip!“, kam es erneut brüchig von Leon. Mechanisch stand der auf, kniete sich zu ihm auf den Boden und nahm ihn in den Arm. Schweigend streichelte er ihm über den Rücken, schmiegte seine Wange an seinen Haarschopf. Leons Finger krallten sich in den Stoff seines T-Shirts und er zitterte unkontrolliert. Er atmete flach, doch weinte nicht. Der Schreiner hingegen war ganz ruhig. In ihm war es leise und leer geworden. Er sah nur abwesend auf ein Regal. Leons Haare streiften seine Nase, er spürte es kaum. Ebenso wenig spürte er, dass auch Leon sich langsam wieder beruhigte. Inzwischen war es still im Zimmer geworden. Was war das für ein Leben? Er spürte nicht, wie seine Beine einschliefen, alles an ihm war taub und auch Leon, der begann seinen Hals zu küssen, bemerkte er kaum. Erst als der begann seine Lippen zu liebkosen, erwachte er aus seiner Starre. Wieso küsste Leon ihn denn nun? Eigentlich war es ihm egal. Er machte mit. So erwiderte er den Kuss, irgendwann zog er Leon das T-Shirt aus. Würde es Abschiedssex werden? Es war ihm egal. Mit zitternden Händen fuhr er Leon über die blanke Brust, küsste ihn weiter. Seine Haut war so weich! Er wollte ihn nicht aufgeben! Innerlich schrie er. Leon lag in seinem Arm. „Ich liebe dich“, flüsterte er, drängte sich näher an ihn. „Warum haben wir jetzt miteinander geschlafen?“, fragte Phillip emotionslos, sah zu Leon. Der zuckte die Achseln. „War das eine Art Abschied?“ Er hielt den Atem an. Es konnte doch noch nicht alles vorbei sein! „Was?“, keuchte Leon, setzte sich auf und starrte den Stürmer entsetzt an. „Oh Gott! Willst du jetzt mit mir Schluss machen?“ „Nein!“, rief Phillip hastig, richtete ebenfalls den Oberkörper auf. „Ich… ich dachte nur, wegen Freiburg und…“ „Ich werd dich nicht verlassen“, sagte nun Leon. Seine Stimme war fest. „Wirf doch nicht alles weg“, murmelte Phillip traurig. Dann schwiegen sie, legten sich wieder hin. Nach einer quälend langen Zeit in der keiner etwas gesagt hatte und beide ihren Gedanken hatten nachhängen müssen, durchbrach Leon die Stille: „Du hast es deinen Eltern also gesagt. Wie haben sie reagiert?“ Und Phillip begann zu erzählen. Leon hatte sich schlussendlich doch dazu entschlossen das Angebot anzunehmen. Aber nur unter der Bedingung, dass er zuerst seinen Abschluss machen konnte. Phillip hatte es das Herz gebrochen, aber er war froh über Leons Entscheidung und sie hatten nicht Schluss gemacht. Doch auch wenn keiner etwas sagte, sie wussten beide, dass mit Freiburg ihre Trennung kommen würde. Vielleicht war ihre Beziehung aufgrund dessen ziemlich sinnlos geworden, doch sie wollten noch die Zeit genießen, bis es endgültig vorbei war. Sie hatten niemandem von dem Angebot erzählt, es war besser fürs Mannschaftsklima, reichte ja, dass Leon schon schwul war. Im Großen und Ganzen war die Zeit, die sie noch miteinander verbringen konnten, eine schöne Zeit, doch es gab immer wieder Augenblicke, in denen sie an die Zukunft dachten. Sie warf einen bedrohlichen Schatten über jene Momente. Der Tag des Abschieds war viel zu schnell gekommen. Phillip hätte Leon am liebsten gar nicht gesehen. Es tat so übel weh. Doch Leon war zu ihm gekommen. Er hatte ihn umarmt, ihn geküsst und ihm dann ins Ohr geflüstert: „Ich liebe dich. Ich werd dich vermissen, Phlip.“ Phillip musste an sich halten um nicht beginnen zu heulen. Er drückte Leon ganz fest an sich und flüsterte gebrochen: „Ich dich auch.“ Dann war Leon gegangen. Wahrscheinlich für immer. Phillip hatte ihm nicht hinterher gesehen. Er hatte die Tür zugemacht, war an ihr hinab gesunken und hatte geweint. Der Schmerz war zu groß. Unerträglich. Epilog: Hattrick ---------------- Ihre Trennung war nun gut zweieinhalb Jahre her. Es mochte kitschig klingen, aber er hing Leon noch immer hinterher. In der Zwischenzeit hatte er noch eine Beziehung geführt, aber die war recht schnell gescheitert. Leon hatte eine raketenhafte Karriere hingelegt. In der Bundesliga war er genial und spielte seit einiger Zeit auch in der Nationalmannschaft. Er hatte wohl auch gute Chancen in den Kader für die bevorstehende Europameisterschaft zu kommen. Sie hatten den Kontakt zueinander komplett abgebrochen, nachdem Leon gegangen war. Aber Phillip hatte seine Handynummer behalten; sie nicht gelöscht. Manchmal hatte er abends allein zu Hause gesessen und einfach nur den Namen in seinem Telefonbuch angestarrt, sich überlegt, ob er ihm eine SMS schicken sollte. Doch dann hatte er es zugeklappt und ans andere Ende des Sofas geworfen. Es war besser so. Und doch bereitete Leon ihm Sorgen. Hin und wieder erschienen nämlich Photos von ihm in der Klatschpresse. Auf diesen Bildern schwankte er total besoffen aus einer Kneipe oder einem Club. Phillip fragte sich oft, was wohl mit ihm los war. Als sie noch zusammen gewesen waren, hatte Leon natürlich auch was getrunken, wenn sie ausgegangen waren, doch er hatte nie so fertig ausgesehen. Dabei hatte er doch alles, was man sich wünschen konnte: Er hatte sein liebstes Hobby zum Beruf gemacht und hatte Geld. Davon konnten andere nicht einmal träumen. Es war der 29. Dezember. Heiligabend hatte er bei seiner Familie verbracht – auf den Wunsch seiner Mutter hin. Sein kleiner Bruder und sein Vater waren immer noch kalt zu ihm und schienen ihn am liebsten aus der Familie zu verbannen, doch seine Mutter versuchte alles, damit der Kontakt nicht abbrach, seinem großen Bruder schien es egal zu sein. An diesem Abend saß er allein zu Hause, sah sich irgendeinen dämlichen Film im Fernsehen an. Draußen schneite es. An Weihnachten hatte es natürlich nicht geschneit – weiße Weihnachten waren wohl zu viel verlangt, aber ein schweinekaltes Sylvesterfest in Schnee und Eis, das war drin. Er hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt und sah stumpf auf den Bildschirm. Sein Leben war sterbenslangweilig. Als sein Handy klingelte, sah er gar nicht erst auf das Display, sondern nahm nur ab und meldete sich gähnend: „Ja?“ „Phillip? Bist du dran?“ Er konnte die Stimme nicht zuordnen. „Ja, wer ist da?“ Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte nervös auf, dann fragte er: „Erkennst du mich nicht? Ich bin’s, Leon!“ „Leon?“, keuchte er, der Mund fiel ihm auf. Wieso rief er ihn an? Was wollte er von ihm? „Ja. Puh, ich bin froh, dass du noch deine alte Nummer hast, sonst hätte ich dich wahrscheinlich nicht erreicht… logischerweise.“ Er schien einfach drauf los zu plaudern, doch Phillip konnte noch immer nicht fassen, mit wem er da telefonierte. „Warum rufst du mich an? Was ist los?“ Leon lachte. „Darf ich meinen Ex nicht anrufen?“ „Doch!“, rief Phillip hastig, erhob sich. „Doch natürlich darfst du mich anrufen, aber…“ „Aber?“, fragte Leon und Phillip ging ans Fenster, sah hinaus in die stille Nacht; auf den leise herabrieselnden Schnee. „Aber… Hast du eine Ahnung wie lange es her ist, seit wir das letzte Mal Kontakt zueinander hatten? Seit ich deine Stimme das letzte Mal gehört habe? Es hat doch sicher einen Grund, dass du mich anrufst, was ist los?“ „Nichts ist los. Ich bin nur grad in der Stadt – Weihnachtspause, weißt du? Und da dachte ich, dass wir doch mal ein Bier trinken gehen könnten. Vorausgesetzt, du hast Lust dazu mit mir wegzugehen.“ „Kannst du das denn verantworten?“ Er sprach leise, als könne er belauscht werden. „Ich geh doch nur mit 'nem alten Kumpel 'n Bierchen trinken, Phlip!“ Phlip… Mit Leon war auch dieser Spitzname gegangen und Phillip musste zugeben, dass es ihn einerseits freute, diesen bescheuerten Spitznamen wiederzuhören, andererseits ließ es ihn nostalgisch werden. „Wenn du meinst… Holst du mich ab?“ Schließlich wohnte er näher am Stadtzentrum als Leons Eltern… wenn es auch nur ein paar hundert Meter waren. „Klar, soll ich dann so in 'ner halben Stunde vorbeikommen?“ „Ja, das passt, bis gleich dann.“ „Bis gleich!“ Damit war das Telefonat beendet. Phillip sah zum Fernseher und dann an sich herunter. Er hatte den ganzen Tag in Jogginghosen und Gammelshirt auf dem Sofa gelegen und nichts getan. Er sollte sich beeilen und noch mal duschen, bevor er sich anzog. Etwa eine Dreiviertelstunde später klingelte es dann. Er zog sich noch seine Snowboardjacke und die Timberlands an, öffnete dann die Tür. Vor ihm stand tatsächlich Leon. Er hatte sich verändert. Er trug einen dunklen Mantel und einen cremefarbenen Schal, hatte die Hände in den Taschen vergraben. Seine Frisur war schrecklich, Phillip hatte sie schon in den Zeitschriften und bei den Spielen gesehen: Er hatte sich die Haare kurz geschoren und sie dann wasserstoffblond gefärbt. So was Grässliches. „Hi!“ Leon lächelte etwas unsicher und Phillip hatte einen Kloß im Hals, wusste nicht, ob er ihm zur Begrüßung die Hand geben oder ihn umarmen sollte. War das Eine zu kühl? Das Andere übertrieben herzlich? „Hey!“ Er beließ es bei dem Wort, sah in Leons müde Augen. „Du siehst fertig aus“, sagte er dann, als er die Tür hinter sich zu zog und sich in Bewegung setzte. Leon ging neben ihm her. „Danke sehr, das hört man doch gern zur Begrüßung.“ „Sorry“ Es war eine schreckliche Situation. Er wusste gar nicht mehr, wie er sich in Leons Nähe verhalten sollte. Er ging nun neben einem berühmten Nationalspieler her, mit dem er einst zusammen gewesen war, was aber niemand wissen durfte. Was war zu viel? Was war zu wenig? Sie sprachen auf dem Weg in die Stadt nicht miteinander, trotteten nur nebeneinander auf den Straßen, die wie ausgestorben schienen und auf denen inzwischen eine dünne Schicht Schnee lag. Sie gingen in die nächstbeste Kneipe, setzten sich an einen Tisch in einer Ecke, der etwas Abseits lag. Der Wirt kam zu ihnen und grüßte Leon: „Mensch, der Naumann! Is ja mal 'n Ding! Ich freu mich, dass du hier bist! Was willste denn trinken?“ Leon lächelte ihm entgegen – Phillip erkannte noch immer, dass es mehr oder minder aufgesetzt war. Dann sagte er: „Ja, ich komm auch manchmal nach Hause zur Familie. Ich nehm 'n Bier, danke sehr.“ „Für mich auch 'n Export, bitte“, sagte Phillip rasch, bevor sich der Wirt abwandte. „Der hat dich einfach geduzt“, stellte er etwas erstaunt fest. Leon zuckte die Achseln. „Is normal“, erwiderte er. „Irgendwann gewöhnt man sich dran, dass alle Welt einen duzt und meint einen zu kennen, nur weil sie einen bei ein paar Spielen und Interviews gesehen haben. Aber manchmal nervt’s…“ Er seufzte, doch dann lächelte er wieder und sagte: „Deine Haare sind nicht mehr rot.“ Phillip fuhr sich verwundert durchs Haar. Er hatte sie schon lange nicht mehr gefärbt. Doch dann entgegnete er: „Rot waren sie noch nie, ich hab mir ja früher nur die Spitzen rot gefärbt.“ „Ist irgendwie ungewohnt.“ Leon grinste. „Dafür bist du jetzt blond und hast raspelkurze Haare. Das sieht komisch aus!“ Leon zog daraufhin eine Schnute und meinte: „Findest du’s so schrecklich? Die Presse macht sich auch schon dauernd lustig über mich. War wohl 'n Fehler, ich werd’s bald möglich ändern.“ „Ich mochte deine Locken“, sagte Phillip abwesend und bemerkte, wie Leon eine leichte Röte auf die Wangen trat. War es jetzt falsch gewesen das zu sagen? Ihr Bier kam. Sie bedankten sich höflich und warteten, bis der Wirt wieder gegangen war, dann stießen sie an. Nach dem Bier bestellten sie sich das nächste und dann das übernächste. Dazwischen kam noch ein Tequila. Irgendwann hatte Phillip gesagt: „Mensch, Leon, ich mach mir Sorgen um dich! Du besäufst dich viel zu oft!“ „Das kommt dir nur so vor, weil die scheiß Presseheinis mich immer so unvorteilhaft ablichten. So oft bin ich gar nicht betrunken!“ Er log. Phillip konnte es ihm immer noch sofort ansehen, wenn er ihn anlog. „Und noch immer bist du unfähig zu lügen. Warum gibst du’s nicht auf?“ „Och Mann, Phlip! Alle anderen kann ich belügen, nur bei dir hat’s irgendwie nie geklappt!“ Der nächste Tequila kam. Wann hatten sie eigentlich beschlossen sich so abzuschießen? „Aber du musst dir keine Sorgen machen, mir geht’s wunderprächtig, alles super!“ „Ich dachte, du hättest gerade erst festgestellt, dass du mich nicht belügen kannst, auch wenn wir uns jetzt zweieinhalb Jahre nicht gesehen haben.“ Leon seufzte und starrte auf seinen Tequila. Was war denn jetzt mit ihm los? „Stimmt, ist wirklich ewig her.“ Er grinste schief, aber Phillip sah, wie er nervös das Glas in seinen Händen drehte. Wieso wich er ihm aus? Aber nun nahm Leon seine Zitrone, ließ sie über den Handrücken gleiten und streute dann Salz auf die nasse Stelle. Phillip tat es ihm gleich. Er nahm das Glas in die andere Hand. Dann stießen sie an und es hieß: lecken, schlucken, beißen! Sie verzogen beide das Gesicht, als sie in die saure Zitrone bissen und Phillip schüttelte sich. „Also jetzt erzähl endlich!“, drängte er Leon, doch der winkte ab und vertröstete ihn: „Später!“ Später war noch ein Bier mehr in ihre Mägen geflossen und nach diesem Bier wollten sie zahlen. Doch kurz bevor Phillip seinen letzten Schluck trinken konnte, hörte er Leon murmeln: „Du, Phlip?“ „Was'n?“ „Ich wollt fragen, ob ich…“ „Ob du was?“ Wieso war Leon denn schon wieder so nervös und stotterte? „Ob ich noch mal deine Hände berühren darf.“ Irritiert sah Phillip von seinem Bier zu Leon, der den Blickkontakt suchte. „Hatten wir das nicht schon mal?“, fragte Phillip immer noch verwirrt und dachte an jene Nacht zurück in der sie auf der Tribüne gesessen und sich das erste Mal geküsst hatten. „Denkst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?“, hakte er noch nach. Leon lächelte verschmitzt und nickte. Seufzend legte Phillip seine Hände vor Leon auf den Tisch. Und es folgte, was auch schon vor Jahren gefolgt war. Leon genoss es sichtlich seine Hände zu liebkosen und sie zu drehen und zu wenden, jede einzelne Line mit den Fingern nachzuziehen und Phillips Fingerspitzen zu befühlen. Phillip schluckte schwer. Es reizte ihn das gleiche zu tun was er das letzte Mal getan hatte, doch nun war die Situation ganz anders. Er presste die Zähne aufeinander, wusste nicht was er tun sollte. Unterm Tisch berührten sich nun schon ihre Knie und er spürte, wie Leon ihn sanft aber bestimmt immer weiter zu sich zog. Er musste etwas tun, er musste es unterbinden! Hinderlich war nur, dass er keine Lust hatte Leon zu unterbrechen, sondern viel mehr darauf ihn zu küssen. Wieso interessierte es die Nation eigentlich, ob ihre Fußballer nun schwul waren oder nicht? Man spielte ja trotzdem nicht schlechter, wie man an Leon eindeutig erkennen konnte. „Was hast du vor?“, fragte Phillip irgendwann, wollte es eigentlich gar nicht. Leons Bewegungen erstarrten, dennoch lächelte er schelmisch und fragte leise: „Seltsam, oder?“ Phillip erinnerte sich: das waren die Worte gewesen, die er damals Leon gesagt hatte, kurz bevor sie sich geküsst hatten. Doch Phillip konnte es nicht so weit kommen lassen. So nickte er zum Wirt, der zwar nicht auf sie achtete, aber dennoch anwesend war. Leon verstand diese Geste. Er seufzte und ließ Phillips Hände endlich los. Der setzte sich wieder zurück. „Sorry“, murmelte Leon dann. „Vergiss es einfach.“ Aber Phillip wollte und würde es nicht vergessen. Wie könnte er auch? Nachdem sie dann endlich gezahlt hatten, Leon hatte ihn unbedingt einladen wollen, aber Phillip hatte stur seine Rechnung selbst übernommen, schwankten sie aus der Stadt in Richtung Wohngebiet. Leon lachte viel, rutschte hin und wieder aus, krallte sich dann an Phillip fest, um nicht zu fallen. Sie waren so was von betrunken! Und Phillip wünschte sich, dass alles wieder so wurde wie früher. Aber genau aus dem Grund trank er in letzter Zeit eigentlich nie Alkohol. Er wurde so verdammt sentimental und nostalgisch. Leon textete ihn die ganze Zeit mit irgendwelchen Anekdoten von seinen Mitspielern zu und Phillip lachte, hörte aber nur mit einem Ohr zu. Jetzt war der Abend wohl zu Ende. Und dann? Würden sie wieder zweieinhalb Jahre keinen Kontakt mehr haben? Sie brauchten unglaublich lange, bis sie vor Phillips Haustür standen. Nun schwiegen sie. Es war kalt und Phillip machte seinen Reisverschluss noch etwas weiter zu, dann sah er zu Leon, der ihn mit glasigen Augen musterte. Und er folgte einer plötzlichen, ziemlich bescheuerten Eingebung, mehr einem Verlangen. Er streckte die Hand aus und fuhr Leon durch die Haare. Sie waren immer noch weich, aber die Locken fehlten einfach. „Die Frisur sieht echt kacke aus“, sagte er dann leise. Ihm saß schon wieder ein Kloß im Hals. Gleich würden sie sich wieder voneinander verabschieden. Er musste an ihren letzten Abschied zurückdenken. Er hatte so bitterlich geweint. Hatte auf alle Männlichkeit verzichtet und seinem Bedürfnis gefrönt sich einfach fallen zu lassen. Nur war da kein Leon mehr gewesen, der ihn auffing. „Ich vermisse deine Locken“, fügte er hinzu, ließ seine Hand auf Leons Hinterkopf ruhen. Er hatte keine Ahnung wie viel Uhr es war. Wahrscheinlich irgendwas zwischen zwei und drei. „Phillip, ich…“ Er stockte, sah ihn nur aus unergründlichen Augen an, sprach nicht weiter, sondern trat näher an ihn heran. Doch dann zog der Stürmer seine Hand zurück und fragte, etwas verlegen: „Willst du noch mit reinkommen? Ein Glas Wasser tut uns bestimmt gut.“ Leon nickte nur. Er wirkte angespannt. So folgte er dem Älteren in die Wohnung und in die Küche. Stumm tranken sie ihr Wasser. Phillip stellte irgendwann das Glas auf die Anrichte, Leon tat es ihm gleich. Sie sahen sich für einen Moment in die Augen, dann kam Leben in Leon. Er machte einen Schritt auf Phillip zu, legte ihm die Hände in den Nacken und küsste ihn. Einfach so! Ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung. Phillip hätte diesen Kuss am liebsten einfach erwidert. Er wollte Leon ganz dicht an sich ziehen, ihn einfach nur küssen, dann ausziehen und schließlich mit ihm im Bett landen. Aber stattdessen drückte er Leon von sich und fragte, den Blick gen Boden gerichtet: „Was soll das Leon? Wir sollten uns nicht küssen. Wir sind nicht mehr zusammen.“ Leon allerdings stöhnte verzweifelt, setzte sich an den Tisch, starrte Phillip an und sagte schließlich: „Du hast mich vorhin gefragt, warum ich so oft betrunken abgelichtet werde…“ Der Schreiner nickte. „Deinetwegen!“, rief Leon aus. „Phillip, ich liebe dich noch immer! Ich vermiss dich jeden scheiß verdammten Tag und wünschte mir, es könnte alles sein wie früher! Natürlich hab ich 'nen geilen Job und es macht mir auch Spaß mit den Jungs zu spielen. Aber ich wünsche mir viel zu oft, dass es wieder ist wie früher. Dass Fußball wieder nur ein Hobby für mich ist und dass ich einfach irgendeinen Beruf erlernt hätte. Dann könnte ich nämlich noch mit dir zusammen sein! Ich könnte dich jeden Tag sehen, dich jeden Tag küssen und müsste dich nicht andauernd vermissen und der Zeit nachtrauern!“ Phillip schluckte schwer. Es ging ihm also genauso? „Aber du scheinst drüber hinweggekommen zu sein.“ Ein bitterer Zug lag ihm um die Lippen. „Ich dachte vorhin in der Kneipe, als du mir deine Hände gereicht hast, oder als du mir durchs Haar gestreichelt hast, als du mich hereingebeten hast, dass es dir genauso geht. Aber wahrscheinlich hat mich mein Wunsch danach blind für die Realität gemacht. Es tut mir leid. Ich sollte jetzt wohl besser gehen.“ Er erhob sich und wollte schon den Raum verlassen, da fand Phillip seine Stimme wieder und rief: „Leon, warte!“ Der drehte sich zu ihm um und ein herzzerreißend trauriges Lächeln zierte sein müdes Gesicht, als er sagte: „Passt schon, ich muss total bescheuert gewesen sein mir so was einzubilden. Tut mir echt leid, vergiss es einfach.“ „Nein Leon, jetzt warte doch mal einen Augenblick! Ich…“ Er sprach nicht weiter. Er wusste, dass diese Szene nun grausam kitschig werden würde, egal was er tat oder sagte. Für gewöhnlich war ihm dieser Kitsch zuwider, aber – ob es nun am Alkohol oder an Leon lag – für jetzt war es ihm egal. „Ich hätte nicht gedacht, dass es dir geht wie mir. Aber was würde es uns bringen, wenn wir uns jetzt küssen, oder miteinander schlafen würden? Wir könnten uns ja doch nicht sehen, schließlich kannst du kaum in 'ne Pressekonferenz sitzen und sagen: ‚Ich bin schwul!’ So funktioniert die Welt nicht. Leon, das ist doch alles Schwachsinn! Oh Gott, warum haben wir uns überhaupt getroffen? Wir sind doch total bescheuert!“ Leon bewegte sich nicht, sondern fragte ungläubig: „Du liebst mich auch noch?“ „Und ich vermisse nicht nur deine Locken.“ Er grinste schief. Und Leon kam auf ihn zu und küsste ihn, doch erneut schob Phillip ihn von sich und seufzte: „Was bringt es uns denn, Leon, es macht alles nur noch schwerer.“ „Scheiß doch drauf, was es uns bringt! Was hat uns das letzte Jahr Beziehung gebracht? Wir haben beide gewusst, dass es zu Ende sein wird, wenn ich gehe und trotzdem haben wir die Zeit genossen so gut es ging! Warum sollten wir das jetzt nicht auch tun? Einfach nur für jetzt, für diesen Moment. Und den Nächsten. Phillip, lass uns doch einfach tun wonach uns ist, auch wenn es keinen Sinn ergibt.“ Wie früher! Einfach drauf losstürmen und wenn sich eine Chance ergab, diese ergreifen. Er lächelte und dann zog er Leon wieder näher an sich und nun endlich küssten sie sich richtig. Und es tat so gut! Es war wie eine Erlösung. Und Phillip ließ sich einfach nur darauf ein. Am nächsten Morgen, als Phillip erwachte, lag Leon in seinem Arm und er konnte sein Glück kaum fassen. Er küsste ihn und als der andere die Augen öffnete und verschlafen blinzelte, maulte er: „Wieso weckst du mich auf, Phlip, ich bin müde.“ Er wollte sich wohl aufsetzen, doch ließ er sich wieder ins Kissen zurücksinken und stöhnte. „Au! Fuck, hab ich 'nen Kater! Unerträglich!“ „Willst du 'ne Kopfschmerztablette?“, fragte Phillip und stieg aus dem Bett, machte sich auf den Weg ins Bad zu den Medikamenten, ohne eine Antwort abzuwarten. Er kam zurück mit einer Schmerztablette und gab Leon diese, zusammen mit der Flasche Wasser, die wie immer neben seinem Bett stand. „Danke sehr“, murmelte Leon, warf sie ein. Phillip legte sich wieder zu ihm – zum Glück war er selbst vom Kater verschont worden. „Weißt du noch, als ich mir das Schlüsselbein gebrochen hatte und dann dem einen Kerl eine mitgegeben hab? Da hast du mich auch im Arm gehalten und mir Schmerzmittel geholt.“ Phillip hatte tatsächlich seinen Arm um Leon gelegt. Er erinnerte sich an die Nacht. Leon hatte ihn spät aufgeweckt und war vor Schmerz und Übermüdung vollkommen aufgelöst gewesen. Er lächelte, dann sagte er: „Und weißt du noch? Nach dem verpatzten Elfmeter gegen Freiburg hast du mir einen Hattrick versprochen. Den hab ich bis heute nicht bekommen.“ „Ich hab dir nie einen Hattrick versprochen!“, empörte sich Leon da. „Du hast immer gesagt, dass ich einen hinkriegen müsste, damit du mir den Elfer verzeihst!“ „Na demnach hab ich dir den Elfer ja noch nicht verziehen und du müsstest für mich eben einen Hattrick hinkriegen. Ist ja indirekt auch ein Versprechen.“ „Gar nicht! Aber ich kann dir was anderes versprechen: Wenn ich einen Hattrick hinkriege, dann oute ich mich vor der Nation und der ganzen Welt!“ „Das schaffst du doch eh nie!“, lachte Phillip, hoffte, dass Leon das nicht ernst meinte, denn den ganzen Mist der dann garantiert losbrechen würde, würde er ihm nur zu gerne ersparen. „Na also birgt es für mich ja keinerlei Gefahren. Dürfte als Verteidiger ja sowieso ziemlich schwer werden.“ „Gut, dann hast du es mir damit versprochen. Ich werd drauf achten.“ Er küsste Leons wasserstoffblondes Haar und streichelte ihm über den Arm. Er könnte ewig hier mit ihm im Bett liegen bleiben. Jene Nacht war nun schon wieder einige Monate her. Die EM hatte begonnen und Leon war tatsächlich im Kader und als Stammspieler aufgestellt worden. Phillip hatte sich riesig für ihn gefreut, auch wenn keiner von ihnen sich beim anderen meldete. Im zweiten Gruppenspiel hatte Leon es geschafft Sage und Schreibe drei Tore zu schießen! In der 25., in der 33. und in der 43. Minute. Phillip hatte wohl noch nie so sehr gejubelt. Sämtliche Feldspieler hatten sich auf Leon geworfen, sich mit ihm gefreut. Nach dem Spiel hatte es ein Reporter geschafft, sich Leon zu krallen und ihn zu interviewen. Er war vollkommen verschwitzt, aber strahlte übers ganze Gesicht. Seine Haare waren zwar immer noch relativ kurz, aber hatten wieder ihre natürliche Farbe und die Ansätze seiner Locken waren zu erkennen. „Erst einmal Herzlichen Glückwunsch zu deinem Hattrick, Leon“, begrüßte der Reporter ihn in kumpelhafter Manier, doch beim Wort ‚Hattrick’ erstarrte Phillip vorm Bildschirm. Leon würde das doch jetzt nicht ernsthaft durchziehen? „Danke!“, meinte der aber nur glücklich, sah den Reporter erwartungsvoll an. Der stellte ihm die üblichen Fragen und Phillip glaubte schon, dass Leon vernünftig war und die Klappe halten würde, doch da stellte der Reporter ihm die verhängnisvolle Frage: „Und gibt es noch etwas, dass sie jetzt an die Heimat gerichtet sagen wollen?“ Leon grinste in die Kamera und Phillip glaubte, dass dieses Grinsen ihm galt, als wollte Leon ihm damit eins auswischen. „Sie müssen wissen, dass dieser Hattrick jemand anderem gehört“, begann Leon. „Ich habe ihn schon vor ein paar Jahren meinem Freund versprochen, damit er mir einen komplett verpatzten Strafstoß verzeiht und das tut er jetzt hoffentlich.“ Er sollte jetzt einfach aufhören zu sprechen! Er sollte sich diesen ganzen Stress ersparen! Phillip sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Doch es brachte nichts, denn gleich fuhr Leon fort: „Und ich habe ihm noch etwas versprochen. Ich habe ihm gesagt, dass wenn ich einen Hattrick hinkriege, ich mich oute.“ „Sie sind…“, unterbrach ihn der Reporter, klang überrumpelt und verständlicherweise auch ziemlich fassungslos. „Ja“, sagte Leon. „Ich bin schwul. Und ich liebe noch immer den Mann, mit dem ich vor meiner Karriere als Fußballspieler zusammen war.“ Phillip vergrub das Gesicht in den Händen. Der Spieler mit der Nummer fünf auf der Brust strahlte arglos in die Kamera. Leon war noch immer ein riesiger Trottel! _________________________________________________________ So, nun habe ich mir ein kurzes Nachwort doch verdient: Die Story hat ja nicht unbedingt sehr viel Rückmeldung bekommen, aber es freut mich, dass sie gelesen wurde. Außerdem muss ich hier noch einmal gestehen, dass ich im Nachhinein relativ unzufrieden mit dem Ganzen bin. Aber was soll's, so ist es, vielleicht schreib ich's ja irgendwann noch mal neu (eher nicht). Also verabschiede ich mich von euch, vielen Dank noch einmal fürs Lesen und ich hoffe, ihr hattet Spaß dabei =) LG, Terrormopf Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)